Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

45. Internationale Grenzland-Filmtage Selb
Eine Feier der Widersetzlichkeit
Gerade in Zeiten, in denen aus dem Osten Kriegslärm dröhnt, beharren die Grenzland-Filmtage darauf, Brücken zu bauen. Die 45. Ausgabe des Selber Traditionsfestivals bringt darum auch Beiträge aus Russland und Belarus.


Von Michael Thumser

Selb, Aš, 23. April – Dieser „Historienkurzfilm“ ist eine Komödie und besonders lustig, weil er nicht einfach vom Tod handelt, sondern ebenjener höchstselbst mitspielt. Ort der Handlung: die Landesgrenze des herzoglichen Württembergs; Zeit der Handlung: das vierzehnte Jahrhundert. Weil die Pest grassiert, hat der Gevatter alle Knochenhände voll zu tun. Auf einem Pferdewagen trottet er heran, doch zwei trottelige Wachsoldaten, unzertrennlich zerstritten wie ein altes Ehepaar und eisern gerüstet, wollen ihn nicht passieren lassen. Wie in Ingmar Bergmans „Siebtem Siegel“ setzt sich einer der Gewappneten zum Schachspiel dem Sensenmann gegenüber. Versteht sich, dass Letzterer gewinnt, auf seine Weise. Stumm und gelassen setzt er seine fatale Fahrt ins Landesinnere fort, während an den leblos hingestreckten Kriegerleibern das Wasser des Grenzflüsschens mit makabrer Munterkeit vorübersprudelt.

     Titel des Films: „Märtyrer der Strebsamkeit“. Ort der Vorführung: Selb. Zeit der Vorführung: 2022, der Abend des vorgestrigen Donnerstags. Mit der Corona-Gegenwart hat das viertelstündige, von Alexander Fischer versiert inszenierte Mundartlustspielchen unmittelbar zu tun, macht es sich doch, aus scheinbar geschichtlicher Distanz, aufs Possierlichste lustig über Politiker-Ratlosigkeiten, gesundheitsbehördliche Irrwege und gesamtgesellschaftliche Polarisationen während der aktuellen pandemischen Pestilenz. Auf den Ort bezieht es sich passgenau, weil Selb unweit einer einst undurchdringlichen Grenze liegt und darum mit seinen Internationalen Grenzland-Filmtagen seit 44 Jahren alles daran setzt, Demarkationen durchlässig zu machen, wenn nicht aufzuheben.

Putin zum Trotz

Den freien Blick nach Osten wohlgemut zu wagen, fällt auch den Organisatoren des Festivals in diesem Jahr nicht leicht. Und doch wollen sie gerade mit der 45. Ausgabe in Selb und Aš die Brücken offenhalten, selbst die zu Russland und Belarus: Auch Beiträge aus jenen beiden Ländern, die seit gut acht Wochen einen Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führen, finden sich im Programm. „Wir zeigen sie nicht für Putin, sondern trotz Putin“, bekräftigte Dr. Kerstin Fröber bei der Eröffnung am Donnerstag; übernommen hat sie das traditionsreiche Cineastentreffen vor einem Jahr, als Russland auch schon kräftig mit dem Säbel rasselte.

     Heuer laufen die Filmtage wieder „in Präsenz“, worüber sich Fröber mitsamt den Ehrengästen und dem Publikum besonders freut. 2021 hatten sie und ihr Team, damit das Festival nicht ausfallen oder womöglich sterben musste, das Wagnis auf sich genommen, es in voller Breite digital und vierzehn statt vier Tage lang stattfinden zu lassen. Nun, atmet Oberbürgermeister Ulrich Pötzsch auf, „können wir Kunst und Kultur wieder live spüren“.

     Unlängst wurde in einem Hofer Kino Theater gespielt (ho-f berichtete). In Selb verhält es sich bis zum Sonntag umgekehrt: Das Kino kommt ins Rosenthal-Theater. Denn zwar gelang es der Stadt dank generöser Unterstützung durch Bezirk und Freistaat, das überalterte Kino-Center zu übernehmen, um es zu einem kommunalen Kulturtreffpunkt namens „Spektrum“ umzurüsten; doch dauern die Arbeiten noch an. Im kommenden Jahr, so schaut Pötzsch getrost voraus, werde das Festival dort einziehen. Wie auch immer – „Selb, unsere bunte, souveräne Stadt“, da ist sich der Oberbürgermeister sicher, „ist eine Hochburg der Filmkultur“. Wo auch immer – zu Projektionen im Großen Haus, im Ballettsaal und im Jazzkeller lädt Philipp Spiegel, Moderator der Auftaktveranstaltung, ein: „Die Leinwand hat uns wieder.“

