Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Sehnsucht nach dem Frühling
Auch heuer haben die Symphoniker Christian Zacharias nach Hof geladen – und das Publikum wie auch das Orchester huldigen dem Dirigenten und Pianisten geräuschvoll. Zwischen Schloss Eszterháza und der Kulturstadt Linz reiht das Programm drei Perlen der Klassik aneinander.

Der Hand-Werker: Christian Zacharias vor den Hofer Symphonikern während Mozarts letztem Klavierkonzert. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 21. Januar 2025 – Frühling ist noch lange nicht, die Sonne aber, seit Tagen strahlend hell und fast schon wärmend, lässt Wünsche nach Ferien, Urlaub, Reisen keimen. Vielleicht deshalb kommt einem der Titel über dem fünften Hofer Konzert der Symphoniker wie ein Tourenvorschlag vor: „Von Eszterháza nach Linz“ führte am Freitag der Ausflug, über eine ziemlich weite Strecke also quer durch Österreich, gängigen Online-Routenplanern zufolge mit dem Auto in drei bis vier Stunden zu bewältigen. Im Festsaal der Freiheitshalle reichte drei Mal eine halbe Stunde.

     Eszterháza: das „ungarische Versailles“, jenes abseitige, doch prächtige Fürstenschloss, in dem Joseph Haydn über vierzig Jahre lang, bis 1803, als Musikchef und Hauscompositeur diente; und Linz: damals wie heute ein Magnetpol der Musik. Zwischen zwei Hotspots also spannt sich die Werkfolge des – vom Publikum wie von den trampelnden Musikerinnen und Musikern lautstark mit Beifall durchsetzten – Abends aus, an dem Christian Zacharias einmal mehr als Klaviersolist und Gastdirigent zugleich agiert. Zwei Symphonien, von Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart, dazu dessen 27. Klavierkonzert: Andernorts, von Berlin bis Zug, firmieren derlei Angebote weniger geografisch unterm gefälligen Signet „Perlen der Wiener Klassik“. Perlen aber, zur Kette gereiht, muten aus der Nähe einander reichlich ähnlich an. Wird, wer vonseiten der Symphoniker dementsprechend Eintönigkeit befürchtet, eines Besseren belehrt?

Beflügelt

Den Beinamen „Merkur“ klebte erst das neunzehnte Jahrhundert der 43. Symphonie Joseph Haydns auf; niemand kann sagen, warum. Allerdings trägt der flinke Götterbote aus der römischen Mythologie Flügelchen an Helm und Füßen, da mag es sein, dass sie den Dirigenten inspirieren, die „Papa Haydn“-Gemütlichkeit, die dem Werk anhaftet, gemäßigt mit beflügeltem Schwung in Fahrt zu bringen. Stramme Akkorde und schmiegsame Melismen mischt er zum Auftakt und führt dann den Kopfsatz etwas laut, aber leicht bei beträchtlicher Dichte fort. Gleichmaß verordnet er dem begütigend harmlosen Adagio, lässt darin jedoch so wenig Monotonie wie Pathos zu, sondern gibt Klassik-typisch einer „edlen Einfalt“ den Vorzug. Nach ein paar Unsauberkeiten marschiert das Orchester athletisch statt dickfellig durch das Menuett. Schneidig, ohne Überdruck und Schärfe, dafür dem rechten Maß verpflichtet, beschließen Christian Zacharias und die Symphoniker den Satzzyklus mit einem federnd frischen Finale, dessen flotte Tuttiläufe durch Synchronizität und klangliche Eintracht imponieren.

Schloss Eszterháza: Für über vierzig Jahre Dienstort Joseph Haydns. (Foto: Peter Tóth/Pixabay)

     Als Gegengewicht zur nicht zu bestreitenden Bravheit dieser Symphonie hätte sich, nach der Pause, ein zündendes Orchesterwerk der Romantik, besser der Klassischen Moderne empfohlen. Immerhin durchbricht Christian Zacharias den ziemlich uniformen Gestus des Abends insofern, als er in Mozarts 36., der „Linzer“ Symphonie“ (KV 425) herausstreicht, worin sie Haydns „Merkur“ übertrifft: ihre C-Dur-Helligkeit bei anregend wechselreicher Art und Kraft der Beleuchtung, ihre Schatten nicht zuletzt, die Schwermut ahnen lassen, überhaupt den durchaus vorhandenen Konfliktstoff und die emotionale Tiefe, die sich ihm verdankt. Verglichen mit den Hofer Dirigaten der vergangenen drei Jahre zeigt der international arrivierte Künstler diesmal beträchtlich mehr sinnstiftende Körpersprache und verteilt mit der taktstocklosen Handarbeit seiner Gebärden weit einleuchtendere Signale; auch von seinem wachen Mienenspiel gehen sie unmissverständlich aus.

     Als er nach der Pause mit wieder ermunterter Spannkraft aufs Pult hüpft, macht er aus der steifen Majestät der würdevoll getragenen Introduktion mit ihren Pauken und Trompeten kein Hehl. Dann aber setzt er gleich die sacht antreibenden Motorkräfte frei, mit denen das Orchester das anfängliche Allegro spiritoso beseelt. Die ersten Takte des Andante dann lässt Zacharias zunächst vorsichtig sich nähern, bevor er dem Klang zu blühen erlaubt – ein Wechselspiel, das den ganzen langsamen Satz durchzieht. Das Menuett, im Anschluss, erinnert an das haydnsche eine gute Stunde zuvor – bestimmt, wenngleich nicht polternd tritt es auf –, aber jetzt verschafft sich das Trio durch graziöse Weichheit viel mehr Geltung. Schließlich verwandeln die Symphoniker das Finale stürmisch und exakt in der Vielzahl und Vielfalt der Details in eine musterhaft übersichtliche Variation der klassischen Sonaten-Hauptsatzarchitektur.

Aus der Spätzeit

Wenn Christian Zacharias, der Orchesterleiter, requisitenlos als reiner Hand-Werker auftritt, so naturgemäß erst recht als Pianist. Mozarts B-Dur- Klavierkonzert (KV 595) stellt er in die Mitte des Programms, das letzte des Meisters, bei dessen Uraufführung 1791 in Salzburg er auch zum letzten Mal als Solist in eigener Sache auftrat. Die „edle Einfalt“, zumal die „stille Größe“ der bildschönen Komposition deutet Zacharias wie eine schon spätzeitliche Lebensurkunde ihres (freilich nur 35-jährigen) Schöpfers aus: als ein Zeugnis reifer Bedachtsamkeit und Ruhe, der Fassung und Balance.

Linz: Geburtsort von Wolfgang Amadeus Mozarts 36. Symphonie. (Foto: Markus Fischer/Pixabay)

     Sanft, aber klar zeichnend der Anschlag, sparsam dosiert das Pedal, keinerlei Verkrampfung, Übertreibung, Großmannssucht: Entspannt bis zur Lässigkeit parliert sich das Klavierspiel des Interpreten durch die Sätze. Konzentriert und begeisterungsbereit, wie sein Körper beim Anspornen der Symphonien, gleiten seine Finger über die Tasten, während sich Kopf und Schultern oft wie suchend tief darüberbeugen. Die Ausdrucks- und Eindrucksfülle gerade auch der Moll-Momente im Kopfsatz nimmt er in das anschließende Larghetto mit, um es – hier wie in allen Sätzen eng verbunden mit dem Orchester – in reine Intimität und Vertraulichkeit zu verwandeln, leise, schlicht und denkbar weit entfernt von gefallsüchtigen Tastenzaubereien.

     Im dritten und letzten Satz, in dem auch die linke Hand des 74-Jährigen wirkungsvoller als bisher ins Spiel kommen darf, weicht Zacharias dem stets durchhörbaren, subjektiv gebrochenen Ton des mozartschen ‚Spätwerks‘ vielleicht am leichtherzigsten aus. „Komm, lieber Mai, und mache“: So beginnt das Lied mit der nächsthöheren Köchel-Nummer 596, in dessen Melodie das Thema von Mozarts Konzert-Finales neuerlich auftaucht; und es ist, als gäbe sich auch Christian Zacharias der besonnenen Erwartung hin, die der Titel des Lieds aus den letzten Monaten des Komponisten lebensreiselustig benennt: der „Sehnsucht nach dem Frühling“, dem Wohlgefühl in wiedererwachter Natur.

■ Der Hofer Symphoniker im Internet: hier lang. https://www.hofer-symphoniker.de/



David entwaffnet Goliath

Mit Rauschgoldengelsflügeln: Traditionell unterhält die Harfe engste Beziehungen zur Advents- und Weihnachtszeit. Beim vierten Hofer Konzert stellten die Symphoniker den „Zauber“ des extrem unhandlichen, dafür umso magischeren Instruments ins Zentrum eines rein französischen Programms.

Marion Ravot und die von Hermann Bäumer geleiteten Symphoniker: Drei Harfen auf einem Podium (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 10. Dezember 2024 – Noch ist die Musikwissenschaft der Frage nicht nähergetreten, welche Pièce der „Münchner im Himmel“ auf seiner Wolke sitzend wohl mit der Harfe intoniert hat. Die „Danse sacrée“, Claude Debussys „heiligen Tanz“? Wohl eher nicht. Vielleicht nicht einmal das geschwisterliche Gegenstück, die diesseitige „Danse profane“. Unvergesslich erzählte der erzbairische Schriftsteller Ludwig Thoma 1911 vom „Dienstmann 172“ namens Alois Hingerl, den nach übertriebener Hast der Schlag getroffen hat; im Jenseits mit einer Harfe ausgestattet und mit der „Hausordnung“ vertraut gemacht, ist ihm zum Tanzen wahrlich nicht zumut, muss er doch fortan vormittags „frohlocken“ und nachmittags Hosianna singen. „‚Auweh!‘, dachte der neue Engel Aloisius, ‚dös werd schö fad!‘“

     Muss es nicht werden. Als wollten die Symphoniker den unwilligen Himmelsmusikanten Lügen strafen, widmen sie ihr viertes Hofer Konzert im Festsaal der Freiheitshalle ganz dem „Harfenzauber“, der Magie eines Instruments mithin, das seines gleichsam gläsern-überirdischen Idioms wegen von alters her besonders gern in der Advents- und Weihnachtszeit bemüht wird. Nichts entspreche „in so hohem Maße unseren Vorstellungen von überirdischem Festgepränge, von religiöser Pracht und Herrlichkeit“ wie der „außerordentliche Glanz“ des Harfenklangs, rühmte Hector Berlioz. Nicht ein Instrument allein, gleich zwei der eleganten Ungetüme prangen rechts hinten auf dem Podium, und eine drittes wird, reichlich pragmatisch, mit einer Sackkarre für die Solistin herein und nach vorn an die Rampe gerollt. Dort ragt es eindrucksvoll wie ein kolossaler Rauschgoldengelsflügel auf, vor dem eine umso zierlichere Französin, Marion Ravot im weihnachtsfraulich roten Kleid, Platz nimmt, um ihre schlanken Finger behutsam auf die Saiten zu legen.

Ein Reinschmeißer

Behutsam klingt vieles an diesem Abend, wenngleich nicht alles. Im Gegenteil: Nicht mit einem Rausschmeißer, sondern einem ‚Reinschmeißer‘ hat sich das Orchester zuvor ins Programm gestürzt, schon dem Titel nach mit einer Eröffnungsmusik, einer „Ouvertüre“. Als gewitzt gearbeitete Unterhaltungsmusik inszeniert Hermann Bäumer das kurze, bestechend instrumentierte Werk George Aurics, einem 1983 gestorbenen Landsmann der Solistin. Als hätte der Gastdirigent als Parole „Gehörig aufdrehen!“ ausgegeben, fliegen die Musikerinnen und Musiker in clownesker Unaufhaltsamkeit durch eines der turbulentesten Stücke des vergangenen Jahrhunderts.

