Wer muss, der muss
„Klo & Co.“: In Selb-Plößberg zeigt das Porzellanikon „Sanitärkeramik vom Plumpsklo bis zu Hightech-Toilette“. Überraschungsreich nimmt sich ein Bildband desselben Themas an. Die Gelegenheit ist also günstig, ohne allzu heftige Tabubrüche ein paar Blicke in die Geschichte der Defäkation zu werfen.
Von Michael Thumser
Selb, 23. September – Als vor gut drei Jahren die Corona-Pandemie über die Welt hereinbrach und unser öffentliches Leben weitgehend lahmlegte, da horteten die beunruhigten Franzosen vor allem Rotwein und Kondome, wir Deutschen hingegen, deutlich panischer, Nudeln und – Toilettenpapier. Was damals für einen internationalen Lacher gut wahr, verweist am ernsten Ende auf die anthropologische Konstante eines Grundbedürfnisses, das in Ausnahmesituationen nach besonderer Vorsorge verlangt: Nichts muss – wie die Redensart ganz richtig feststellt – der Mensch wirklich, „außer sterben und pinkeln“. Wir alle müssen. So dringend nötig wie der Schlaf ist uns der regelmäßige Gang zur Toilette, auf der wir, je nach Statistik, binnen siebzig, achtzig stubenreiner Lebensjahre mindestens anderthalb bis zwei Jahre zubringen. Was liegen bleibt und weggespült wird, das ist Schmutz; der entleerende Vorgang als solcher indes besticht als absolut saubere Sache. Verfügt doch ein gesunder Körper über ein perfektes und komplexes, chemisch und mechanisch ungemein leistungsfähiges System zur Selbstreinigung, das ganz von selbst funktioniert. Dagegen ist für die gründliche Außenpflege der beteiligten Körperregionen unsere bewusste Sorgfalt nötig.
Nicht zuletzt am Entwicklungsgrad der Toilettentechnik lesen wir die Höhenstufe unserer Zivilisation ab. Kulturnationen haben die Entäußerung nicht nutzbarer, teils stark schadstoffhaltiger Restsubstanzen des menschlichen Stoffwechsels dem Blick der Allgemeinheit entzogen, fast ebenso gründlich wie den Vorgang realen Sterbens. Im Kino und Fernsehen dürfen wir tagtäglich nackte Paare beim Liebesspiel beobachten und tun es längst so gleichgültig, dass jeder Vorwurf schmierigen Voyeurismus schon im Keim ersticken müsste; hingegen wird uns die Entleerung einer Blase nur vereinzelt und die eines Darms so gut wie niemals televisionär oder cineastisch zugemutet. Fäkalien bleiben ein Tabu: Als Stoff zur Pointe gehören sie ins Reich der abstoßenden Zote; das moderne Leben in Häusern und Städten lässt sie in Rohrleitungen, Kanalisationen, abseitigen Klärbecken verschwinden; und Gespräche über Verdauungs- oder urologische Probleme führt der salonfähige Zeitgenosse so, als ob er von einem Schicksalsschlag berichtete - und überhaupt am besten nur mit einem diskreten Mediziner seines Vertrauens.
In Selb-Plößberg aber nimmt man zur Abwechslung mal kein Blatt vor den Mund. Dort rückt die Ausstellung „Klo & Co.“ viel Historisches, Gegenwärtiges und Futuristisches über „Sanitärkeramik vom Plumpsklo bis zur Hightech-Toilette“ vor die Augen und bringt dabei so manches delikate, unterhaltsam überraschende oder unbedingt wissenswerte Detail aus der Welt des Defäkierens und Wasserlassens zur Sprache. Was ohne falsche Scham geschieht; was sollte die auch? Babys, die nie unverschämt, aber immer schamlos sind, finden keineswegs, dass schlecht rieche, was ihre Südhälften Tag für Tag verausgaben. Im Gegenteil: Wohl alle Eltern, anfangs schockiert, erfahren ziemlich früh, dass ihr liebes Kleines ein freundliches, wenn nicht gar kreatives Verhältnis zu seinen von Stoff- oder Einwegwindeln aufgefangenen Ausscheidungen pflegt. Erst Mama und Papa belehren den Nachwuchs, dass „Stinker“ und „Pipi“ in einem zivilisierten Menschenleben als unziemlich und darum als „bäh“ zu gelten haben. Wer jene Prägung, eine der frühen, folgenreichsten und dauerhaftesten, anthropologisch betrachtet, kann bei genauerem Nachdenken nicht anders, als sie für ziemlich kindisch zu halten. Joana Mylek, die Kuratorin der Selber Schau, und ihre Mitarbeitenden haben genauer nachgedacht. Im attraktiv gestalteten Ausstellungsraum mit seinen sinnvoll genutzten Nischen und „stillen Örtchen“ illustrieren sie so anschaulich wie überzeugend, dass wir ruhig für eine Selbstverständlichkeit halten dürfen, was eine Lebensnotwendigkeit ist.