Eine gute und eine schlechte Nachricht

Wie heutzutage Beamte durch pflichttreue „Strebsamkeit“ riskieren, Menschen in „Märtyrer“ zu verwandeln, erzählt der ungewöhnliche Eröffnungsfilm. Ein Märtyrer – das ist jemand, der unschuldig zum Opfer von Verfolgung und unverdienten Leiden wird. Für unschuldig muss man Babtou, den schwarzen Titelhelden in Florian Dietrichs Debütfilm „Toubab“, nicht halten. In Frankfurt saß er zwei Jahre lang für einen Einbruch im Knast. Jetzt, seit einer Minute wieder frei, fällt er euphorisch seinem Kumpel und Ex-Komplizen Dennis in die Arme. Wieder ein paar Minuten später verwickeln beide sich in eine Prügelei mit Polizisten. Babtou, auf Bewährung draußen, erhält daraufhin eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Zurück ins Gefängnis müsse er nicht. Die schlechte: Er werde abgeschoben, in den Senegal. Von dort, aus dem westafrikanischen Küstenstaat, reisten  zwar vor Jahrzehnten seine Eltern ein, für Babtou aber, geboren in der Bundesrepublik, ist deren Heimat fremder als der Mond. Um bleiben zu dürfen, hilft höchstens eine Heirat. Doch all die einst von ihm in Serie flachgelegten Mädels knallen ihm hohnlachend die Türen vor der Nase zu. Schließlich bleibt als Kandidat nur: Dennis; und der ist mindestens so cis und hetero wie Babtou selbst.

     In der scheinehelichen Wohnung der beiden flattert, um sie „authentisch“ nach dem Heim eines gleichgeschlechtlichen Paares aussehen zu lassen, eine Regenbogenfahne, Fotos praller Männer-Pos prangen an den Wänden, fleischfarben schimmert eine Dildo-Lampe, und für eine „queere Party“ machen sich die Jungs schon mal mit Glitzer schick. Irgendwelche lästerlich lächerlichen Schwulenklischees bedient der so kluge wie empathische Regisseur, der (zusammen mit Arne Dechow) auch das deftige, durchdachte Drehbuch schrieb, freilich nicht. Es ging ihm nicht einmal darum, mit einem weiteren Genderdrama der LGBTQ+-Debatte beizutragen. Er habe vielmehr, berichtet er in einem als Video aufgezeichneten Filmgespräch mit Festivalchefin Fröber, „zwei Figuren feiern wollen, die sich dem System widersetzen“.

Schwarzer „weißer Mann“

Einem System, in dem Grenzen systemrelavant sind; das offenbart die fast tragische Komödie glasklar und beinah überdeutlich. Eine Grenze verläuft mitten durch Babtou, keine deutsch-senegalesische Grenze indes, sondern eine deutsch-deutsche. Im back slang wird der Name des schwarzen Bundesrepublikaners silbenverdrehend „Toubab“ ausgesprochen, was dann so viel heißt wie „Weißer Mann“. Mit allem adäquaten Ernst baute Florian Dietrich den Stoff wendungs- und bewegungsreich, auch durchaus geräuschvoll zu einer Art Komödie aus, die allerdings nicht krachend in einen „Käfig voller Narren“ mündet. Zuerst ein ausländerbehördliches Kontrolleurs-Duo, bald auch eine homophobe Proll- und Schlägergang setzt der Regisseur auf die Fersen seiner halben Helden. Den Druck der doppelten Verfolgung, der den zunehmend angespannten, entmutigten, auch körperlich leidtragenden Buddys fast den Atem nimmt, malt der Film nicht klein. Im Gegenteil: Die Geschichte, rund um die Frankfurter Banken-Skyline und andere präpotente Euro-Gedenkstätten der sündreichen Maingold-Metropole ausgerollt, müsste übel enden – leuchtete nicht in der Ärmlichkeit des afrikanischen Epilogs doch noch unversehens ein schlichter Ring als Funke neuer Hoffnung auf.

     Eine „Feier“ vollkommen natürlicher Schauspielerei ist das nachdenkenswerte (leider konsonanten- und endsilbenlos bis zur Unverständlichkeit vermauschelte) Lustspiel auch: Sehr zu Recht nahmen die Hauptdarsteller Farba Dieng und Julius Nitschkoff dafür Bayerische Filmpreise entgegen. Und schließlich wird eine Freundschaft gefeiert, die keine Grenzen gelten lässt zwischen Männern und Frauen, sex und gender, Lust und Liebe. Im Kleinen „widersetzt“ sich da erfolgreich ein resilientes Urvertrauen, wie es die große, neuerlich sich polarisierende Welt gut brauchen könnte.

■ Das Festival im Internet: hier lang.
■ Programmspiegel: hier lang.
■ Filmbeschreibungen: hier lang.
■ Programmheft digital: hier lang.
■ Eintrittskarten, Preisverleihungen, Partnerfestivals, Sponsoren: hier lang.
■ „Toubab“ bei Netflix streamen: hier lang.



Liebe ist kein faires Spiel

  • Im Kino: „Tod auf dem Nil“ (USA 2022, Regie: Kenneth Branagh, 128 Minuten)

Von Michael Thumser

26. März – Einen schönen Menschen entstellt nichts: Das sagt man so. Zweifel an der Korrektheit der Behauptung konnten zum Beispiel aufkommen, als Kenneth Branagh 2017 seine erste Agatha-Christie-Adaption, „Mord im Orientexpress“, in die Kinos brachte und die Hauptrolle des Meisterdetektivs Hercule Poirot selbst übernahm. Da ließ er sich einen eisengrauen Schnurrbart von der Spannweite eines Vogelflügelpaares unter die Nase kleben, dessen Übergewicht die Ober- über die Unterlippe zu ziehen drohte. In den Jahren danach alterten der kinematographische Alleskönner und sein notorisch attraktives Gesicht kaum, schon gar nicht zum Nachteil; doch verlor zum Glück der Schnäuzer seine fast taktlose Präpotenz und fand obendrein zu einem jugendlicheren Dunkelblond zurück. Grau, sprichwörtlich „klein und grau“, blieben hingegen die Zellen, die das Gehirn des geschniegelten Gentleman-Ermittlers zu analytischen Heldentaten ermächtigen. Gegen sie sieht jedes noch so bunt ertüftelte Verbrechen blass aus.

