59. Internationale Hofer Filmtage
Ein Folterkammerspiel
Eine Familie im Ausnahmezustand: Die Todesangst um eine säumige Tochter legt binnen anderthalb Stunden Brüche frei, die sich wohl nie mehr kitten lassen. Mit „Ein Abend im Dezember“ schuf Matthias Kreter ein packendes well-made play in Echtzeit, das auch fürs Theater prima taugen würde.
Von Michael Thumser
Hof, 27. Oktober 2025 – Für so manche Familie ist Weihnachten der schlimmste Abend im Dezember. Ziegelmanns haben den unseligen Termin um ein paar Tage vorverlegt. Mama, (Stief-)Papa und Onkel Detlef nehmen im picobello Bürgerdomizil Tochter Annika in Empfang, die im fernen München studiert. Zudem erscheint zum adventlichen Verwandtschaftsabendessen ein Paar, das nicht zum Clan gehört: Vaters Freund und Finanzier Martin und Sarah. Der taffen Künstleragentin soll die jüngere Tochter Maya als Geigenwunderkind vorgeführt werden, auf dass sie die Karriere der Fünfzehnjährigen in die Wege leite. Doch Maya lässt auf sich warten. In aller Steifheit setzt man sich schon mal zu Tisch, den Smalltalk würzt Detlef mit Sticheleien – als eine Terrormeldung die Runde aus der Fassung bringt: In der Innenstadt ist ein Bus über einen belebten Weihnachtsmarkt gerast, mitten hinein in den Club, in dem Maya – vielleicht – gerade mit Freund Barir abtanzt.
So mancher und manche lacht sich alljährlich rund um Heiligabend kerzenwarm über Loriots „Weihnachten bei Hoppenstedts“. Nun lehrt das Adventsdinner bei Ziegelmanns das kalte Grausen. Dabei darf auch unter Matthias Kreters Regie die Familienaufstellung beginnen wie eine der Grotesken aus der Feder des unübertroffenen Alltagssatirikers: Auch bei Kreter überbieten die Menschen einander zunächst mit ausgestellter Feierstimmung, Fest- und Wiedersehensfreude; auch bei ihm zeigen sich alsbald Risse in den Masken und Fassaden und verschaffen Einblick in ein Innenleben von Absurdität und lächerlicher Angestrengtheit. Dies eben ist der Grundzug des Grotesken: dass man laut darüber lachen wollte, wenn es nicht so furchtbar wäre. Blanke Furcht packt die aufgescheuchte Feierrunde, muss man doch damit rechnen, dass Maya unter den Anschlagsopfern ist.
Als ohnehin schwer vorbelastet erweist sich Mutter Monika (Nicole Marischka) durch chronische Angstzustände. Gatte Thomas (Lukas Miko) aber kann sich auf ihre Konfusion und seine eigene Sorge kaum angemessen konzentrieren, steht doch sein angeblich florierendes Unternehmen just in diesen Augenblicken auf der Kippe. Und Annika (Katharina Stark), als Heimkehrerin gleich wieder auf dem Sprung, wird sich keineswegs zum ersten Mal bewusst, von der labilen Mama in ihrem Beherrschungsdrang nicht ernst genommen, vielleicht abgelehnt zu werden. Mit zynischen Kommentaren heizt Detlef, halb Nonkonformist, halb Kotzbrocken (Sebastian Rudolph), das Höllenfeuer an. Und die Gäste Martin und Sarah (Christian Erdmann, Valery Tscheplanowa) müssen erleben, dass sie trotz wiederholter Fluchtimpulse tief in die grassierende Kopflosigkeit hineingezogen und inmitten der Parteienbildungen und Frontwechsel aufgerieben werden.