     Da müssen sie im nun folgenden Harfenkonzert der – in Fachkreisen als Pionierin hochgeschätzten – Henriette Renié nicht nur etliche Gänge herunter-, sondern auch auf eine andere Gewichtsklasse umschalten. Wiewohl 1901 uraufgeführt, bewegen sich die vier Sätze des gehaltvollen Werks nicht auf den schimmernden Wegen des Impressionismus, sondern noch fast ausschließlich in den kultivierten Leidenschaften französischer Hochromantik. Passioniert tritt die junge Interpretin in den Kopfsatz ein, in dem ihre so zarten wie grifffesten und -sicheren Finger sogleich vielerlei Kaskaden perlen lassen. Nicht nur zupfen, auch immer wieder dämpfen müssen sie die Saiten, sodass sich sachte Staccatos in die poetisch hallenden Akkorde und Arpeggien mischen; und nicht nur Ravots Hände sind rastlos tätig, auch die Füße haben ihr Teil zu tun: Wie die Künstlerin die sieben Pedale gebraucht, bleibt Uneingeweihten ein Buch mit sieben Siegeln.

„Hingabe und Talent“

War schon dem Allegro-Kopfsatz ein pendelnder Dreiertakt unterlegt, so verfeinert er sich im Adagio, dessen süße Schwermut die Harfenistin und ebenso das klangsinnige Orchester mitunter zu echter Traurigkeit vertiefen. Zügig, gespannt und straff (dabei zwischen den Parteien nicht durchweg ganz synchron) gerät das Scherzo, dessen Trio die Solistin indes wiederum ganz zurücknimmt, hier zum Schlaf- und Wiegenlied nach Art einer Berceuse. Selbst das Finale, das sie entflammt rhapsodisch beginnt, bevor seine Substanz einigermaßen ausdünnt, weiß sie zu veredeln, indem sie weder ihrem meisterhaften Spiel Schwachheiten noch ihrer Expressivität Blässe erlaubt.

     Somit ist Ludwig Thomas unwirsch in die Saiten greifender Engel Aloisius widerlegt: Immer schön, doch nie „schö fad“ tönt das alles, und was vor 123 Jahren ein Kritiker der Weltpremiere über die Komponistin Henriette Renié als Erstsolistin ihres Werkes schrieb, lässt sich ungeschmälert auf Marion Ravot übertragen: nämlich dass sie „eine herausragende Virtuosin ist, die von der Harfe alles weiß, was man darüber wissen kann. Das Publikum belohnte sie für ihre Hingabe und ihr Talent mit großem Applaus.“ Der wird ihr noch einmla nach Claude Debussys „Danse sacrée et danse profane“ zuteil. Begleitet wird sie dabei nur von den Streichern des Orchesters, die Hermann Bäumer anfangs zu gewichtslosen Schwebeklängen anhält. Im ersten, dem „heiligen Tanz“ entschlägt sich die Solistin wohlweislich jeder gekünstelt somnambulen Fantasterei und trifft darum erst recht die schlichte „religiöse Pracht“ eines paganen Kults mit seiner sanften Berauschtheit; ihn steigert sie im „weltlichen“ Pendant mit gewandt wechselnden Leuchtkräften zu apart-edler Ekstase.

Wandelbar und flüchtig

Manch einer freilich mag fragen, warum ausgerechnet ein so schwergewichtiges Instrument wie die Harfe zum Tanz auffordert. Hier weiß, genauer als die Musik-, die Bibelwissenschaft Antwort: Griff nicht der größte König der Hebräer, David, freudetrunken zu eben diesem Instrument (wenn auch gewiss zu einem in handlicherem Format), besonders publikumswirksam, als er „springend und tanzend“ die heilige Bundeslade endlich nach Jerusalem führte? An Debussys „Danses“ fügt die Künstlerin denn auch gleich dessen „Valse romantique“ als Zugabe an – und leitet damit sinnvoll über zu Maurice Ravels „Valses nobles et sentimentales” mit ihren sieben kurzen, in ihrer Wandelbar- wie Flüchtigkeit betörenden Tänzen. Die Suite bildet das im doppelten Wortsinn impressionistische Schlussstück des Programms: so eindrucksvoll wie ausdrucksvoll.

     Im ersten Stück zwar treibt Dirigent Hermann Bäumer das Orchester zu schmetternder Schmissigkeit an und verlangt der Trommel und dem Tambourin geziemendes Gerassel ab; den vierten, wiegend wienerischen Walzer, desgleichen den wirbelnden siebten und dessen zitternd-zerrissenen Mittelteil führt er gar an die katastrophische Zerstörungswut des etwa zehn Jahre später uraufgeführten poème choréographique „La Valse“ heran. Tiefgreifender aber wirken dazwischen das – extrem langsam genommene – Nachtstück des zweiten Tanzes mit dem Leuchtenh der tiefen und der hohen Flöte oder, gleich danach, die wunderbar leichte Kindlichkeit des dritten, der durch mancherlei Schwerpunktverschiebungen innerhalb des Walzertakts den Anschein erweckt, er wolle in eine verspielte ‚Unordnung‘ geraten. Ähnlich geschickt hebelt Bäumer im sechsten Stück den ‚geraden‘ Rhythmus persiflierend aus. Im „Épilogue“ schließlich montiert er gelinde empfindsame wie herzhafte Motive der vorangegangenen Walzerfolge auseinander, um sie immer seidiger zu Jenseitslauten zu vergeistigen, bis sie in Wolken des Wohlgefallens aufgehen.

Tänze nur zum Hören? Aus dem Konzertsaal heraus hat Ravel seine Suite auch aufs Theater gebracht: Als Ballett heißt sie „Adélaïde ou Le langage des fleurs“. Wo auch immer – mit seiner „Sprache der Blumen“ entwaffnet der Komponist, als „nobler“ und „sentimentaler“ David, mühelos Ludwig Thomas sauertöpfischen Saitenspieler Aloisius, den Goliath unter den Grantlern.

■ Der Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.



Auf die Hoffnung warten

„Machet die Tore weit“: Der Kammerchor Hof lud zum Adventskonzert. Freilich gab sich das Ensemble unter Wolfgang Wesers Leitung nicht einfach damit ab, das Publikum mit vorweihnachtlichen Gefälligkeiten einzulullen. Nicht als Mahnruf, doch als Weckruf wollte das tiefsinnige Programm verstanden sein.

Wolfgang Weser vor dem Kammerchor in St. Lorenz: "Der Morgenstern ist aufgedrungen." (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Naila/Hof, 5. Dezember 2024 – Man muss nicht fromm sein, um Advent zu feiern. Zwar sehen die Christen am Beginn des Kirchenjahrs dem Geburtstag ihres Messias entgegen und schauen auch schon mal auf dessen irgendwann fällige Wiederkehr voraus. Aber die allzu vielen Dunkelstunden am Ende des Kalenders setzen wohl den allermeisten Zeitgenossen und -genossinnen zu, und auch Agnostiker und Atheisten freuen sich darauf, dass der nächste Morgen mit dem Licht eines neuen Tages über der in mancherlei Hinsicht  verdüsterten Welt aufgeht. Spätestens um halb neun lässt sich mit Worten der frühen Neuzeit sagen: „Der Morgenstern ist aufgedrungen.“

     Mit jenen Worten begann der Kammerchor Hof angemessen sein Adventskonzert – wobei zu überlegen wäre, welchen „Stern“ der Dichter und die Komponisten, Daniel Rumpius sowie Michael Praetorius und Otto Riethmüller, wohl gemeint haben: die Sonne? Oder die Venus, die den Aufgang des Zentralgestirns ankündigt und theologisch zudem für Jesus Christus steht? Geht es pragmatisch um Astronomie? Oder um geistliche Allegorie?

Herzhaftes Stimulans

Gerade zweieinhalb Monate ist es her, dass Wolfgang Wesers hochmögendes Ensemble mit dem Konzeptprogramm „Warning to the Rich“ gewissenlosen Selbstbereicherern und Materialisten himmlische Vergeltung vorausgesagt hat. Diesmal, erst in der Nailaer Stadtkirche, tags darauf in St. Lorenz in Hof, machte der Chor es dem besonnen lauschenden Publikum ein wenig leichter. Freilich lässt er sichs auch jetzt nicht angelegen sein, die Zuhörenden mit duftigen Tönen von Apfel, Nuss und Mandelkern gefällig einzulullen; lieber stimmt er mit feinfühlig aufeinander bezogenen Chorälen und Motetten auf Sinn und Bedeutung von Advent und Weihnachten ein. Nicht zum Warnruf, doch zum Weckruf hat der Chorleiter, neuerlich imponierend in seiner Werkkenntnis, die Bieträge zusammengefasst. 

     Obendrein wirkt ein explizit aufscheuchendes Instrument mit: Sowohl solistisch als auch von Dorothea Weser an der Orgel begleitet, erweckt Trompeter Sergey Storozhenko das Auditorium mit alter Musik von Georg Friedrich Händel, mit romantischer von César Franck, mit neuer von Théo Charlier. Die Bläserkünste des jungen, schon staunenswert versierten Künstlers rütteln nicht erschreckend auf, lassen aber als mal mehr, mal weniger herzhaftes Stimulans aufhorchen. Auch mit dem Chor verbindet Storozhenko sein Spiel, in einer „Fantasie“ von Johann Ludwig Krebs: „Wachet auf, ruft uns die Stimme“.

Archaisches Dunkel

Dass Weihnachten ein sehr säkulares Fest geworden ist, verleugnet die Trompete in Händels D-Dur Suite mit ihrer diesseitigen Lebensfülle nicht. Wirkungsvoll kontrastierend hält, unmittelbar danach, ein Advents-Kyrie des 1960 gestorbenen Günter Raphael über „Maria durch ein Dornwald ging“ dagegen: Geheimnisvoll in der Herbheit des Zusammenklangs verbreiten die fünfzehn Sängerinnen und zehn Sänger ein archaisches Dunkel, um damit die folgende Motette von Heinrich Schütz gleichsam einzukleiden. „Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes“, predigt der Chor mit Worten aus dem neutestamentlichen Titus-Brief, singt in lehrhafter Nachdrücklichkeit vom „Warten auf die Hoffnung“ und stellt sich damit einer doppelten Ungewissheit: Nicht erst vor das Gute, das zu guter Letzt ‚von oben‘ kommen soll, sondern schon vor die Hoffnung darauf hat der Himmel erst einmal das Warten gesetzt.

     Vom Christenmenschen ist mithin viel unverdrossene Geduld verlangt, denn „Hie leiden wir die größte Not“, wie es bei Johannes Brahms heißt. In seiner Version von „O Heiland, reiß die Himmel auf“ identifizieren sich die Vokalisten geziemend mit dem Klagegestus der wandlungsreichen Motette und sparen selbst mit akzentuierter Seufzer-Motivik nicht; dabei wissen sie, während der cantus firmus von Stimme zu Stimme wandert, ihre variablen Druckkräfte jeder neuen Strophe ungezwungen neu anzupassen. Die (auch an anderer Stelle) gelegentlich labilen Einsätze fallen nicht sehr ins Gewicht; umso mehr die Tugenden der Damen und Herren, die das Schlussstück, Andreas Hammerschmidts „Machet die Tore weit“ aus dem siebzehnten Jahrhundert, beispielhaft zusammenfasst: Durchsichtigkeit der musikalischen Faktur, Leichtigkeit der Deklamation bei verständiger Einsicht in die Spiritualität der Texte, lichte Höhen, stabile Tiefen, Geläufigkeit bei hochgradiger Simultaneität …

Zu den Wurzeln

Solche Qualifikationen kommen erst recht der Vertonung zweier Antifonen durch den heute siebzigjährigen Litauer Vytautas Miškinis zugute, den diffizilsten Werken des Abends. Wachsam hören die Chorstimmen aufeinander, um die avancierte Harmonik der Sätze luzid zu modulieren. Im einen Stück, „O radix Jesse“, führt das Ensemble die Geburt des Messias auf Jesu „Wurzel“ zurück, auf Isai, den Vater Davids, des prominentesten hebräischen Königs. 

