Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Ein Messer im Trommelfell

Die Wunsiedler Festspiele amüsieren ihr „Xtra“-Publikum mit Chansons und „Weaner“ Geschichten nicht nur, aber hauptsächlich von Georg Kreisler. Als deutscher Interpret des unerreichbaren Satirikers aus Österreich vermeidet Christian Auer den vergeblichen Versuch einer Kopie, sondern verlässt sich höchst vergnüglich auf seinen eigenen Ton.


Von Michael Thumser

Wunsiedel, 30. Juli – Als das Programm schon seinem Ende zugeht, verlangt eine Zuhörerin vernehmlich nach „Tauben vergiften“. – „Bitte?“, fragt Christian Auer überrascht nach. – „Tauben vergiften.“ – „Was? Kenn ich nicht“, rätselt Auer, „ist das auch von Kreisler?“

     Ist es: das bis heute berühmteste, sprichwörtlich gewordene Chanson aus Georg Kreislers unverwüstlichem Œuvre. Vor wenigen Tagen erst jährte sich der Geburtstag des Wiener Satirikers zum hundertsten Mal – schöner Anlass für Christian Auer, ihm am Donnerstag in Wunsiedel, auf Einladung der Festspiele, mit einem „Luisenburg-Xtra“ unter der Devise „A echter Wiener geht ned unter!“ die verdiente Ehre zu erweisen. Von selbst versteht sich, dass auch Auer das Tauben-Lied kennt: Als Zugabe, nach knapp zwei Stunden, erfreut er das kleine, aber gehörig amüsierte Freiluftpublikum im Hof des Fichtelgebirgsmuseums dann doch noch mit „Gehn wir Tauben vergiften im Park!“, in einer Kurzfassung wenigstens.

Naturgewachsene Musikalität

„Ist das legal? Ist das normal“ – wenn Auer Kreislers Lieder singt? Warum nicht; treffen sich die zwei doch in ihrer naturgewachsenen, gleichwohl akademisch ausgebildeten Musikalität. Sogar Musicals und eine Oper hat jeder von ihnen hervorgebracht. Beide sangen respektive singen mit kaltschnäuziger Hingabe, wenngleich keiner von ihnen das besitzt, was man ‚eine Stimme‘ nennt. Auch Klavier spielen kann der eine wie der andere, und das nicht schlecht. Aber reicht das dem einen, um sich in den anderen zu verwandeln? Immerhin starb Kreisler 89-jährig in Salzburg, während Auer, als Musiker, Komponist, Pianist und Entertainer konstant lebendig am Pianino und auf der Kleinkunstbühne, erst 64 ist. In Wien kam der Österreicher zur Welt, sein deutscher Interpret in Ortenburg bei Passau. Wohlweislich darum hütet Auer sich vor dem Fehler, das unerreichbare Original kopieren zu wollen. Es müsste eine Fälschung daraus werden.

     Aber er trifft sich mit ihm in einer adäquaten Vorliebe fürs Abgründige, in der Feier eines von kleinem bis größerem Unheil lustvoll geschwängerten Schicksals, in einer diebischen Freude an der bürgerlichen Unzulänglichkeit, die mit erwartungsvoller Gelassenheit der nächsten Katastrophe entgegensieht und -eilt. Dass „der Tod ein Wiener sein“ müsse, davon hat Kreisler mithilfe vieler Lieder seine hassgeliebten Österreicher mitsamt den Piefkes überzeugt. „Tragi-Grotesken“ nannte er seine teils blutunterlaufenen, jedenfalls bedenklichen Balladen, „humour noir“ seine sehr spezielle Spielart schwarzen Scherzetreibens mit dem Entsetzen. Der Humor von Christian Auer, so unbeschwert der Künstler trällert, plaudert und (gekonnt) schauspielert, ist von ebensolcher Art: irgendwie schwarz, immer.

„Bringen Sie mich nicht zum Schäumen“

Auer – ein schlanker, sympathischer Kauz, hellwach bis zur heiteren Hysterie, freilich auch verschmitzt, wenn nicht verschlagen bis zur Zwielichtigkeit –, er lässt Kreislers „Alte Tanten“ Tango tanzen oder warnt vor seiner praktischen Gabe, missliebige Menschen beliebig abzumurksen – er muss nur einmal von ihnen träumen: „Also geben Sie acht, und bringen Sie mich nicht zum Schäumen.“ Das eine „Weib“ findet er „herrlich“, aber „sie kann nicht kochen“ (auch nicht lesen, schreiben, denken). Das andere will ihn verlassen, und er findet das prima. Dem Publikum gibt er als Rätsel auf, worum es sich bei dem von Kreisler ausgiebig bearbeiteten „Bluntschli“ handeln könnte (vielleicht um was rein Zweckfreies wie den loriotschen „Familienbenutzer“?), der „Triangel“-Spieler fügt „im Schatten der großen Trommel“ seines Orchesters großer Symphonik sein kleines Bimm bei, und natürlich schaut, weils dazu passt, jener mit Verrissen gut beschäftigte „Musikkritiker“ vorbei, der einräumt: „Ich hab ka Ahnung, was Musik ist, / denn ich bin beruflich Pharmazeut.“

     Bei alldem ists ein Kreislerabend nicht nur mit Kreisler. Auch scheinsentimentale Ausflüge ins parodistische Wienerlied erlaubt sich Auer, um beispielsweise das Geheimnis reifen Eheglücks zu ergründen: „Mei Oide sauft so viel wie i, / daher die große Sympathie“ (ein Hit von Karl Föderl, zum Gassenhauer erwachsen durch die Volkssängerin Maly Nagl). Von der Ersten Allgemeinen Verunsicherung wird, gleichsam duftend „eingehüllt in eine Wolke Pitralon“, der „Ma Ma Ma Märchenprinz“ aus der Provinz herbeizitiert. Als Zwischenspiele intoniert Auer auf seinem weißen, kleinen aber „wohltemperierten“ Klavier Anton Karas’ „Dritten Mann“ ebenso wie Bachs C-Dur-Präludium.

