Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Wotan fährt im Sturmpanzer

Das Bayreuther Richard-Wagner-Museum zeugt vom zweifelhaften Nachruhm seines Namenspatrons durch „Popularisierung, Aneignung, Kitsch“: Die Ausstellung „VolksWagner“ verortet Ton- und Wortkunst, Mythen- und Bilderwelt des Dichterkomponisten zwischen bürgerlicher Devotionalie und Nazi-Jingle, Chauvinismus und Klischee.

Elmer Fudd in Siegfrieds Reckenrolle, Bugs Bunny täuschend als Brünnhilde verkleidet: "Kulturelle, geschichtliche und künstlerische Bedeutung". (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Bayreuth, 30. Juli – Ein Gnom ist er, doch wild entschlossen: Elmer Fudd, einer der mythischen Jäger der Vereinigten Staaten. Trickfilm für Trickfilm geht er auf die Hasenpirsch, Cartoon für Cartoon setzt er sich auf die Fährte seines langohrigen Erzfeindes Bugs Bunny, egal wie oft der ihn austrickst, demütigt und düpiert. Einmal vertauscht Elmer die Flinte mit einem Speer, die Ballonmütze mit einem zauberischen Hörnerhelm: In der Reckenrolle Siegfrieds, in einem Richard-Wagner-Setting und zu Musik des Meisters von Bayreuth, glaubt der Wicht, das Herz Brünnhildes errungen zu haben. Unverwechselbar begehrlich erschallt der Hornruf des Heros. Dann jedoch muss er begreifen, dass in den Kleidern der vermeintlichen Geliebten wiederum nur der freche Rammler steckt. Elmer schleudert Blitze gegen den enttarnten Bugs, während seinen theatralen Zorn der „Walkürenritt“ aus dem „Ring des Nibelungen“ wild  umtost.

Karikatur zum "Rheingold" mit Wagnerwort und -weise aus verwöhntem Damenmund: "Den Ring muss ich haben."

     „What's Opera, Doc?“: Wagners dritte „Ring“-Oper statt in vier Stunden in sechs Minuten und elf Sekunden. 1957 strich Regisseur Chuck Jones sie in seiner für die „Looney Tunes“-Reihe der Warner Bros. animierten, grandios komischen Zeichentrickburleske auf ein für jedermann erträgliches Minimaß zusammen. Ihrer „kulturellen, geschichtlichen und künstlerischen Bedeutung“ wegen fand sie 1992 reputabel Eingang in die „National Film Registry“ der USA, als erster Cartoon überhaupt.

     In Gestalt von Plastik-Spielfiguren spielen Bugs und Elmer zurzeit bei einer Ausstellung im Bayreuther Richard-Wagner-Museum mit: Elmer-Siegfried aus vollem Hals beseligt singend, Bugs-Brünnhilde als verschlagene Verführerin im Brautgemach. Das Erbe des Dichterkomponisten zwischen „Popularisierung, Aneignung, Kitsch“ breiten die Kuratorinnen und Kuratoren in vielgestaltigen Exponaten und Fotografien aus, einen „VolksWagner“ auf der Bühne und ebenso weit entfernt davon präsentierend: Zum angebeteten Nationalhelden und missverstanden-missbrauchten Idol wuchs Wagner auf, während er gleichzeitig unkontrolliert zum Klischee degenerierte und respektlos zur Lachfigur verkam.

Sammelbildchen mit Motiven aus "Siegfried" und "Götterdammäerung": Germanen- und Keltenstoffe, mythisch-musikalisiert.

     Kulturell, geschichtlich und künstlerisch von nicht zu überschätzender Bedeutung: So muss man auch von Wagner selber reden. Indes, das Genie als „Volks-Wagner“? Wagner fürs Volk? Für die breite Masse? Skeptikern und Gleichgültigen galt und gilt seine hoheitsvolle Wort- und weihevolle Tonkunst als schwierig, überladen, strapaziös. Mithin nicht zwingend dient sein Schaffen der Populärkultur als Stoff. In der Ausstellung tritt der „VolksWagner“ – buchstabengetreu ohne Bindestrich, dafür mit Binnenmajuskel – eher beiläufig auf, gleichwohl exemplarisch für die Absicht der Präsentation: einmal als schlichte Schriftgrafik des Spaniers Joan Brossa; auch als Comicfigur; ferner, auf dem Repro eines Plakats, als Bandprojekt der slowenischen Formation Laibach. Wagners Vermächtnis, verwandelt, verwurstet – selten führt Nachruhm so unabsehbar in die Breite.

„Wochenspruch“ der NSDAP auf einem Kunstdruck von 1942: Wagners Vermächtnis, verwandelt und verwurstet.

     „Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun“: Hochtrabend prangt der chauvinistische „Wochenspruch“ der NSDAP auf einem Kunstdruck mit dem Reliefporträt des von den Nationalsozialisten vergötterten Komponisten. 1931 hatte der deutsche Rundfunk „Tristan und Isolde“ als Komplettaufnahme in die Welt übertragen, zwei Jahre später schon wurden, unter fatal verändertem Vorzeichen, markige Motive aus Werken Wagners massentauglich zu Jingles des braunen „Dritten Reichs“. Doch nicht erst das Hitler-Regime nahm seine Musik pathetisch in den Dienst, damit das deutsche Volk „erwache“. Bereits im neunzehnten Jahrhundert brachen Klavier- und Ensemble-Arrangements Glanznummern aus den komplexen Partituren herunter zu leicht spiel- und genießbaren Hits der Hausmusik. Dem nationalistischen Bürgertum gefiels: sah es doch in der erklärten Haltung ihres Urhebers die eigenen antifranzösischen Ressentiments, den eigenen Antisemitismus bestätigt. Wie tief Wagnermusik in den nüchternen Alltag eindrang, belegen umso komischer auch Karikaturen und Parodien. „Tannhäuser und die Keilerei auf der Wartburg“, von Johann Nestroy und Carl Binder 1857 zusammengesponnen, taugte noch in den Spielzeiten 1995/96 und 2011/2012 als Publikumsrenner des Theaters Hof.

„Unternehmen Alberich“

Über der Arena des Zirkus Renz schmetterten und schepperten Pauken und Trompeten die Themen aus Bayreuth, walzengetriebene Musikautomaten dudelten sie herauf und hinunter, und sogar tonlos machten sich die mythisch-musikalisierten Germanen- und Keltenstoffe auf billigen Sammelbildchen ebenso wie in teuren Prachtbänden greifbar; das Museum zeigt eine bibliophile Ausgabe mit „Costuem-Portraits“ vom Grünen Hügel. Den Namen „Wotan“ trug ein deutscher Sturmpanzerwagen vom Typ A7V, der auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs Angst und Schrecken verbreiten sollte. An der Westfront lief 1917 eine deutsche Vernichtungsaktion unter der Bezeichnung „Unternehmen Alberich“; ein Buch mit kaiserlichen Kriegern beim Sturmangriff als Einbandbild verherrlicht in einer Vitrine die barbarischen Zerstörungen an der Somme patriotisch und verfälschend: In Wahrheit zogen sich die Truppen vorm Feind zurück.

Raimund Harmstorf auf einem Kinoplakat von 1971 als nimmermüder Held eines Sexfilmchens: Kino „ab achtzehn“.

     Beinah zur selben Zeit begann sich der Film als Gesamtkunstwerk in Wagners Sinn zu etablieren. Schon 1904 war ein 25-minütiger „Parsifal“ entstanden, paradoxerweise als Stummfilm. Einen „Fliegenden Holländer“ als erste regelrechte Adaption einer vollständigen Wagner-Oper inszenierte Joachim Herz sechzig Jahre später in der DDR. Wiederholt auch treten Kinematografie und Wagners Musik gemeinsam auf, indem diese für jene als Soundtrack herhält: Vom „Walkürenritt“ begleitet, machten sich vergnüglich verhinderte oder grauenhaft vollzogene Mordaktionen nicht erst seit Chuck Jones’ Tune-Cartoon mit Bugs und Elmer oder Francis Ford Coppolas Vietnam-Epos „Apokalypse now“ von 1979 auf Leinwand und Bildschirm breit; lang zuvor, 1915 in D. W. Griffiths rassistischer „Geburt einer Nation“, begleiten Wagners apokalyptische Reiterinnen hörbar den Ku-Klux-Klan, als der sich anschickt, in Gottes eigenem, weißen Land die vermeintlich verderbenbringenden Schwarzen niederzuringen. Von Inspirationen aus der unwiderstehlichen Klangwelt des Tonsetzers zu profitieren, konnten und können herausragende US-Filmkomponisten wie Korngold und Steiner, Williams oder Shore nicht verleugnen.

Petroleumlampe mit Profilporträt Richard Wagners: Erleuchtung garantiert.