     Von der Empore herab lässt Dorothea Weser andächtig „Nun komm, der Heiden Heiland“ folgen, einen der genialsten Orgelchoräle Johann Sebastian Bachs; seine zu Tode betrübte und zugleich erwartungsvolle Haltung greift zurück auf Miškinis’ schon früher intoniertes „O Oriens“: Da haben Wolfgang Wesers Sängerinnen und Sänger die „Finsternis“ und den „Schatten des Todes“ mit wundersamen Tiefenwirkungen „erleuchtet“. So kündigt – je nach Übersetzung – der „Morgenstern“ oder „die Morgenröte“ nicht den ersehnten hellen Tag allein an, sondern ebenso die „Sonne der Gerechtigkeit“ mit ihrem „Glanz des ewigen Lichts“. In Zeiten meteorologischer wie weltpolitischer Kälte kann die hoffende Menschheit, ob gläubig oder nicht, solch weihnachtliche Erderwärmung gut gebrauchen.

■ Der Kammerchor Hof im Internet: hier lang.



Der Kreis schließt sich

Nicht nur, aber vor allem mit südosteuropäisch inspirierten Klängen zerstreuen die Hofer Symphoniker unter Ben Palmer ihr trefflich unterhaltenes Publikum in Selb. Erst 24-jährig, glänzt die Geigerin Anne Luisa Kramb mit zwei herausfordernden Schlachtrössern der Virtuosenliteratur.

Anne Luisa Kramb (mit Ben Palmer und den Hofer Symphonikern): Akrobatische Saiten-Seiltänzerei. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Selb, 26. November 2024 – Das Werk ist gut. Aber das Wort ist böse. Sollte ein Konzertstück heute, fast 150 Jahre nach seiner Uraufführung, noch „Zigeunerweisen“ heißen? Wenn es nach der, durch das Z-Wort beleidigten, Minderheit der Sinti und Roma geht, wohl nicht. Für das Schnitzel mit dem ähnlich verfänglichen Namen fanden Speisekarten-Autoren inzwischen fantasievolle Aushilfsbezeichnungen. Aber die Pièce des einstigen spanischen Geigenstars Pablo de Sarasate? Hieße sie künftig trivial ‚Puszta-Weisen‘ oder ‚Balkan-Melodien‘ – bliebe sie dann das, als was sie seit 1878 Berühmtheit genießt: ein Leib- und Magenstück aller ehrgeizigen Violin-Artisten? Und das vergleichbar herausfordernde Opus, das 1924 in Frankreich entstand, wo das böse Z-Wort ein T-Wort ist: „Tzigane“? Die Rhapsodie dieses Namens schuf Maurice Ravel als eines seiner letzten Werke.

     In Selb, wo beide Kompositionen beim jüngsten Konzert der Hofer Symphoniker erklangen, nahm dem Augenschein nach niemand Anstoß. Gewiss nicht der leutselig ins Publikum des Rosenthal-Theaters lächelnde Gastdirigent Ben Palmer. Auch nicht Anne Luisa Kramb: Fast mädchenhaft mutet die Künstlerin noch an, sodass man fürchten könnte, sie sei mit ihren 24 zu jung an Jahren, um gleich zwei derart gefürchteten Schlachtrössern der Konzertliteratur Herrin zu werden. Wirklich scheint es bei Ravels Spätwerk ein paar Anfangsaugenblicke lang, als könnte sie mit ihrer Tongebung und Technik an ihre Grenzen stoßen. Schnell aber leuchten die Gründe ein, denen die Künstlerin den Deutschen Musikpreis des Jahres 2022 verdankt.

Teufelsgeigereien

Denn rasch und überlegen findet sich Kramb fortan in die Gesten und Gefahren ihres teufelsgeigerischen Parts, mit flammend akzentuierten Leidenschaften und sehnigem Legatospiel zunächst. Als wärs aus dem Stegreif, befreit in der eröffnenden Kadenz ihr passioniert beseelter, mit agilem Leben prallgefüllter Ton ein Raunen und Räsonieren, Flehen und Fantasieren, das sodann, mit dem Einsatz des Orchesters, in unterschiedlichste Facetten einer sich steigernden Ekstase übertritt. Hier – und ebenso in Pablo de Sarasates Geschwister-Werk nach dessen mannhaft, wenn auch tränenfeucht klagendem Anfangsteil – darf die unaufdringlich auftretende, aber von vielerlei Künsten und Kräften berstende Solistin das ganze Repertoire akrobatischer Saiten-Seiltänzerei ausbreiten. Ihre stupend gelenkigen Finger absolvieren Pizzicati da mit der Linken, dort mit der Rechten und auch schon mal gleichzeitig mit beiden Händen. 

     Auf den Saiten und über sie hinweg pickt und springt Krambs Bogen, ohne dass sie einen Ton verfehlt oder verliert. Sanft pfeifen ihre Flageoletts in höchsten Sphären. Rasant wie die Register wechselt sie die Ausdrucksweisen, zieht sich intim ins Sentiment zurück, gibt sich im Verein mit der Harfe Momenten der Magie hin, sucht im gleichzeitig sich aufheizenden Orchester nach Zuspruch, Rückendeckung, Echo. Versehen mit reichlich Energiereserven, steuert sie in beiden Werken die Stretta-haften Schlussstrecken an, lässt das Pathos noch einmal rauschhaft überschäumen, schließt mit Aplomb. Dass der jungen Frau daraufhin gehöriger Jubel entgegenflutet, versteht sich von selbst. Zugaben schenkt sie sich: Erschöpfter als sie selber scheint das Publikum zu sein.

Ländliche Töne

Folkloristisch hat der Abend schon begonnen: mit einem „Concert Românesc“. 1951 schuf György Ligeti aus vier miteinander verknüpften, fesselnd ohrenfreundlichen Sätzen dies ‚rumänische‘, moderne Concerto grosso, bevor er sich ganz in die Riege der maßgeblichen Neutöner einreihte. Mal um Mal treten Musikerinnen und Musiker aus den Reihen der Symphoniker mit temperamentvollen oder inbrünstigen Soli hervor, im behänd wirbelnden zweiten Satz etwa die pfiffige Piccoloflöte und die Konzertmeistergeige, die sich in Teil vier in höchste Höhen schwingt, um sich unter Lorenzo Luccas flinken Fingern schier heiß zu laufen. Am ungewöhnlichsten gelingt dem Orchester und Ben Palmer der dritte Satz: Da imitieren die Hörner, ohne Ventile geblasen, die Naturtöne eines „Buciums“, einer Art von Alphorn, und überraschen mit einem absichtsvoll derb-dissonanten Zug archaischer Ländlichkeit.

     Wie aber setzt sich, nach der Pause, Joseph Haydn, der Wiener Klassiker, mit den bislang südosteuropäischen Klangsphären des Programms ins Verhältnis? Immerhin, jahrzehntelang stand er im Westen Ungarns dem Orchester auf Schloss Eszterháza eifrig als Dirigent und superproduktiver Tonsetzer vor. Allerdings ist seiner 88. Symphonie landestypisch Magyarisches kaum anzuhören. Der britische Dirigent, der im April dreitausend Besucherinnen und Besucher der Hofer Freiheitshalle mit Filmmusiken von John Williams und Hans Zimmer entzückte, beweist am Pult des umso schütterer besuchten Rosenthal-Theaters, dass er sich auch im sogenannten ernsten Fach mit Fug und Recht zu Hause fühlt.

Pointierte Kurzweiligkeit

Gerade ernst darf man das ziemlich kurze, von pointierter Kurzweiligkeit blitzende G-Dur-Werk freilich nicht nennen. Auf lichtdurchlässigen und leichten Zusammenklang, auf Akzente, die nicht bedrücken, aber zünden, schwören Palmers oft triumphal über den Kopf gereckte Gebärden die Symphoniker ein. Vibratolos lässt er die Streicher musizieren, ohne das Spiel darum zu verflachen. Munter führt er das Orchester nach der – noch gravitätischen – Introduktion durch den Kopfsatz, bevor er Pauken- und Trompeten im Largo anweist, die in schönen Dunkeltönen verweilende „Papa Haydn“-Behaglichkeit paradox durch grelle Einsätze zu durchstoßen. Den untergründig unaufhaltsamen Elan des deftigen Scherzos unterbricht er mit der Schärfe des überraschend volkstänzerischen Trios: scharfe Dudelsack-Melodik über insistierend unveränderlichen Liegetönen, wiederum südöstlich gefärbt. Haydn übernahm sie, wie man nachlesen kann, aus der traditionellen Musik Sloweniens.

Als Zugabe (nach dem flatterhaft-schwerelosen Finale) schiebt der Dirigent noch einen Schwung Volkstänze nach. In Rumänien hat Béla Bartók sie gesammelt und notiert, sodass sich mit ihnen der Kreis vollends schließt, aufgekratzt, sogar entfesselt. Am bestens unterhaltenen Publikum tun die Symphoniker und der Dirigent damit ein gutes Werk, und es fällt kein ‚böses‘ Wort dabei.

■ Der Spielplan des Selber Rosenthal-Theaters im Internet: hier lang.
■ Der Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.


Josef K. ist nicht zu retten

Wie viele Dezibel verträgt Franz Kafka? Eine tschechische Band, die seinen Namen trägt, mischt in Hof den großen, aber eher leisen Dichter gehörig auf. In ihrer ambitionierten Version des „Processes“ gegen Josef K. tritt nicht zuletzt das düster-unheimliche Prag in den Zeugenstand.

Die Kafka-Band mit Jaroslav Rudiš und Jaromír 99, Dušan und Tomáš Neuwerth, Lukáš Morávek, Zdeněk Jurčík und Petr Weiser.


Von Michael Thumser

Hof, 23. November 2024 – In Franz Kafkas berühmtestem Werk „Der Process“ schiebt sich gegen Ende unverhofft eine Parabel ein, die seltsam für sich steht und doch unbedingt zum Buch gehört. „Ein Mann vom Lande“ will Eingang zum Gesetz erlangen, doch der Türhüter hält ihn auf: Er soll erst mal warten. Allerdings: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn.“ Das indes wagt der Mann nicht, „Tage und Jahre“ bittet und fleht er, bleibt dabei aber tatenlos auf seinem Schemel sitzen – bis er unmittelbar vor seinem Tod erfährt: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt.“

Jaroslav Rudiš, Schriftsteller und Initiator des Kafka-Projekts: Abschluss einer Trilogie. (Fotos: thu)

     Ganz eigenen Gesetzen folgt  Kafkas singuläre Prosa. Wie den Eingang zu ihr finden? Ungeachtet ihrer Unbestimmtheit und Verrätselung, erweckt sie durch ihre klare, unaufgeregte Sprache den Eindruck, als stände da eine Tür weit offen. Gleichwohl gelingt es dem Verstand nicht, die letztlich unerschließbare Welt dahinter analysierend und begreifend zu durchschreiten. Wenn aber nicht dieses Mittel taugt, welches dann? Literaturkundige Intuition, zwischenmenschliche Empathie? Helfen womöglich die anderen Künste? 