„Weaner“ Breitgoschigkeit

Ein Chansonabend nicht nur mit Chansons. Zwischendurch spielt Auer, in Tageszeitungen fündig geworden, originalgetreu in aller „Weaner“ Breitgoschigkeit Gerichtsszenen aus Österreichs Bundeshauptstadt vor, mit gnädig verknackten oder großzügig freigesprochenen Kleinbürgern und -ganoven, die sich unterm Bett ihres Gspusis vom gehörten Ehemann erwischen lassen oder zu zweit um die (mit einem Dritten verlobte) „Gerda M.“ rivalisieren: Da steckt dann schon mal „ein Messer im Trommelfell“, zum Glück nur in dem eines Jazz-Schlagzeugs.

     Aus den Sechziger- und Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts stammen die schrägen Geschichten, und Kreisler ist auch schon wieder seit elf Jahren tot. Indes gehört zum Reiz der Texte das Historische der Anekdoten, die ironiegeschichtliche Patina, die sich nostalgisch über die grandiosen Strophen legt, das Aus-der-Zeit-gefallen-Sein so mancher der genial-kuriosen Reimereien. Als Deutschlands Kapitale ins Spiel kommt, ist noch von „der Bundeshauptstadt Bonn am Rhein“ die Rede (dort „fürchtet sich der Kommunist. / Sollt man etwas weiter östlich sein, / fürchtet sich, wer keiner ist“). Und wenn Kreislers von den Musen notorisch ungeküsster Rezensent mit Auers selbstbewusster Stimme behauptet: „Heute findet jede Zeitung / größere Verbreitung / durch Musikkritiker“ – so wird jeder, der den Job lang genug gemach hat, resigniert abwinken: Die Zeiten gab es mal. Sie sind vorbei.

■ Eine weitere Aufführung am 14. August um 20 Uhr im Hof des Fichtelgebirgsmuseums.
■ Die Luisenburg-Festspiele im Netz: hier lang.
■ Christian Auer im Internet: hier lang.



Der Mensch ist ein Freak

Gevatter Tod wechselt die Seiten: Eisi Gulp, 2021 als „Boandlkramer“ Publikumsliebling der Luisenburg-Festspiele, kehrt solistisch auf Wunsiedels Naturbühne zurück. Sein Programm „Hackedicht oder was?“ wirbt vor allem bei jungen Leuten für ein gutes Leben ohne illegale Drogen und mit vernünftigem Alkoholkonsum.


Von Michael Thumser

Wunsiedel, 16. Julistoßen – Was ist denn das für einer? Erst stakst der Lulatsch wacklig wie eine Puppe auf die Naturbühne, dann lockern und lösen sich die Gelenke zusehends, und schon wirbelt, trudelt, gaukelt er von links nach rechts und zurück, zackig oder fließend, immer hurtig und in jedem Sekundenbruchteil akkurat zur wilden Musik aus den Lautsprechern. In den Schritt greift er sich wie einer von den „Rolling Stones“, wie weiland Elvis „the pelvis“ lässt er übersinnlich die schmalen, aber sehr mobilen Hüften kreisen, wackeln, wippen, erst schmeißt er das eine Bein, dann das andere wie beim Cancan … Ein Maniac? Ein Freak? Jedenfalls einer, der Haut und Knochen hemmungslos und mit ausdauernder Virtuosität beherrscht. Fanatisch und fantastisch „hampelt er sich den Arsch ab“, wie er später selber sagt. Nur: Warum tut er das?

     Was das für einer ist, wissen auf der Luisenburg die meisten Besucherinnen und Besucher ganz genau, deren Beifall freudig und von Pfiffen durchgellt aufrauscht, kaum dass sich der Maniac blicken lässt. Bürgerlich heißt er Werner Eisenrieder und triumphierte in der vergangenen Wunsiedler Festspielsaison als Boandlkramer: Im neuen, zweiten Teil des „Brander Kaspars“ hat er unter seinem Aliasnamen Eisi Gulp den altbairischen, vor gut 150 Jahren von Franz von Kobell erschaffenen Gevatter Tod gleichsam neu erfunden und zum Leben erweckt, zu derart hohem Pläsier der Zuschauenden, dass sich die Intendanz entschloss, die Erfolgsproduktion im nächsten Sommer wieder in den Spielplan aufzunehmen.

„Professionelles Kaschperl“

Heuer eroberte Eisi Gulp die Festspielbühne lediglich zwei Mal, am Dienstagvormittag und -abend, ungeschminkt und unkostümiert, als Solist. Denn auch mit einer Art Kabarett ist der Komödiant und Komiker unterwegs. Er sei – so arbeitete er im direkten Plaudergespräch mit ein paar Fans heraus – „ein professionelles Kaschperl“ mit dem festen Vorsatz, die Leute „lachen zu machen“. Das glückt ihm gut zwei Stunden lang mit Schwung und Nachdruck. Dabei ist sein Anliegen gravierend und akut: Dem Kampf gegen den Drogenmissbrauch vor allem junger Leute verschrieb sich Gulp vor vielen Jahren schon und reist seither mit seiner Ein-Mann-Show „Hackedicht oder was?“ durchs Land. „Der Mensch“, sagt er, „ist ein Freak.“ Wie sonst käme er auf die Idee, sich mit Haschisch und Marihuana, Alkohol und Nikotin abzufüllen und vollzusaugen, eine ruinierte Gesundheit riskierend oder gar den Tod, den echten, bitteren, nicht den burlesken, den der  Boandlkramer bringt. Selbst scheint Gulp gegen Suchtmittel und ihre Versuchungen gefeit zu sein: Wie sonst wäre er, mit immerhin 66 Jahren, derart gut in Form?

     Für das wichtige Thema weiß sich der gebürtige Münchner prädestiniert: „Ich bin“, bekennt er, „ein Faschingsscherz, im Vollrausch gezeugt“ von einem nicht mehr jungen Vater nach einem Besäufnis in der Fastnachtszeit. Dem Tabak hatte der Papa sein Leben gelang gefrönt, bis er elend dem Lungenkrebs erlag – ein Schicksal, das ebenso den vielen Mädchen und Jungen im Publikum blühen kann. Ihnen rät Gulp, mit dem Rauchen gar nicht erst anzufangen und bei Bier und Schnaps rechtzeitig aufzuhören. „Auch ich hab schon mal gekifft, hab aber nix gespürt – weil ich gerade auf Koks war“, witzelt er und weiß auch sonst, wovon er spricht. Plastisch demonstriert er kniend neben einem schlichten Stuhl, wie „demütigend“ es ist, im Vollsuff mit dem Kopf im Klo Konvulsion für Konvulsion sein Inneres von sich zu geben. 1400 Drogen-, 60.000 Alkohol- und 130.000 Nikotin-, dazu nicht zu zählende Tablettentote führt er als Zeugen auf. „Das sind Tatsachen“, bekräftigt er mehrmals – auch wenn er manche „Tatsache“ stark verkürzt – und hat also allen Grund, die Schülerschar vor peinlichsten Folgen zu warnen: die Jungen vor drohender Impotenz und die Mädchen davor, „hackedicht“ alles andere als „sexy“ zu sein.