     Popularisierung sattt Arisierung: Wenn solche Inspirationen seit so langer Zeit in vielerlei Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens hineinwachsen und -wuchern, dann bleiben exzentrische und schräge, kuriose und   absurde Blüten nicht aus. Als zeitgemäßer Fanartikel ist Wagner käuflich, so als „Action-Figur“ aus Plastik mit beweglichem Dirigierarm, auch als – gut getroffenes – Schokoladenrelief oder für den Christbaum als Miniaturbüste. Fantasy-Comics verzerren seine Bühnengestalten ins Superheldenhafte, die weiblichen bedenklich sexistisch. Andererseits nähern sich seriöse graphic novels seinen Idealen mit eigener Bildsprache. Alliterierend verhöhnt eine Witzpostkarte die Stabreimerei des „Rings“: „Wagner stets bei Tag und Nacht / meistens maßlos müde macht.“ Umso munterer stemmt ein durchtrainierter Raimund Harmstorf, libidinös lächelnd, eine nackte Kriem- oder Brunhild mit seinen Muskelarmen: „Siegfried und das sagenhafte Liebesleben der Nibelungen“ heißt Adrian Hovens machomythisches Sexfilmchen von 1971; heute darf man darüber lachen, dass man damals erst „ab achtzehn“ ins Kino durfte.

     Solange Wagner-Adepten winzige Strähnen von des Meisters Haar gläubig wie Reliquien in Bilderrahmen bargen, brachten Devotionalienhändler auch allerhand Gebrauchsgegenstände, durch einschlägiges Design ästhetisch und patriotisch geadelt, gewinnbringend unters Volk. So zeigt die Bayreuther Exposition eine Petroleumlampe mit dem erleuchteten Profil des Kultkomponisten, desgleichen das „heimliche Gefäß“ und zentrale „Heiltum“ aus dem kunstreligiös-lebensendlichen „Bühnenweihfestspiel“ des Meisters, nämlich den Abendmahlskelch aus „Parsifal“, als ehrfurchtsheischende Replik für die Vitrine im großbürgerlichen Salon: Die Herstellerfirma garantiert in einer zeitgenössischen Zeitungsannonce daneben,  das tiefrote „Purpurglas mit Metallfuß“ folge der „einzig richtigen Originalform“. Der Menschheit schwant Erlösung: Die Suche hat ein Ende, der Gral ist gefunden.

■ Verlängert bis zum 8. Januar 2023, Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17Uhr.
■ Die Ausstellung im Internet: hier lang.


Bücher & Musik

23. Juli   Ein großer Sohn der Stadt Hof als Agitator für die Freiheit – Die Hofer Symphoniker begleiten die Geigerin Lea Birringer bei deren erster CD-Einspielung mit Orchester – Eine aus Hof stammende Flötistin und die Kulturgeschichte ihres Instruments – Wagners „Ring“, sehr sinfonisch auf zwei Bayreuther Steingraeber-Flügeln gespielt.


Von Michael Thumser

■ Axel Herrmann: Johann Georg August Wirth. – Verlag Friedrich Pustet, 138 Seiten, kartoniert, 14,95 Euro.

Die Reihe, in der das Buch erschien, heißt „Kleine bayerische Biografien“. Indes darf der Mann, von dem es handelt, als einer der Großen der deutschen Freiheitsbewegung gelten – und als einer der größten Söhne der Stadt Hof. Denn in ihr kam Johann Georg August Wirth am 20. November 1798 zur Welt – in einer Gegend gleichsam ohne festes Elternhaus: Seit sieben Jahren gehörte Hof zu Preußen, acht Jahre nach Wirths Geburt sollte es an Frankreich, kurz darauf an Österreich, schließlich, 1810, an Bayern fallen. In gebotener Kürze, gleichwohl notorisch gründlich und sachkundig zeichnet Dr. Axel Herrmann, renommierter und ungebrochen publikationsfreudiger Hofer Historiker, Wirths Leben „zwischen Restauration und Revolution“ nach. Ein „politisches Leben“: Denn Wirth, anfangs Anwalt in Schwarzenbach/Saale und Bayreuth, trat öffentlich als regierungskritischer Journalist hervor, der sich seitens der Obrigkeit Schikanen und Zensur, sogar Inhaftierung gefallen lassen musste. 1831 brachte er, erklärter Kämpfer für die Pressefreiheit, in München die Deutsche Tribüne heraus, Sprachrohr der liberal-demokratischen Bewegung im Deutschen Bund. Im Frühsommer des folgenden Jahrs agierte er als einer der Organisatoren und Hauptredner des Hambacher Fests: „Dieses schöne Land wird verwüstet und geknebelt, entehrt und ausgesogen von 34 Königen.“

Doch Herrmann – bereits 1999 zusammen mit Arnd Kluge Verfasser einer Monografie über den „Revolutionär aus Hof“ – will den „großen Sohn der Stadt“ weder als einen von vielen Großen der Geschichte „ehrfurchtsvoll bestaunen“ noch ihn „auf seine Rolle beim Hambacher Fest reduzieren“. Er will ihn „erden“. Über den Sohn der Stadt erzählt sein Buch darum, mithin über Wirths Kindheit und über das damalige Hof, überhaupt über die Epoche zwischen Biedermeier und Vormärz, über frühe Familientragödien, Hemmnisse und Brüche in Lebensplan und -lauf, aber natürlich ebenso über wegweisende Begegnungen wie jene mit dem Gesinnungsgenossen Philipp Jakob Siebenpfeiffer. Schließlich fasst er existenzielle Ereignisse ‚nach Hambach‘ in den Blick, so Wirths Verbannung zurück nach Hof und sein französisches Exil. Dabei reicht Herrmanns präzis und stilgerecht, zugleich gut lesbar geschriebener Lebensabriss sogar über den „allzu frühen Tod“ des noch nicht fünfzigjährigen Paulskirchen-Abgeordneten 1848 hinaus, unter anderem bis zum ungewöhnlichen Denkmal vor der Freiheitshalle seiner Geburtsstadt: Die von Andreas Theurer attraktiv ersonnene, stilisiert-steinerne Nachbildung einer Zeitungsseite aus der Deutschen Tribüne ist eines der ganz wenigen Memoriale in Deutschland, die ausdrücklich der Idee einer demokratischen Republik gewidmet sind.

■ Christian Sinding, Felix Mendelssohn Bartholdy: Violinkonzerte. Lea Birringer, Violine, Hofer Symphoniker, Hermann Bäumer (Dirigent). – Rubicon Classics, 1 CD, Nr. RCD1081, etwa 18 Euro
Sozusagen ein erstes und ein letztes Werk schließt die Geigerin auf ihrer ersten Einspielung mit Orchester zusammen: das erste der drei selten zu hörenden Violinkonzerte aus der Feder des Norwegers Sinding (1856 bis 1941) und die vielgespielte letzte symphonische Komposition Mendelssohns, uraufgeführt 1845, zwei Jahre vor seinem Tod. Erst 36 Jahre alt war er da, so alt wie die Interpretin jetzt. Aufgenommen hat die Platte der Deutschlandfunk Anfang Juni vergangenen Jahres in der Freiheitshalle, in deren Festsaal die junge, doch weitgereiste, hochgelobte und vielfach prämiierte Künstlerin wenige Tage später das Publikum der Symphoniker mit beiden Werken live hinriss. Womit sie damals begeisterte, dokumentiert die CD nun durch moderne Aufnahme- und Mischtechnik vollendet: Klarheit, Kraft und Feinheit der Linien, innige Einfühlung ebenso wie Ausgelassenheit, auch bei Sindings nicht gleichrangigem, doch sehr schönem Werk neben Euphorie und Virtuosität deutende Sensibilität. Solche Tugenden kommen Birringer nicht zuletzt in den wunderbaren gesanglichen Passagen ihres leuchtenden Spiels zugute. Wenn, was bei Sinding öfter geschieht, die Violine lange schweigt, feilt Hermann Bäumer, in Hof conductor in residence, die facettenreichen Aufgaben der Symphoniker gründlich aus. So verwandeln sie und die Solistin noch Sindings angefügte zehnminütige „Romanze“ statt in eine freundliche Zugabe in einen berührend besonnenen Epilog.