Wenn wir mal „austreten“ müssen, verlassen wir den Kreis der anderen, um unser „Geschäft zu verrichten“. Vielleicht sagt man so, weil man sich auf dem Lokus mit sich ganz allein beschäftigt, strebsam, wenn auch nach Möglichkeit isoliert und in aller Ruhe. Locus bedeutet schlicht Ort und kommt aus dem Lateinischen. Die antiken Römer hatten für ihre öffentlichen latrinae ein ausgeklügeltes Entwässerungssystem ersonnen. In ihrer Metropole und den größeren Städten des Imperiums diente das Örtchen – gegen Eintrittsgeld – als Ort nutzbringender Geselligkeit, wo die Männer, während sie das Abdomen tun ließen, was ihm guttat, Handel trieben, Vereinbarungen schlossen, Informationen und Gerüchte tauschten. Gut vorstellbar, dass die leiblich erfahrene Entspannung auch die wirtschaftlichen Kontakte entkrampfte. Deutlich simpler ging es auf den Straßen zu: Dort luden Amphoren den Bedrängten zum Wasserlassen ein; den Inhalt, nach einer Zeit der Lagerung, konnten Gerber und Wäscher gut gebrauchen. Dem Kaiser Vespasian fiel ein, auf den gesammelten Urin eine Steuer zu erheben – was seinem Sohn Titus empörend in die Nase stach. Doch der gerissene Papa hieß ihn an einer Münze schnuppern. Non olet, es stinkt nicht, lautete, schwerlich widerlegbar, sein Gegenargument. Als geflügeltes Wort tönt es seither durch Welt und Zeiten: In Frankreich heißt eine spezielle Spielart des Urinals Vespasienne.
Erst das Leben in größeren Siedlungen veranlasste die Gemeinschaft, sich über ihre Exkremente infrastrukturelle Gedanken zu machen. Also mussten, sobald aus Individuen und Sippen sich Verbände bildeten, Planer und Architekten tätig werden. An den vortrefflichen Vorbildern altrömischer Lebenskunst wollten sich die Menschen des weniger finsteren als stinkenden Mittelalters nicht orientieren. Vielerorts war frische Luft, erst recht Hygiene Mangelware, schon darum, weil die Menschen, beinah wie die Tiere, unter sich ließen, wo sie gingen und standen; am unschädlichsten noch von Festungserkern herab in den Burggraben oder auf Misthaufen, von denen es auch in Weilern, Dörfern, Städten viele gab. Oder sie verrichteten, als unbehelligte „Wildpinkler“, ihre Notdurft einfach auf Straßen und Gassen, die darum ein widerwärtiger, von Krankheitserregern tödlich durchseuchter Schlamm knöcheltief bedeckte. Noch im Zeitalter achtspuriger Autobahnen mit Flüsterasphalt erinnert das Wort Kotflügel an jene jahrhundertelang anhaltenden Missstände.