Wie unter der Folter schreien alle ihre Panik heraus; oder Verzweiflung nimmt ihnen den Atem; oder Vorwürfe und Kränkungen lassen sie verstummen („Du machst dich und mich kaputt“). Gelegentlich erhebt sich eine Stimme der Vernunft, um sang- und klanglos zu verhallen. Bei hemdenzerfetzenden Handgreiflichkeiten gehen die Kombattanten aufeinander los, sogar Blut fließt (ein wenig) und Glas geht reichlich in die Brüche. Eine nur scheinbar christfestlich heilige Familie entlarvt im „Ausnahmezustand“ ihre Dysfunktionalität.
Sowohl dramaturgisch wie darstellerisch reizen der Regisseur, der auch der Autor ist, und sein prachtvoller Cast alle Möglichkeiten des Kammer- und Ensemblespiels kohärent, detailverliebt und zielgerichtet aus. Auf definiertem (Innen-)Schauplatz tritt ein begrenztes Personal in pointierten Wechselreden gegeneinander an, jede Figur gut an einem Alleinstellungsmerkmal erkennbar, dabei charakterlich glaubhaft konturiert. In Echtzeit legt das schnell und packend zugespitzte well-made play während nur anderthalb Stunden Lebenslügen und Geheimnisse, latente Vorbehalte und unwahre Gefühle frei, als wärs ein Stück von Ibsen oder Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“. Eine Boulevard-Tragödie: Ebenso gut, und mit Gewinn, ließe sie sich auf dem Theater aufführen.
Überraschend klärt sich die Lage. Nun soll urplötzlich nichts Schlimmes vorgefallen und alle und alles wieder so wie früher sein: angenehm still, trügerisch friedvoll, vorgeblich herzenseinig. In Wahrheit liegt die behauptete Bürgeridylle in Scherben, die kein Glück mehr bringen. Was gesagt wurde, bleibt gesagt. Verheimlichtes liegt weiter unter Verschluss. Aber nicht nur das einmal Gesprochene, auch ein Schweigen kann nicht zurückgenommen werden.
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Alle in einem
Das wäre ein packender Eröffnungsfilm gewesen: Mit „Drei Leben lang“ adaptierte Felicitas Korn virtuos ihren eigenen Erfolgsroman. Zunächst scheint sie voneinander unabhängige Biografien zu erzählen. Die aber überkreuzen sich, um schließlich gemeinsam ans katastrophische Ziel zu führen.
Von Michael Thumser
Hof, 26. Oktober 2025 – „Ist das nicht mein Leben?“ hieß 1981 ein US-Drama von John Badham (um einen gelähmten Bildhauer, der darum kämpft, sterben zu dürfen). Gleich drei Leben breitete Felicitas Korn 2020 in ihrem Debütroman aus und setzte hinter jedes gleichfalls ein Fragezeichen. Eine Vita fasst Michi ins Auge, einen Jungen, der nach dem Unfalltod seiner Eltern im Heim aufwachsen soll, das Weite sucht und sogleich auf eine nicht nur schiefe, sondern schroff abfallende Bahn gerät. In der zweiten Biografie will ein von Drogen fast um den Verstand gebrachter Poser zum „King“ der Frankfurter Clubszene werden, kann sich aber dem Würgegriff seines blutsaugerischen „Mentors“ nicht entwinden. Das dritte Leben schließlich hat Loosie vertan, der am grausigen Ende seiner Trinkerlaufbahn noch einmal das Heil in der Liebe sucht, aber sich und das Mädchen zerstört. Ohne zu spoilern darf man sagen: Felicitas Korns „Drei Leben lang“ hat den Mut, geradezu endzeitlich die schon von Friedrich Dürrenmatt befürchtete „schlimmstmögliche Wendung“ zu nehmen.
Nun hat die Autorin ihr Buch selbst verfilmt: als verwirrendes, niemals indes wirres Netzwerk tragischer Episoden, in visuellen Sphären von betonter Verschiedenartigkeit, hart an- und gegeneinander geschnitten. Ist das nicht ein Leben? Im durchweg grandiosen Darstellerensemble (unter anderem mit der anrührenden Maj-Britt Klenke als vertrauensvoll stiller, bald misshandelt verstummender Sanni und Jonas Nay als Koks-König und gehetztem Wolf) ereignen sich alle erdenklichen Schmerzerfahrungen und Ausnahmesituationen der menschlichen Existenz: Enttäuschung und Demütigung, Schuldgefühl, Schutzsuche und Scham, Verzweiflung, Neid und Ohnmacht, Überforderung und Zusammenbruch. In einem für den Betrachter schwer erträglichen Exzess sinnloser Brutalität brechen die Spannungen aus. Ein unwiderrufliches Ende.