■ Anja Weinberger: Kulturgeschichten – nicht nur für Flötisten. Verlag Der Leiermann, 192 Seiten, kartoniert, 9,95 Euro.
Zur Historikerzunft, wie Axel Herrmann, gehört die Autorin nicht, aber Kulturgeschichte liegt ihr am Herzen. In der Vergangenheit kennt sie sich aus, und Kultur, die Tonkunst zumal, ist ihr Metier. Erst kam die bekennend frankophile Musikerin (beim selben österreichischen Verlag) mit „Meinen französischen Kulturgeschichten“ heraus, wobei gleich das erste Wort des Titels signalisiert, dass es sich um sehr persönliche Aufzeichnungen handelt. Nur wenige Monate später ließ sie weitere „Kulturgeschichten“ folgen, die nun direkt sie selbst und ihre Hauptleidenschaft betreffen: Anja Weinberger ist enthusiastische Flötistin, als solche vor allem der Kammermusik zugewandt und damit immer wieder auch in ihrer Heimatstadt Hof zu hören, wo die – in Erlangen lebende – Künstlerin seit 2014 „Konzerte im Jahreskreis“ gibt. Munter und motivierend führt ihr versiert und plauderhaft geschriebenes, aber nie oberflächliches Buch hinein in die Geschichte und Praxis des klassischen Musizierens und speziell des Flötenspiels. Allzu ernste Lektionen mag Weinberger dabei nicht erteilen, lieber konzentriert sie sich, gern auch anekdotisch, aufs Menschliche der von ihr porträtierten Komponisten und Interpreten. QR-Codes, wie Vignetten am Beginn jedes Kapitels, leiten aus dem Text heraus zu hörbaren Musikbeispielen weiter. Dass sich von Abschnitt zu Abschnitt auch ein wissenswerter Bodensatz an theoretischen Einsichten ansammelt, geschieht schmerzlos nebenbei. Ein Handbuch oder gar Standardwerk ists nicht und will es gar nicht sein; als verlässliche Einführung und kundiger Führer in und durch die Welt der Bläserkunst taugt das Buch aufs Unterhaltsamste.

■ Hermann Behn: Wagner. Der „Ring“ für zwei Klaviere. – Musicaphon, 2 CDs, Nr. M56988, etwa 30 Euro.
Wer hat schon das Glück, von kommender Woche an bei den Bayreuther Richard-Wagner-Festspielen die Premieren des neu inszenierten Nibelungen-„Rings“ zu erleben. (Der Schreiber dieser Zeilen, zum ersten Mal seit 1986, hat es nicht.) Aber auch Daheimgebliebene müssen nicht ganz auf neuartige „Ring“-Klänge verzichten; obwohl: Gerade „neu“ ist Hermann Behns Version nicht. Der promovierte Jurist aus Hamburg, als Komponist Schüler Rheinbergers und Bruckners, arbeitete von 1914 an am „wohl umfangreichsten Projekt, welches je im Bereich der Transkriptionen für Klavier durchgeführt wurde, an den ‚Fünfzig sinfonischen Sätzen aus Richard Wagners Meisterdramen‘“, berichtet der Pianist Cord Garben im CD-Beiheft, in dem er dem maßstabsprengenden Eigencharakter der Übertragungen nachgeht und die für die Aufnahmen verwendeten großen Instrumente aus dem Bayreuther Haus Steingraeber rühmt. 2012 spielte Garben zusammen mit Thomas Hoppe die Ausschnitte aus „Rheingold“ und „Walküre“ ein, 2020, jetzt mit Justus Zeyen, komplettierte er die Tasten-Tetralogie durch „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. Gelegentlich „simples Unisono“, weit öfter „kaum spielbare Klangmassen“, mit virtuos vollgriffiger Theatralik dargeboten: Behns pianistische „Sinfonik“ lässt übliche Klavierauszüge weit hinter sich, und schon gar nichts hat der insgesamt zweistündige, unkonventionelle Opernabend mit Hausmusik zu tun.



Songs für „Kannabeewedder“

In Hof und Helmbrechts stellt Harry Tröger die CD „Waldgeschratet“ vor, für die er zusammen mit Ralf Wunschelmeier alte Wunder- und Gruselgeschichten kurios-mundartlich vertont hat: „Musikgschichdn aus die Heiländs vo Oberfrankn“. Dabei wird dem unermüdlichen Drummer die Auszeichnung als Künstler der Europäischen Metropolregion Nürnberg verliehen.


Von Michael Thumser

Hof, 21. Mai – Hier kann selbst der eingefleischte native speaker, der lebenslang in Hochfranken ortsfeste Muttersprachler, noch viel lernen. Die CD hörend, könnte er, schriebe er nur schnell genug mit, eine ansehnliche Wortschatzliste aufstellen, um sie dann wie einst beim gymnasialen Vokabellernen zu memorieren: Kuhbu = Kuh-, Hütejunge (Cowboy); Gschtorz = Gestrüpp; Kartertiechil = flaches Schälchen für den Geldeinsatz beim Kartenspiel; glieganz = im Großen und Ganzen ... Herrliche Bezeichnungen, ländlich-sittlich und von krachender Urtümlichkeit. Wo hört man dergleichen noch.

     Man hört sie auf der CD „Waldgeschratet“, einem Projekt, das die Münchberger Musik-Aktivisten Harry Tröger und Ralf Wunschelmeier unlängst in die Öffentlichkeit trugen. Halb songbook, halb tönendes Sagenbuch: „Es is Geisterstund, und der Wech is lang, / ohna fimf Moß Bier werd der angsterbang“. Durch die Ohren sausen hitzige, witzige Rocksongs, zu genießen sind von alters her überlieferte Wunder- und Gruselgeschichten aus Frankenwald und Fichtelgebirge, publiziert gleichsam im Großformat, nämlich in einer DVD-Hülle, aber „mid ohna Bildla“, wie die Urheber ausdrücklich auf ihr vermerkten.

     Am morgigen Mittwoch um 19.3o Uhr ist die grandiose Schöpfung der beiden im – bereits ausgebuchten – Hofer Kunstkaufhaus (Königstraße 25) kennenzulernen, am Sonntag um 14 Uhr neuerlich im Helmbrechtser Textilmuseum (Münchberger Straße 17), wo im April bereits die „Erstaufführung“ stattfand. Beim ohnehin reiz- und glanzvollen Auftritt in Hof erhält Harry Tröger obendrein aus der Hand von Oberbürgermeisterin Eva Döhla eine in Nordbayern begehrte Auszeichnung: Eine Jury wählte ihn zum Künstler der Europäischen Metropolregion Nürnberg.

     Mit dem gesuchten Schlagzeuger, schreibt der Hofer Kulturamtsleiter Peter Nürmberger auf der Website der Metropolregion, werde „ein musikalischer Tausendsassa“ geehrt, der von der Komposition bis zum Mischpult, „von der Idee bis ins Ohr der Zuhörerschaft“ die Produktion „auf höchstem Niveau“ beherrsche. „Einem größeren Publikum im Raum Hof bekanntgeworden ist er mit Projekten wie ‚5 Minuten Pause‘ oder dem Bandprojekt ‚Waldschrat‘, das es schon seit 1979 gibt.“ Auch im Hofer Theater, sobald dort statt der Symphoniker eine Combo gebraucht werde, stifte Tröger „das rhythmische Fundament an Trommel, Becken und was sonst noch klingt“.

Radikal mundartlich

Eine Auswahl aus dem reichen hochfränkischen Sagenschatz radikal mundartlich und populärmusikalisch zeitgemäß, dabei mit viel Spaß an verschrobenem Stilbruch, kurioser Satire und deftiger Parodie aufbereitet – wieder einmal verdankt sich ein originelles Unterfangen der Lähmung, die das Corona-Virus über Kultur und Kunst brachte. Als wichtigster Partner zeichnet der Gitarrist Ralf Wunschelmeier mitverantwortlich für das Album. Glaubt man der „Kleinen Entstehungsgeschichte“ auf der dazugehörigen Internetseite, so ging Tröger über zehn Jahre lang mit der Idee „schwanger“, die freilich erst eigentlich im Januar 2021 in Peter Kampschultes Kulturkantine des Theaters Hof gezeugt wurde. Ausgetragen hat Tröger, in ständigem Austausch mit Wunschelmeier, den Keim von da an hauptsächlich im „Exil“: nicht auf dem „Kannabee“ daheim, sondern in einem „Gaddnhaisla“ – einem Gartenhäuschen; wieder so eine schöne Vokabel aus dem „Bayreuth/Münchberg/Hofer Dialekt“, für den sich der dichtende Drummer zum Zweck möglichst breiter Verständlichkeit in seinem Sprachraum entschied.