2000 Räume und 1 Klo
Vornehmlich zur Aufnahme des nächtlichen Geschäfts diente der Nachttopf, von denen das Selber Museum Exemplare aus Steingut und Porzellan, Blech und Glas, von mancherlei Format und in unterschiedlicher Gestalt aufbietet. Ohne viel Federlesens ließ sich solches „Nachtgeschirr“ aus dem Fenster entleeren. Dem wasserumwallten Inselreich der Briten verdankt sich die doppelte (Wieder-)Erfindung des Wasserklosetts. 1596 fertigte Sir John Harrington für seine hochverehrte Königin Elizabeth I. einen Abtritt mit Wasserkasten und einem Ventil, durch das sich das Abflussrohr verschloss – und musste erleben, dass der ingeniöse Einfall ihn bei seinesgleichen unmöglich machte. Bis 1775 Alexander Cummings sein water closet – mit Siphon als Geruchsverschluss – patentieren ließ, errichtete der französische Sonnenkönig Louis XIV. in Versailles eines der weitläufigsten Schlösser der Welt, dessen Baumeister allerdings zwischen zweitausend Räumen (einschließlich Kapelle und Theater) nur einen einzigen regelrechten Lokus für nötig hielten. Mithin verbreiteten sich die Hinterlassenschaften des Hofstaats und der Festgesellschaften zwischen den Gewächsen des angrenzenden Parks, und zwar so aufdringlich, dass ein Besucher notierte, ihm sei „beim Geruch der Gärten übel“ geworden.
Wie Selb demonstriert, erleichterten „Kack-“ und gepolsterte „Leibstühle“, Reisetoiletten und -bidets den Menschen, die sichs leisten konnten, die Erleichterung auch unterwegs. Im Porzellanikon prangt mit anmutiger Schwungform und preziösem Farbdekor die Nachbildung eines Bidets, in dem einst die österreichische Kaiserin Elisabeth alias Sisi den royalen Unterleib badend reinigte. Für die große Allgemeinheit in Europa standen seit dem vierzehnten Jahrhundert vereinzelt, seit der Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert vermehrt öffentliche Abtritte zur Verfügung. Die gabs übrigens, rastlos beweglich, obendrein in Menschengestalt: Wer, zum Beispiel in Wien, auf der Straße unter Druck geriet, wandte sich an den „Abtrittanbieter“; der öffnete seinen weiten Umhang, wo der Kunde einen Bottich vorfand, in den er sich, vom Mantel des wenig frisch duftenden Dienstleisters verborgen, entleeren konnte. Dazu passt, dass der Begriff Toilette von französisch toile, Tuch, herrührt: In diesem Fall, könnte man meinen, bezeichnet es einen Schleier der Verschwiegenheit.
Dazu schaut, was gegenwärtig in Japan als Standard gilt, aus wie das genaue Gegenteil: Dort empfehlen Spezialanbieter für den höchstpersönlichen Lebensbereich im Eigenheim oder hochklassigen Hotel Hightech-Toiletten mit Musik und Fernbedienung, die den verwöhnten Popo massieren, mit temperiertem Wasser besprengen, mit Warmluft föhnen … – die animalische Ursituation der Ausscheidung im Zeichen grenzenloser Machbarkeit wider alle Vernunft. In Selb lässt ein Wandtext wissen, dass derlei Luxus- oder Lustobjekte sich in kaum glaublichen siebzig Prozent der japanischen Haushalte finden – hierzulande in gerade mal drei Prozent –, wobei die Erfindung ursprünglich aus der notorisch reinlichen Schweiz stammt. Wohl jedem redlichen Mitteleuropäer schlägt da – nicht nur am „Welttoilettentag“ jährlich am 19. November – das Gewissen: Im Jahr 2000 mussten sich etwa 1,3 Milliarden Menschen, 21 Prozent der damaligen Erdbevölkerung, ohne jede sanitäre Einrichtung behelfen; ein skandalöser Zustand, der sich während der vergangenen zwei Jahrzehnte zum Glück deutlich und erfreulich besserte: Der jüngsten Statistik der Weltgesundheitsorganisation zufolge wird heutzutage noch von knapp einer halben Milliarde Menschen (sechs Prozent) „offene Defäkation praktiziert“. In der Ausstellung zeigen Fotos hier festgefügte, dort roh zusammengezimmerte Klohäuschen, -büdchen, -hüttchen in der mongolischen Wüste, auf Chinas Seidenstraße, über einem Stück Meeresküste vor Papua-Neuguinea.