Vollsuff in vier Variationen

Mit famoser Schauspielerei bewährt sich das „Kaschperl“ auch im Alleingang: In viele Stimmen teilt sich Gulps Stimme und der ganze Kerl von einem Augenblick zum andern in kuriose Typen unterschiedlichen Charakters und beiderlei Geschlechts. Allein vier Sorten von Sturzbetrunkenen unterscheidet sein Repertoire, und die rücken den Leuten in den ersten Reihen schon mal auf die Pelle oder gehen ihren Köpfen an die Wolle. Auch die Hanswurstiade scheut er keineswegs: die wüste Grimasse, hier dämlich, da dämonisch, das überkandelte Getue, eine bei aller spielerischen Sportlichkeit verschrobene Leibhaftigkeit, die brachial verkrümmte Körperkarikatur bis zum Klamauk.

     Freilich sollen das unverhohlen Derbe, fröhlich Unappetitliche nicht vernebeln, wie ernst er es meint mit der Suchtmittelprävention, seinem „Herzensbedürfnis“. Als Etikett klebt er die Bezeichnung Kabarett auf die Oberfläche seines grellen Humors – für dessen Blüten die phänomenale Tanz-Performance am Anfang nur als aufpeitschendes Publikums-Stimulanz diente –; in die wüste Scherzerei aber verpackt er bald argumentationsstarke, bald binsenweise Belehrungen, auch die Aufrüttelungs- und Betroffenheits-Rhetorik eines Erweckungspredigers. Eine eigenartige Mixtur, gut gemeint und oft, wenngleich nicht immer, gut gelungen. Recht hat er allemal: Das Lachen, das er „macht“, kann einem vergehen.
     „Mach, iss, trink was du willst“, rät Gulp resümierend, „aber immer nur die Hälfte.“ Selbst hält sich der hibbelige Clown nicht daran: Auf der Bühne gibt er alles.

Die Luisenburg-Festspiele im Netz: hier lang.



Blutwurst mit Lampenfieber

Dispute mit einer Nilpferddame im Einkaufstaschenformat: Sebastian Reich, als Bauchredner glänzend, als Puppenspieler ein virtuoser Minimalist, lässt sich in Wunsiedel vom plüschigen Publikumsliebling Amanda lustig die Leviten lesen.


Von Michael Thumser

Wunsiedel, 8. Juli – Seitlich in Reihe acht sitzt ein Mädchen, vielleicht sechs Jahre alt, und hält verzweifelt ein Schild hoch; verzweifelt, weil ihre Heldin auf der Bühne während der ganzen Show nicht darauf aufmerksam wird. „Amanda, ich liebe dich“, hat die Kleine in großen Buchstaben darauf gemalt. Ihr Idol, fiele sein Blick auf das rührende Bekenntnis, würde es wohl für nichts mehr als angemessen halten: Die Heldin des Kinds ist ein Nilpferdchen im Einkaufstaschenformat, und sein Name bssagt, frei aus dem Lateinischen übersetzt, dass sies „verdient, geliebt zu werden“.

     Wirklich hatte die knuffige Dame aus Gummi und Plüsch das Publikum am Samstag in der gut besuchten Wunsiedler Fichtelgebirgshalle vom ersten Auftritt an auf ihrer Seite. Kaum, dass die jungen, mittelalten und schon älteren Fans die ersten Solo-Scherze von Puppenspieler Sebastian Reich abwarten können – sobald er mit Amanda und ihrem fahrbaren Untersatz auf die Bühne rollt, bricht eine Begeisterung los, die dann gut zwei Stunden lang nicht abreißt. Ab sofort ist sie der Star und Reich nur mehr ihre rechte Hand, buchstäblich: Seine Rechte steckt von hinten in Amandas Bauch und Kopf, um ihr, virtuos minimalistisch, zu Mienenspiel und Körpersprache zu verhelfen.

Eine Elefantin, bürokratisch borniert

„Puppenspieler!“: Den durchaus zutreffenden Begriff mosert Amanda ihrem Herrn und Meister verächtlich als Schimpfwort über die kalte Schulter zu. Denn so niedlich sie ausschaut, niederträchtig ist sie auch. Ein Duett für einen allein absolviert Reich mit ihr, und doch ist es, als plauderten und kabbelten sich da zwei wirklich widerstreitende Geister. Spätestens nach fünf Minuten vergisst der prima amüsierte Betrachter, dass ers eigentlich nur mit einem lebendigen Wesen auf der Bühne zu tun hat, so spöttisch und spritzig, witzig und windgeschwind wechseln Reden und Gegenreden – von denen die eine Hälfte aus dem Bauch heraus kommt, aus dem Innern des Würzburger Comedians. Einer der besten Bauchredner seiner Zunft: Kein Zucken flattert die Lippen entlang, wenn er Amanda und anderen Plüschgeschöpfen Sitz und Stimme im Programm gewährt.