     Auf etliche gleichgesinnte Freunde und Helferinnen konnten die beiden bauen, als es daran ging, das Konzept im Studio professionell umzusetzen. Damit den „Kannabeewedder-Musikgschichdn aus die Heiländs vo Oberfrankn“ auch Menschen folgen können, die nicht den hiesigen Aborigines und native speakers angehören, enthält das ausführliche Beiheft neben der dialektalen auch eine hochdeutsche Version zum Mit- und Nachlesen. So vergrößert sich noch die Freude an mancher unverfrorenen Aktualisierung, etwa wenn die Bürger von Zell über die Trockenheit diskutieren: „Der Lehrer maant: ‚Des liecht glieganz / an unnrer CO2-Bilanz! / Die Viecher furzn vill zer vill, / der Klima-Overkill!‘ / Na Wert heerst hinterm Tresn brammeln: ‚Mir missn erscht moll Datn sammeln.‘“ Um die mit Geistesblitzen, prallen Pointen und frischen Frivolitäten flottgemachten Stoffe auch hörend im Urtext kennenzulernen, tragen Anja Stange, Schauspielerin am Theater, und Bettina Gemeinhardt im Anschluss an die Songs die von Andreas Reichold und Adrian Roßner formulieren Prosavorlagen vor.

„Es gängert schlimmer.“

In Märchenbuchmanier illustriert Barbara Liebings kindlich-bunter Bildschmuck, was Tröger, Wunschelmeier und ihre Schar kehlig singend und gepfeffert klingend eher für ein herangewachsenes, mithin idiom- und lebenserfahrenes Publikum aufbereiteten. In „Soolnstaa“ (Saalenstein) treibt etwa die Weiße Frau, am Löwenberg eine Hexe ihr Unwesen, und die Gründung der Stadt Hof vollzieht sich gleich zweifach: „Des worn die Days of Sumpf and Roses, / des worn die Days, when Hof was born.“ Die Aborigines dort „ham heit nuch immer / aweng a sumpferte Oart, nojo, es gängert schlimmer.“

     Zum „Tutnkopf“ (Totenkopf) im Fichtelgebirge zwischen Hoher Matze und Platte führt, oder besser: verführt, der erotischste, freilich immer noch jugendfreie Beitrag des Programms. Auf besagter Erhebung lockt eine „bremserda Nixn“ (ein brünstiger weiblicher Wassergeist) mit „Saitnspill“ und „Gsang“ pubertäre Jünglinge in den Lust- und Liebestod – ein Lied, das einen der schönsten, zugleich kryptischsten Sätze der Platte enthält: „No tuta Teenies lang niemols ned no!“ Ein Volkspoesiegewitter im Miniaturformat, voll von erregtem Rhythmus und ratternden Alliterationen. Wie unerheblich klänge stattdessen der nüchterne Ratschlag: Berühre niemals tote Jugendliche!

Die CD online bestellen: hier lang.



Ohne Lügen geht es nicht

Zwei Teile seiner Trilogie über Ria Nachtmann, die „Fremde Spionin“, hat Titus Müller bisher vorgelegt. In Hof liest der erfolgreiche Autor nur ein wenig aus dem zweiten Band; dafür plaudert er umso ausführlicher über die Geschichte der DDR und die menschenfeindlichen Aktionen östlicher und westlicher Geheimdienste.


Von Michael Thumser

Hof, 21. Mai – Er hat, wie bei Geheimdienstlern üblich, immer Bedenken, er könne zu viel verraten. Allzu Genaues mag Titus Müller über seine Bücher darum nicht preisgeben und liest bei seiner Lesung nur zwei Ausschnitte aus seinem jüngsten vor. Müllers Metier ist der historische Roman. Nicht dass er nicht auch mal weit in die Zukunft schaute – mit einer Perry-Rhodan-Episode unternahm er einen Ausflug ins science fiction-Genre und bekam sogar einen Preis dafür. Ansonsten aber siedelt er seine Stoffe in der Vergangenheit an, teils in weit zurückliegenden Epochen wie gleich bei seinem Erstling „Der Kalligraf des Bischofs“ von 2002. Nicht weniger gern schöpft er aus dem von Unstimmigkeiten bewegten, von Katastrophen durchrüttelten zwanzigsten Jahrhundert. Erst 44 Jahre ist Müller alt und hat, neben manch anderem, schon fünfzehn umfangreiche Romane verfasst.

     „Zwischen Bundesnachrichtendienst und russischem KGB“, wie er sagt, agiert „Die fremde Spionin“ Ria Nachtmann in dem vor einem Jahr erschienenen Auftakt zu einer Trilogie, deren Fortsetzung eben jetzt, vor knapp zwei Wochen, herauskam. Im Museum Bayerisches Vogtland stellte Müller „Das zweite Geheimnis“ am Donnerstag vor; nach Hof eingeladen hatten ihn, schon zum zweiten Mal, die rührigen Schwestern Regine und Sibylle Kaiser von der Buchgalerie im Altstadthof. Steht in Band eins der Bau der Berliner Mauer, „Erich Honeckers Gesellenstück“ von 1961, im Zentrum, so fokussiert sich das Geschehen in der 1973 spielenden Fortsetzung um Günter Guillaume, mit dem der DDR der Sensationscoup gelang, einen Maulwurf in nächster Nähe von Bundeskanzler Willy Brandt zu positionieren, als dessen persönlichen Referenten. Indes, nicht etwa mit knallharten Winkelzügen aus dem zwielichtigen Agentenmilieu führt der Autor in die Handlung ein, sondern mit Herzensangelegenheiten, die auf der Kippe stehen: Nach acht Jahren Trennung begegnen sich Ria und ihr Geliebter aus dem ersten Buch, der Westberliner Redakteur Jens, im bulgarischen Urlaubsparadies Warna wieder. Sie hat sich all die Zeit über nach ihm verzehrt; Jens jedoch, verbittert, „sah sie an wie ein Ärgernis“; seine (zunächst) gescheiterte Liebe zu ihr hat ihn „verdorben für alle anderen“ Frauen.

     Was hiernach mit Ria geschieht – davon fabuliert Titus Müller lieber in freier Rede. Und das kann er gut: natürlich und schwungvoll. 1977 kam er in Leipzig zur Welt, „als Kind der DDR“, wo in jedem Schulzimmer ein „Honecker-Porträt als Heiligenbild“ zu hängen pflegte, und „als Pastorensohn“. Wirklich schaut er, seiner 44 Jahre ungeachtet, eher wie der dreißigjährige Leiter einer christlichen Jugendgruppe aus, nicht so sehr wie der erfolgsverwöhnte Autor unterhaltsamer Spannungsromane. Seine sympathische Art passt dazu: Frisch von der Leber weg plaudernd, erweist er sich als beschlagener Kenner aufregender Fakten und kluger Erläuterer von Zusammenhängen. Auf weitreichenden Recherchen gründet seine psychologisch sensible Verarbeitung des Geschichtlichen. Mit den akribisch ermittelten Ungeheuerlichkeiten, von denen seine Spionageromane fesselnd berichten, stattet er nicht minder lebhaft und anschaulich die Anekdoten aus, mit denen er die Zuhörer im Museum erzählend zum Staunen bringt. Für Szenen, in denen seine Protagonistin Ria von Bulgarien nach Ost-Berlin entführt und in der „Geheimen Untersuchungshaftanstalt“ Hohenschönhausen interniert wird, ließ er sich von einer ehemaligen Insassin über die Zustände in dem gefürchteten Stasi-Knast informieren und machte sich mit den Verhörmethoden der Offiziere dort vertraut. Nach Jahren der Agententätigkeit ist Ria gewieft genug, sich gegen ihre Tricks zu wehren; doch in ihrer Tochter Annie, die an einer Kinder- und Jugendsportschule als begabte Turnerin jeden Tag trainiert („bis ihr die Hände bluten“), findet die Staatssicherheit eine „Angriffsfläche“.

Heiligt der Zweck alle Mittel?

So viel, nur so viel dazu. Bloß nicht mehr verraten als nötig. Müller zieht es vor, am Beispiel von BND und KGB die berechtigte Frage aufzuwerfen, was von einem Job zu halten ist, der mit den Mitteln der Lüge und Täuschung, Erpressung und Manipulation operiert. „Ist Spionage gut oder nicht doch schlecht“? Heiligt der systemkonforme Zweck wirklich alle menschenverachtenden Mittel? Dann aber parliert er, statt sich weiter in die moralischen Abgründe des Berufs zu verlieren, anregend und kenntnisreich über die „Weltfestspiele der Jugend“ im Sommer 1973 in Ost-Berlin: „das Woodstock der DDR“ mit dröhnender Rockmusik und hellen Scharen lässig-langhaariger junger Leute aus aller Herren Ländern, unter die sich „27.000 verkleidete Stasi-Mitarbeiter“ mischen; derweil stellt sich Liedermacher Wolf Biermann vor die Weltzeituhr und singt, trotz Auftrittsverbots, „ohne Gitarre, bis er heiser war“.

