Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Eckpunkte-Archiv 2024/25

Da ist Musik drin

12. Dezember 2024   Den wehrlosen Partner, der sich in die Tasche stecken lässt, gibt es schon lang, auch im nicht-übertragenen Sinn. Heutzutage gehen immer mehr Männer und Frauen an der Seite eines digitalen Lieblings erfüllt durchs Leben. Via App des US-Chatbot-Entwicklers „Replika“ können sie ihn ganz nach ihren persönlichen Schönheitsidealen, Liebesbedürfnissen und sonstigen Vorlieben gestalten. Souffliert von „Künstlicher Intelligenz“, plauschen die imaginären Gespielinnen und Gespielen fortan stets vorurteilsfrei zugewandt und niemals schlecht gelaunt, bleiben unverwüstlich jung und kerngesund an Leib und Seele, äußern nur Angenehmes, wenn nicht Zärtliches und Erotisches und sind sogar bereit, Heiratsanträge mit einem beseligten „Ja, ich will“ zu quittieren. Mag auch das Gros der Menschen, die sich eigener Familien und hinlänglicher Sozialkontakte zu Freunden und Bekannten erfreuen, das um sich greifende Phänomen für bizarr ansehen, so sprechen Psychologen den Lebensgefährten aus den neuronalen Netzen des Cyberspace durchaus eine segensreiche Verbundenheit mit Zeitgenossinnen und -genossen zu, denen eine immer unberechenbarere Wirklichkeit zu viele Wunden schlug. Nun hat, zum möglichst frühen Eingewöhnen, die Deutsche Post ein buntes Klebebildchen herausgegeben, das den Freundeskreis bereits von Jungs und Mädchen virtuell erweitert: Seit einigen Wochen dürfen sich die Kleinen über Briefe freuen, die mit einer „Singenden Briefmarke“ frankiert wurden. Das Motiv darauf zeigt eine niedliche Backstube mit allem, was dazu gehört, also mit Kinderköpfen unter Kochmützen, geknetetem Teig, Ausrollholz und Ausstech-Förmchen, Christbaum und einer Oma im Lehnsessel, die Winterliches vorliest. Wer mit dem „Tiptoi-Stift“ des Spieleherstellers Ravensburger über die Illustration fährt, vernimmt „Liedzeilen des Ohrwurms ‚In der Weihnachtsbäckerei‘ von Rolf Zuckowski, Dialoge der abgebildeten Personen, die Weihnachtsgeschichte und Wissenswertes rund um den Advent“, verkündet die Post. Den auch anderweitig verwendbaren „Stift“, dessen Ausmaße etwa der einer Fernbedienung entsprechen, hat man sich am besten vorausschauend im Vorjahr unter den Lichterbaum legen lassen: Fünfzig Euro kostet er und übersteigt damit das Taschengeld-Budget der meisten Sechs- bis Zehnjährigen. Hingegen werden erwachsene Philatelisten, die auf sich halten, keine Kosten scheuen, sich mit ein paar Bogen der Marke einzudecken, die ihr altersschwaches Steckenpferd unverhofft nahe an die Erfrischungen zeitgemäßer Technik führt, dürfte doch in wenigen Jahrzehnten der Sammlerwert der Erstausgabe ins Astronomische gestiegen sein. Bedenken erweckt allerdings ein Vorfall aus dem schleswig-holsteinischen Quickborn, wo ein Mann etwa zur selben Zeit, da die Marke herauskam, einen Brief des Finanzamts mit den Daten für seinen „Elster“-Zugang erhielt – in 1700-facher Ausfertigung. Wären die Kuverts sämtlich mit den tonkünstlerischen Wertzeichen beklebt gewesen, hätte deren vokale Wucht, per „Tiptoi“ zu Sang und Klang erweckt, selbst das Geschmetter des tausendköpfigen Fischerchors übertroffen, der 1974 in München die Abschlussfeier der Fußball-Weltmeisterschaft durchschallte. Das war aber noch gar nichts: Zum größten Chor der Musikgeschichte versammelten sich 2011 im indischen Perungalathur 121.440 Menschen. So viele Marken (á ein Gramm) auf Umschlägen mit je zwei DIN-A-4-Seiten hätten die Post alles in allem mit über 1,7 Tonnen belastet: Ein Quickborner Briefträger, der das wuppen könnte, der wär schon eine Marke. ■