     „Ventriloquisten“ nannte man seinesgleichen in einer Zeit, in der Komiker wie er noch Alleinunterhalter hießen. Man darf seine Art der Kleinkunst für sinnfrei halten, sehr gekonnt ist sie immerhin, ungemein spaßig und steht in einer über hundertjährigen Tradition. Die übt freilich keinerlei Druck auf Reich und seine fantastischen Tierwesen aus. Außer dem kessen Nilpferd taucht, zur „außerordentlichen Sonderprüfung der Veranstaltungsstätte“, auch eine bürokratisch bornierte Elefantin „vom Ordnungsamt“ auf; ein Marzipanschwein namens Pig Nick verkündet, seines Lampenfiebers ungeachtet Rapper werden und sich „Blutwurst“ nennen zu wollen; ein Pinguin verlangt von Reich, sich der Sommerabendhitze zum Trotz in ein entsprechendes Vogelkostüm zu zwängen und zu jonglieren. Er tuts, mit nur einem Ball: „Mit dreien kanns ja jeder.“

Gesänge aus dem „Speck-Trum“

Hauptakteurin bleibt allerdings Amanda: die Einzige, die Diva. Brüskierend selbstverliebt, begeistert sie im Halbminutentakt ihre hell auflachende Gefolgschaft durch Kratzbürstig- und Widerborstigkeiten, Rechthaberei und überhaupt durch das Primärmerkmal ihrer zoologischen Art hippopotamus amphibius, die ganz großen Klappe. Es ist, als ahnte Sebastian Reich, der homo sapiens, bei Weitem nicht all die Zumutungen, mit denen ihn sein Spielzeug gleich im nächsten Augenblick wieder nerven, schulmeistern, maßregeln, aus der Fassung bringen, mundtot machen wird. Unerwartetes auch erblicken die Gäste im Saal: Homestorys auf einer Videowand (von hippopotamischer Müsliwerbung unterbrochen: „Seiiitenbaaacher … “), Amanda während der Corona-Zwangspause, von zusammenbrechenden Türmen gehorteten Klopapiers verschüttet, oder von Markus Söder auf den Arm genommen, oder im Auto, wie sie tankt und am Schalter eines Schnellrestaurants Hamburger ordert, 120 an der Zahl.

     Nichts wäre Amanda ohne Sebastian Reich, er wäre niemand, wenn sie nicht wäre: ein siamesischer Zwilling, mit ihm an der Pulsader verwachsen. Derart belebt und beseelt, singt sie sogar (und man staunt, wie genau Reichs „Speck-Trum“, sein Bauch, die Töne trifft), so besonders munter und immer munterer das „ABC des Essens“: von Apfelkuchen bis „Yoghurt mit Zimt“. Chronisch ausgehungert, wünscht sich Amanda beim Testlauf für ihr erstes Date bescheiden „einen kleinen Salat“ – allerdings „mit einem Schäufele obendrauf“. Dann wirds ernst mit der Partneranbahnung: Auf der Wunsiedler Bühne ersteht das längst eingemottete TV-Format „Herzblatt“ wieder auf. Amanda darf mit gelenkigem Großmaul kalorienhaltige Fragen an drei lebendige Bewerber – Holger, Andre, Markus – stellen und wählt sich dann einen von ihnen aus. Fair ist das nicht: Ein Schild „Ich liebe dich“ hielt von ihnen keiner hoch.

Sebastian Reich & Amanda in der Region:
■ am 23. September um 20 Uhr in der Mehrzweckhalle in Mitterteich,
■ am 17. Juni 2023 um 20 Uhr im Kettelerhaus in Tirschenreuth.



Erst Trotz, dann Gelächter

In Selb tritt Bruno Jonas wie ein Präsident ans Rednerpult. „Meine Rede“ heißt das Programm des altgedienten Kabarettisten, in dem er weniger auf die krachende Pointe setzt als auf den Funken eines Esprits, der fast philosophisch unter die Haut geht.


Von Michael Thumser

Selb, 14. Mai – Wenn ein Kabarettist sein Programm ausdrücklich „Meine Rede“ betitelt, dann lohnt es sich mehr als üblich, auf seine Sprache zu achten: nicht auf das Was allein, ebenso auf das Wie, auf die Texte sowieso, aber zugleich darauf, wie er sie von sich gibt. Bei Bruno Jonas ist man seit Jahrzehnten auf eine ganz spezielle Art nieder- und oberbayerischer Grantelei gefasst, auf ein dialektales Gemauschel und Genuschel, das er sarkastisch näselnd mit hochsprachlichen Passagen ergänzt. Auch mit murmelndem Beiseitesprechen und tiefenversonnenem Beinahe-Verstummen ist zu rechnen, desgleichen mit dem plötzlichen Ausruf, dem ironischen Appell, der exzentrischen Exaltation.

     Vertraulich weiht er seine etwa hundert Zuhörerinnen und Zuhörer im Rosenthal-Theater in Persönliches und Privates ein, mit harter Kehle spottet er über Linke und Rechte in Freistaat und Republik, vor höhnischem Lachen sich biegend lässt er sich ältere und jüngere, jedenfalls unsägliche Meinungsäußerungen und Meinungswechsel der Tagespolitik und ihrer gegenwindschlüpfrigen Protagonisten auf der Zunge zergehen („Der Grüne Hofreiter, Doktor der Biologie, kennt sich jetzt auch mit ‚Mardern‘ und ‚Leoparden‘ aus“). Dann wieder spintisiert er sich – alles andere als lächerlich – durch philosophische Gedankenirrgänge à la Heidegger und Luhmann: In Selb, am Dienstag, gings dabei um die Einsicht, dass es so etwas wie den „Unsinn“ gar nicht geben könne, sobald man nur damit beginne, Sinn–voll über ihn nachzudenken. Manch einer seiner Gäste mag da finden: Stimmt eigentlich; gar nicht so dumm.

Denktechnische Verstiegenheiten

Natürlich nicht, wie denn auch. Dummheit darf dem Bruno Jonas wahrlich keiner vorwerfen. Dumm nur, dass man nie so recht weiß, woran man bei ihm ist – was wiederum und ganz besonders zu den reizvollen Eigenheiten dieses Satirikers gehört. Man weiß es nicht, weil er von einem Augenblick zum nächsten ein anderer als eben noch geworden ist. In Selb ist er, ganz allgemein gesagt, ein Vortragender; aber was für einer? Präsident oder Erweckungsprediger? Animateur oder Leiter eines Gesprächskreises? Wo es um Rede geht, geht es ihm um Schrift auch: um Zeichen. Auf der Bühne sind mannshoch und verdreht die Buchstaben seines Namens aufgereiht. Ein großes F steht überdies dabei – Chiffre für „Frau, Fake, Fuck“. Hinter ein richtiggehendes Rednerpult tritt Jonas, wo er sein Manuskript in Reserve hält. Das kann er gut brauchen, verliert er doch manchmal fast den Faden. Dann stöbert er in den Blättern und vermisst sogar zwei Mal Seiten, auf denen eben Begonnenes unbedingt weitergehen sollte. Lässig lächelnd überspielt er es: „Das tät Ihnen jetzt gefallen, mir beim Scheitern zuzuschauen.“