     In Branaghs neuem, zweitem Christie-Krimi bewähren sie sich, dank episch ausgebreiteter Vorgeschichte, schon lang vor der infrage stehenden Mordserie. Denn auch in dieser (bereits 2019, vor der Corona-Pause, abgedrehten) Produktion, wie in der ebenfalls zurzeit gezeigten nordirischen Familiengeschichte „Belfast“ (ho-f berichtete), schockiert der Regisseur gleich zu Beginn mit den Schrecken eines Krieges, wieder in Schwarz-Weiß. Für heutige Augen gemahnen zwar auch sie beklemmend an das grausige Geschehen in der von Putin heimgesuchten Ukraine. Aber sie spielen auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, 1914 in einer zur toten Mondlandschaft zerriebenen Strecke verschlammter Natur, wo Belgier sinnlos gegen eine deutsche Stellung anrennen sollen. Fest steht: Das Himmelfahrtskommando wird kaum einer überleben. Deshalb schlägt ein Soldat eine ungewöhnliche Taktik vor: „Ich irre mich nicht“, bekräftigt er seinen Plan selbstbewusst, und wirklich – er gelingt. Ein Geniestreich; wie auch nicht: Der ihn ersann, war Poirot. Damals bartlos.

     1937 (noch herrscht Frieden zwischen den Kriegen) befindet sich das Superhirn im stolzen Besitz einer strotzenden Manneszier und hat Schmutz und Uniform längst gegen Maßanzüge und geschliffene Manieren eingetauscht. In Ägypten gerät er, statt zwischen die Fronten von Nationen, mitten in eine Liebesintrige von einer Unübersichtlichkeit, die selbst seinen Durchblick zeitweilig vernebelt. Nur das Grundmuster ist simpel: Zwei Damen begehren ein und denselben Beau, der seinerseits erst der einen, Jacqueline, die Treue schwor, bevor er die andere, Linnet, zur Frau nahm. Die Ausgangslage verkompliziert sich, weil die Verlassene (Emma Mackey) den wankelmütigen Liebhaber (Armie Hammer) selbst mit der erfolgreichen – durch Schönheit wie durch Reichtum gleichermaßen anziehenden – Rivalin bekannt gemacht hat. Liebe sei nun mal „kein faires Spiel“, lässt Linnet (Gal Gadot) die Sitzengelassene wissen. Bis auf den Nil und ein luxuriöses Kreuzfahrtschiff verfolgt Jacqueline gebrochenen Herzens das prassende Brautpaar, das eine Freundescorona zwielichtig umschwärmt. Auch Hercule Poirot befindet sich an Bord – und hat bald reichlich zu tun: Erst Linnet, dann vier weitere Passagiere fallen zielsicherer Mörderhand zum Opfer. Am Schluss des Films werden sie, eng von weißem Tuch umwickelt, von Bord getragen. Ägypten ist nun mal das Land der Mumien.

Jeder ist verdächtig

Ein klassischer (zuvor schon zwei Mal verfilmter) Whodunit-Stoff; und mit allen Mitteln des Kinomelodrams der Vierziger- und Fünfzigerjahre von vornherein sozusagen als moderner Klassiker verfilmt. Wie in vielen Geschichten der queen of crime entpuppen sich alle Anwesenden allmählich als verdächtig, denn „man konnte Linnet so leicht hassen wie lieben“. Wie überkonstruiert die Beziehungen sich auch verwickeln mögen – unbestreitbar hat Agatha Christie sie sich imponierend clever ausgedacht. Kenneth Branagh schnürt eine stattliche Riege junger, mit umso altmodischerem Gestus aufspielender Stars extra glamourös zusammen ins Netz von Verrat, Betrug, Gier, Hinterlist, Kaltblütigkeit, in dem auch Poirot gehörig zappelt und dem auch er nicht mit ganz heiler Haut entkommt.