     Wirklich haben auf dem Weg der Musik schon viele nach Einlass gesucht: zuallererst der erste Herausgeber Kafkas, sein komponierender Schriftstellerfreund Max Brod, später Ernst Krenek und Hans-Werner Henze, Gottfried von Einem und Aribert Reimann, György Kurtág und Ruth Zechlin … Auch Philip Glass: Seine Opern „In der Strafkolonie“ und „Der Prozess“ kamen, suggestiv inszeniert vom heutigen Intendanten Lothar Krause, 2019 und 2021 im Theater Hof heraus. Im „Prozess“ sang Karsten Jesgarz – K.J. – die Hauptrolle des J.K., jenes Bankprokuristen Josef K., den „jemand verleumdet haben musste, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet" und wird, nach einjährigem unnützem Ausharren vor den Türen und in den Labyrinthen einer unnahbar gesichtslosen Bürokratie, hingerichtet: abgestochen „wie ein Hund.“

Amalgam der Stile

Als ob gerade dieser Schriftsteller zwingend nach Musik jeder Provenienz verlangte, hat sich eine zeitgenössische, experimentierfreudige Formation nach ihm benannt: Aus Tschechien kam die Kafka-Band am Mittwoch nach Hof, um dort – noch rechtzeitig bevor das allüberall reichlich zelebrierte hundertste Todesjahr ihres Namenspatrons zu Ende geht – ihre Version des Romans vorzustellen. Damit erreicht eine Trilogie ihren Abschluss: Zuvor schon verarbeitete die Gruppe um den Schriftsteller Jaroslav Rudiš und den Zeichner und Musiker Jaromír 99 platten- und bühnenreif „Das Schloss“ und „Amerika“, die beiden anderen (weit fragmentarischeren) Romane des Dichters. Aus Prag, wo Kulturamtsleiter Peter Nürmberger das dritte Projekt live erlebt hatte, brachte er erst seine Begeisterung, jetzt, im Zeichen der „besonderen Verbundenheit Hofs mit Tschechien“, die Musiker persönlich in die Freiheitshalle: außer den beiden genannten auch Dušan und Tomáš Neuwerth, Lukáš Morávek, Zdeněk Jurčík und Petr Weiser. Dass die sieben nur ein sehr überschaubares Publikum anzogen, mag jene, die sich einfanden, verwundern: Die gingen hingerissen mit und applaudierten gewaltig und im Stehen.

Jaromír 99, Zeichner, Musiker, Sänger: Besondere Verbundenheit zwischen Hof und Tschechien.

     Mit Gitarren, Keyboard und Schlagzeug, Melodie- und Sprechgesang folgt die Band den zwölf Kreuzweg-Stationen des Buches und Josef K.s bis in den Tod. Als Amalgam aus „Electro, Industrial, Dark Wave, Jazz, Pop, Prog-Rock, Ambient und Folklore“ beschreiben Kenner den eigenwilligen Mischstil der Truppe. Natürlich setzt auch sie den längst sprichwörtlichen Anfangssatz des Romans an den Beginn, durchquert später einen makabren „Maskenball“, irrt mit dem schuldlos Beschuldigten durch graue „Kanzleien“, stellt ihm einen „Advokaten“ an seine Seite und sucht mit ihm fruchtlos Trost im „Dom“, lässt sich vom „Türhüter“ der Parabel desillusionieren und verharrt „im Mondschein“, bevor das „Ende“ in Gestalt von zwei Schlächtern an den Delinquenten herantritt: „Josef K. ist nicht zu retten.“

     Im Urtext machen Schauplätze der Verlassenheit und des Ausgegrenztseins, Erlebnisräume ohne chronometrische Zeit, ohne festen Grund und ohne Begründungen K.s Sinne schwindeln und schwinden. Auf der Bühne des Festsaals bemühen sich Kunstnebel und wabernde Farben, flackernde Lichter und tiefe Schatten um die Erschaffung der „kafkaesken“ Welt: also einer, die stets verschleiert bleibt und nie sich aufklärend erhellt. Als Anführer und Leadsänger rezitiert Jaroslav Rudiš Passagen aus dem Roman und kommentiert sie, er raunt und haucht, summt und brummt Texte Kafkas, dazu nachempfundene und -erfundene Verse auf Tschechisch, Englisch, Deutsch. Akustisch zu verstehen ist davon kaum ein Viertel. Währenddessen überträgt die Band die Atmosphäre in eine Musik aus minimalistischen Grundmotiven, in insistierende Drum-Tumulte und hymnische Balladen des exquisiten Trompeters, gelegentlich in poetische Harmonien und Zwischenphasen der Beruhigung, aber auch in ein wunderlich brachiales Liebeslied.

Metropole des Mystischen

Die Nacht- und Schattenseiten Prags, der für Zwielichtes, Unerfindliches und Unbegreifliches seit jeher empfänglichen Metropole des Mystischen, beschwören die sieben schwarz gekleideten, auf Performance weitgehend verzichtenden Künstler gleich mit und treffen dabei immerhin die okkulte Sphäre etwa Gustav Meyrinks und seines „Golems“. Auch die unerklärliche Gegenwelt Franz Kafkas mit ihren Regelwidrigkeiten, Seitenverkehrungen, ihrem Widersinn? Nicht so sehr grauenerregend als grausig geht es bei der Band zu, gruselig statt destabilisierend, mehr überrumpelnd als verängstigend. Pathos, Pose und nicht zuletzt die meist gesteigerte, bisweilen wummernde, auch schon mal gewitternde Lautstärke stehen von vornherein gegen den kristallinen, absichtsvoll unartifiziellen Lapidarstil Franz Kafkas, mit dem er das Doppelbödige und Unergründliche, Absonderliche und Albtraumhafte mit der Selbstverständlichkeit eines Alltagsereignisses erzählt.

     Hätte K. – F.K. – Gefallen gefunden an der Band mit seinem Namen? Schwer zu sagen. Um sich geehrt zu fühlen, war er wohl allzu selbstkritisch in sich gefangen. Auch gab er zu, unmusikalisch zu sein, und konnte Lärm nur schwer ertragen.

■ Die Kafka-Band im Internet: hier lang.
■ „Der Process“ erschien 2023 beim Label Indies Scope (auf CD, 2 LP, Stream).
■ Das Konzert wurde vom Rotary Club Hof-Bayern großzügig finanziell unterstützt.



Musik zum Schauen
Kompositionen aus Spanien müssen einem nicht spanisch vorkommen: Beim dritten Hofer Konzert der Symphoniker feiert das Publikum den fabelhaften Gitarrensolisten Ricardo Gallén und Johannes Wildner als launigen Gastdirigenten. Dem Riesenbeifall für beide schließt sich das Orchester an.

Ricardo Gallén vor den von Johannes Wildner geleiteten Symphonikern: Anteilnahme eines Empathikers. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 19 November 2024 – Können Blinde sehen, wenn sie träumen? Ein Gedicht beschreibt die Gärten von Schloss Aranjuez als Gefilde der „Liebe“, der „Erinnerung“ – als „Ort der Träume“. Was wohl mag sich Joaquín Rodrigo, der als Dreijähriger sein Augenlicht verlor, in den Parks ausgemalt haben? Gemeinsam die Wege durchstreifend, trauerten er und seine Frau Victoria um ihren Sohn, der nicht lang zuvor tot zur Welt gekommen war. Beides, die Düfte des „spanischen Versailles“ und der Kummer um das Kind, flossen 1939 in einem Gitarrenkonzert zusammen, das bestimmt war, das prominenteste der Welt zu werden, und dem besagtes Gedicht als Anregung diente.

     Musik zum Anschauen: Zum „Tongemälde“ taugt namentlich der berühmte Mittelsatz. Der verströmt In Hof, beim dritten Konzert der Symphoniker am Freitag, seine anrührenden Tiefenmelancholie unwiderstehlich unverschleiert. Ohne Sentimentalität, aber mit der Anteilnahme des Empathikers versenkt sich Ricardo Gallén in die weiträumige Rhapsodie. Zuvor hat Gastdirigent Johannes Wildner den Einsatz des Solisten mit einem Streicherteppich vorbereitet, mit dem Seidenglanz einer würdevollen Traurigkeit, über der das Englischhorn die längst volksliedhafte Adagio-Melodie betörend schmerzlich intonierte. Die solcherart angestimmte schwermütige Gesanglichkeit nimmt Gallén, 52-jähriger Landsmann des Tonsetzers, mit den sechs Saiten seines Instruments zauberisch auf. Aus dem Schimmer der kantablen Mittellage setzt er sich später ins Dunkle ab, ins tiefe Register, um tragische Untröstlichkeit zu entfalten. Kurz darauf wiederum widerspricht er sich selbst mit den hektisch-heftigen Protestnoten der Kadenz. Als er in die Schlusswendungen des Satzes einmündet, ist es, als könnte er an dessen unverhofftes Dur selbst kaum glauben.

Vollendete Neoklassizität

Für die Ecksätze garantieren das faszinierend leichte Gebaren des Orchesters und nicht zuletzt seine stupend gelingenden Pianissimo-Einsätze dem Interpreten eine so luftige wie tragfähige Basis. Aber schon im Auftakt-Allegro, einem Meister- und Musterstück vollendeter Neoklassizität, imponiert Ricardo Gallén – den das Publikum später, nach zwei Zugaben, feiern wird – durch gedankenvolle Hochkonzentration. Sie erlaubt es ihm, mit weich-fließender Tongebung eine leise Wehmut, aber ohne Jammer, eine stille Skepsis ohne Verzweiflung zu verbreiten. Ebenso wenig mag er im Finalsatz den rassig-rasenden Gitarrero geben: Sinnend, Kopf und Nacken übers Instrument gebeugt, schließt er sich wie ein Denker in sich ein und erinnert so fast wunderlich an die berühmte Skulptur Auguste Rodins.

     Vor der Uraufführung in Madrid machte sich Joaquín Rodrigo begreiflich Sorgen, ob die Gitarre mit ihren delikaten Mitteilungen vor einem Orchester werde bestehen können. In Hof geht Ricardo Gallén ein Risiko gar nicht erst ein: Halb verborgen zwischen ihm und dem Dirigentenpult hat er einen, wenn auch kleinen, Lautsprecher postiert. Anders geht es in Juan de Arriagas Symphonie zu: Mühelos macht sie sich unplugged verständlich. Etwa achtzehnjährig hat das spanische Wunderkind aus Rigoitia bei Bilbao sie geschaffen. Den „begabtesten spanischen Komponisten der Romantik“ hat man ihn genannt, einen „baskischen Mozart“; dazu passt, dass er genau fünfzig Jahre nach dem österreichischen Genie das Licht der Welt erblickte. Doch nicht mal zwanzig Jahre leuchtete es ihm: Zehn Tage vor dem runden Geburtstag erlag Arriaga der Schwindsucht.

Eine ‚diverse‘ Symphonie

Als Jugendwerk lässt sich das ehrgeizige Opus mit den trefflichen fünf ersten  Symphonien des Teenagers Franz Schubert vergleichen, hauptsächlich in den Ecksätzen. Arriagias Symphonie zeigt freilich schon darum ein eigenes Gesicht, als sie ‚diverse‘ auftritt: Steht sie in D-Dur – oder in d-Moll? Ihr Tongeschlecht bleibt ungeklärt, bereits im Kopfsatz. Für dessen Adagio-Introduktion nehmen Johannes Wildner und die Musikerinnen und Musiker eine anfangs feierliche, dann frohgemute Haltung ein – bis sie passioniert ins düstere Hauptgeschehen überwechseln. Das dynamische Spektrum in allen vier Sätzen weit ausschreitend und kräftige Akzente platzierend – der Pauker schlägt mit harten Schlägeln zu –, setzt der Dirigent auf eine betont drängende Darstellung. Ins entsprechend stark beunruhigte Finale fügen die Holzbläser chromatische Tonleitern wie Seufzer, wenn nicht Aufschreie ein – erst dann bringt das Orchester den janusköpfigen Satz durchs Ziel eines keineswegs selbstverständlichen Dur-Triumphs.

Deutlich schlichter in Stimmung und Substanz halten sich die Mittelsätze zurück. An der einfältigen Gravität des Andante mag Wildner zwar nicht rütteln. Verschmitzt stellt er hingegen den dritten Satz in zwei gründlich verschiedenen Versionen zur Auswahl: als verschlafenes Menuett von höfischer Tanzbarkeit zunächst; anschließend, eigenmächtig, weitaus zügiger als zündendes Scherzo. Das so amüsierte wie begeisterte Publikum entscheidet per Akklamation einstimmig: Druck aufs Tempo tut der Bildkraft der wenig anspruchsvollen Töne hörbar gut.