     Er scheitert nicht. Scheitert das Publikum an ihm? So richtig herzhaft lacht es nicht, es schmunzelt zwar und kichert viel; aber zu unbeherrschtem Prusten und Wiehern lässt es sich nicht hinreißen. Auf sowas ist Jonas auch nicht aus. Noch nie legte er es auf den Supergag, den Schenkelklopfer, die Krawallpointe an. Seine Satire ist eine der rhythmisch sich abwechselnden Energien, ein Austausch von laut und leise; weniger quietschende Achterbahnfahrt durch Jux, Kalauer, Schabernack als schaukelndes Kreisen durch Fantastereien und Improvisationen, Assoziationsketten und denktechnische Verstiegenheiten. Lieber als der blendende Geistesblitz scheint ihm der Funke des Esprits, mag der auch nicht immer überspringen, den intuitiv stichelnden Vorstoß unter die Oberfläche des Zeitgeists und seiner Zumutungen zieht er dem aggressiven Beackern aktueller Vordergründigkeiten vor.

Kurz vorm Tourette

„Geschrien“, sagt er, habe er allerdings auch, wegen der Ukraine: Den Putin schrie er an, sobald das Fernsehen ihn zeigte („Da bin ich kurz vorm Tourette“). Gedämpfter fragt er nach Erdoğan , von dem man „zurzeit gar nichts mehr hört“. Zwei Männer, die auf seinen Respekt gewiss nicht zählen sollten. Doch wenn er, als Rhetor am Pult, die „verehrten Damen und Herren“ vor sich begrüßt – weiß er denn dann, ob die Öffentlichkeit im Selber Theater seine Verehrung verdient? Und darf man das in genderdebattierenden Zeiten überhaupt noch: „Dame“ und „Herr“ sagen? In der eigenen Ehe-Frau mag er partout keine „gesellschaftlich zwanghafte Fiktion“ erkennen und bekennt sich als „seit der Pubertät faszinierter Fan geschlechtlicher Unterschiede“. Wenn nur nicht das Alter (siebzig Jahre) wäre: „Manchmal wünsche ich mir eine sexuelle Belästigung. Aber es kommt einfach nicht mehr dazu.“

     Als er das, einschiebend, beklagt, ist er freilich schon viel weiter. Sprunghaft kreuz und quer geht Jonas seinen „Datenspuren“ im Internet nach: „Google sagt uns, was wir brauchen“. Fake. Für sich und sein Auditorium richtet er eine „Filterblase“ als „Echokammer“ ein („damit Redner und Hörer nur genau das sagen beziehungsweise hören, was der je andere denkt“), und löst zugunsten des Klimaschutzes die Demokratie im Lande durch eine „ökodiktatorische Doppelspitze“ ab, ruft die Aktion „Suicide for future“ ins Leben und eröffnet eine „Climate Hall of Fame“, um die selbstmörderischen Gefolgsleute dort „klimaneutral zu recyceln“.

Stand-by-Empörung

Mit nicht nur gespieltem Ernst verpasst er der allseitigen „Stand-by-Empörung einen Denkzettel, die stets auf dem Sprung ist, jeden „Irrläufer“ mit Nazi-Vorwürfen niederzuschreien und mit einem „Scheißesturm“ zu überziehen: Fuck! Vor solchem Hintergrund entwirft er eine „Stellenausschreibung für Politiker“: Als zeitgemäße Qualifikationen verlangt er von ihnen „vage Prognosen“, die Demonstration von „Echtheit und Wahrheit“, wenn sie - ohne Rücksicht auf Sinn oder Unsinn - nach „Konsens“ in ihrer „Gemocht, geliebt, gelikt“-community gieren, sowie die Fähigkeit, Selbstzweifel zuzudecken und „Unvereinbares zu versöhnen“. Fake! Fuck!

     Bruno Jonas versöhnt das Unvereinbare nicht, sonst wär er kein Satiriker. Der Humor, mit dem er es aufdeckt, wendet und windet sich witzig statt brüllend komisch, listig und gerissen, vieltönig, aber unaufdringlich, subkutan. In ernsten Zeiten wie den gegenwärtigen wünscht er sich „Humorzonen, in denen man lachen kann, ohne gemaßregelt zu werden“. Gerade sein Humor ist von jener sprichwörtlichen Sorte, die „trotzdem lacht“. So rät er denn als bekennender „Zweifler“ zu „mehr Trotz, damit wir mehr zu lachen haben“.

     Zwei Mal, so oft wie ihm in seiner Rede die Worte auf den Manuskriptseiten fehlen, brummelt er ins Publikum: „Jetzt hab ich Sie nachdenklich gemacht. Das tut mir leid.“ Muss es nicht.



Wo er recht hat, hat er recht

Auch in schlimmen Zeiten bekennt sich Willy Astor zur „unbedingten Verpflichtung, für einen schönen Abend zu sorgen“. Den bereitet der maulfertige Kunstkalauerer 120 prächtig unterhaltenen Zuschauerinnen und Zuschauern in Hof mit einem seiner zungenbrecherischen „Schmarrathons“.


Von Michael Thumser

Hof, 2. April – Die Zeit hat ihm zweifach zugesetzt, dreifach im Grunde. Auch Willy Astor, der sich gern, halb selbstironisch, halb aus Überzeugung, berufsjugendlich wie ein Mittzwanziger kleidet, hat seit seinen letzten Hofer Auftritten vor etwa drei und sieben Jahren ein wenig an Jahren zugelegt, das ist, zum einen, der Lauf der Welt. Doch haben dessen jüngste Zumutungen Extra-Spuren auf, an oder in ihm hinterlassen: Zum zweiten scheint auch die Corona-Pandemie den Sprach- und Sprech-Komiker und -Künstler ein wenig verhaltener und zögerlicher gemacht zu haben, selbst wenn ihm, wie er betont, das von den Deutschen gehortete Klopapier „am Arsch vorbeigegangen“ ist.