Klappe halten

7. Dezember 2024   Jedes neue Jahr hat seine neuen Botschafter. Unlängst schreckte uns die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde mit ihrer Entscheidung auf, sie habe zum „Lurch des Jahres“ 2025 den Moorfrosch gekürt, eine bedrohte Art, deren Männchen während der Paarung über die Gabe verfügen, blau anzulaufen. Wenig später zogen die Entomologen nach: Sie riefen als „Insekt des Jahres“ die Holzwespen-Schlupfwespe aus, die mit ihrem rahmensprengenden Doppelnamen ebenso gut in die Zeit passt. Vor so viel Natur darf sich die Kultur nicht geschlagen geben - und wartete nun mit einer Überraschung auf: Zum „Instrument des Jahres“ wählten die deutschen Landesmusikräte die menschliche Stimme. Aber ist sie das denn: ein Instrument? Durchaus, und sogar für ein besonders universales und natürliches dürfen wir sie halten. In puncto Tongebung ist sie irgendwo zwischen Bläsern und Streichern angesiedelt. Noch bevor unsere Vorvorfahren das Rad ersannen, hatten sie gelernt, ihre Stimmbänder mit Hilfe der Atemluft kontrolliert wie Saiten vibrieren zu lassen, um lebenswichtige Botschaften zu übermitteln, zu streiten, zu tratschen ... um zu singen. Bis heute bleiben wir ungeachtet aller technischer Fortschritte - vom ersten, noch kaum aufnahmefähigen Mikrofon bis hin zur unüberhörbaren Megafonie unserer Sozialen Medien - sklavisch den Verführungskräften der live vernommenen Menschenstimme instinktiv erlegen. Zwar regiert, manipuliert und imitiert uns das Virtuelle, Nicht-Wirkliche der digitalen Welt längst so gründlich, dass die Maschinen jeden beliebigen Sprach- und Sangesklang bis zur Unverwechselbarkeit nachzuahmen vermögen. Darum aber wächst erst recht unsere Sehnsucht nach der Echtheit und Intimität des eigenen wie eines fremden Organs. Hinter jener Authentizität verschanzen wir uns, mal willentlich, mal reflexartig: hinter einem der letzten Bollwerke unserer Einzigartigkeit. Mithin spricht einiges dafür, die Stimme zum „Instrument des Jahres“ zu küren, allein schon ihre Allgegenwärtigkeit in unseren zwischenmenschlichen Kontakten, den unmittelbaren sowohl wie den elektronischen. Mit ihrem unüberhörbaren Breitenspektrum zwischen geflüsterter Zärtlichkeit und ohrenbetäubendem Gebrüll entfaltet sie einen Überfluss, den kein Musikinstrument so je erreicht. Mag sein, dass sie, weil nicht auf Saiten, Tasten und Ventile angewiesen, aus jeder Logik klassischer instrumentaler Tonerzeugung herausfällt. Doch ihrer Eignung wegen, alles uns Wichtige zu vermitteln – Gefühle auszudrücken, Informationen mitzuteilen, Geschichten zum Leben zu erwecken –, hat sie seit jeher zu einem starken Kandidaten für das adelnde Prädikat getaugt, das sie von Januar an tragen darf. Überdies lädt uns solcher Ritterschlag mit Nachdruck dazu ein, auch unseren oft strapazierenden Umgang mit ihr zu überdenken. Wenn die Stimme den Ehrentitel verdient, dann wohl insgeheim auch darum, weil zu ihr unlösbar das Schweigen gehört. Einfach mal die Klappe halten: Wer weiß, wie das geht, versteht auch mal ganz für sich allein zu sein und, nicht minder nützlich, anderen stumm zuzuhören. Die Mute-Funktion, wie sie sich an Radios und Fernsehern, Navis, Konferenzsystemen und sonstigen zeitgemäßen Audiogeräten per Knopfdruck einschalten lässt, beweist uns hinlänglich: Um preis- und prädikatwürdig zu sein, muss etwas, das kunstreich Schall erzeugt, auch Ruhe geben können. Paradoxerweise sollen wir in diesen Advents- und Weihnachtswochen auf Märkten und in Kirchen singen, bis wir blau anlaufen. Man könnte schier zum Lurch werden.