Auf Leben und Tod

Indes, Musik zum Anschauen? Der blinde Joaquín Rodrigo vermutete 1963 in einem Rundfunk-Interview, dass seine Inspirationen und „Eindrücke aus dem Innern kommen, aber so genau weiß ich das nie“. Anders als er wusste Joaquín Turina sehr genau Bescheid über die Eingebung zu seinem „Oración del Torero“: 1925 besuchte er eine andalusische Stierkampfarena, erblickte backstage im Pferdehof die Tür zu einer unscheinbare Kapelle – und „da sah ich mein Werk“. Vor dem Altar machten die Matadoren ihren Frieden mit dem Jenseits, bevor sie auf Leben und Tod ihre Kräfte mit den reizbaren Bullen maßen. 

     Im „Gebet des Stierkämpfers“ verschaffen Turina und das exquisit klangreine und -intensive Streichercorps der Sonne des Sommers, der aufgeheizten Blutgier der Zuschauenden, vor allem der Andacht und Inbrunst des Toreros eine greifbare Wahrnehmbarkeit, freilich ohne die iberisch-impressionistische Suggestionskraft des kurzen, gleichwohl eindrücklichen Tongemäldes zu unterschlagen. Bestechend mischt Wildner die Unruhe, Einschüchterung, Verzagtheit des Haudegens mit Aufschwüngen getroster Zuversicht, mag sein mit Träumereien von Überleben und Sieg, die der Bangigkeit freilich nur zeitweilig Herr werden. Befreit in überirdische Höhen steigen die Klänge des Schlusses empor, als täte sich verklärend in ihnen der Himmel auf. Ob für den Torero, ob für den Stier, bleibt unbestimmt.

■ Der Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.



Quartett zu fünft
Zum achten Mal lud das Projekt „music4cellos“ zum Festival nach Hof. Verstärkt hatten sich die vier „Evangcellisten“ um Markus Jung mit dem leidenschaftlichen Alejandro Castro-Balbi. Beim Schlusskonzert sorgte obendrein ein „Überraschungs“-Gast aufwühlend für Wirbel.

Ensembleleiter Markus Jung, Sebastian Chong, Hanno Riehmann, Lukas Dihle (von rechts): Akkurate Gewichtsverteilung. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 16. November 2024 – Vier ist die magische Zahl, zumindest in der Musik. Einst galt eine zunftgerecht verfertigte vierstimmige Fuge als Ausweis des ausgelernten Tonsetzers, noch immer, und geradezu sprichwörtlich, firmiert das Streichquartett als „Königsdisziplin der Kammermusik“. Letzterer gehören auch die vier „Evangcellisten“ des Projekts „music4cellos“ zu. Die magische Ziffer – four statt for – prangt sogar in der Mitte ihres Ensemblenamens. Aber nur als tenorales Kleeblatt tiefergelegter Saitenmusik sind sie sich nicht genug: Vor gut einem Jahr, als sie im Selber Rosenthal-Theater ihr fünfzehntes Jubiläum feierten, verstärkten sie sich mit etlichen Spiel-Gefährten, bis sie zu zehnt auf der Bühne saßen.

Alejandro Castro-Balbi: Mit Seele und Leib sinnlich, lechzend, lüstern.

     Diesmal waren sie zu fünft, immerhin. Beim Schlusskonzert der von ihnen ausgerichteten Hofer Cellotage gesellte sich den Herren Dihle und Riehmann, Chong und Jung von Fall zu Fall Alexandre Castro-Balbi zu. Zwei Tage zuvor hatte der Franzose mit lateinamerikanischem Familienhintergrund mit dem Briten William Shaw als Klavierpartner die achte Auflage des Festivals eröffnet und tags darauf dem mehrteiligen Kursprogramm eine achtstündige „Masterclass“ beigetragen. Jetzt, am letzten Abend, sitzt er wie ein Primarius links außen bei den anderen, um das Publikum in der gut besuchten Klangmanufaktur mit veritablen Schmachtfetzen des italienischen Musiktheaters gefühlig und gefügig zu machen: Bei Arien-Adaptionen nach Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini vermischen die fünf schimmernden Schmelz und schmackhaftes Schmalz und hüllen das Ganze stilvoll ins Gewebe ihres seidig-soliden Zusammenklangs.

     Ob zu viert, ob im Fünferpack: Wer schon Konzerte des durch ganz Deutschland tourende Ensembles um den Hofer Markus Jung erlebt hat oder es von seinen CDs kennt, der weiß, dass es seit jeher eine Vorliebe fürs Musiktheater hegt, wobei es auf menschlichen Gesang sehr gut verzichten kann. Auch diesmal umgarnt die Hörenden mit George Gershwins „Summertime“ aus „Porgy and Bess“ ein melancholisches Schlummerlied. Aus George Bizets „Carmen“ haben sie nicht nur die „Aragonaise“ im Programm, sondern ebenso die „Schmugglerszene“; dabei scheuen sie sich nicht, erst einmal vollblütig die Klischees iberischer ‚Rassigkeit‘ zu bedienen, bevor sie sich, umso heimlicher, auf Schleichwege begeben, um schließlich in Tumult auszubrechen: Briganten auf der Flucht.

„Blaue Augen“

Wie überlegt und akkurat sie untereinander die klanglichen und expressiven Gewichte verteilen, wie fein sie ihre Impulsivität abwägen, wie zartbesaitet sie Nuancen schattieren, das lässt bei etlichen Arrangements aufhorchen. Etwa in einer Bearbeitung der „Zwei blauen Augen“ aus Gustav Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen“: Vagabundierend zwischen Dur und Moll, halten sie sich absichtsvoll vieldeutig zwischen Sehnsucht, süßem Weltschmerz und unverfälschter Tragik auf und verklären die Unbestimmbarkeit der Stimmung mit dem jenseitigen Wohllaut der „Lindenbaum“-Episode. Am Beispiel von Paul Desmonds und Dave Brubecks Jazzstandard „Take five“ führen sie überdies vor, wie mühelos ihnen auch heikle Austauschaktionen in der Melodieführung glücken.

Harald Oeler: "Native speaker" des Tangos.

     Originalwerke für vier Celli sind rar. Ensembleleiter Jung selbst trug dem Repertoire eine „Beduinische Karawane“ bei, die mit ironischem Exotismus durch den Saal trottet. Ausführlicher, weil viersätzig, das gleichwohl kurze, vortreffliche Quartett des Berliners Friedrich Metzler aus dem Jahr 1954: Durch die Sachlich- und Ruppigkeit des ersten Satzes lassen die Künstler zunächst an die Tonsprache etwa Paul Hindemiths denken, um dann den zweiten deutlich verschwiegener, dennoch mit Nachdruck zu passieren; wie eine Stampede stürmen sie durch den dritten Teil, nach dessen trotzigem Schluss sie die Wucht im Finale gleichsam klassizistisch dämpfen – ein kompaktes Werk, dessen apart sich ablösende Erscheinungsbilder sie wie einen Mikrokosmos gewitzt durchstreifen.

     Quartett zu fünft: Wer mit Alejandro Castro-Balbi einen Kollegen im Boot weiß, in dem ein Gutteil südamerikanisches Blut fließt, der nutzt gern die Gelegenheit, mit ihm zusammen die Leidenschaft des Tangos zu entfesseln. Während dreier Musterexemplare wirft er sich denn auch mit Seele und Leib sinnlich, lechzend, lüstern ins Zeug. Obendrein verleiht der sagenhafte Harald Oeler, zu Recht als „Überraschung“ angekündigt, den Tänzen erst eigentlich ihre bezeichnend passionierte Physiognomie: Buchstäblich gebunden an sein artistisch beherrschtes, mit Tiefensentiment atmendes Knopfakkordeon, ist er sozusagen ein native speaker des Tangos, dem er im dritten Satz aus Richard Gallianos grandiosem „Opale Concerto“ ebenso unnachgiebig heftig wie weltabgewandt melancholisch eine hinreißende Apotheose beschert.

     Quartett zu – wievielt? Magische Zahlen: Die Sechs ist die neue Vier.

■ „music4cellos“ im Internet: hier lang.



Schneewolke überm Sommerfeld

New York war eine Reise wert, doch auch in Hof lohnt sich die Aufführung von Karl Jenkins’ Requiem: Nachdem die St.-Michaelis-Kantorei mit Partnerchören die populäre Totenmesse 2017 in Hof und 2023 in der Carnegie Hall aufgeführt hatte, war nun noch einmal die Heimat dran.

Kirchenmusikdirektor Georg Stanek vor den Symphonikern und dem riesigen Chor: Totenmesse und Lebensfeier. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 14. November 2024 – Das Jüngste Gericht bricht mit dem Gewitter aus einem rockigen Drumset herein, mit Getöse der großen Trommel und wuchtigen Signalen der Hörner, als wollten sie die mauerbrechenden Posaunen von Jericho ersetzen. Immerhin, die Gewölbe in St. Michaelis halten, als Georg Stanek den riesigen Chor, die Symphoniker und das gewaltige, gewalttätige Schlagwerk antreibt, um den göttlichen „Dies irae“, den „Tag des Zorns“, zu evozieren: mit unnachgiebig impulsiven Tutti-Stößen und -Erschütterungen eine Entfesselung des Weltuntergangs.

     Vor allem aber ist das aufgeführte Werk eine Beschwörung des Friedens und der menschlichen Sehnsucht nach der Erlösung von aller Angst, nach Errettung aus globalen Teufelskreisen. Wiederholt hat die St.-Michaelis-Kantorei zusammen mit dem Großen Chor des Jean-Paul-Gymnasiums das populäre Requiem des Walisers Karl Jenkins aufgeführt: 2017 schon einmal am selben Ort; im vergangenen Jahr dann reisten Mitglieder der Chöre gar nach New York, um mit anderen Ensembles aus verschiedenen Teilen der Welt an einer Darbietung in der Carnegie Hall teilzunehmen. Dabei lernten sie den heute achtzigjährigen Schöpfer des Werks kennen, der im Ruf steht, der wahrscheinlich meistgespielte lebende Komponist auf Erden zu sein. Für die Reprise am vergangenen Wochenende hatten sich die derart erprobten Sängerinnen und Sänger außerdem mit dem Chor der Plauener Erlöserkirche zusammengetan. Eine – vom Publikum stehend beklatschte – vokale Klangmacht: auch sie gewaltig, stimmgewaltig, aber überraschend nuanciert.

„Harmonie und Ordnung“

Auf Eigenheiten der Tonsprache weist der dirigierende Kirchenmusikdirektor eingangs rein instrumental mit den Orchesterstreichern hin: Auch in den drei Teilen von „Palladio“ bewegen sich die Musikerinnen und Musiker zumeist in kleinen Tonräumen bei eingeschränkt schlichter Harmonik und hoher Redundanz der zigfach wiederholten Motive. „Harmony and order“ will Jenkins, eigenen Worten zufolge, in dem 1996 veröffentlichten Concerto grosso stiften, und er gründet beides auf einer Thematik und einem Klangbild in der Nachfolge des Barocks und Antonio Vivaldis. Kurz angebunden, nervös, wenn nicht aufgebracht gerät der erste Satz; zum Schluss hebt der dritte verschleiert im Flüstermodus an wie eine dunkle Machenschaft, die Stanek später zu hochfahrenden Eskalationen ausspannt. Dazwischen aber, im Largo, drückt das Streichorchester Fernweh nach ewigem Trost aus. Fast eine Art von Trauermarsch: Dass jener langsame Satz die gehaltvollsten Momente des Concertos in sich vereint – auch dies weist wie ein Muster auf das folgende Requiem voraus.

Silvia Müller: Magische Klangräume.