     Ein Schaustück, von Haris Zambarloukos märchenhaft wie in potenzierten Cinemascope-Farben und wie ein „Indiana Jones“-Abenteuer bebildert. Auch wer die unvergessliche, mit viel Kinoprominenz der Zeit renommierende Verfilmung des berühmten Romans von 1978 im Kopf hat, muss von der Neuauflage nicht allzu viele Dé·jà-vus fürchten. Schon darum nicht, weil Branagh, der Regisseur, und Branagh, der Schauspieler, den belgischen Kriminalisten ganz anders gestalten, als es damals John Guillermin mit Peter Ustinov tat. Nicht neuerlich als Gemütsmensch mit liebenswerten Schrullen tritt Poirot auf; jetzt lassen düstere Schlaglichter und knappe Selbstbekenntnisse eine einst schöne, doch gebrochene Seele ahnen: Der „eiskalte“ Detektiv „wird zum Menschen“. Zwar muss er sichs gefallen lassen, dass man ihm, ganz zu Recht, die Leviten liest für seine Selbstliebe und seine Anmaßungen, seine Ex- und Egozentrik, doch bedarf er all jener Entstellungen seines Charakters, um darunter dünnhäutige Verletzlichkeit, erlittene Verluste, unverschmerzte Schnitte zu verbergen. Die sind (um nicht zu viel zu verraten) am Anfang und am Ende des Films sogar auf Branaghs Außenseite zu erkennen und zwischendurch an Poirots Bart.



Religion der Angst

  • Im Kino: „Belfast“ (Großbritannien 2021, Buch und Regie: Kenneth Branagh, 99 Minuten)


Von Michael Thumser

19. März – Vor 24 Stunden herrschte noch Frieden, jetzt bricht die Hölle los. Der Film, zumindest sein Anfang, könnte auch am 24. Februar 2022 in der Ukraine spielen.

     Doch er spielt im Belfast des Jahres 1969. Auf den sommerlichen Straßen und Höfen einer mehrheitlich, aber keinswegs nur von Katholiken bewohnten Arbeitervorstadt spielen Kinder, während die Erwachsenen lässigen Beschäftigungen nachgehen oder sich auf den Feierabend einstimmen. Bis ein Mob hasserfüllter Protestanten aufmarschiert und brachial dazwischenfährt: Fäuste, Steine, Molotowcocktails fliegen, wer flüchten kann, sucht schockiert, hilflos und hoffend Schutz unterm Tisch seiner guten Stube. Fürs Erste beenden Soldaten den Tsunami der Gewalt, doch die Wogen zwischen den Parteien glätten sie nicht. Von einem Tag auf den andern hat sich die beschauliche Welt des neunjährigen Buddy (Jude Hill, famos), seiner protestantischen Familie und seiner Nachbarn in vermintes Terrain verwandelt. Daran wird sich, auf lange Sicht, nicht viel ändern.

     Das eine Ende seiner Straße versperrt Stacheldraht, das andere eine Barrikade. Dazwischen werfen sich Kleinbürger zu Wachtposten, Personenkontrolleuren und Patrouillengängern einer Bürgerwehr auf. Finster erklärt sich ein Ganove zum Kommandanten marodierender Kampfeinheiten und fordert von harmlosen Anwohnern wie Buddys Vater, sich für eine Seite zu entscheiden: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Die „verdammte Religion“, der jede Konfession auf ihre eigene pervertierte Art anhängt, scheint eine „Religion der Angst“ und nicht des Heils zu sein und wird in dieser Tonart auch bellend von der Kirchenkanzel gepredigt. Im Nordirland des außer Rand und Band geratenen Bürgerkriegs werden aus Nächsten, Mit- und Nebenmenschen durch einen abgründig falsch verstandenen und gelebten Glauben Erz- und Todfeinde.

     Wie 1969 die TV-Kriegsbilder von Bösartigkeit und Zerstörung aussahen, so sieht auch „Belfast“ von Kenneth Branagh aus: schwarz-weiß. Unlängst strahlte das lineare Fernsehen den von Stars funkelnden „Mord im Orientexpress“ aus, den der gefeierte Schauspieler und Regisseur 2017 inszenierte; gegenwärtig spielen die Kinos seinen nicht minder opulenten „Tod auf dem Nil“, eine weitere Agatha-Christie-Adaption. In „Belfast“ hingegen zieht sich der ungemein umtriebige, 1960 in der nordirischen Metropole geborene Film- (und Theater-)künstler in die engen und unansehnlichen, aber nestwarmen Winkel seiner Herkunft zurück: Mindestens zur Hälfte ist das Werk Autobiografie.

Wem gehört die Stadt?

Zwar durchtränkt Kameramann Haris Zambarloukos, in allen grau getönten Licht- und Schatten-Künsten kundig, die Ausbrüche der Barbarei mit einer archaischen Aura vorgeschichtlicher Grausamkeit. Doch stellt Branagh die so schlichte wie vitale Lebenswelt Buddys dagegen, der in der Schule glänzt, unbeschwert Gitterzäune überwindet, eifrig Spielzeugautos sammelt und mit geweiteten Augen einer unheilbaren Sucht nach Filmen frönt. Im Kino spiegeln sich die bunten Leinwandbilder farbig in Grannys großmütterlichen Brillengläsern, und auf dem Schwarz-weiß-Bildschirm zu Hause stellen Revolverhelden die Frage jedes Westerns, die auch die Frage Belfasts ist: Wem gehört die Stadt?

     Heimat, sagt Buddys Pa, ist dort, wo „alle auf einen aufpassen“. In der strahlenden Aufgewecktheit des durchaus alltäglichen und doch besonderen Jungen entwarf Branagh ein Selbstporträt von sich als Kind, aus Buddys naivem Erleben breitet er die Geschehnisse episodenhaft aus. Geradezu verklärend tut ers, aus einer fast allzu milden Atmosphäre der Eintracht und des Behütetseins lässt er sie erwachsen; und doch macht er alsbald beklemmend Risse kenntlich, die sich unter den Füßen des Jungen ausbreiten wie auf dünnem Eis.