     Ein weiteres Glanzstück der informativ-humoristischen Geschichtsstunde entfaltet Müller dann doch wieder in der elaborierten Prosa seines Romans. Da wird „Genosse Honecker“ in einer fetten „Tschaika“-Limousine durch die Hauptstadt chauffiert, während alle anderen Räder auf den Straßen stillstehen müssen: „So fühlte sich Macht an.“ Wenig später erwägt der Generalsekretär des ZK der SED und Staatsratsvorsitzende im Gespräch mit Alexander Schalck-Golodkowski, der „grauen Eminenz“ des DDR-Außenhandels, mit welchem Geschenk man das zum Besuch anreisende sowjetische Staatsoberhaupt Leonid Breschnew erfreuen könnte. Mit einem Teddybären, wie damals Fidel Castro? Oder doch besser mit einem Volvo der Spitzenklasse? Von denen lässt Honecker dann gleich mal 135 Exemplare ordern; Stückpreis: hunderttausend Westmark. Der DDR-Normalbürger, hält Müller dagegen, habe auf seinen Trabant oder Wartburg zehn bis fünfzehn Jahre warten müssen.

     Mit all dem war 1989 Schluss. Zur Berliner Mauer aus dem ersten Teil der Trilogie wird der Autor im Schlussband zurückkehren, den sein Verlag Heyne für Mai 2023 ankündigt: „Der letzte Auftrag“ Rias mündet in den Fall des „Antifaschistischen Schutzwalls“ und den Sturz des SED-Regimes. Je näher die historischen Details der erfundenen Geschichten ans Heute heranrückten, desto schwerer komme er an Einzelheiten zu den Finten der Geheimdienste heran, bedauert Müller. Allerdings: „Ein Chefhistoriker des BND hat die ‚Fremde Spionin‘ gelesen und fand sie gut. Seither hilft er mir.“



Es hat Wellen geschlagen

An ihrem 101. Geburtstag erinnert der Journalist und Buchautor Tim Pröse an Sophie Scholl, das Gesicht des studentischen Widerstands gegen Adolf Hitler. Die Lesung in Hof gerät melodramatisch zur Feierstunde, beleuchtet aber bewegend den beispielhaften Mut einer noch sehr jungen, gleichwohl zum Tod bereiten Frau.


Von Michael Thumser

Hof, 11. Mai– Am 13. Januar 1943 jährte sich die Gründung der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität zum 470. Mal. Kein besonders ‚runder‘ Geburtstag; dennoch hielt Paul Giesler, bayerischer Ministerpräsident sowie NS-Gauleiter für die Landeshauptstadt und Oberbayern, den Anlass für geeignet, im Audimax als Redner vor die Studentinnen und Studenten zu treten; vor Studentinnen hauptsächlich, denn die meisten jungen Männer mussten sich an den Fronten des vom Deutschen Reich angezettelten Weltkriegs verheizen lassen. Den reichlich versammelten jungen Frauen empfahl Giesler dringlich, sie sollten, statt unfruchtbar die Hochschulbänke zu drücken, besser zu Hause ihrer patriotischen Pflicht nachkommen, dem „Führer“ viele Söhne als künftige Krieger zu schenken; jenen, deren Reize nicht hinreichten, einen Partner an sich zu binden, stünden gern seine Adjutanten zu Diensten. Dies ekelhafte Anerbieten stieß den „deutschen Mädeln“ dann doch sauer auf: Über den sexistischen Schwadronierer brach ein Gewitter von Buh- und Protestrufen herein. Der Festakt musste abgebrochen werden.

     Er kenne, sagt Tim Pröse, keine weitere studentische Erhebung gegen die Zumutungen des Nazi-Regimes. Und doch gehören gerade Studenten zu den prominentesten Gegnern Adolf Hitlers und seines „Dritten Reichs“: Hans und Sophie Scholl und ihre Bündnispartner der „Weißen Rose“. Am 9. Mai vergangenen Jahres kehrte Sophie Scholls Geburtstag zum hundertsten Mal wieder; am Montag, ihrem 101. Geburtstag, machte Pröse in Hof Station, um ein „Denkmal“ zu setzen für die „Schutzpatronin“ auch heutigen Widerstandsgeistes und ihr „Licht einmal mehr leuchten“ zu lassen. Einst sei München die „Hauptstadt der Bewegung“ gewesen; heute, sagt Pröse, sei es „die Stadt Sophie Scholls“, einer „Wegbereiterin“ der Freiheit, in der die Deutschen seit Jahrzehnten leben dürften.

     München ist die Stadt des Tim Pröse. Hier lebt der 52-jährige Journalist und Buchautor ganz in der Nähe der Orte, an denen die Aktionen der Gruppe kulminierten. Nicht nur, aber auch Biografien der „legendärsten Stars aus Film, Funk und Fernsehen“ hat er publiziert und stellt sich in der Stadtbücherei selbst als „Spiegel-Bestsellerautor“ vor. Wirklich führte ihn die einschlägige Liste des Nachrichtenmagazins zwei Mal auf dem ersten Platz, 2020 mit Erinnerung an den TV-„Hafenpastor“ Jan Fedder, heuer wieder mit einem Buch über den letzten Überlebenden der Schlacht von Stalingrad 1942/43. Bereits vor sechs Jahren ließ Pröse achtzehn „Jahrhundertzeugen“ die „Botschaft der letzten Helden gegen Hitler“ ausbreiten, darunter den Neffen des gescheiterten Hitler-Attentäters Georg Elser, einen der durch Oskar Schindlers „Liste“ geretteten Juden – und Sophie Scholl.

     Als er ihrem Leben und Sterben nachging, hob er, wie er sagt, den „größten Recherche-Schatz meines Lebens“: 78 maschinenschriftliche Seiten Inge Aicher-Scholls, einer Schwester von Sophie und Hans. Als „hochemotionalen Text“ beschreibt der Schatzgräber jene „Erinnerungen an München“, geschrieben mit dem Pathos der durchaus hochtönenden Sprache, an der die jugendlichen Verschworenen „einander erkannten“. Hochemotional – so darf man auch Pröses Vortrag nennen: Nicht zur Geschichtslektion tritt er an, eher gerät die „szenische Lesung“ zum pazifistischen Heldengedenken, wenn nicht zur Heiligenehrung. Eine „geheime Hymne“ der „Weißen Rose“ spielt er unter anderem vor, und hymnisch klingt er wiederholt selbst, wenn er sich, Sophie als „Mädchen im Auge des Orkans“ besingend, aufgewühlt als ihr verspäteter Gefolgsmann bekennt. Wie in frommen Legenden kommt die Rede schon mal auf ihr „wundersames Lächeln“ und ihr „verklärtes Angesicht“, auf dem sich noch die „Tapferkeit des Sterbens“ nach außen gewandt habe. Hans Scholl, das räumt Pröse in der einigermaßen melodramatischen Feierstunde ein, war als „Motor und Antreiber“ des studentischen Dissidentenzirkels „wichtiger“ als die Schwester; zum Gesicht der „Weißen Rolle“ wurde gleichwohl sie – eine junge außerordentlich mutige Frau mit vielen Gesichtern, von denen der Referent einige im Lichtbild zeigt.

„Und nun stellen Sie sich vor …“

Das geburtstägliche Gedenken an sie beginnt er mit ihrer Beerdigung am 24. Februar 1943. Zwei Tage zuvor, gemäß dem Urteil des Blutrichters Roland Freisler, hatte der Henker Johann Reichardt das Geschwisterpaar geköpft. Vor allem die langen Augenblicke vor der Exekution lässt Pröse Revue passieren, was er immer wieder beschwörend wie ein Augenzeuge tut („Und nun stellen Sie sich vor …“). Hingegen setzt er die Vorgeschichte bei seinem spürbar bewegten Publikum weitgehend voraus. Vom Mai 1942 an studierte Sophie an der Münchner Universität; gerade mal zwei Semester waren ihr beschieden. Der Philosophie und Biologie gehörten ihre Interessen, „Kunst & echten Kaffee“ liebte sie und beschrieb sich selber knapp mit „Harter Geist, weiches Herz“. Als Mittel für antifaschistische Aktionen wählten sie und ihr Bruder Hans, beider Freund Christoph Probst und ihre Gesinnungsgenossen das nur scheinbar unspektakuläre, in Wahrheit über das halbe Reich verbreitete Medium des Flugblatts, das sie mit erbitterten Appellen an ihre Mitbürger, zuletzt an die „deutsche Jugend“ füllten. Die sechste und letzte Ausgabe ließen sie am 18. Februar 1943 in den Lichthof des Uni-Hauptgebäudes flattern. Gleichsam ihr eigenes Todesurteil hatten sie darauf geschrieben, indem sie dazu aufriefen, den „Weltkriegsgefreiten“ Adolf Hitler mitsamt den „Peinigern“ in seinem Dienst zu „zerschmettern“; hatte doch der unfähige „Führer“ mit seiner „genialen“ Strategie bis dahin schon „dreihundertdreißigtausend deutsche Männer sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt“.