     Das wagt das Paradox. Zum einem zwar stützt sich jeder seiner dreizehn Teile auf je einen einzigen, frugalen Grundgedanken, der rastlos wiederkehrt, fast immer ohne nennenswert zu variieren oder gar sich zu entwickeln; anfällig wird die Musik dadurch für ernüchternde Substanzverluste. Zum andern indes kommt es hier und da trotzdem zu fesselnden Kontrasten: so zwischen dem tosenden Maestoso des „Rex tremendae“ („König schrecklicher Gewalten“) und dem anschließenden „Confutatis“, in dem sich der Chor – hochpräzise a cappella – bewegend „demutsvoll im Staube beugt“. Das „Lacrimosa“ mit seinen schön modulierenden Wendungen, nicht „Tränen“-nass, stattdessen warm und belebt intoniert, später das „Pie Jesu“ mit dem traumhaften Engelsgesang eines jungen Sopranistinnen-Quartetts über gedämpften Streichern und milden Hornrufen verstärken mehr und mehr den Eindruck, dass die chorische Vorliebe des Komponisten den Frauen gehört.

Himmlische Ruhe

Erst recht sprechen dafür seine Verarbeitungen japanischer Haikus. In himmlischer Ruhe durchbricht Karl Jenkins mit ihnen die – um zusätzliche lateinische Texte erweiterte – Totenmesse, um deren Sinn zu erden und welttauglich an die Schöpfung anzubinden. Die Vertonungen anzustimmen, bleibt den Chordamen vorbehalten. Und Silvia Müller: Die tief timbrierten Töne ihrer Blockflöte schlängeln sich glissandierend und mit vielfältigen Vorhalten exotisch zwischen dem Vokal- und dem Instrumentalensemble. In die allfälligen Gemeinplätze der Musik schieben sich unversehens Klangräume, die durch ihr magisches Anderssein sowohl auf die Unvorstellbarkeit des Ewigen verweisen als auch, mit Worten, ein Diesseits feiern, das des Bleibens und Lebens wert ist. So vergleichen die hellen Stimmen in einem der (jeweils nur siebzehn Silben kurzen) Gedichte den aus Wolken rieselnden Schnee mit fallenden Kirschblüten, oder sie schweifen schwebend über hohem Streicherflirren und glitzerndem Geklingel des Schlagwerks wie „über Sommerfelder“, als wärs die asiatische Spielart eines gregorianischen Chorals.

     Zwei Mal vermengen sich die Worte der lateinischen Liturgie sogar mit den fernöstlichen Versen: Im „Benedictus“ nehmen die Stimmen, von Streicher-Herz- und Glockenschlägen wie zu einer „Mond“-hellen Mitternacht getragen, „von diesem Leben Abschied“; während des „Agnus Dei“ dann psalmodieren sie in tiefer Versenkung wie in einer Klosterzelle: „Lebt wohl! Ich gehe wie Tau auf dem Gras.“ Im letzten – nicht zum eigentlichen Messetext gehörenden – Abschnitt, „In paradisum“, machen sich die Chorscharen, von Harfen-Arpeggien wehend umflort, erleichtert auf zur ungetrübten „Harmonie und Ordnung“ eines erhofften Jenseits: Der Durchgang in die Gefilde der Seligen ist in Hof hörbar kein Trauermarsch, sondern der erste Schritt auf einem freien Fußweg, leicht zu überwinden, schwellenlos.

■ Der Große Chor des Jean-Paul-Gymnasiums wurde von Maniana Füg und Stephan Strunz, der Chor der Plauener Erlöserkirche von Katrin Nürnberger einstudiert.
■ Die St.-Michaelis-Kantorei im Internet: hier lang.



Freie Atemwege

Tiefsinn und Lebendigkeit: Als Trio Amédée spielen die Flötistin Andrea Lieberknecht, der Fagottist Dag Jensen und Jan Philip Schulze am Flügel zusammen. Im Lichtenberger Haus Marteau brillierten sie mit wenig bekannten Werken und reizvollen Bearbeitungen.

Andrea Lieberknecht und Dag Jensen vor Jan Philip Schulze am Flügel: Dezenz und Geschmack. (Foto [1]: thu)


Von Michael Thumser

Lichtenberg, 7 November 2024 – Rasetti? Muss man den kennen? Rosetti, mit o, Vorname Antonio, Jahrgang 1750 – von ihm, einem deutschböhmischen Tonsetzer, haben Kenner klassischer Musik gelegentlich gehört. Seinem Beinahe-Namensvetter Amédée Rasetti aber räumen selbst umfangreiche Enzyklopädien kaum ein paar Zeilen ein. Immerhin vermelden sie, er sei 1799 in Paris „an einem Brustleiden“ gestorben. Kein schlimmes Omen für das Trio Amédée, das sich den großen (oder eher kleinen) Unbekannten zum Namenspatron erwählte: Zwar überwiegen Blasinstrumente als Mehrheit im Ensemble – Flöte und Fagott –, doch bewiesen Andrea Lieberknecht und Dag Jensen am Dienstag im Lichtenberger Haus Marteau, dass sie es ganz und gar nicht auf der Lunge haben.

     Naturgemäß klingen ihre Instrumente anders, als wenn einer ins Horn stößt oder in die Trompete trötet. Dezenz und Geschmack herrschen als Grundcharakter ihrer Darbietungen vor, woran gleichzeitig ihr fabelhafter Klavierpartner Jan Philip Schulze maßgeblich Anteil hat. Unter seinen wie mühelosen Händen summt und singt, plaudert und glitzert der Flügel gern und oft, was gleich dem Auftakt des – vom Publikum im ausverkauften Konzertsaal reich beklatschten – Abends sehr zugute kommt. Denn statt Ölschinken malen die drei mit feinem Kolorit drei „Aquarelles“ des 1941 in Paris gestorbenen Flötisten und Komponisten Philippe Gaubert aus. „An einem klaren Morgen“ spielt das erste und wird von den Künstlern, der Satzvorschrift zufolge, „enthousiaste“, mit Begeisterung, vorgetragen, mit schwelgerischem, auch unbändigem Optimismus. Weniger an die Impressionisten Ravel und Debussy als an deren Vorläufer Franck, Fauré, Saint-Saëns lässt die Tonsprache denken, die Lieberknecht und Jensen während des folgenden „Herbstabends“ in die Melancholie zweier schöner Seelen kleiden. Deren Herzensergießungen weisen voraus auf ein verliebtes Intermezzo in der „Sérénade“, die ansonsten frisch und forsch-tänzerisch die schöne Suite beschließt.

„Schäfers Klage“

Auch Duo-Werke stehen im Programm. Zu dritt aber, wie am Anfang und dabei wiederum in ausbalancierter Gleichwertig- und -gewichtigkeit, agieren sie noch einmal am Schluss, bei Carl Maria von Webers g-Moll-Trio opus 63, wobei Dag Jensens Fagott neuerlich das in der Partitur vorgesehene Cello ersetzt. Im Vergleich zum nuancierten Empfindungsreichtum des ersten Werks ein braves Beispiel deutscher Treuherzigkeit, ohne indes simpel oder gar verschlafen zu wirken: Zunächst spielen die Interpreten Anmut und Leidenschaft, Schwermut und Gleichmut, Hell und Dunkel, Dur und Moll kontrastierend gegeneinander aus, bevor sie im Scherzo wuchtig polternd, mit erwiesen freien Atemwegen, Ländler-Lustigkeit entfesseln. Lautstark ausgelassen, wiewohl nicht ungebrochen hoffnungsfroh, führen sie die Satzfolge ans schmissige Ende. Zuvor aber stimmen sie noch „Schäfers Klage“ an: Zugrunde liegt jenem Andante ein Gedicht Johann Wolfgang von Goethes, von einem Hirten erzählend, der seiner schon entschwundenen Liebsten sinnlos noch einen Strauß Wiesenblumen pflückt; die Musiker verwandeln die schlichten Verse in ein Lied ohne Worte, gesättigt mit volksliedhafter Wehmut und schubertschem „Winterreisen“-Weltschmerz.

Die CD des Trios Amédée mit drei Werken seines Namenspatrons ist zurzeit nur antiquarisch und als Stream verfügbar.

     Flöte, Fagott, Klavier – Originalliteratur ist für solche Besetzung ziemlich rar. Als Bearbeitung erklingt im Haus Marteau aber auch Claude Debussys Violinsonate: Den Geigenpart deutet Andrea Lieberknecht mit der Querflöte aus: sich der Ruhe entwindend, aufbegehrend, im Klang sogar ausdrücklich geschärft; sodann  im „Intermède“ mit frecher Aufmüpfigkeit, zu der sie seinen tragischen Trotz auflichtet; schließlich „très animé“, sehr lebhaft also, nämlich behände, beherzt, fast unbeherrscht, jedoch nicht ohne stagnierende Momente des Tiefsinns und der Grübelei. Sonst, mit der Violine, stellt sich Debussys Feinstofflichkeit sehr anders dar: nicht so leibhaftig atmend wie hier, nicht so ratlos im Aushauchen. Dafür fehlt jetzt die reichere Farbigkeit der Geige; von der aber steuert Jan Philip Schulze am Flügel so viel bei, dass es für beide reicht.

     Der einzige Beitrag in ursprünglicher Besetzung kommt aus der Schweiz, hört sich aber gleichfalls recht französisch an. Obendrein entstand er erst vor einigen Jahren, enthält sich aber (fast) jeder avantgardistischen Attitüde. In den „Réminiscences“ des aus Luzern gebürtigen Oboisten und Komponisten Gotthard Odermatt „erinnern“ sich Dag Jensen und Pianist Schulze an zwei Gelegenheiten, sich „temps“, Zeit, zu nehmen. Zuerst „pour ressentir“, fürs Fühlen: Weit und frei holt das Fagott zu einem philosophierenden Solo aus, um sich dann mit dem Klavier in poetischer Tonalität zusammenzufinden, halb nachdenklich, halb schmerzlich, dann gelöster in der Stimmung. Lang ausgehaltene Töne beflügelt der Interpret sacht mit einem sonoren Vibrato, das an ein meditierendes Jazzsaxofon denken lässt. Gutgelaunt, wenn nicht fidel, jedenfalls voller Lust, „zu leben“ („vivre“), griffeln sich Jensens elektrisierte Finger, schnäbeln sich seine Lippen durch rasend loslegende Läufe, gekräuselte Arabesken, die halsbrecherische Kadenz des zweiten und letzten Satzes. Wie macht die Brust das bloß? Seinen Lungen geht die Puste einfach nicht aus.

■ Das Haus Marteau im Internet: hier lang.



Irdisches und himmlisches Leben

Zwei Freunde in einem Konzertprogramm: Gustav Mahler und Josef Bohuslav Foerster. Vom einen sorgen neun „Wunderhorn“-Lieder beim Publikum der Symphoniker für Begeisterung. Für die Symphonien des anderen, wenig bekannten Tonsetzers darf Dirigent Hermann Bäumer als Experte gelten.

Hermann Bäumer vor den Symphonikern, neben ihm Karina Repova und Konstantin Krimmel: Händeringend dramatisch. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 23 Oktober 2024 – Ein Schuh, den übelwollende Kritiker sich anziehen sollen: In einem Wettbewerb treten eine aparte Sängerin und ein plumper Sänger gegeneinander an; weil aber der Juror, wie die meisten seines Schlages, von wahrer Tonkunst keine Ahnung hat, gibt er natürlich dem populistischen Schreihals den Vorzug vor der empfindungsvollen Goldkehle. Schlagt ihn tot, er ist ein Rezensent?

     Natürlich nicht. Der selbst ernannte Fachmann, im statthabenden Fall zwischen Nachtigall und Kuckuck ein veritabler Esel in jeder Bedeutung des Worts, darf weiterblöken: „Ija, ija.“ Zum Mord ruft das „Lob des hohen Verstandes“ nicht auf, sondern entspinnt sich als satirische Fabel, vergnüglich in Text und Ton . Als eines von neun „Liedern aus des Knaben Wunderhorn“ unterhielt es das Publikum beim zweiten Hofer Konzert der Symphoniker höchlich. Im Lauf von fünfzehn Jahren hat Gustav Mahler 24 Gedichte aus der berühmten Kollektion sogenannter Volkspoesie vertont, die Clemens Brentano und Achim von Arnim zwischen 1805 und 1808 gesammelt und in drei Bänden veröffentlicht hatten; ein für die Romantik Maßstäbe setzendes Projekt: Sogar der alte Goethe meinte, die Sammlung sollte in jedem deutschen Haushalt gleich neben der Bibel liegen. Im Festsaal der Freiheitshalle präsentieren Hermann Bäumer und das Orchester etliche Kernstücke daraus, repräsentativ wegen der enormen Bandbreite der Gemütslagen und klanglichen Atmosphären von Begeisterung und „Narretei“ über ländlich-sittliche Liebessehnsucht und innigen Kinderglauben bis zu Weltabschied und letzter Verzweiflung.