Fürs Auswandern geboren

Vor 24 Stunden noch sah er, wie seine hübschen Eltern einander tanzend mit liebevollem Lächeln in den Armen hielten; von Pop, dem „philosophischen“ Großvater, ließ er sich in Liebesdingen beraten und lachte über Granny (Judy Dench), wenn sie den Alten freundlich erdete, sobald er zu dick auftrug. Nun erfährt der Knabe, dass Mas unvorsichtiger Umgang mit Steuerschulden und Pas Pferdewetten das schmale Familienvermögen auffressen, dass Pop eine unheilbare Krankheit verdrängt, dass die quirlige Cousine Moira auf die schiefe Bahn zu geraten und ihn, Buddy, mitzureißen droht. Zugleich dringt bis vor die schmale Haustür die grassierende Bereitschaft einer unberechenbaren Menge, sich die Köpfe einzuschlagen. Irgendwann steht für die Familie fest: Wer eine unbedrohte Zukunft und festen Boden unter den Füßen ersehnt, kann hier nicht länger bleiben. „Die Iren“, heißt es einmal, „sind fürs Auswandern geboren.“

     Feinfühlig Anteil nehmend, in vielen kleinen, leisen und einigen gewaltsam-zügellosen Schritten schildert Kenneth Branagh den Abschied von einer Idylle – von einer Heimat. Kein allzu bitterer, weil befreiender Abschied, gleichwohl ein schmerzhaft unumgänglicher: eine Suche nach Sicherheit, nach Frieden in der Fremde. Insofern ergeht es Buddys Familie, wie es den traumatisierten Menschen ergeht, die zurzeit weit panischer aus der Ukraine fliehen: Sie reisen in kein Happy End. Sie entrinnen der Gefahr.



Botox gegen Depressionen

  • Im Kino: „Wunderschön“ (Deutschland 2022, Regie: Karoline Herfurth, 131 Minuten)


Von Michael Thumser

8. März – Einhunderteinunddreißig Minuten. Eine Minute länger als Roland Emmerichs jüngster Blockbuster „Moonfall“ – für eine Komödie eigentlich zu lang. Aber ist es denn eine?

     Zugegeben, über die jungen, nicht mehr so jungen und ganz kleinen Damen, die hier lernen müssen, dass ein Leben nicht schon darum schön wird, weil man „Wunderschön“ aussieht – über sie darf in sehr vielen Szenen gelacht werden. Über sie; auslachen sollte man sie nicht. Denn hinter jeder der samt und sonders recht alltäglichen Geschichten steckt ein Schicksal; und von dem weiß man, dass es jedermann und nicht zuletzt jeder Frau ein Päckchen zu tragen gibt. Nur ein Wohlfühlfilm nach Schema F (wie er in diese wenig wunderschönen Wochen auch nicht passen würde) ist Karoline Herfurths Episoden- und Ensemble-Werk beileibe nicht. Und, trotz der vielen Frauen darin, auch kein ‚Frauenfilm‘; sehr wohl aber ein kluger und heiterer, großartig gespielter und bedenkenswert sensibel inszenierter Film über Frauen. 131 Minuten reichen gerade aus, um ein Halbdutzend weibliche Lebenssituationen zu skizzieren und so unprätentiös wie elegant und typisch zu bebildern (Kamera: Daniel Gottschalk).

     Vor zehn Jahren hat Herfurth mit dem Kurzfilm „Mittelkleiner Mensch“ bei den Hofer Filmtagen als Regisseurin debütiert. Für ihre dritte (bereits vor zweieinhalb Jahren abgedrehte) Lang-Produktion nahm sie Medienberichten zufolge binnen Kurzem zehn Kilo zu, denn wieder wirkt sie selbst mit. Ihre Sonja hat viel Grund zur Klage, unter anderem darüber, nach zwei Geburten ein wenig aus dem Leim gegangen zu sein. „Ich kann“, so wird Herfurth in den Medien zitiert, „keinen Film über echte Schönheit machen und dann alle meine Gestalten doch künstlich makellos erscheinen lassen“. Die Schwangerschaften haben Sonja die Figur versaut, wie man so sagt, und nicht nur die: Den Job wurde sie gleich zu Beginn der ersten los, der Sex mit dem Partner und die Nähe zu ihm gingen flöten, ein willig ertragenes Brutpflege-Jahr wuchs sich zu vier Hausmutti-Jahren aus, während denen der smarte Gemahl (Friedrich Mücke) im Job ordentlich vorankam. Nun will sie es ihm nachmachen.