     Drittens steckt ihm, wie allen, Putins Angriffskrieg auf die Ukraine in den Knochen und in den Knoten seines Hirns. Darf man komisch sein – angesichts der Katastrophe? Dass Astor zum wiederholten Mal hier auftrat, in einer Stadthalle, die ausdrücklich die Freiheit im Namen führt, erklärt er zum zeichensetzenden Zusammentreffen: Ungeachtet der Gräuel keine zwei Flugstunden von der Saale entfernt sieht er sich und sein 120-köpfiges, lebhaft applaudierendes Publikum vereint in der „Verpflichtung, uns einen schönen Abend zu machen“ – trotz allem. Wo er recht hat, hat er recht. Niemand sollte sich freiwillig von einem Diktator seine Lebenskräfte zerstören lassen.

Models mit voller Blase

Den Optimismus, den der entschleunigte Astor mit meist schmunzelnder, zugleich irgendwie stoischer Miene verbreitet, bezieht er zum Beispiel aus den Superstar-Such-Formaten des Fernsehens, wo er sich beim Blick auf „Models mit voller Blase“ die Frage stellt, „ob die Miss muss“. Unverkennbar: Kerngeschäft des Sechzigjährigen bleibt, was es seit bald vier Jahrzehnten ist, der Kalauer, mithin eines der zwielichtigsten, zumindest abenteuerlichsten Genres des Unsinns. Freilich vollendet es sich in Astors Kopf astrein zu höchster Spitzfindigkeit. Unablässig dreht der Verbalverwurster am Fleischwolf, um das so erzeugte Mundart-Mett zu gepfefferten Wörterwürsten lang zu ziehen. Die sind schlichtweg doof, aber gut doof (wie es bei Walter Kempowski heißt). Manchen Billigjux darf man für unter Astors Würde halten, wenig später aber blitzen schon wieder Spuren von Genie durch den schnoddrigen Schabernack.

     „Schmarrathon“ nannte der Komiker einst seine Frontalangriffe auf die deutsche Sprache und speziell ihre oberbayerische Unterart. Aber Astor plappert, parliert und palavert nicht nur – wobei noch während der grandios exekutierten Hochgeschwindigkeitsgeschichte von „Abraham und Bebraham“ die Zunge knitterfrei bleibt –, er hat auch Requisiten mitgebracht. Zum Beispiel eine launig geschwungene, langzahnige Laubsägearbeit: den „Wellkamm“ [Welcome]; oder, schwer zu toppen, das Handy für Islamisten: Die Antenne ist beschnitten, das Sichtfeld verschleiert, und der Akku meldet „Bin Laden“. Den Joke kennt man schon, doch lustig ist er nach wie vor.

     Zwar, „Pointe of no Return“ (Witz ohne Wiederkehr) überschrieb er sein Programm, trotzdem gelingt so manchem Glanzstück aus vergangenen Epochen der Weg zurück ins aktuelle Gaggewitter. So auch Astors (angeblichen) Reminiszenzen an seine frühe Prögung durch eine Wohngemeinschaft voller internationaler Prominenz: herrliches Laisser-faire – den Rasen vorm Haus konnte man auch „Morgan Freeman [morgen früh mähen]“. Ärgerlich indes, dass nicht jeder gleich gern Ruhe gab: „Niki war Lauda, Ben Stiller“; auch hörte er „Liam Neeson [niesen]: Er wusste nicht, dass ich Sean Penn [schon penne].“ Am ärgerlichsten, dass George das „Clooney [Klo nie]“ putzte: „Nur im Alice Schwarzer [im All ists schwärzer].“ An derart riskanten Pointen sollten sich Normalmenschen nur gut geschützt versuchen: „Schnaps dir, aber Brandy net“.

Kunstkauderwelschkompott

Nicht minder schmackhaft als sein Kunstkauderwelschkompott serviert er die Klänge aus seiner Gitarre, dem Lieblingsinstrument, das er virtuos mit notorischer Grandezza beherrscht. Zur Musik fühlt er sich genauso hingezogen wie zum Wort als solchem (worin er jungen Priestern ähnelt, die sich gern ein Rockkonzert reinziehen, nur kehren die danach als „Tauberbischofsheim“). Der Gewaltsamkeit der Zeiten eingedenk, klingt Astor, der Gitarrero, umso friedlicher, und Astor, der Liedermacher, kann nicht nur den Quatschkopf, sondern auch spaßfrei-seriös die Waage halten zwischen Posse und Poesie. So empfiehlt er singend, im Leben nicht in krisenblindem Übereifer „hinterm Mond“ zu hausen oder überflüssigerweise gar zum Mars zu streben, sondern bescheiden „auf Los zurück“ zu gehen. Mit „Einfach sein“ sind jene naiven, dennoch nützlichen Ratgeberreime überschrieben: „Lache mal laut in den Spiegel hinein.“ Nur, wie stellt man das an, in Wochen wie diesen? „‚Einfach‘ ist tief und nicht seicht und vielleicht / ist es am schwersten, es wieder zu sein.“ Wo er recht hat, hat er recht.


Lichtgestalten und Trauerklöße

„Sauguade“ Unterhaltung vor ernüchternd kleinem Publikum: Auf der Hinterbühne des Selber Rosenthal-Theaters macht Comedian Chris Boettcher Stimmung, als stünde er vorm vollbesetzten Großen Haus.


Von Michael Thumser

Selb, 26. März – Selb, so vermutet Chris Boettcher, habe „alles, nur kein Publikum“. Es hat schon. Es kommt bloß zurzeit nicht. Gerade mal zwanzig Damen und Herren zog der – einst sehr und noch immer ziemlich populäre – Comedian am Donnerstag ins Rosenthal-Theater. Da tat Eva Enders, die das Haus seit Kurzem leitet, gut daran, den Künstler nicht in den großen Saal, sondern auf die zum „Studio“ umgewidmete Hinterbühne zu bitten. Boettcher ist eine erprobte Betriebsnudel, kein dilettierender Pausenclown: Als Radio-Routinier und Bühnenprofi in Sachen smarte Spaßmacherei findet er sich in jedem, auch im kleinen Rahmen und in allen Atmosphären zurecht: Die Stimmung stimmt, auch in Selb. Die überschaubare Schar auf den drei improvisierten Stuhlreihen vor ihm animiert er vom Start weg zu glucksendem Gekicher und schallendem Gelächter.