■Motoren-Maestro

16. Oktober   Vor ziemlich genau drei Jahren erschütterte, erheiterte oder faszinierte die kulturaffine Öffentlichkeit eine Medienmeldung, die angetan schien, in der Musikwelt das Unterste zuoberst zu kehren: Mithilfe eines langwierig ausgeklügelten Algorithmus hatte ein Computer die nicht existierende zehnte Symphonie Ludwig van Beethovens zusammengebastelt; ihre Komposition hatte der genialische Tonsetzer sich zwar vorgenommen, über einige spärliche, kaum zu entziffernde Notizen aber kam er vor seinem Tod nicht mehr hinaus. Mächtig Aufsehen und Aufhorchen erregten die ersten Präsentationen der Partitur in Bonn und später in Hamburg. Die daraufhin veröffentlichte CD-Einspielung bestätigte allerdings für jeden ferngebliebenen Hörer nachvollziehbar die Auffassung der anwesenden Fachwelt, dass als Ergebnis des über Jahre vorangetriebenen Vorhabens eine Riesenenttäuschung herausgekommen sei. Mittlerweile darf solches Unterfangen als kalter Kaffee gelten, pfriemelt doch sogenannte Künstliche Intelligenz schon längst auf Wunsch und bei Bedarf weit pfiffigere Melodien und Harmonien aneinander. Gleichwohl lassen die Verfechter einer digitalen Durchsetzung aller Künste nicht locker und auch die Tonkunst nicht aus dem Auge und Ohr. So beglückten die Dresdner Sinfoniker am vergangenen Samstag ihre Gäste im Festspielhaus Hellerau nicht einfach mit der Erstausgabe des Projekts „Robotersymphonie“; mehr noch galt der starke Beifall des innovationsfrohen Publikums dem Dirigenten. Den Dirigiermaschinen, um es exakt zu sagen. Denn das Ensemble, auf zwanzigköpfige Kammerbesetzung beschränkt und obendrein in drei voneinander getrennte Gruppen geteilt, wurde bei Andreas Gundlachs „Semiconductor’s Masterpiece“ von drei Roboterarmen angeleitet. Jeder von ihnen trug einen farbigen Taktstock – rot der eine, der andere gelb, der dritte blau –, und um die futuristische Wirkung zum Äußersten zu steigern, strahlten die Stäbe wie die Lichtschwerter aus der „Star Wars“-Kinosaga. Ausgedacht hatte sich das singuläre Experiment der Orchester-Intendant Markus Rindt, der mit seiner Idee bei den IT-Experten der Technischen Universität offene Türen einrannte. Eine Symphonie Beethovens, räumt Rindt ein, erfordere derlei Technik nicht; wohl aber ein Stück wie „Semiconductor’s Masterpiece“, bei dem die drei Instrumentengruppen in ebenso vielen unterschiedlichen Taktarten und Tempi zu spielen hätten. Medienberichten zufolge brachten die Sinfonikerinnen und Sinfoniker dem Unterfangen offenbar mehr Skepsis als die Zuhörenden entgegen. Hinderlich fiel ihnen auf, dass sie, über die programmierte Zeichengebung hinaus, naturgemäß zu keinerlei Kontakt mit den motorisierten Maestros finden konnten. Dabei hält jeder einigermaßen erfahrene Konzertbesucher und erst recht jeder Ensemblemusiker für selbstverständlich, dass die ganzheitliche Körpersprache eines menschlichen Leitenden am Pult und gerade auch seine Mimik unabdingbar sind für die Interpretation eines zuvor mit ihm geprobten Werks aus dem Augenblick der Live-Aufführung heraus. Zumindest vonseiten der Automaten-Arme verläuft jede Darbietung wie die davor und die danach; allenfalls den Musizierenden bleiben enge Spielräume für Ausdruck und Ausdeutung. Der Apparat reagiert auf das Klanggeschehen vor ihm nicht, blind, wie er ist. Und taub, was schwerer wiegt. Immerhin: Beethoven wars auch. ■