Just an einem 19. November kam Arnaud Goumand zur Welt, der es, eigenem Bekunden zufolge, für gut möglich hält, eben darum für ein Buch zur „Kulturgeschichte der Toiletten“ prädestiniert zu sein. Auf 220 Seiten rückt er „Stille Örtchen“ ins rechte Licht, vor allem als „Kuriositäten-Kabinette“; und nicht zuletzt als „Objekte der schönen Künste“. Zum Beispiel kann man einem Herrn zusehen, der sich anschickt, ein Urinal im „Bell Inn Restaurant“ im englischen Tucehurst zu benutzen: Es hat die Form einer Tuba, mit dem aufnahmebereiten Trichter nach oben. Und natürlich kommt im Buch das erste ready-made der Kunstgeschichte vor, „Fountain“, jenes Pinkelbecken, das Marcel Duchamp 1917 um neunzig Grad kippte, um es zum (wasserlosen) „Brunnen“ umzuwidmen. Löblicherweise wendet sich Goumand – ebenso wie das Selber Museum – nebenbei auch dem Toilettenpapier zu, jenem „grundlegenden Bedarfsgut“, das unmittelbar nach Ausrufung der Corona-Krise die Deutschen horteten, als gäbe es kein Morgen.
Dabei vergessen wir gern, dass dies unabdingbare Hilfsmittel in der langen Weltgeschichte des Klos sozusagen vorgestern in Erscheinung trat: Als Fabrikerzeugnis kam es 1857 in New York erstmals auf den Markt, zunächst, mit Aloe getränkt, in Päckchen, 1890 auf Rollen und perforiert. Erst in den 1970er-Jahren begannen Produkte aus weichem Zellstoff die bisher peinvoll kratzenden Vorläufer abzulösen. Und doch gingen von da an noch einmal über vierzig Jahre ins Land, bevor China seine „Toiletten-Revolution“ ausrief: Ab 2015 ließ der Staats- und Parteichef höchstpersönlich über hunderttausend öffentliche Toiletten im Riesenreich neu installieren oder modernisieren, vor allem in Touristengebieten und auf dem Land. Dabei steht die Kampagne einer maßgeblichen Absicht der Politik Xi Jinpings direkt entgegen: Ob als Abtritt ohne Trennwand und Papier, ob als zeitgemäß modernes und sauberes Örtchen, so oder so gehört die Bedürfnisanstalt zu den letzten Orten, an denen die Obrigkeit der Bevölkerung nicht überwachsam überwachend auf den Fersen sein kann – und die darum im Ruch stehen, Brutstätten von Dissidententum und Widerstand zu sein.
Eine zweischneidige Revolution mithin, und eine von oben wohlgemerkt, wenn sie auch beinah 1,4 Milliarden Menschen gleichsam ‚untenrum‘ betrifft. Während sich China solcherart mühsam an das westliche Normalniveau heranarbeitet, rauchen andernorts die siebengescheiten Köpfe der Erfinderinnen und Erfinder immer weiter: Im April trafen sich im schweizerischen Genf achthundert Aussteller zu einer Messe, von denen etliche danach trachten, unseren Leibern noch angenehmer und unverfänglicher zur verdienten Druckfreiheit zu verhelfen. So zog ein Toilettenpapierhalter mit mattem Licht die Blicke auf sich, der beim Stuhl-Gang in nächtlichem Dunkel den zielgenauen Griff nach der rettenden Rolle vereinfacht. Aus Bayreuth kam Uwe Bezold, dem es nicht länger gefiel, nach Beendigung einer Sitzung im öffentlichen Raum die möglicherweise kontaminierte Klobürste anfassen zu müssen: Die von ihm erdachte, schlicht-elegante Vorrichtung namens „Cleanstem“ putzt, vor dem Zugriff, durch den Tritt auf eine Fußtaste den Bürstenschaft mit einem Desinfektionsmittel.
Anders als viele vermuten, bedrohen uns Krankheitserreger nicht meistenteils auf der Klobrille, sondern am Hahn des Waschbeckens und an der Türklinke. Als uns 2020 Corona überfiel, hofften wir, wenigstens isoliert in der Einzelzelle einer öffentlichen Toilette vor Ansteckung sicher zu sein. Doch wir irrten: Chinesische Forscher spürten bald der „urinbasierten Übertragung“ von Sars-CoV-2-Viren nach, die das Wasser der Spülung mitsamt allerlei anderen Keimen in winzigen Tröpfchen aus der Schüssel emporschleudert, bis zu einem Meter weit. Wirklich frisch ist die Luft auch im modernen Klo ja nie.
Porzellanikon – Staatliches Museum für Porzellan –, Selb, Werner-Schürer-Platz 1; bis zum 26. November, dienstags bis sonntags sowie feiertags von 10 bis 17 Uhr.