Chronologisch am Anfang steht Michi, der Teenager, vom imponierenden Friedemann Weber mit Reserve als unschuldig weißes Blatt gespielt, worauf Schicksal und falsche Freunde die ersten verhängnisvollen Zeilen schreiben. Das Ende kommt mit dem fulminanten André Hennicke: Mit einer schonungslosen Intensität, die nicht allein die Rolle, auch den Schauspieler an den Rand der Selbstzerstörung führt, geht er als Loser Loosie den Gang vor die Hunde, ohne Pathos, Würde, Absolution. Eine bittere Spitzenleistung.
Lauter harte Sachen mutet die ungeschönt krasse, aber gekonnt erdachte und inszenierte Produktion den Zuschauenden zu. Virtuos hat die Regisseurin, die nach ihrer Buchvorlage auch das Drehbuch schrieb, die Handlungsstränge und ihre vielfältig sich ablösenden Schauplätze, die weit verteilten Zeitebenen, die immer tieferen Verdüsterungen des Stimmungsspektrums verwoben. Derart erfinderisch gelang es ihr, dass, was beim Betrachten zunächst parallel erzählt erscheint, sich erst nach und nach erkennbar und mit nur leichten Berührungen überkreuzt. Sogar Traumfetzen, Flashbacks der Erinnerung, Halluzinationen flochten Korns Cutter Julian Steiner und David Achilles in die Bilderflut ein, ohne die Dramaturgie zu zersetzen. Im Gegenteil: So schließen sich die hundert Teile erst eigentlich zum Ganzen.
Ein Scheitern als Thema in drei Variationen? Jedenfalls drei Kapitel einer Studie in Ausweglosigkeit: Man mag den Fatalismus der Geschichten, aus der sich die eine Geschichte schält, für maßlos halten. Allerdings öffnen sich in all den Lebenslinien neben Abgründen auch Seitenwege, wenngleich riskante, so doch gangbare, die in eine bessere Richtung, wenn nicht in die Freiheit führen könnten. Aber ist nicht eben dies das Leben? Wie das Scheitern gehören die verpassten Chancen dazu.
■ Weitere Vorstellung: Sonntag, 15,45 Uhr, Central 4.
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Knopf im Kopf
Was wäre wenn … – wir unser Gehirn mit der Cloud verbinden könnten? Wir verfügten über das Wissen der Welt. Was aber geschähe mit dem freien Willen? Die emotional rasante, tricktechnisch sehenswerte „Cyberpunk Romance“ warnt klug davor, alles und jeden in unsere Köpfe einzulassen.
Von Michael Thumser
Hof, 25. Oktober 2025 – Die Welt in diesem Science-Fiction-Film schaut aus wie die Welt heute, und die Zukunft, von der er erzählt, scheint nicht mehr fern. Eine Gruppe von Digital-Rebellen hat sich in die Server des Big-Tech-Riesen QMind gehackt und eine neuroplastische Software geklaut, die menschliche Gehirne mit Computern und auch untereinander verknüpft. Als Schnittstelle genügt ein kaum sichtbarer „Port“ hinterm Ohr, ein im Handumdrehen eingepflanzter Knopf im Kopf. Cyber-Freak Milo, der geniale Programmierer der punkigen Dunkeltruppe, codet eine App nach der anderen, die jedem Durchschnittsgrips uneingeschränkte Entgrenzungen erlaubt: Wer will, beherrscht binnen Augenblicken alle Sprachen der Erde, hat die Weltliteratur Satz für Satz parat, spielt Gitarre wie Jimmy Hendrix, malt wie van Gogh …
Mona allerdings, Milos glühend geliebte Freundin, gewinnt dem Enthusiasmus nichts als Skepsis ab. „Ich will die Kontrolle über meinen Kopf behalten“, sagt sie und verzichtet auf das Interface. Als Milo in ein „neurotechnisches Koma“ fällt, erkennt die Clique, dass sie kurz davorsteht, aufzufliegen. Erst jetzt lässt sich auch Mona das Wunderding implantieren, um ins Gedächtnis ihres Partners einzusteigen. Während sie sich durch seine Erinnerungen zappt, erfährt sie Ernüchterndes: Milos Liebe kommt nicht aus einem romantischen Herzen wie die ihre – auch sie ist künstlich, programmiert, „hochgefahren“. Milo liebt nicht Mona; er liebt es, in sie verliebt zu sein.