     „Immer dieser Druck“: So überschrieb der Humorist sein Sammelsurium aus neuen Gags und guten alten Scherzen. Wann hätten Kulturbetriebe und Unterhaltungsbranche je unter solchem Druck gestanden wie seit Ausbruch der Corona-Pandemie? Selb sei „kein Einzelfall“, berichtet Eva Enders im Pausengespräch, überall höre sie Künstler und Veranstalter klagen, die Leute müssten sich vermutlich erst daran gewöhnen, dass die Schauplätze der ‚hohen‘ Kultur wie die der leichten Muße wieder zugänglich seien. Auch Boettcher bekennt, „zwei Jahre Arbeitslosigkeit“ hinter sich zu haben, so wie viele Kolleginnen und Kollegen. Untätig war er darum keineswegs: Nicht für einen Moment verdächtigt man den hibbeligen Humoristen, das grassierende Virus habe ihn der Bühne entwöhnt.

Atemlos von Augenblick zu Augenblick

Denn er blödelt und persifliert, spöttelt und singt (sich gewalttätig am E-Piano begleitend), als gäbs kein Morgen, kein Gestern und das Heute nur zum Teil: Die aktuellen Gräuel in der Ukraine kommen bei ihm nicht vor, Putin und Trump tauchen nur kurzzeitig als Verlachfiguren auf, nicht als gewissenloser Warlord (der eine) und tumbe Geißel der Demokratie (der andere). Satire ist anders, aber gute Unterhaltung, „sauguade“ sogar, produziert Boettcher atemlos von Augenblick zu Augenblick, wofür er trefflich die halb plumpe, halb gerissene Mundart des Südbayern nutzt, die kaum geeignet scheint, irgendetwas existenziell ernst zu nehmen. In beklemmenden Zeiten wie diesen ein willkommenes Therapeutikum: Das verunsicherte Gemüt genießt es gern zwei Stunden lang in starken Dosen.

Boettcher lacht oft selbst darüber und lächelt immerzu. Er ist ein Sonnyboy, wenn auch schon beinah 58. Die Unverwüstlichkeit hat er mit erfolgreicheren Entertainern gemein. Ein Hektiker ist er, dessen Ungeduld beinah für Panik gelten könnte, bedenkt man, wie wenig Zeit er den Pointen seiner gescheiten Gags lässt, sich gebührend Gehör zu verschaffen. Den reichlichen Applaus schneidet er Mal um Mal kurz angebunden ab, um gleich wieder von einem Lied zur nächsten Parodie zu springen.

Beides hat er großartig drauf: den famos gereimten Gesang und die bis zur Ununterscheidbarkeit betriebene Nachahmer- und Nachäfferei. Im Zeichen der Pandemie „aktualisiert“ er vergangene und geläufige Festzelt-Hits der Münchner Wies’n. Wunderbar verquer argumentiert er, um ein „deutsches Menschenrecht“ auf drei Fernflugreisen pro Jahr einzufordern. Bewegend nachdrücklich schlägt er Protestmaßnahmen im Kampf um gleichen Lohn für Frauen und Männer vor: Wenn die Hebamme auch künftig nur „achtzig Prozent“ je Neugeborenes bekommt, bleibt beim nächsten Mal „der Kopf eben drin“. So unverfroren, wie er sich dem Fitness- und Schlankheitswahn verweigert („Meinen letzten Sixpack hab ich getrunken“), zieht er mit kalter Schnauze über die Kandidaten her, die es im Privatfernsehen zu Topmodels oder Superstars bringen wollen: „Früher hamma Metzger glernt oda Archivar …“ Mit denZeilen jenes Songs – Titel: „Zehn Meter geh“ – hat es Boettcher, der „Studienabbrecher“, in ein Deutschbuch für Realschulen geschafft.

Pizza zum Frühstück

Als flotter Parodist zitiert er Lichtgestalten wie Beckenbauer und Trauerklöße wie Boris Becker herbei, den nuschelnden Howard „Isch libbe disch“ Carpendale oder Karl Lauterbach, auch eine Exkanzlerin und einen Exkanzler (Kurz). Vollends finden Peter Maffay, Herbert Grönemeyer und Udo Lindenberg in ihm ihren Meister: Fürsorglich schweißt er sie zur Alten-WG zusammen und lässt sie zum Frühstück um zwölf Uhr mittags telefonisch eine Pizza ordern. Klar, dass das schief geht.

     Er wolle, sagt er, mit Auftritten wie diesem wenigstens „hineinschnuppern in das, was wieder sein könnte“ im Kulturbetrieb und in der Unterhaltungsbranche: nach Corona. Witterung nehmen Chris Boettcher und seine amüsierte Selber Gefolgschaft schon mal auf, als er eine Kiste mit mehr oder weniger wohlriechenden Duschgels aus dem Drogeriemarkt auspackt: „Freudenrausch“ und „Glücksmoment“ heißen derlei Produkte neuerdings, „Schwerelos“ oder „Sternenstaub“; eines, ganz im Ernst, „Ich fühle mich blühend schön“. Und noch ein anderes wäscht den Corona- und Ukraine-Kummer gewiss besonders gründlich ab: „Alles wird gut“.



Herr über Zeit und Raum

Das Forum Naila freut sich über reichlich Zulauf – und seinen famosen Gast Yann Yuro. In Bad Steben versetzt der Illusionist 160 Zuschauerinnen und Zuschauer mit undurchschaubarer „Mentalmagie“ in fassungsloses Erstaunen.


Von Michael Thumser

Bad Steben, 3. März – Fast die ganze Welt weiß, in welcher Schule man das Zaubern lernen kann: Hogwarts heißt das Schloss und Harry Potter, zumindest in der unerschöpflichen Fantasie der Joanne K. Rowling, der berühmteste Absolvent des Instituts. Im richtigen Leben heißt Hogwarts Schloss Czocha, es liegt nahe beim polnischen Dorf Lesna und beherbergt hinter angemessen unheimlichen Mauern zwei Mal jährlich jugendliche Rollenspieler, kostümiert als Zauberlehrlinge. In welche Schule ging Yann Yuro – jener Zauberer, Magier oder Illusionist, in dem die meisten Adepten des gehobenen Hokuspokus ihren Meister finden? Der Rätselmann ist doppelt, mindestens: einer des Sowohl-als-auch und des Weder-noch.