     Wurden die Scholls, als ein Hausmeister sie bei der Aktion ertappte, wirklich Opfer ihrer Naivität, wie manche ihnen nachsagen? Rechneten sie, notorisch intelligent und desillusioniert, nicht doch damit, irgendwann aufgegriffen, abgeurteilt, exekutiert zu werden, wie es dann nur vier Tage später geschah? Ausdrücklich, so belegt Tim Pröse, verzichtete Sophie Scholl auf eine Sonderbehandlung: Hätte sie der Rebellion abgeschworen, sie wäre, als Mädchen, dem Fallbeil wohl entgangen; ein offenbar mild gestimmter Verhörbeamter legte ihr dergleichen nahe. Sie aber lehnte es ab, über jene „goldene Brücke“, so Pröse, als Verräterin in eine Zukunft zu entweichen, die sie wohl als schmachvoll hätte empfinden müssen. „Nicht ich“ – habe sie ihm, den Aufzeichnungen der Mitgefangenen Else Gebel zufolge, entgegnet –, „nicht ich, sondern Sie haben die falsche Weltanschauung.“ Der letzte Trost von Vater Robert Scholl während der letzten Minuten, beim letzten Abschied: „Ihr werdet in die Geschichte eingehen.“ Die Antwort der Tochter: „Das wird Wellen schlagen.“ Gauleiter Giesler, seiner Maxime „Der Hass muss freie Bahn haben“ folgend, hatte empfohlen, die Hinrichtungen von Sophie und Hans Scholl sowie Christoph Probst – 21, 24 und 23 Jahre alt – öffentlich auf dem Münchner Stachus zu vollziehen; zum Glück kam es wenigstens dazu nicht.

     Der Scharfrichter Johann Reichardt übrigens war gelernter Metzger und fünfzig Jahre alt, als er die Mitglieder der „Weißen Rose“ unter die „Fallschwertmaschine“ legte. Das Amt hatte sich in seiner Familie über Generationen vererbt; mit einer zerlegbaren Guillotine auf der Ladefläche seines Transporters tourte er von Haftanstalt zu Haftanstalt. Bis zu seiner letzten Exekution 1946 vollstreckte er 3165 Todesurteile durch Enthaupten oder Hängen, mehr als jeder Berufskollege vor ihm. Zwischen 1940 und 1945 fanden 2805 sogenannte Staatsfeinde, von NS-Gerichten verurteilt, durch ihn den Tod – niemand, wie er mitteilte, so duldsam und gefasst wie Sophie Scholl.

25. Mai, Hof, Pfarrzentrum Bernhard Lichtenberg (Nailaer Straße 7), 19.30 Uhr: „Die vergessene Generation. – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“, Vortrag von Sabine Bode. (Veranstalter: Katholische Erwachsenenbildung in Stadt und Landkreis Hof e.V.)


Die Wurzel allen Übels

Hanna von Feilitzsch stellt in Hof ihren ersten Roman vor: In „Bittersüße Mandeln“ breitet sie die dramatische Geschichte einer griechischen Familie aus, die der ihres Vaters ähnelt.


Von Michael Thumser

Hof, 9. April– Drehbücher hat sie geschrieben, auch Bücher über Leo Slezak, den einst gefeierten Tenor, und seine Tochter Margarete, die genauso berühmt werden wollte. Und jetzt, sagt Hanna von Feilitzsch nicht ohne Stolz: ihren „ersten richtigen Roman“. Gibt es falsche Romane denn auch? Wenn ja, dann gehört dieser nicht dazu: Regine Kaiser von der Buchgalerie im Hofer Altstadthof rühmt dem Werk nach, eine dramatische Familiengeschichte „spannend bis zur letzten Seite“ auszubreiten. Zusammen mit ihrer Schwester Sibylle hatte die emsige Buchhändlerin die Autorin am Mittwoch zur Lesung in den schönen Gemeindesaal der Christuskirche eingeladen, wo Hanna von Feilitzsch Abschnitte aus ihrem vor einem Jahr erschienenen Debüt als Erzählerin vorstellte. „Bittersüße Mandeln“ heißt es – die im Titel genannten Samenkerne mit dem zwiespältigen Geschmack wachsen in ihrem Fall in Griechenland.

     Denn zwar lebt sie heute zum Teil in Feilitzsch bei Hof, teils in Rottach-Egern am Tegernsee; in Griechenland aber kam Hanna von Feilitzsch, als Tochter eines einheimischen Vaters, zur Welt. Wenngleich sie nur wenige Jahre dort zubrachte, so liegen ihr doch das mediterrane Land, seine Menschen und seine Geschichte besonders am Herzen. Seine jüngere Geschichte: In die führt ihr – wie sie sagt – „sehr persönliches Buch“, denn so manche Episode der reichen und aufgewühlten Handlung, die sie erfand, habe sich ähnlich in vielen Familien tatsächlich ereignet, auch in der des Papas.

Ein Mann geht verloren

Im Zentrum der wirklichkeitsnahen Chronik steht Anna, eine mutige Frau und Mutter. Als während des Zweiten Weltkriegs nazideutsches und italienisches Militär ihr Vaterland besetzt halten, ist ihr Mann Manolis, ein aufrechter Patriot und bekennender Kommunist, in den Partisanenkämpfen zwischen Rechten und Linken verlorengegangen; Stavros, ein Verwandter und falscher Freund, verriet ihn. Nun hängt allein an Anna das Leben und Überleben der Ihren, und willensstark meistert und garantiert sie es. Tatkräftig baut sie eine Gemüsegärtnerei auf, die alsbald floriert. Als Manolis unerwartet wiederkommt, zeichnet sich schnell ab, dass er an den Folgen der peinigenden Gefangenschaft lebenslang - und für alle bedrückend - leiden wird. Anna ordnet sich und ihre Wünsche dem Heimkehrer unter, aus Liebe bereit, mit ihm gemeinsam alle weiteren Wege zu gehen. Die führen Mutter und Töchter bis in die Vereinigten Staaten.

     Einen Partisanenangriff schildert Hanna von Feilitzsch in der ersten Begebenheit ihrer Lesung. Da dringen „Geister“-Geräusche aus einer Sommernacht ins schöne Haus und die furchtsamen Gemüter der Familie und entpuppen sich als unaufhaltsame Tritte der auf „schweren Stiefeln“ anrückenden Antikommunisten. Schreie gellen, Schüsse fallen. Die Flüchtenden müssen zusehen, wie ihr Heim mit dem schönen, die Abenteuer des Odysseus illustrierenden Bodenmosaik zusammen mit allem andern Hab und Gut verbrennt. Dennoch wiegt der Schmerz über den „Verlust der Heimat“ weniger schwer als das „tiefe Glücksgefühl“, davongekommen zu sein. Später trägt einer der Arbeiter Anna, der Chefin, seine Liebe an. Ihr gefällt der attraktive junge Mann, und doch weist sie ihn ab, um Maanolis, dem Verschollenen, treu zu bleiben: „Ich fühle, dass er am Leben ist.“

     Sie hat Recht. Aber kaum an ihrer Seite, bestreitet er ihr jedes „Mitspracherecht“ an seinen künftigen Plänen. Als beider Sohn Odysseus – Oddy –von einem Auto angefahren und schwer verletzt wird, steht für Manolis der Täter fest: Stavros, der „teuflische“ Gegenspieler; sein Motiv: Geld – „die Wurzel allen Übels“. Grimmig sinnt der Patriarch auf Rache, bereit, auch den eigenen neuen Wohlstand in Schutt und Asche zu legen: „Alles zerstören, alles, alles.“ Nach New York, viele Jahre später, führt der Schluss der Lesung: Da soll Annas Tochter Sophia verheiratet werden – und empört sich, wurde sie doch nicht nach ihrem Einverständnis gefragt. Auch heißt es, der Bräutigam, wiewohl eine gute Partie, sei „kein sympathischer Mensch“. Einen anderen, umso sympathischeren, hat sie bereits kennen und lieben gelernt.

Unabhängigkeit hat ihren Preis

Die Erfahrung, dass „Unabhängigkeit“, weibliche zumal, ihren „Preis“ hat, einen beträchtlichen oft: Sie zieht sich als Leitmotiv durch den Roman, dessen unangestrengte Schreibart den Stoff für Leser wie Hörer umweglos verständlich macht. Die kurzen Handlungsabschnitte daraus deklamiert Hanna von Feilitzsch nicht als Melodram, sondern spricht sie bescheiden mit artiger Stimme. Noch leichter könnte das Publikum folgen, würde sie ihre Hintergrundinformationen zu Figuren und Situationen etwas detaillierter ausführen. Unerwähnt lässt sie überdies einen wesentlicher Faktor der formalen Konstruktion: dass sie nämlich die Lebenswege der von ihr anteilnehmend gezeichneten Frauen geschickt durch eine Rahmenhandlung brach, die Oddy, Annas Sohn, vorträgt.