Wer sich ein bisschen auskennt im Sci-Fi-Kino deutscher Provenienz, mag sich an „Who am I“ aus dem Jahr 2014 erinnert fühlen. An die drei Leitsätze, die damals Baran bo Odar seinem preisgekrönten Hacker-Thriller zugrunde legte, hält sich jetzt auch Milo in Joscha Doumas rasanter „Cyberpunk Romance“: 1. Kein System ist sicher; 2. Strebe nach dem Unmöglichen; und 3. Begrenze deinen Spaß nicht auf die virtuelle Welt. Dennoch ist nun vieles anders und nicht mal schlechter. So hat Regisseur Doumas darauf verzichtet, in einem CGI-Gewitter einen Gimmick nach dem anderen zu zünden; dabei können sich auch seine Computertricks sehen lassen. Aber er verfuhr sparsamer mit ihnen was der einzelnen generierten Szene mehr Aufmerksamkeit garantiert und höhere Zeichenhaftigkeit verleiht.
Douma lässt sich nicht hinreißen von der Technik, die er anwendet, und auch nicht von jener, die er imaginiert: Zwar fabulieren die Hacker in geschmeidigem Tech-Lingo und Cracker-Slang über das mentalinvasive Programm der Firma QMind, vor allem aber dient es dem Regisseur fesselnd als Anlass und Hintergrund, um nach der Authentizität und Manipulierbarkeit von Gefühl und Bewusstsein zu fragen. Klug reflektiert er über die Überlebenskraft einer so archaischen Empfindung wie der Liebe im Zeichen digitaler Systeme, die auf jeden Bereich der Gesellschaft zugreifen und den empfänglichen Einzelnen korrumpieren: durch das Versprechen schrankenloser Fähigkeiten, der ewigen Dauer ungekannten Glücks.
Da ist Mona das echte Glück lieber, das ungewisse und gefährdete. Naemi Florez spielt sie zartfühlend, aber standhaft als Herrin ihrer Entschlüsse: der reife Gegenpart zum Milo von Jannik Schümann, der als unbedachter Spieler den Versuchungen seiner Talente lustvoll erliegt. In die Darstellung manch anderen Akteurs, manch anderer Akteurin schleichen sich schon mal Pausbäckig- und Treuherzigkeiten ein. Recht charmant aber spiegelt sich so die kindliche Konsequenz und Spiellaune, mit der Drehbuchautor Belo Schwarz und der Regisseur den Stoff zu Ende dachten. Nicht mehr lange, so heißt es einmal, und „QMind steckt in den Köpfen aller Menschen, wie eine Hand in der Handpuppe“. Wer sich dann dem faustharten Übergriff des Netzwerks eigensinnig widersetzt, den stößt es ins „neurotechnische Koma“: Es schaltet ihn ab.
Eine unmäßige Horrorvision? Bereits in der Welt von heute leistet Künstliche Intelligenz unverzichtbare Dienste; in der nahen Zukunft, über die der Film erzählt, wird sie vollends unausweichlich sein. Unter der Signatur eines gemäßigten Futurismus warnt Joscha Doumas Lovestory bedenkenswert davor, dass zwei Existenzgrundlagen des Menschen infrage stehen: die Willensfreiheit des Verstands und die Wahrheit der Empfindung. Da ist es schon besser, nicht alles und jeden in seinen Kopf zu lassen.