     Im richtigen Leben heißt er sowohl Yann Yuro als auch Florian Beyer. Denn wenn er die Menschen nicht durch stupende Tricks in Fassungslosigkeit versetzt – wie dieser Tage in Bad Steben –, geht er gutbürgerlich der Schauspielerei nach, für Film, Fernsehen und auf dem Theater, wo er, in Meiningen, auch schon mal den Hamlet gab. Als Zauberer indes scheinen für ihn weder die Naturgesetze des Raumes noch der Zeit zu gelten, und weil weder der Zufall noch Übersinnliches ihn zu seinen umwerfenden Coups ermächtigt, blieb dem Publikum im Kurhaus nur die unlösbare Frage: Wie macht der Mann das bloß?

Die Fähigkeit der vollständigen Täuschung

Was er „macht“, heißt Mentalmagie, und wer als Konkurrent in jener Spielart der Illusionistik neben ihm nicht ganz genügt, muss sich nicht schämen: Immerhin amtiert er, seiner Website zufolge, sowohl als deutscher und Europa- wie auch als Vizeweltmeister seines Fachs. Auf der Website steht ferner, er sei „Gedankenleser mit den Methoden eines Geheimdienstes“. Das ist, versteht sich, Unsinn, mit dem seine unglaubliche Fähigkeit, die der vollständigen Täuschung, schon beginnt. Im großen Saal des Kurhauses, wohin das Forum Naila ihn am Rosenmontag eingeladen hatte, warnte er selbst die 160 Zuschauerinnen und Zuschauer, ihm zu vertrauen sei „völlig unangebracht“.

     Aber ein Betrüger ist er keineswegs, vielmehr ein schwindelerregender Schwindler und taschenspielender Tausendsassa. Zwei Kinder bittet er zu sich auf die Bühne: Justus soll am Flipchart Gegenstände aus „Alice im Wunderland“ skizzieren, an die Vanessa währenddessen nur stumm denken darf. Der Junge zeichnet sie tatsächlich, als wär er Yuros gelehriger Schüler. Freilich legt der Meister nun erst los: Aus den Anfangsbuchstaben der Objekte liest er einer Dame in Reihe eins korrekt das Passwort ihres Handys vor, obwohl sie es soeben erst geändert hat.

     Taschenspielerei, wie man sie aus jedem Zirkus kennt, betreibt er lässig und redselig auch. Patricks Tausend-Euro-Handy lässt er zwischen fünf Tafeln Zartbitterschokolade verschwinden – dergleichen, denkt man, war schon oft zu sehen; auch Patrick bangt nicht um das teure Stück. Wie aber kommts, dass sein Smartphone schließlich ganz hinten im Auditorium auftaucht, in einer Schachtel, die Yuro Minuten vorher dort verschlossen abgab, bei einer Person, der, anders als ihm, durchaus zu trauen ist?

Der Drucker lüftet das Geheimnis

Was Yann Yuro mit pausenlos eloquenter Leutseligkeit betreibt, darf ohne Minderwertigkeitskomplexe Kleinkunst heißen, den sie bedarf all des Brimboriums nicht, mit denen Großillusionisten wie David Copperfield oder die Gebrüder Ehrlich ihr Publikum gekonnt einschüchtern. Statt auf kolossale Requisiten vertraut Yuro auf die schiere Verblüffung, die bei ihm nicht geringer ausfällt als bei den megalomanen Bühnenspektakeln. Immerhin verzichtet auch er nicht auf allerlei Gedöns. Dem Laptop, vor dem er wiederholt an einem Tisch Platz nimmt, hat er eine gewaltige Künstliche Intelligenz implementiert – behauptet er wenigstens, und behauptet (aus dem Lautsprecher) die Stimme des Laptops selbst, das auf den Namen Alfred hört. Dem Drucker daneben entnimmt Yuro Mal um Mal Blätter, auf denen minutiös jene Geheimnisse geschrieben stehen, die seine Spielpartner und -partnerinnen aus dem Publikum eigentlich für sich behalten sollten.

     Einen „Mind-Hacker“ nennt er sich – und nennt so auch sein Programm –; dabei ist zwar klar, dass er sich nicht wirklich Zugang zum Geist der anderen verschafft. Doch den Verstand eines jeden, der hinter seine Schliche kommen will, ‚hackt‘ er entschieden: dreht ihn durch den Wolf von Bluff, Irreführung und Veräppelung, bis darin kein Funken Verständnis für die versteckte Wahrheit seiner Winkelzüge übrig bleibt. Übrigens tut ers mit Witz, gelegentlich mit einem Hauch Satire und einer Prise Zeitkritik.

Es kommt noch besser

Er tut es mit sich steigerndem Effekt. Eine Fünfergruppe lässt er verrückte Zeitungs-Schlagzeilen fantasieren: „Aliens spalten Hongkong von China ab“ – er hat es, scheinbar nachweislich, bereits vorher gewusst. Zum konsternierenden Finale lässt er die über einen dreifach unbeeinflussbaren Umweg ausgewählte Alex mit ihrer Freundin Chrissi telefonieren; von beiden Damen konnte er zwei Stunden vorher noch nichts ahnen. Aufs Geratewohl ordert Chrissi online bei Amazon Unvorhersehbares, trotzdem spuckt der Drucker Yuros aus, um was es sich handelt: „Goldene Wollstrümpfe aus Norwegen“. Wie kann das sein? Doch es kommt noch besser: Aus einem Päckchen, das ein Assistent ihm vor gut einer Stunde auf die Bühne brachte, zieht er nun eben dies: ein Paar Socken skandinavischer Herkunft. Muss ihre Farbe erwähnt werden? (Gold.) Es ist, als hätte ers gewusst, bevor es Chrissi wusste. Was nicht sein kann.

     Und nicht sein darf. Vor vierhundert Jahren hätte einer wie Yann Yuro, zusammen mit Harry Potter und der Komplettbelegschaft der Schlösser Hogwarts und Czocha, auf dem Scheiterhaufen gebrannt. Es wäre schade um ihn gewesen.

Das Forum Naila und sein Programm im Internet: hier lang