Spürbarer tut sich Feilitzschs Einfühlung in die landestypischen Lebensweisen und -anschauungen ihrer traditionsverhafteten, moralstrengen Protagonistinnen kund. Gerade im letzten Teilstück des Abends: Es lässt ahnen, welch strenge Regeln für ein „anständiges Mädchen“ wie Sophia gelten. Mutter Anna aber akzeptiert am Ende: „Die Zeiten hatten sich geändert.“ Also darf die Tochter ihrer Liebe folgen: Hauptsache, der Mann ist Grieche.

Nächster Gast der Schwestern Kaiser: 19. Mai, Foyer des Museums Bayerisches Vogtland, 19 Uhr, Titus Müller liest aus „Das zweite Geheimnis“ (Band zwei der Trilogie „Die Spionin“; Karten in der Buchgalerie im Altstadthof; freie Platzwahl).



Nacht am helllichten Tag

Autorenlesung? Orgelkonzert? Friedensandacht? In der Hofer St. Michaelis-Kirche findet eins zum andern, als Ingrid Haushofer aus ihren Gedichten liest. An der Orgel begleitet sie Georg Stanek auf dem Weg „aus der Tiefe“ der Nacht zum Licht.


Von Michael Thumser

Hof, 15. März– Texte, die sie ausdrücklich „zum Krieg“ schrieb, liest die Lyrikerin auch vor. Von Putins Angriff auf die Ukraine könnten sie handeln; nur dass sie schon vor gut dreißig Jahren entstanden und damals auf Gemetzel zum Beispiel in Ruanda und Sarajevo reagierten: Mögen die Zeiten sich ändern, die Ereignisse bleiben doch die gleichen. Ein Gedicht erzählt von den Sorgen einer Mutter, die im bosnischen Goražde eine vaterlose Familie durchs „elende Leben“ zu bringen sucht, das nun mal „das einzige“ ist; ein anderes von der Weihnachtszeit während der Golfkrise 1990: „totenstille Nacht“. Wenn sich, wie gegenwärtig, ein Gefühl der Ohnmacht breitmacht – heißt das dann: künftig „ohne Hoffnung“ leben? „Ohne Musik“, rezitiert die Lyrikerin, „wäre der Frieden noch ferner“.

     Was ist das für eine Veranstaltung? Autorenlesung? Orgelkonzert? Friedensandacht? Sie war, in Hof am frühen Sonntagabend, all das in einem. In Scharen strömten Besucherinnen und Besucher in die St. Michaelis-Kirche, um sich von Kirchenmusikdirektor Georg Stanek und Gedichten Ingrid Haushofers auf die Passionszeit einstimmen zu lassen. „Aus der Tiefe“ ist das Programm überschrieben – aus den unteren Registern der großen Heidenreichorgel dringen denn auch die ersten Töne der Improvisation hervor, die der Organist einleitend über den gregorianischen Choral „De profundis“ ausspinnt; klanglich verdichtet, gedanklich intensiviert sich sein Spiel und klart auf, dann aber führt er das Melos abgründig zum Ausgangspunkt zurück. Ein Kreislauf „ohne Hoffnung“?

     Das nicht. Zwar mit großem Ernst und herber Strenge haben Dichterin und Musiker das fünfviertelstündige Programm komponiert, aber in eine gewisse Helle, eine kosmische Art von Licht führt es endlich doch. Zunächst freilich skizziert Ingrid Haushofer einen Bettler, dessen Frage nach dem Sinn seines „wunden“ Lebens und seiner „geliehenenen Träume“ verstummt. In anderen Versen fantasiert sich ein geschundener russischer Gulag-Häftling, „wundlöchrig die blaue Hülle Sehnsucht“, in die freie Natur. Am Palmsonntag sieht Haushofer die einen anmaßend „auf dem hohen Ross“ sitzen, während ein anderer, die „Stimme Gottes“, auf einem Esel einherreitet. „Nichts“, sagt sie, „ist so wach wie die Angst“, und am Karfreitag herrscht „Nacht am helllichten Tag“. So wie jetzt tagtäglich in der Ukraine.

     Und dennoch: In großer Ruhe trägt sie, an einem Pult vor dem Schnitzaltar mit dem Versöhnungsmahl Jesu und seiner Jünger, ihre Gedichte vor, deren metrisch meist freien, fast immer ungereimten Verse sie zu eindrucksvoller Kürze komprimiert, gedanklich geschärft, aphoristisch zugespitzt hat. Auf gesuchte Wörterklingelei setzt ihre empathische Poesie so wenig wie auf die Plattheit plakativer Botschaften. Gleichwohl verstellt sie den Hörenden den Zugang zum Verständnis ihrer Texte nicht. Zu deren Klarheit trägt ihr gemessenes Sprechtempo und ihre gewinnende Nüchternheit bei, mit der sie den Bogen von der Passion der „Menschheit“ über die mancherlei Leidenswege des Einzelmenschen bis zu „Christi Passion“ spannt.

     Gleichen Sinnes folgt ihr Georg Stanek: mit wendungsreich-ausführlichen Variationen aus einer Partita Johann Sebastian Bachs; harmonisch vertrackt mit einer Choralbearbeitung von Johannes Brahms und einer Orgel-„Passion“ Max Regers, die sich vollends in zielloser Chromatik zu verlieren scheint – bis sich die Melodie zu „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“ aus der bachschen Matthäus-Passion entwirrend hineinlegt. Zwei Bearbeitungen von „O Haupt voll Blut und Wunden“ stellt Stanek einander gegenüber, die eine, fließend intoniert und kontrapunktisch verflochten, von Felix Mendelssohn Bartholdy, die andere, von Sigfrid Karg-Elert, getragener und vom Organisten zwischen Mendelssohn und Reger verortet – beide gleichsam noch beklommen und doch schon fast getrost in Dur endend. Schließlich spannt Stanek mit prophetischer Wucht Bachs „Aus tiefer Not“ wie ein dunkel strahlendes Firmament über dem Kirchenraum aus.

     Ebenso wenig mag Ingrid Haushofer der Verzweiflung das Wort reden. „Silben“ (sagt sie im vierten und letzten Teil der Lesung) können auch „Leuchtzeichen“ sein – dann „brennen [sie] Sinn in die Nacht“. Die durchzieht vom Anfang bis zum Schluss die Gedichtfolge als zwar bleibendes, jedoch veränderliches Leitmotiv. Haushofers Nacht bleibt nicht dunkel, sondern „löst sich in Helligkeit“: in die des „Sterns“. Der mag den Menschen gerade mal als Punkt am Himmel scheinen. In Wahrheit ist kein Licht heller als seins.



Schwindender Überfluss

In vielen Sprachen spricht die Welt. Doch sind auch viele Sprachen vom Untergang bedroht: Davor warnen Experten zurzeit entschiedener denn je. Wo Sprachen  verschwinden, gehen Kulturen zugrunde. Hierzulande drohen Dialekte auszusterben – und viele schöne alte Wörter sind schon so gut wie tot.


Von Michael Thumser

8. Januar– Wer in Berlin eine Stadtrundfahrt in einem der vielen Sightseeing-Busse unternehmen möchte, der erblickt womöglich, bevor er das Fahrzeug besteigt, auf dessen langer Flanke ein paar karikierte Menschenköpfe und vor einem davon die Sprechblase: „Da kiekste – wa?“. Zu schauen, gucken, „kieken“ gibt es in der Kaaiptale bekanntermaßen viel, indes macht sich, wie ihre Bewohner beklagen, ihr unverwechselbarer, charmant großsprecherischer Dialekt immer weniger vernehmlich. Wer sagt heute noch „sabbeln“ für dumm daherreden oder „schnurz“ für gleichgültig, „Schrippe“ für Brötchen oder „knorke“ für „geil“?

     Ende vergangenen Jahres warnte ein Kolumnist der Berliner Zeitung, die hauptstädtische Mundart verwendeten heute vor allem Menschen mit ostdeutscher Herkunft. „In Westdeutschland und West-Berlin sprachen wir nur selten so und wenn, dann zum reinen Amüsement.“ Könnte sein, dass jener Zungenschlag in nicht ferner Zukunft vollends von Auflösung bedroht ist. „ ‚Icke‘ darf nicht sterben“, verlangt darum der traditionsbewusste Journalist: „Rettet das Berlinern.“ Auch in anderen Regionen der Republik, nicht zuletzt in Franken, jammern sprachkundige Bewohner über den Rückgang ihrer spezifischen Sprechweise. In München suchen Alteingesessene oft vergebens nach bairischen native speakers ihresgleichen. Was sich hierorts und hierzulande im Kleinen ereignet, geschieht seit Jahren auf der ganzen Welt.