■ Weitere Vorstellung: Freitag, 23 Uhr, Central 2; Sonntag, 15.15 Uhr, Central 3.
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Gut im Verdrängen
Fast nur Frauen fallen Vergewaltigungen zum Opfer. In „Unspoken“ von Pjotr Lewandowski trifft es einen Mann. Die Fallstudie, in ihrer Beispielhaftigkeit gelegentlich etwas überdeutlich konstruiert, verdankt ihre Intensität nicht zuletzt einem einfühlsamen Drehbuch und hervorragender Schauspielerei.
Von Michael Thumser
Hof, 24. Oktober 2025 – Sein Name, sagt Seweryn, bedeute „ernst und streng“, und von der Art ist er auch: keiner, der gern laut wird, schon gar niemand, der laut lacht; einer also von den Stillen im Lande, kein Schwächling, wenn auch ein geborenes Opfer: Geduldig erträgt er, dass die Kollegen auf dem Bau ihn mobben. Ohne Freundin Caro ginge er vielleicht vor die Hunde; von ihr behütet, kann er an einer Karriere als gefühlvoller Singer/Songwriter arbeiten. Dann jedoch geht sein fragiler Schutzraum trotzdem zu Bruch: Mit Michael, einem Edelkneipier und Finanzchef eines kleinen Musiklabels, macht er während einer erotisch sich zuspitzenden Alkohol- und Drogennacht am eigenen Leib eine Erfahrung, die er selbst kurz zuvor seiner Caro zugemutet hat: Unversehens kommt beim zunächst einvernehmlichen Liebesspiel schmerzhafte Gewalt, demütigende Wehrlosigkeit ins Spiel. Verstört, zerstört lässt ihn das aus dem Ruder gelaufene Abenteuer zurück. Und in Albträumen formieren sich Erinnerungsfetzen zu Bildern aus der Kindheit, als ihm das Gleiche schon einmal geschah.
Als erwachsene Opfer von Vergewaltigungen führen die Statistiken fast ausschließlich Frauen auf; offiziell liegt der Anteil der Männer bei unter zehn Prozent. In Wahrheit sind es wohl weit mehr; nur finden die meisten Opfer nicht aus dem Dunkel der (falschen) Scham heraus, um gegen ihre Schänder vorzugehen. Unausgesprochen bleibt das Trauma ein Geheimnis, dessen verzweifelte Bewahrung den Rest des Lebens aus dem Gleis lenkt und verfinstert. Davon erzählt Regisseur Pjotr Lewandowski in seinem beklemmenden Drama „Unspoken“, das schon mit dem – warum auch immer englischen – Titel dem verhängnisvollen Verstummen der Leid-Tragenden Worte verleiht. „Ich bin gut im Verdrängen“, sagt Seweryn. Und er singt in einem seiner Lieder: „Ich kämpfe mit niemandem außer mir.“
Männer nicht nur als Täter, auch als Opfer: Von den Gräueln, die Frauen angetan werden, will der Regisseur mit seinem überraschenden Fokus nicht ablenken. Ihm ist es darum zu tun, eine weitgehend verborgene, zumindest verhängnisvoll unterschätzte Variante allgegenwärtiger sexueller Gewalt bewusst zu machen. Er tuts auf zweierlei Weisen zugleich: sowohl mit der unterrichtenden Mitteilsamkeit einer exemplarischen Fallstudie als auch mit der aufmerksamen Empathie einer Charakter-Erkundung. Nur scheinbar schließen die beiden Verfahren sich aus, gehen sie doch in der Schauspielkunst Henning Flüslohs als Seweryn ineinander über. Aus dem Schweiger macht der ungemein nuancenfeine Darsteller einen Verschweiger, aus seiner Wortkargheit Totenstille. Zugleich lässt er ahnen, dass auch unter seiner ruhigen Außenseite rohe Kräfte sinnlos walten.