Löwenhaupt

Den unbelehrbaren Beckmesser im Gesangswettstreit gibt in Hof Konstantin Krimmel, jener Bariton aus der Staatsoper in München, den die Zuhörenden hier vor einem Jahr bei den „Vier ernsten Gesängen“ von Johannes Brahms bestaunten und bejubelten. Heuer kürten ihn die Juroren des Opus-Klassik-Preises zum „Sänger des Jahres“, ein Votum, das sich in Hof leicht nachvollziehen lässt. Kernig Krimmels Stimme, klar und kräftig die Kontur jeder Linie. Der einstige Ulmer Chorknabe nimmt mit seinen 31 Jahren allein schon durch das haarumtobte Löwenhaupt für sich ein, erst recht dadurch, dass er es dennoch an unangebracht raubtiermäßiger Präpotenz vollkommen fehlen lässt. Den gleichen sarkastisch-leichtsinnigen Ton wie in der munter fabulierten Esels-Travestie schlägt er, unter der Maske des Machos, an, wenn er als bekennend untreuer Herzensbrecher seiner Ex-Flamme hinterfotzig „Trost im Unglück“ spendet und sie zynisch in die Wüste schickt („Ohn’ dich kann ich wohl leben“). Mit mehr Verliebtheit erzählt er das „Rheinlegendchen“, freilich neuerlich jede Lust auf Sesshaftigkeit bestreitend – ein Wanderer, der weiterzieht.

     Sich neben Krimmels hochpräsenter Ausstrahlung mit eigenem Charakter und höchstpersönlicher Intensität zu behaupten, mag nicht jedem Kollegen, jeder Kollegin leichtfallen. Der Lettin Karina Repova, aus dem Staatstheater Mainz angereist, gelingt es mit einer Gesangskultur gespannter Zurückhaltung, die sich gottfromm vertiefen, aber ebenso emphatisch beleben, leidenschaftlich schärfen kann. „Süßen Gesang“ verströmt ihr von variabel verwendetem Vibrato beseelter Mezzo in „Es sungen drei Engel“ (aus der dritten Symphonie), wo sich in die orchestrale Feierlichkeit aus Sündenbekenntnis und Lossprechung eigentümliche Beitöne des Grotesken mischen, deutlicher noch im „Himmlischen Leben“, der Pseudo-Utopie aus der vierten Symphonie: Mit deren rasselndem Hauptthema fahren die Symphoniker denn auch grell dazwischen. Hingegen „sehr feierlich, aber schlicht“, der Vorschrift Mahlers für den vierten Satz seiner Zweiten folgend, lässt die Künstlerin in aller Natürlich- und Nachdenklichkeit, aus verschwiegenem Pianissimo heraus das ergreifende „Urlicht“ aufgehen, das „leuchten wird bis in das ewige Leben“. Denn im Diesseits „liegt der Mensch in größter Pein“, sein „Irdisches Leben“ lang: Jenes Lied, eines der grausigsten des Komponisten, nutzt Karina Repova, um, am Beispiel eines verhungernden Kindes, händeringend dramatisch Furcht und Elend anzuprangern: ein Totentanz.

Urlicht

3 CDs, etwa 30 Euro.

Gestenreich und farbenstark spielt Dirigent Bäumer mit dem Orchester Mahlers Vagabundieren zwischen Komik und Tragik aus, zwischen ahnungsloser Naivität und erschreckender Erkenntnis. So darf auch nicht das „Urlicht“ als Schlusslicht die Liedauswahl von hinten her mit seinem Glanz versöhnlich überstrahlen. Sondern Konstantin Krimmel hat das letzte Wort: Nachdem ihn als desertierten „Tamboursg’sellen“ schon zuvor Trommelwirbel zum Galgen begleitet haben, setzt er mit der berühmten „Revelge“ den letalen Punkt hinter die Liederserie: Als todwund geschossener Soldat sieht er sich, mit einem letzten vitalen Aufbegehren vor der Agonie, von den Kameraden liegen- und zurückgelassen, während das ganze Orchester wie eine einzige Trommel auf ihn einschlägt.

     Kann es, danach, ein Zurück ins Dasein geben? Kann es. Während der zweiten Hälfte des Abends nimmt Josef Bohuslav Foersters zweite Symphonie aus dem Jahr 1893 das Publikum an die Hand, nicht allerdings mittels besänftigender Gefälligkeiten, sondern indem sie eine komplex gearbeitete, ausgedehnt stimmungsreiche, nuancenreich ausgedeutete Rundsicht über die Stufen und Grade eines nicht schattenlosen, darum umso glaubhafteren Optimismus entwirft. Ein feines und starkes Stück Musik: merkwürdig, warum das Œuvre des – mit Mahler befreundeten und wie er der deutsch-böhmischen Klangwelt entstammenden – Spätromantikers kaum noch Bekanntheit genießt. Weil ignorante Kritikaster es von den 1920er-Jahren an für antiquiert erklärten? Eine Eselei. Hermann Bäumer indes kennt es, gründlich und von innen: Beim CD-Label Dabringhaus und Grimm brachten er und die Osnabrücker Symphoniker eine Gesamtaufnahme aller fünf Symphonien heraus. Auch in Hof schlüsselt er die Teile der zweiten in F-Dur transparent durchhörbar auf, ohne dass sie brüchig würden, vereint er doch das emotional verzweigte Werk zu einem vielfältig inspirierten Ganzen.

Kosmopolitismus

Gemütvoll beginnts. Eine Neuversion der beethovenschen „Pastorale“ scheint aus dem Kopfsatz erwachsen zu wollen, allerdings nur ein paar Takte lang. Nicht klassizistisch, sondern freizügig romantisch verschafft Bäumer dem auffallend modulationsfreudigen Idiom Foersters Ton und Gewicht. Nicht wohlfeil in Antonín Dvořáks Nähe will der Dirigent die Tonsprache verorten, nicht als nationale Musik stellt er das Opus vor, sondern streicht dessen Kosmopolitismus heraus. Bei aller Geschlossenheit lassen absichtsvolle Brüche aufhorchen: So konterkariert die Dramaturgie des mit Paukenwirbel ungestüm anhebenden Finalsatzes ein rhapsodisch freies Intermezzo, als wärs ein Stück plastischer Programmmusik. Am ehesten ließe sich das Scherzo-Allegro des dritten Satzes als wesenhaft ‚böhmisch‘ deklarieren, ein auffordernder Tanz.

     Ganz anders gesonnen hat sich Hermann Bäumer zuvor im Andante des zweiten Satzes gezeigt. Dort holte er aus beklemmenden Tiefen der Celli ein Drei-Ton-Motiv hervor, das der Grundidee zu César Francks fünf Jahre älterer d-Moll-Symphonie gleicht und sich ähnlich aufschwingend und wieder in sich kehrend zu mannhaftem Fatalismus bekennt. Wer sich bewusst macht, dass Foerster mit seiner Zweiten der toten Schwester ein Denkmal setzte, verspürt den Dualismus von „irdischem“ und „himmlischem Leben“ womöglich erst ganz.

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Fliegen im Bernstein
Zu Beginn der neuen Saison tritt Martijn Dendievel den seit 23 Jahren vakanten Posten des Hofer Chefdirigenten an. Mit den Symphonikern und dem jungen Geiger Tobias Feldmann gelingt ihm ein großartiger Einstand. In deutscher Erstaufführung erklingt Richard Blackfords „Niobe“– ein Meisterwerk.

Tobias Feldmann vor den Symphonikern unter Martijn Dendievel: Weder Sentimentalität noch Teufelsgeigerei. (Foto: Harald Dietz)


Von Michael Thumser

Hof, 1. Oktober 2024 – Diese Klänge sind fatal. Sie haben und hatten es in sich: Nachdem die nazideutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfallen hatte, pflegte das Kernmotiv aus „Les Préludes“ als „Russland-Fanfare“ die triumphal tönenden, zunehmend verlogenen Frontberichte in Rundfunk und Kino einzuleiten. Lang liegt das zurück, aber ein ungutes Gefühl macht sich bei manchen noch immer geltend, sobald Franz Liszts Tondichtung erklingt. Wie ein gefährlich schönes Insekt in edlem, aber verdächtig braunem Bernstein hält sich die Erinnerung. Das französische Gedicht, das der Komponist (allerdings erst nachträglich) der Partitur wie eine Inhaltsangabe beifügte, schwadroniert von der „Feierlichkeit“ des Soldatentodes und vom Mann, der erst eigentlich als Krieger seine wahre Bestimmung finde. Der unzweifelhaften Grandiosität des missbrauchten Werks darf dies alles keinen Eintrag tun, ist doch die beste Programmmusik jene, die sich den Hörenden mitteilt, auch wenn sie das „Programm“ nicht kennen.

     Dies machte sich wohl auch Martijn Dendievel bewusst, bevor er am Freitag das Pult der Symphoniker bestieg. Ein besonderer Abend, nicht nur weil damit – und mit viel rauschendem Beifall des Publikums – die neue Hofer Konzertsaison im Festsaal der Freiheitshalle glanzvoll beginnt; schwerer wiegt, dass der junge Künstler, zuvor schon wiederholt Gast in der Stadt, nun offiziell sein Amt als Chefdirigent antritt. Kein Debüt mithin, gleichwohl ein großartiger Start, trotz des verwackelten allerersten Pizzicatos – derlei Fahrigkeiten erlauben sich die Musikerinnen und Musiker in der Folge nicht mehr. Machtvoll steigern sie Liszts Theatralik zum ersten Aufblühen der berühmt-berüchtigten Fanfare, die sie sogleich ausdrücklich lyrisch mit dem Seitenthema auf- und abfangen. Gebärdenreich nervös treibt Dendievel das Ensemble in und durch die Aggressivität tatsächlich kriegerischer Passagen – um wenig später, gleichsam weltfremd lächelnd, ein sich gen Himmel träumendes Idyll zu entwerfen. Für die Finalstrecke kleidet sich das lyrische Motiv ins Gewand eines forschen Marsches, bei dem sogar die Kleine Trommel rasselt – vielleicht ganz gut, dass nun das Stück ein Ende nimmt, nach einer mitreißenden Viertelstunde, die es in sich hatte. Dafür braucht es keine Weltkriegs-Reminiszenzen.

Einsames Scheitern

Nach der Pause erzählt Pjotr Tschaikowskys „Manfred“ nicht von soldatischen Triumphen, sondern, im Gegenteil, von einem einsamen, wenngleich mannhaft erlittenen Scheitern. Das Programm der Riesen-Symphonie: Lord George Byrons „dramatisches Gedicht“ gleichen Titels um die inzestuöse Liebe des gebrochenen Titelhelden zu seiner Schwester und seine Flucht vor ihr und beider Schuld in die Alpen und den Tod. Mag sein, dass der Komponist bei aller Mühe diesmal selber scheiterte – für die beste seiner Symphonien hielt er den „Manfred“ eine Zeitlang, dann verachtete er sie selbst. An die sechs anderen, selbst die (unterschätzten) frühen, reicht sie wahrlich nicht heran. Während einer Stunde offenbaren ihre vier Sätze nicht so viel Substanz wie Liszts „Préludes“ in einem Viertel der Zeit. Wiederholungen, Leerstellen und Leerläufe breiten sich aus, fruchtbare Motive treten verdorrend auf der Stelle, ohne dass die Musik thematisch festen Tritt fasste. Statt der seelenerschütternden Passion der sieben Jahre später uraufgeführten, unvergleichlichen „Pathétique“ baut sich der Popanz eines platten Pathos auf.

