19. März Die Wenigsten von uns, und schon gar nicht die Dünnhäutigen, mögen bei jeder unpassenden Gelegenheit gleich mit einem Schlag auf die Schulter begrüßt werden. Bei taktlos hemdsärmeligen Willkommensgesten geht so mancher weiche Zeitgenosse in die Knie, aus den zarten Saiten der Mimosen unter uns schallen überlauten Rabauken Misstöne entgegen, und selbst weniger Hochsensible verschließen sich misstrauisch oder übellaunig vor allzu ungehemmter Nonchalance. Obendrein machen es uns die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie und der Mee-too-Bewegung nicht eben leichter, einander unvoreingenommen anzufassen. Tatsächlich empfiehlt sich dabei Vorsicht, wenn wir bedenken, wie breit das Spektrum möglicher Berührungen ist. Zwar gehen sie in der Mehrzahl von einem Körperkontakt mit den Händen aus – dabei aber können wir einander versehentlich streifen oder schützend ergreifen, aufweckend antippen oder prüfend abtasten, schüchtern befummeln, vertraulich umarmen oder impulsiv umklammern, warnend anpacken oder grob von uns stoßen. Nicht selten, zum Glück, ereignet es sich auch, dass wir einander streicheln – Zeichen der Anteilnahme, Austausch von Herzenswärme. Doch gerade hierbei sind Behutsamkeit und also im Voraus ein paar theoretische Erwägungen angebracht. Befragen wir gängige gedruckte und digitale Wörterbücher nach Wesen und Bestimmung von etwas so Begehrtem, Angenehmem und Willkommenem wie der Streicheleinheit, so zeigen sie sich einig darin, dass es sich dabei um ein „gewisses Maß an freundlicher Zuwendung in Form von Lob, Zärtlichkeit oder Ähnlichem“ handle, wobei uns in aller gebotenen Nüchternheit zweierlei auffallen muss: Zum einen setzt die Streicheleinheit zwar Sympathie, aber keineswegs gleich Liebe voraus; und zum andern darf sie das besagte „gewisse Maß“ nicht überschreiten, sollte also unbedingt in einer Dosierung abgegeben werden, die weder die spendende noch die empfangende Person kompromittiert oder gar verletzt. Dass sich Letzteres ereignet – und in existenzbedrohendem Maß –, musste unlängst die prominenteste Liebende Italiens und der Weltliteratur erleiden: In Verona, im Hof des Anwesens Via Capello Nr. 23, begrapschten die Touristen in ihren endlosen Strömen den unschuldigen Busen der jugendlichen Julia millionenfach so unbarmherzig, dass seine mehr und mehr ausgedünnte Oberfläche jetzt nachgab und sich in einem Loch öffnete. Das will was heißen: Immerhin besteht die Haut des Mädchens aus Bronze; einem rücksichtsvollen Romeo wäre, im realen Leben, ein ähnliches Missgeschick noch in Momenten höchster Brünstigkeit wohl kaum passiert. Eine ähnliche Verstümmelung lässt der heilige Petrus, in Gestalt seines nicht minder vielbesuchten Standbilds im Petersdom zu Rom, mit märtyrerhafter Langmut über sich ergehen: Besucher des Gotteshauses haben mit ihren Händen den rechten Fuß des Apostels nicht bloß messinggelb blank gescheuert, sondern durch beständigen Abrieb zu einer Art flacher Flosse verfälscht. Derlei Körperschäden an so populären Abbildern unserer Physis warnen uns ernstlich: Wenn schon ein solider Panzer wie sorgsam gegossenes Metall unseren Zudringlichkeiten nicht standhält – wie viel mehr Schonung beansprucht dann die widerstandsfähige, freilich nicht reißfeste Schutzhülle von uns selbst? Bei dünner Haut hilft nur, was keiner Bronzestatue gegeben ist: ein dickes Fell. ■
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Rückblick
27. März, Hof, Theater, Großes Haus
So macht man sich keine Freunde: „Ich hasse alle“, bekennt der Menschenfeind Molières rundheraus und muss sich nicht wundern, wenn seine Angebetete ihm die kalte Schulter zeigt. Mit Tanz und Tändelei, ein wenig Tiefsinn und dem Terrorismus schonungslosen Slapsticks destillierte Regisseur Key Neumann aus dem barocken Lustspiel eine pointengesättigte Posse. Das Ensemble um Volker Ringe spielt famos.
26. März, Selb, Rosenthal-Theater
Die Hofer Symphoniker unter Enrico Delamboye spielen ein rein französisches Programm: Zwischen der „Petite Suite“ Debussys und Bizets kaum bekannter „Rom“-Symphonie interpretiert Tonko Huljev das Fagottkonzert André Jolivets. Der mit allen Wassern der Technik und des Ausdrucks gewaschene Künstler agiert sonst als Solofagottist des Orchesters wenig sichtbar in einer der hinteren Reihen.
23. März, Literatur
„Sollten meine Werke ganz verloren gehen, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch“, ließ Franz Kafka als letztwillige Verfügung seinen Freund Max Brod wissen. Doch bis heute hält die literarische Welt am wirkmächtigen Rätselschaffen des singulären Prosadichters fest. Mit Blick auf seinen hundertsten Todestag am 3. Juni vollzieht die ARD sein Leben in einem formal ehrgeizigen Sechsteiler nach.
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Die Politiker
Der Menschenfeind
Dämon
Die bitteren Tränen der Petra von Kant
Musiktheater
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1984
Anna Karenina
Sweeney Todd
Winterreise
Theater andernorts
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Jelisaweta Bam im Vogtlandtheater
Der König stirbt in der Studiobühne
Siegfried, Götterdämmerung in Bayreuth
Rheingold und Walküre in Bayreuth
Konzert
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Französischer Abend: Die Symphoniker mit Bizets kaum bekannter „Rom“-Symphonie
Heimspiel im „Wohnzimmer“: Die „Brassmatiker“ triumphieren in Hof
Ein spiritueller Abend: Bruckner, Messiaen und Takemitsu bei den Symphonikern
Herzensangelenheiten: Vier Gitarren und eine Flöte in der Hofer Klangmanufaktur
Film und Fernsehen
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Anatomie eines Falls
The Zone of Interest
Dune: Part two
Eine Million Minuten
Kleinkunst, Kabarett, Comedy
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Olaf Schubert bewertet die Schöpfung
Philipp Scharrenberg verwirrt Bad Steben
Birgit Süß: Das Graue vom Himmel
Definitiv vielleicht: Günter Grünwald in Hof
Anderes
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Kaiser Heinrich II.: Bamberg erinnert an den Begründer des Bistums und Doms
Humanistisch bleiben: Eine Performance wirbt für Menschlichkeit im Gaza-Krieg
ORGAN2/ASLSP: Kleine Änderung beim längsten Musikstück der Welt
Joe Bausch: Der „Tatort“-Pathologe blickt in Hof in die Köpfe von Schwerstverbrechern
Essay
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Schwebende Verfahren
Zum 100. Todestag Franz Kafkas
Ein Quantum Brecht muss bleiben
Zum 125. Geburtstag des Stückeschreibers
Symphonien des Grauens
125 Jahre „Dracula“ von Bram Stoker
Man muss ihn nicht mögen
Napoleon zum 200. Todestag
Die Bücher
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