Schwund ist immer

28. September   Über uns gehen sehr merkwürdige Dinge vor, am Himmel herrscht geradezu ein Kommen und Gehen. Dass, nur als Beispiel, der Swing-Bandleader Glenn Miller der Welt des Jazz abhandenkam, an deren Firmament er in der 1940er-Jahren als einer der hellsten Sterne strahlte, jährt sich demnächst zum achtzigsten Mal: Als Luftwaffen-Offizier war er am 15. Dezember 1944 über dem Ärmelkanal in einem Flugzeug unterwegs, bis er damit vom Himmel fiel – seinen Zielort Paris erreichte er nie, und wo die Maschine mit ihm abgeblieben ist, kam nie ans Licht. Im Sommer desselben Jahrs war über den Bestseller-Autor des „Kleinen Prinzen“ ein ähnliches Schicksal verhängt: Von seinem letzten, auf Korsika gestarteten Flug kehrte Antoine de Saint-Exupéry, erfahrener und begeisterter Pilot, nicht zurück, und erst über ein halbes Jahrhundert später erfuhren seine zigmillionen Leserinnen und Leser Näheres über die Umstände seines Todes im Meer vor Südfrankreich, wo im Jahr 2000 das Wrack seines Flugzeugs gefunden wurde. Bezeichnend, dass er schon einmal beinah abgestürzt war: 1935 sah er sich gezwungen, in der Nordsahara notzulanden, wo er fast verdurstet wäre, bis ihn nach fünf Tagen eine Karawane mitnahm. Aber nicht nur Stars, auch echte Sterne verschwinden, scheinbar einfach so. Dieser Tage nannte das Online-Wissenschaftsportal spektrum.de die überraschende Zahl von 5399 Leuchtkörpern, die in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts dem Nachthimmel beim Glitzern halfen, aber in unseren 2020ern – wie Vergleiche neuerer Himmelskarten mit älteren erwiesen – in der Astronomie als abgängig gelten, ohne dass sie als Supernovae explodiert wären. Ein bisschen Schwund ist immer, aber irgendetwas naturwissenschaftlich Begründbares muss mit ihnen geschehen sein, nur können die Forschenden bislang bestenfalls mit dürftigen Theorien zur Lösung des kosmischen Mysteriums beitragen. Immer mal wieder erleben wir selbst, wie uns das Gros der Sterne einfach aus dem Blick gerät: Vom Sternenmeer, wie wir es im Dunkel von Orten bestaunen, die weit genug von der Zivilisation entfernt sind, bleiben nur ein paar Handvoll heller Punkte übrig, sobald wir nächtens in der Stadt unser Augenmerk nach oben richten. Verloren sind die anderen Leuchtpunkte dem Himmelszelt darum nicht; nur vermag unsere Netzhaut ihren Schein vorm schwarzen Hintergrund nicht auszumachen, weil die Grundhelligkeit urbaner „Lichtverschmutzung“ ihn überdeckt. Zugleich taugt wenig so gut wie unser Bild vom Sternenhimmel dazu, uns die unumstößliche Binsenweisheit zu bestätigen, der zufolge nichts ewig hält und nur der Wandel Bestand hat: Denn das Licht der Sterne, die wir wahrnehmen, ist jahrhunderte- oder jahrzigtausendelang unvorstellbar schnell zu uns unterwegs – wer garantiert uns, dass die eine oder andere der riesigen Gas- und Feuerkugeln, während Äonen menschlicher Himmelsguckerei zu Sternbildern gruppiert, nicht schon längst mit gleißendem Pomp unterging? Wenn sich indes auf Erden Idole, Diven, Publikumslieblinge nach kurzem Ruhm verflüchtigen, so vollzieht sich das oft ohne Glanz und Schönheit, was besonders tragisch der Fall Daniel Küblböcks illustriert: Der Sänger und verhinderte „Superstar“ ging 2018 während einer Kreuzfahrt von Hamburg nach New York auf Nimmerwiedersehen buchstäblich unter. Ein Stern, ein Star wurde er erst eigentlich, nachdem er verschwunden war und gerade weil er erlosch. ■