Ein paar Gramm zu viel

Makellos hingegen, doch irgendwie künstlich schaut Emilia Schüles Schönheit aus: Als 24-jährige Julie versucht sie, modelnd Geld aus ihrem fadendünnen Körper zu schlagen, aber für die Karriere müssen weitere Gramm und Zentimeter runter von den Hüften. Erst recht hat sich um die Taille der Gymnasiastin Leyla (Dilara Aylin Ziem) ein stattlicher Schwimmring gelegt. Julies Mutter Frauke wiederum müsste vor innerer und äußerer Schönheit strahlen, doch bringt Martina Gedeck sie durch stumme Frustration ausdrucksvoll zum Schweigen, denn obwohl für Mitte fünfzig ausnehmend gut gehalten, wird Frauke von ihrem stoffeligen Mann (Joachim Król) längst keines Blickes mehr gewürdigt. Aus dem Rahmen fällt Kunstlehrerin Vicky: Nora Tschirner lädt sie mit jener flapsigen Überdrehtheit auf, die in der alten „Neuen deutschen Komödie“ der Achtzigerjahre eine Zeitlang für frisch galt. Ihre Schülerinnen und Schüler fragt Vicky provokant: „Seid ihr denn nur euer Aussehen?“; folgerichtig bedeutet ihr das eigene hübsche Gesicht nichts, und den sie gutmütig umwerbenden Kollegen Franz (Maximilian Brückner) hält sie sich durch feministisch illusionslose Kratzbürstigkeit vom Leib.

     Muss Liebe immer „zum Klischee werden“? Ist sie nicht, vor allem, „ein Geschenk“? In all den sich anziehenden und einander abstoßenden Charakteren, ihren gemischten Lebensaltern und instabilen Lebenslagen stellt Karoline Herfurth als Regisseurin das „Äußere“ des Menschen infrage und seinen wahren „Wert“ zur Diskussion. In die Muster des ‚Frauenfilms‘ gekleidet, entspinnt sich geschlechtsunabhängig ein Gewebe aus scheinbar lose verknüpften Familienschnappschüssen, Generationenkonflikten und Vertrauensproben. Zwar wird am Ende lustspiellieb alles gut, bis dahin aber haben sich unter den scheinbar tragfesten Böden deutschen Bürgertums lauter schroffe Risse und sogar ein tragischer Abgrund aufgetan.

Sinnlich und sehnsüchtig

„Echte“, „authentische“ Gesichter soll die Fotostrecke zeigen, für die Magermodel Julie posiert, aber die Schlankheitsnormen und Schönheitsideale, durch eine männerbeherrschte öffentliche Bilderwelt aufgestellt, zumal die Forderungen junger Mutterschaft kann keine Frau erfüllen, ohne ihr „authentisches“ Gesicht zu verleugnen und weite Teile ihrer Selbstbestimmung dreinzugeben. Wer den Druck nicht aushält, findet nur schwachen Trost: „Botox hilft auch gegen Depressionen.“

Ein Film über Einsamkeit ist „Wunderschön“ auch; ohne eine einzige Nacktszene ein sinnlicher, mehr noch indes ein sehnsüchtiger Film. Weil Frauke, die ausgediente Mutter und Geliebte, ein Mal „keine Regeln, nur Gefühl“ erleben will, küsst sie den Tanzlehrer, bei dem sie – ohne Mann – den Tango lernt. Noch verlassener tritt ein niedliches Schlüsselkind aus seiner Treppenhaus- und  Mietwohnungswelt in Julies Leben, unversehens wie ein Licht: Die Mama, so vertraut die Kleine der verzweifelten Schönen in trauriger Gefasstheit an, sei „im Himmel“, ihr Vater taucht in Herfurths Film nie auf. Die kleine Luna Arwen Krüger spielt das Mädchen zum Niederknien natürlich, anrührend, ohne einen Augenblick gemachten Getues, sondern ungeziert selbstverständlich. Sie ist von allen die Makelloseste und Schönste.


Aliens im Vorgarten

  • Kino: „Moonfall“ (USA/Kanada/China 2022, Regie: Roland Emmerich, 130 Minuten)

Von Michael Thumser

19. Februar – Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis, hoch wie Gebirge: So schlimm ging es noch nie zu auf der Welt. Kein Wunder: „Die Naturgesetze“, sagt die Astronautin zum Astronauten, „gelten nicht mehr.“

Sie gelten nie in den Filmen des Roland Emmerich. Wer ins Kino geht, um sich plausible Plots erzählen zu lassen, ist bei ihm fehl am Platz, erst recht wer auf Konflikte mit konstruktiver Lösung hofft oder gar ein bisschen heile Welt zu sehen wünscht. Emmerich, dafür ist er bekannt, bricht die Zivilisation in Trümmer, mit der einfältigen Lust eines Besessenen, der professionellen Gründlichkeit eines Abrissunternehmers und der blühenden Fantasterei eines Sci-fi-Märchenonkels. So machte ers in zwei „Independence Day“-Spektakeln und in „Godzilla“, in „The Day after tomorrow“ und „2012“ … Und jetzt wieder: in „Moonfall“. Das sei, versprach der Regisseur, nun „wirklich sein letzter“ Film des ausgereizten Genres. Soll man das einem glauben, dem man nichts in seinen Filmen glauben kann?