     Immerhin, was an Größe in dem Werk stecken mag, kommt bei Martijn Dendievel groß raus. Wo sich Wirkungen aufrichtig entfalten wollen, greift sein Spürsinn nach ihnen, Energie-Eruptionen lässt er sich entladen, bevor er binnen Kurzem das Orchester veranlasst, einem Pianissimo nachzulauschen, das sich abrupt beinah zum Schweigen entschließt. Die Holzbläser – in der bitteren Burleske des zweiten Satzes – gebärden sich sprudelnd virtuos, das Blech peitscht grelle Jagden voran, in schmerzvollen Elegien sehnt sich die Seele des flüchtigen Sünders nach Besänftigung, und wirklich kündigt sich zu guter Letzt in der salbungsvollen Frömmigkeit von Orgelakkorden Erlösung an. Orchestrale Gottesdienstlichkeit à la „Parsifal“: Geschmackssache, nicht Glaubensfrage.

Klassisch-modern

Auf Rettung hofft Niobe indes vergeblich. Ihre Tragödie erzählt ein 2017 uraufgeführtes Violinkonzert, in dessen vier verschmolzenen Teilen der Brite Richard Blackford meisterlich an Traditionen des vergangenen Jahrhunderts anknüpft: romantisch die Instrumentalbesetzung bei allerdings starker und wirkungsvoller Beteiligung zeitgemäßen Schlagwerks; klassisch-modern die Tonsprache, die all jene unmittelbar anspricht, die etwa mit Strawinsky, Bartók, Szymanowski Freundschaft schließen konnten.

     Im Internet lässt sich die Uraufführung im Prager Rudolphinum verfolgen: Damals hob Tamsin Waley-Cohen das Werk als Solistin aus der Taufe. In Hof beweist Tobias Feldmann, dass er der Britin an Intuition und technischem Vermögen nichts schuldig bleibt. Eine Rückkehr: Als Sieger (fast) aller Klassen des vierten Henri-Marteau-Wettbewerbs brillierte 2011 der damals Zwanzigjährige beim Preisträgerkonzert in Hof frühreif mit dem Violinkonzert von Jean Sibelius. Nun, künstlerisch imponierend ausgewachsen, hat ers neuerlich mit Musik zu tun, die sich Teufelsgeigerei ebenso verbittet wie Sentimentalität. Für beides ist Tobias Feldmann noch immer nicht zu haben.

Quelle der Tränen

Hörend könnte man versuchen, dem Verlauf der griechischen Sage um die kinderreiche Niobe nachzuspüren, die sich höhnisch mit der weit weniger fruchtbaren, aber rachsüchtigen Göttin Leto anlegt und von ihr in einen Felsen verwandelt wird, dem ihre Tränen fortan als Quelle entspringen. Aber man kann und darf sich auch ganz unvoreingenommen dem unerhört wechsel-, insistierend ausdruckvollen Geschehen hingeben. Denn Tobias Feldmann erweist sich als Poet mit einem an Blackfords hochexpressives Idiom genau angepassten Spiel. Auf der Schönheit der Gefühle ruht er sich nicht aus, sondern fügt sich willig, unnachgiebig, dabei zutiefst emotional der Dramatik wie der Dezenz, der flüchtigen Erdabgewandtheit wie den Schwergewichten der sich ablösenden, zu einem aufregenden Ganzen integrierten Episoden. Ein „symphonisches“ Konzert: Hypnotisch hat es der Komponist instrumentiert und dem Orchester weite Zwischenspiele auch ohne Beteiligung der Sologeige eingeräumt. Dementsprechend ummantelt Dirigent Dendievel das Geigenspiel Feldmanns filigran und abgestuft und kann sich darauf verlassen, dass der Solist seinerseits seinen Platz nicht nur vor den Symphonikern, sondern auch in ihnen findet.

     Zum Schluss scheint das Orchester in ausgedehnten, so gut wie unbewegten Klängen und Flächen zu erstarren, in und über die der Geiger reue- oder mitleidvolle Linien legt, Doppelgriffe, Flageoletts … Der Komponist – zur deutschen Erstaufführung des Meisterwerks eigens nach Hof gereist und hier zusammen mit Dirigent und Solist aus gutem Grund bejubelt – vergleicht in einem erläuternden Text die sterbende Niobe mit einem Insekt, das von Baumharz langsam, aber unausweichlich eingeschlossen wird. Zu Tode betrübt scheint sie zu verenden – bis Feldmann, in der letzten Minute, schier ungezügelt dagegen aufbegehrt: Die Fliege im Bernstein lebt.

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Das letzte Wort

Der Kammerchor Hof liest den Ausbeutern der Menschen und der Erde gehörig die Leviten. Mit hoher Stimmkultur und gestalterischem Raffinement prophezeit er in seinem Programm „Warning to the Rich“ bedenkenlosem Reichtum und verantwortungslosem Materialismus ein Ende mit Schrecken.

Wolfgang Weser und der Kammerchor in der Kreuzkirche: "Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt." (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 17. September 2024 – Geld macht uns nicht glücklich. Drum „singe, wem Gesang gegeben.“ Dem Kammerchor Hof ist er gegeben, in beeindruckendem Reichtum: als stimmtechnisches Vermögen ebenso wie als Fülle stilistisch unterschiedlicher Gestaltungsweisen. Dabei kann sich das in Hochfranken und darüber hinaus singuläre Ensemble – das seit 27 Jahren besteht, sich aber vor Überalterung durch Zustrom auch junger Kräfte zu bewahren weiß – darauf verlassen, dass sein Leiter Wolfgang Weser die Kehlen fortlaufend akribisch schult und nicht müde wird, mit gründlicher Werkkenntnis und erfahrenem Geschmack immer aufs Neue gehaltvolle Projekte zu ersinnen.

     Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt uns ungemein. Wirklich? Nicht Beschwichtigung hatten die knapp dreißig Sängerinnen und Sänger am Sonntag mit ihrem Auftritt in der Hofer Kreuzkirche im Sinn, im Gegenteil. All denen, die allzu gierig den Spuren schnöden Mammons folgen, sprachen und sangen sie gehörig ins Gewissen, tadelnd und mahnend, bedrängend gar: Ausdrücklich als Warnung an die Reichen – „Warning to the Rich“ – wollte die Werkfolge verstanden sein. Wie stets bei diesem Chor verband sie Sätze aus mancherlei Epochen zwischen Renaissance und Gegenwart, um aus ungleichartigen Teilen ein Ganzes von höherer und tieferer Bedeutung zu gewinnen. Die teilt sich den Zuhörerinnen und -hörern spürbar eindrucksvoll mit.

Das Gravitationszentrum

Jenem Ganzen gibt die Motette „Warning to the Rich“ den Übertitel. In ihr verarbeitete der Schwede Thomas Jennefelt 1977 (englischsprachige) Verse aus dem neutestamentlichen Jakobus-Brief: der avancierteste und aufsehenerregendste Baustein des Konzerts und sein Gravitationszentrum. Der Chor rahmt es ein in das zwei Mal intonierte „Lied von der Moldau“ (aus Bertolt Brechts Stück über den braven Soldaten „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“) und sagt damit, geradezu agitierend, eine heilsgeschichtliche Zeitenwende voraus: „Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.“ Jene aufwieglerische Attitüde  sublimiert und steigert Jennefelts zehnminütiges Chordrama zu apokalyptischem Protest. Untergründig zunächst baut das Ensemble eine Drohkulisse auf: über einer Art gesummter Litanei ein unheimlich geflüsterter Fluch, der den „Reichen“ heulendes „Elend“ verkündet. Am Ende aller Tage, so die Weissagung, werde selbst unser für unverrottbar gehaltenes Gold und Silber„verfaulen“, und der „Rost wird euer Fleisch fressen wie ein Feuer“. Sodann, in einer Sequenz fast nach Art eines Gospels, wird den Ausgebeuteten ihr gutes Recht zuerkannt. In den Schluss mischt sich eine Spur höhnischer Ironie, wenn nicht Schadenfreude: „Wohlan nun, ihr Reichen!“ Über sie hat der Chor kompromisslos das Urteil gefällt, das in der Ewigkeit verhallende letzte Wort gesprochen: „Eure Freude verkehre sich in Traurigkeit und euer Lachen in Weinen.“

Harald Oeler: Brücke zwischen Alter und Neuer Musik.

     Wohl kein Programmbeitrag fordert an diesem Abend den Kammerchor stärker heraus. Zum zeitgemäßen Gestaltungsrepertoire des Ensembles gehören dabei rhythmisierter Sprechgesang, frei über Tonräume gleitende Glissandi, nach denen die Stimmen gleichwohl wieder akkurat ins Akkordische finden, auch die Orientierung auf verschlungenen Umwegen durch schwer abschätzbare Dissonanzen. Dergleichen angemessen zu interpretieren, sind andernorts meist nur ausgebuffte Profis in der Lage.

     Mit exquisitem Alt gleicht sich Yvonne Berg der planvollen Dramaturgie Wolfgang Wesers an; schon zuvor, bei Antonín Dvořáks „An den Wassern Babylons“, tat sich die Künstlerin mit melancholischer Farbenstärke hervor. Ferner beteiligt sich Harald Oeler als trickreicher Akkordeonist, der unter anderem mit einer Tango-Fuge aus der eigenen Komponierwerkstatt eine Brücke schlägt zwischen der Alten und der Neuen Musik des Programms.

Der Arm des Allmächtigen

Gemäßigt modern hat es begonnen: mit einem „Fecit potentiam“ des 2016 gestorbenen Finnen Einojuhani Rautavaara, das buchstäblich packend den „gewaltigen Arm“ des Allmächtigen beschwört – und auf das sich später, deklamiert von vier Solisten, dem Chor und Dorothea Weser an der Orgel, ein Satz Giacomo Carissimis als frühbarockes Pendant bezieht. Noch weiter zurück in die Ferne, ins sechzehnte Jahrhundert nämlich, führen Philippe de Monte und Jacobus Clemens non Papa: Mit dem einen und seinem „Super flumina Babylonis“ („An den Flüssen Babylons“) kontrastieren die Vokalistinnen und Vokalisten feierlich entsagend die vorangegangene Ausdeutung durch den Romantiker Dvořák; mit dem anderen und dessen „Fremuit spiritu Jesus“ über die Auferweckung des Lazarus lassen drei Solistinnen und der Chor über tragischen Worten erhaben einen Auferstehungsgesang schweben.

     In eine Schlusssequenz leitet er über, die der Furcht vor ewiger Verdammnis dann doch eine elementare Zuversicht entgegensetzt. Aber genügt das, um uns Geldmenschen zu „beruhigen“, womöglich „ungemein“? Zwischen zwei Sätze aus „Jesu, meine Freude“, der bekanntesten und bedeutendsten Motette Johann Sebastian Bachs, fügt der Kammerchor ergänzend eine sinngleiche Strophe des um eine Generation jüngeren Johann Friedrich Doles ein – in unverhofft tänzerischem Dreiertakt –; und schließlich bitten Chor und Orgel, mit dem „Veni, Sancte Spiritus“ des US-Amerikaners Morten Lauridsen aus dem Jahr 1997, den Heiligen Geist als „Heilsbringer“ und „Herzenslicht“ herbei: als „pater pauperum“, Vater der Armen. Auch hier, wie bei Bach, heißt das letzte Wort: „gaudium“, Freude. Vielleicht dürfen wir, obwohl bis zur Gedankenlosigkeit mit irdischen Glücksgütern gesegnet, doch noch darauf hoffen, dass zu den Wundern des Jüngsten Gerichts dereinst auch ein Nadelöhr gehört, weit genug, um nicht bloß die Kamele, Schwachen und Elenden hindurchzulassen.

■ Der Kammerchor Hof im Internet: hier lang.