Recht modellhaft führt der Regisseur seinen Protagonisten zunächst hinab in die Hilflosigkeit, dann wieder empor ans Licht. Aber er umgeht, auf das kluge Drehbuch von Agnieszka Piwowarska bauend, die Gefahr des Schematismus, indem er auch die Nebenfiguren subtil aufschlüsselt. Den misshandelnden Mehrfachtäter Michael gibt Florian Stetter nicht einfach als Täuscher und Blutsauger, sondern umkleidet ihn zugleich mit der kultivierten Aura sinnlicher Magnetkraft. Und die wunderbare Henriette Confurius als Seweryns Ruhepol Caro wächst mit hypnotisierender Eindringlichkeit über die Rolle der Gefährtin und Beschirmerin weit hinaus: Seweryns von Tag zu Tag augenfälligere Angst, Distanzierung und Verschlossenheit öffnen auch in ihr, der Wand, zu der er mit dem Rücken steht, immer tiefere Risse der Verletzlichkeit. Anrührend diskret beobachtet Nino Michels Kamera die Zärtlichkeit, mit der das liebende Paar seine Körperkontakte unterbaut; dennoch droht (was gleich die erste Szene zu erkennen gibt) selbst dann der schutzlos nackten Haut der rabiate Übergriff.
Wie viele aufklärerische Fallstudien zeigt auch diese „ernste und strenge“ Beispielerzählung hier und da Bruchstellen, an denen die Künstlichkeit der Konstruktion durchscheint. In „Unspoken“ führt Seweryns Weg buchstäblich aus der Nacht der Gewalt in die Sonne erneuerter Zweisamkeit. Mit dem überbetonten Optimismus des Schlusses will der Regisseur auf heilsame Kräfte verweisen, die den Druck des Traumas erleichtern, seine schlimmen Folgen lindern helfen: auf die tätige Anteilnahme nächster Nebenmenschen, auf die Selbstüberwindung beim mutigen Austausch in einer Selbsthilfegruppe. Trotzdem bleibt das lehrhafte Exempel nah genug am lebenden Menschen, um begreiflich zu machen: Der Weg hinauf ist steil und steinig und muss vielleicht so sein.
■ Weitere Vorstellung: Sonntag, 20.30 Uhr, Arts Avenue.
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Die Lederhosen von Gizeh
Auch heuer stand eine Doku am Start des Festivals. Diesmal gab es erst auf, dann vor der Leinwand des Premierenkinos bayerische Blasmusik aus dem Geist des Jazz und orientalischer Folklore. In „Über Unterbiberger“ porträtiert Matthias Ditscherlein eine ungewöhnliche Band und ihren Patriarchen.
Von Michael Thumser
Hof, 23. Oktober 2025 – Einen Festauftakt mit Live-Blasmusik: Das gabs bei den Filmtagen noch nie. Und damit nicht genug der Kuriositäten: Hinter dem Trompeter in Lederhosen, Trachtenweste und Haferlschuhen breitet sich kein freistaatliches Alpenpanorama aus, sondern Ägyptens Wüste mit den Gipfeln der Pyramiden von Gizeh. Oft punktet das Hofer Festival mit ungeschauten Bildern: Heuer gehört dieses dazu.
Der da ins Messingmundstück stößt, heißt Franz Himpsl und ist Gründer, Leiter und Protagonist der Unterbiberger Hofmusik. Ein florierendes Familienunternehmen: Zum Quintett formierte sich Vater Franz 1997 mit Mutter Irene und den Söhnen Xaver, Ludwig und Franz junior. Von der Musikalität, klanglichen Durchschlagskraft und körperlichen Energie des Clans ließ sich Regisseur Matthias Ditscherlein so widerstandslos begeistern, dass er ihm sieben Jahre lang auf der Spur blieb bei Reisen durch die Heimat und in die Welt. Wirklich, in die Welt, zumindest einen Teil davon: Denn auf etlichen Touren, eingeladen von Goethe-Instituten oder Deutschen Botschaften, hat Franz senior mit den Seinen auch Ägypten, Marokko, Istanbul mit seiner Kunst und Verve beglückt. Die Dokumentation „Über Unterbiberger“ sei, wie Ditscherlein am Dienstag vor der Hofer Premiere schwärmt, eine „Ode aufs Einander-Zuhören“, von der Papa Franz so viel versteht wie nicht leicht ein anderer.