Worum es geht, besagt der Titel so knapp wie erschöpfend. Der Mond fällt: auf die Erde (fast) und aus der Rolle als ihr natürlicher Satellit. Noch vor den Fachleuten der Nasa konstatiert ein rundlicher Nerd mit mathematischem Superhirn und hobbyastronomischer Expertise, dass sich der Orbit des kreisenden Trabanten in eine Spirale verwandelt hat, die sich schnell verengt. Panoramabreite Lichtbilder aus der Computertrickmaschinerie illustrieren, wie beeindruckend, freilich auch zunehmend bedrohlich das aussieht: Als Kugel von buchstäblich kosmischen Ausmaßen steigt der Monstermond am irdischen Horizont auf und nieder, schrundig, von Kratern wie von Narben übersät.

Mondtrümmer, groß wie Städte

So nah kommt er der Erde, dass seine Gravitation Meere und Kontinente anhebt, aufwühlt und zerbricht und dem Leben die Atemluft absaugt. Indem seine Oberfläche sich an der Schwerkraft und Atmosphäre des blauen, alsbald staub- und rauchbraunen Planeten aufreibt, regnen Hundertausende von Einzelteilen, manche „groß wie eine Stadt“, glühend auf die ausgeliefert fliehende, grausig verendende Menschheit nieder. Entkrampft planmäßig hat Emmerich, der Routinier der Katastrophe, des Unheils und Desasters, all das inszeniert und gibt es dem Kinopublikum weitgehend in Luftaufnahmen zur Besichtigung frei. Denn in derart sicherer Entfernung muss sich niemand innerlich am Beinahe-Untergang der eigenen Spezies beteiligen.

Mitfühlen und -fiebern darf man hingegen mit dem Astro-Nerd, den bislang alle „für einen Spinner hielten“, einem „abgehalfterten“ Raumfahrer und seiner besten Feindin (John Bradley-West, Patrick Wilson, Halle Berry). Im Museum verschafft sich das Trio ein ausgedientes Spaceshuttle, wagt mit ihm und bedenklich wenig Sprit den Katzensprung zum sich mehr und mehr aufdrängenden Erdbegleiter und findet höchlichst überrascht heraus: Der Mond ist hohl und, statt einer toten Gesteinskugel, ein wundertechnisches Artefakt, von Aliens „im Vorgarten“ der noch recht jungen Erde vor Urzeiten zusammengeschraubt. Was aus den Außerirdischen inzwischen wurde, steht in den Sternen: Fielen sie einer Künstlichen Intelligenz zum Opfer, die sie selber programmierten?

Kosmischer Krawall

Wie so oft – wenn nicht immer – bei diesem Regisseur nehmen weder die flach entworfenen Figuren noch die Schauspielkünste der Darstellerinnen und Darsteller für die kinematografischen Urknallereien ein; auch nicht das unbedarft aufgegriffene, indes mit keinem Wort diskutierte Thema der KI und ihrer zukunftweisenden wie fragwürdigen Aspekte; schon gar nicht die Dialoge à la „Die Welt braucht dich“. Unbestreitbar die Spannungs-, Schau- und Unterhaltungswerte der 140-Millionen-Dollar-Produktion – trotz arg unleidlicher Productplacements und peinlicher Verbeugungen vor Elon Musk –; sie verdanken sich sämtlich einer fröhlich offenbarten Freude an der Auslöschung, die kaum einen sorgenvollen, geschweige denn humanitären Gedanken an die globale Tragik des apokalyptischen Geschehens verschwendet. Das spielt sich ausschließlich an der Westküste der USA ab; andere, wohl kaum weniger betroffene Weltteile würdigt die Kamera Robby Baumgartners keines Blickes. Um das Vergnügen nicht zu schmälern, bleiben die Millionen, wahrscheinlich Milliarden Massemenschen unsichtbar, die verbrennend, ertrinkend, zerschmettert zugrunde gehen.

Umso befreiter dürfen Zuschauer und Zuschauerinnen nach dem kosmischen Krawall aufatmen, wenn sich gegen Ende (fast) alle Protagonisten, von einem hellen Sonnentag umflutet, in die Arme schließen und ihre zerrissenen Familienbande neu verknoten. Mag auch zwei Stunden lang alles Erdenkliche geschehen sein, die Welt unbewohnbar zu machen wie den Mond und ihr alles Lebenswerte auszutreiben, so sei sie ja doch „einigermaßen heil“ geblieben, lacht die Astronautin dem Astronauten erleichtert zu. Der findet das auch, lacht zurück, greift zum Handy. Und - ein Wunder - er hat gleich ein Netz.



Eine Bresche im Mauerwerk

  • Kino: „Spencer“ (Deutschland/England/USA/Chile 2021, Regie: Pablo Larraín, 117 Minuten)


Von Michael Thumser

22. Januar – In einem Interview verriet der Regisseur, er habe einen Film von der Art drehen wollen, wie sie seiner Mutter gefällt. Sollte Pablo Larraín ihren Geschmack getroffen haben, so liebt die Dame Tragödien im Allgemeinen und im Speziellen Kinodramen, in denen starke Familien die Schwachen und Zwecklosen in ihrer Mitte auslöschen.