     Den Spuren von 6511 Sprachen – das sind mehr als neunzig Prozent aller auf Erden gesprochenen – ist ein australisches Team um den Hochschul-Linguisten Lindell Bromham nachgegangen, das dieser Tage die Ergebnisse seiner gründlichen Untersuchungen bekanntgab: Gut möglich, dass 1500 Sprachen bis zum Ende des Jahrhunderts aus den Stimmen der Völker und ihrer noch immer babylonischen Vielfalt ausgelöscht sind. Fünfzehnhundert: Eine erschreckende, wenngleich keine überraschende Zahl. Bereits seit etlichen Jahren warnen Experten immer wieder vor einem globalen Sprachensterben; noch nie allerdings legte eine Forschergruppe ein so genaues Raster an. Vier Kategorien benannten die Australier: Sprachen, die nur noch von sehr wenigen alten Menschen gesprochen werden, haben sie als „stark gefährdet“ klassifiziert; „gefährdet“ nennen sie solche, die Erwachsene nicht mehr an Kinder weitergeben; wo die Verbreitung einer Muttersprache eklatant schwindet, sprechen sie von einer „bedrohten“ Sprache; als „schlafend“ schließlich betrachten sie eine vormalige Muttersprache, die heute nur noch als Zweitsprache dient. Auch wichtige Ursachen für den Untergang führt das Team an: so die wachsende Anziehungskraft der Städte und, damit verbunden, die sich verdichtenden Straßennetze, die besonders in armen Weltgegenden die Landflucht begünstigen; paradoxerweise auch die Bildung durch Schulunterricht: Meist wird er in sogenannten Mehrheitssprachen gehalten.

Wo Sprachen zugrunde gehen, sind Kulturen bedroht

Wenngleich, wie die Bibel sagt, dass „am Anfang das Wort“ war, werden, am bitteren Ende, vielen kleineren oder peripheren Völkern schlichtweg die Worte fehlen. Dann aber sind auch ihre Kulturen selbst im Kern bedroht. Denn mit der eigenen Sprache beanspruchen Menschen hörbar ihr Recht auf die Eigenständigkeit ohrer Herkunft und Überlieferung, ihrer Bilder-, Vorstellungs- und Wertewelt, ihrer Lebensweise und ihrer Intentionen. So viele Zungen, so viele Kulturen. Mindestens. 7139 bekannte Sprachen listet die Website www.ethnologue.com zurzeit auf: ein Kulturgut im Überfluss, sollte man meinen. Indes belegte die Unesco, die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur, dass  sich durchschnittlich alle zehn bis vierzehn Tage eine Sprache davonmacht, fast jede für immer. Eine Pandemie.

     Auf Neuguinea teilen sich nicht mehr als 3,5 Millionen Insulaner in sage und schreibe 850 Sprachgemeinschaften auf. Wer weiß, wie lange noch. Das nahegelegene Australien, so die Forscher der National University in Canberra, gehört zu den Gebieten mit dem größten Anteil an gefährdeten oder schlafenden Sprachen: Einst kannten die Ureinwohner 250 Idiome; dann kam die Kolonisierung. Besatzungssoldaten und Desperados, Missionare und Händler trieben den Indigenen ihre Sprachen aus, um ihnen die eigene aufzuzwingen. Heute lassen sich nur mehr vierzig Idiome finden, und lediglich ein Dutzend geht noch von den Eltern auf die Kinder über. Auch andernorts sind namentlich indigene Völker betroffen. Um in einer bis in hintere Winkel globalisierten Welt den Nachkommen den Weg in die Zukunft zu ebnen, werten die Erwachsenen im familiären Gespräch die Muttersprache vorsätzlich zur Zweit- und Fremdsprache ab. Am fatalsten trifft es Ethnien, die keine Schrift kennen. Den absehbaren sang- und klanglosen Hinschied von neun Zehnteln aller Sprachen sagen die pessimistischsten Fachleute voraus: Denn neun Zehntel werden gerade mal von jeweils fünftausend oder noch weniger Menschen gesprochen.

     Umgekehrt verbreitete sich nie zuvor eine Sprache so flächendeckend über so viele Teile der Staatengemeinschaft wie seit hundert Jahren das Englische. Sein Vormarsch gehört zu den Symptomen der Globalisierung, wie umgekehrt das grassierende Sprachensterben dazugehört. Berechnungen der Unesco zufolge parlieren 97 Prozent der Menschen in nicht mehr als vier Prozent der Sprachen, die meisten im Mandarin der Chinesen, bei denen es die Masse macht. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Spanisch und Englisch. Gerade in den digitalen Netzwerken dient Angloamerikanisch erdumspannend als Informationsträger für Politik, Handel und Verkehr, für Kommunikation und Unterhaltung. Für den landläufigen Austausch von Alltäglichkeiten genügen schon rudimentäre Englischkenntnisse. Wo aber ein halb geradebrechtes Pidgin zur lingua franca aufsteigt, verliert zugleich Englisch als Kultursprache an jener Genauigkeit, die unerlässlich ist, um die Dinge der Welt, die Umstände des Lebens gebührend abzubilden.

Mordopfer Minderheiten-Sprache

Auch Mordanschläge werden verübt und gelingen nicht selten: die vorsätzliche Ausmerzung. Autokratische Regime, wie sie gegenwärtig auch in und um Europa wieder erstarken, berauben Minderheiten, von denen sie sich in ihrer Alleinherrschaft bedroht fühlen, gern ihrer besonderen Sprachen oder sprachlichen Besonderheiten. Wenn sich eine Volksgruppe durch ihr eigenes, selbstbewusst gepflegtes Idiom merklich vom großen nationalen Ganzen absondert, droht sie ihm mit Zersetzung und Zerfall. Wo umgekehrt eine Sprache stirbt, verliert eine Gemeinschaft ihre spezifischen Erinnerungen und Kenntnisse, ererbten Denkweisen und Normensysteme. Sie verliert ihr Eigenes: die Identität. Den Diktatoren kann das nur recht sein; sie erkennen ein Instrument darin und gebrauchen es.

     Freilich lässt sich eine Sprache sui generis nicht immer leicht vom bloßen Dialekt unterscheiden, der nachweislich von ihr abstammt und mithin ihr wesenhaft angehört. So fließen die Grenzen zwischen dem standardisierten Hochdeutsch und regionalen Spielarten wie dem Bairischen oder Sächsischen: Zwar klingen sie durchaus eigen, vielfach explizit anders, gleichwohl hängen sie weitgehend am gemeinsamen Grundgerüst fest.

     Wenn „am Anfang das Wort“ war – welches Wort war das dann wohl? Englischen Archäolinguisten zufolge stand wohl die verbale Selbstbehauptung durch ein autonomes „Ich“ am Beginn der Kommunikation, welchen Laut die vorgeschichtlichen Urururahnen auch immer dafür ausgestoßen haben mögen: eines der Wörter, die nie vergehen. Andere lösten sich längst in Luft und Vergessen auf, viele, weil die Dinge, die sie bezeichneten, im Alltagsleben schlicht nicht mehr vorkommen. Das Deutsche, auf der Liste der am häufigsten gebrauchten Sprachen (je nach Quelle) auf Platz elf oder zwölf und wohl noch lange nicht in seiner Existenz bedroht, kennt etliche Begriffe, die es verdient hätten, auch ohne unverzichtbaren Nutzen im kollektiven Gedächtnis bewahrt zu werden, allein um ihrer Schönheit willen. Siebensachen wie die Galanteriewaren sind darunter, der Muckefuck oder die Liebestöter … Um ein Haar wäre auf jenem Wörterfriedhof auch das Telegramm gelandet, gäbe es nicht inzwischen eine berüchtigte Massaging-App (fast) desselben Namens. Musikalische Sprecher – solche, die in der Lage sind, dem Klang und Rhythmus eines Wortes Genuss abzugewinnen – wissen den Dreikäsehoch oder den Mumpitz zu schätzen und lassen ebenso die Unbotmäßigkeit und andere rhetorische Lustbarkeiten nur ungern ziehen.

     Als Labsal dürfen derlei Wörter gelten, als Antiquitäten, zugegeben, was sie freilich nur kostbar, keineswegs zu wertlosen Überbleibseln macht. Weil aber das oft arg pragmatisch parlierende Gros der Deutschsprechenden taub wird für die Poesie, die aus ihnen tönt, sortieren sie den bunten Schatz solcher Vokabeln aus ihrer Muttersprache aus, die sie überhaupt nach Kräften strapazieren. Man könnte sagen: Sie treiben viel Schindluder mit ihr. Doch auch dieses Wort wird, wie „Schrippe“ oder „knorke“, demnächst voraussichtlich verschwunden sein.