Mit seiner Truppe – und arrivierten Gefährten aus der nationalen und internationalen Bläserszene – exportiert Himpsl nicht nur klingendes bairisches Volksgut, er vermischt es auch inspiriert mit den Synkopen und Improvisationen des Jazz, mit Melodie- und Formmodellen, Harmonien und Spielweisen der Folklore, der er in der Ferne begegnet. Daheim, in Oberbayern und im Bayerischen „Woid“ eckt er damit bei Puristen auch schon mal an. Bei Auslandsauftritten vor kleinerem oder ganz großem Publikum, im Flugzeug über dem Iran, beim Kinderworkshop am Nil fliegen der Band ungeteilt die Herzen zu.
Das verdankt Franz, der trompetende Chef - der ebenso gewandt auch auf einer orientalischen Laute spielt -, seinem brennenden Interesse für die Menschen jenseits des süddeutschen Horizonts, seiner Achtung vor ihnen, seiner imponierenden Furchtlosigkeit bei der Kontaktaufnahme. Sogar in die fremden Landessprachen vertieft er sich. Ein „Sprachtalent“ sei er nicht, sagt Mutter Irene, nennt ihn aber einen „Kommunikator“ durch und durch. Ums Kennenlernen, das Miteinander und den Austausch ist es ihm zu tun, nicht um kulturelle Aneignung. Franz Himpsl sagts auf seine Weise: „Respekt – und nicht in die Hosen scheißen“, lautet in krachlederner Derbheit die Devise, die er sich und den Unterbibergern verordnet.
Eine Doku zum Auftakt von HoF: Das gabs bei den Filmtagen vor einem Jahr bereits, als Olli Duerr mit „Zeppelin oben rechts“ tiefen Eindruck machte, mit spannend stillen, darum umso sensibleren Beobachtungen bei den Kunstprojekten einer Gießener Lebenshilfe für körperlich, seelisch und geistig beeinträchtigte Frauen und Männer. Diesmal ists anders: Erst auf, dann vor der Leinwand lassen es die Unterbiberger gehörig krachen. Das tut den spontan begeisterten Leuten auch im Hofer Kino gut. Um allerdings als Eröffnungsfilm zu überzeugen, hätten der weitschweifigen, aber zu Wiederholungen neigenden Produktion mehr kompositorische Straffheit und beherzte Kürzungen gutgetan.
Und der huldigenden Haltung des Regisseurs mehr Distanz zur Band, deren Fan er ersichtlich ist. Als solcher scheute er vor tieferen Einblicken in die problematische Natur des Patriarchen zurück, zu der sich Himpsl offen bekennt. Ein unangepasstes Alphatier: Als beinharter Entertainer entfaltet er ein Sendungsbewusstsein, das seinerseits „Respekt“ verdient, lässt aber auch eine autokratische Anmaßung spüren, die, wie es scheint, nicht jedem Familienmitglied gleichermaßen Raum für Eigenart gewährt. Neben dem Papa kommt nur Xaver, der älteste der Söhne, einigermaßen selbstverantwortlich zu Wort, vielleicht, weil er als grandioser Trompeter den Senior weit übertrifft. Und um Mutter Irene, wie erschöpft unter unsichtbarer Last („Er ist ein Mann ohne Mittelweg, entweder an oder aus“), muss man sich womöglich Sorgen machen. Zu dünn scheint ihre Haut, viel dünner als das Leder von Franzens Hosen.
■ Weitere Vorstellungen: Donnerstag, 9.45 Uhr, Central 2; Samstag, 23 Uhr, Haus der Musik.
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