     Aber handelt es sich bei „Spencer“ um eine Tragödie? Immerhin steht am Ende kein Untergang im Tod, sondern ein Akt rigoroser Selbsthilfe: der Schritt ihrer königlichen Hoheit, der Prinzessin von Wales, geborener Diana Frances Spencer, aus dem winterkalten Schlossgefängnis Sandringham House und dem zuchtmeisternden Klan der britischen Royals hinaus. Im offenen Sportwagen braust sie mit ihren Jungs William und Harry einer Freiheit entgegen, die irgendwo am Londoner Themse-Ufer bei Hamburgern aus der Fast-Food-Bude zu finden ist. Eine „schwache“ Frau? Regisseur Larraín und sein Drehbuchautor Steven Knight suggerieren mit wohlgesetzten Dialogen und grandioser Bildgewalt: Selten wurden Ketten mit größerer Entschlusskraft gesprengt.

     Gesammelt hat „Lady Di“ jene Energie - der Leinwandhandlung zufolge - während vieler Jahre und dreier Tage im ländlichen, miserablen geheizten Goldkäfig der britischen Königsfamilie. Die Prinzessin, von ihrem lieblosen Mann wie ein ungezogenes Mädchen gemaßregelt, von der gekrönten Schwiegermama mit Eiseskälte abgefertigt, erlebt Weihnachten 1991 als weitere Mobbing-Episode und letztmögliche Peinigung. Die ersten Einstellungen folgen einem Militärkonvoi auf schmaler Landstraße zum Schloss, wo 1-a-gedrillte Soldaten Munitionskisten anliefern, die 1-a-gedrillten Köche in Empfang nehmen. In ihnen, akkurat arrangiert und abgezählt, ruhen wie in Särgen sämtliche vielgängigen Menüs aller Festtage. In minuziös „vorherbestimmter“ Kleiderordnung und rückensteif wie Königszepter versammeln sich die erlauchten  Mitglieder des Windsor-Syndikats auf den Wimpernschlag genau zu verschwiegener Konspiration im Speisesaal, um mit hochwohlgeborener Artigkeit ihr Süppchen zu schlürfen.

Schönheit ist Verhüllung

Nur Diana, wie immer, kommt zu spät. Von Anfang an passt und gehört sie nicht dazu, stets steht sie entwürdigt unter strenger Observanz. Die Magersucht der klapperdünnen Beauté ist Protest, ihre Schönheit „Verhüllung“, ihre Ehe mit dem Thronfolger – der seiner Gattin und seiner Geliebten Camilla zm Fest gedankenlos die gleiche Perlenkette verehrt – ist das Zeitungspapier nicht wert, das tagtäglich Adelsnachrichten und Paparazzi-Fotos der schönen Diana unters Volk bringt. Ungemein empathisch (nur gelegentlich ein wenig zu plakativ) zieht sich Kristen Stewart in die noch eingeschüchterte Mädchenhaftigkeit der hübschen Unerwünschten zurück: Bewegend zeigt die US-Schauspielerin eine fast lähmende Resignation, eine Unangepasstheit, die einer Verzweiflung am Rand der physischen Selbstzerstörung und des geistigen Zusammenbruchs entspringt. Doch unter der atemberaubenden Oberfläche lässt sie, kaum sichtbar, wiewohl immer deutlicher, Widerstandsgeist spüren. Der wird schließlich eine Bresche in das zugemauerte Festungswerk aus monarchischem Pflichtgefühl und Traditionsgedenken an uralte Zeiten schlagen durch den Anspruch auf Lebendigkeit und Eigenleben.

    „All I need is a Miracle“, trällern Di und die Jungs lauthals während ihrer Flucht: „Alles, was ich brauche, ist ein Wunder.“ Es scheint zu geschehen: Diana  entkommt einer Familie, deren Urahn Heinrich VIII. störende Gemahlinnen kurzerhand entsorgte. Eine von ihnen, Anna Boleyn, verlor ihren Kopf; jetzt kommt sie ihrer modernen Leidensgefährtin in nächtlichen Erscheinungen nah wie eine Identifikationsfigur. So wie sie will die Prinzessin nicht enden, die Regisseur Larraín - während Jonny Greenwoods barocke und jazzige Musik sich beängstigend misstönend windet und  verzerrt - in Pullover und Jeans durch eine Fantasiewelt kostbarer Galagarderoben, historischer Phantasmagorien und seliger Kindheitserinnerungen aus scheinbar „uralten Zeiten“ schickt. Lange genug trudelt sie wie ein ruderloses Rettungsschiff auf einem Meer der unverbrüchlichen Vermächtnisse und eisernen Regeln, der minütlich getakteten Zwangsverrichtungen und der Forderungen einer Öffentlichkeit, die imperialen Glanz sehen will, um die Demokratie zu ertragen. Nach dem „Einfachen und Gewöhnlichen", so wie alle, sehnt sich Diana, nach dem „Schönen und Bürgerlichen“. Sie will sein, was sie während ihrer ersten zwanzig Lebensjahre war: eine Spencer, zufällige Grundstücksanrainerin der Windsors, nicht deren Geisel.

     Wieviel von der wirklichen Not der realen Princess of Wales erzählt der Film? Welche Episoden sind erfunden? Gleichviel; selbst wenns nur halb so schlimm war, wars entsetzlich. Wieviel Freude wird die Mutter des Regisseurs an dem Film wohl haben? Egal; die Mutter des Prince of Wales ist sicher not amused.