Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Der Liebes- ist ein Todestrank

Zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele versenkt Regisseur Þorleifur Örn Arnarsson die fast handlungslose „Handlung“ um „Tristan und Isolde“ tief in die Doppel-Biografie des Titelheldenpaars. An seiner Deutung scheiden sich die Geister, während Semyon Bychkov als Dirigent triumphiert.

Camilla Nylund im beschrifteten Riesenkleid mit Christa Mayer als Brangäne: Erinnerung, Trauer, Rachedurst. (Fotos: Festspiele/Enrico Nawrath)


Von Michael Thumser

Bayreuth, 27. Juli – Langsam, sehr langsam schiebt sich Semyon Bychkov mit dem Festspiel-Orchester in Richard Wagners „Handlung“ hinein. Nicht, dass das Vorspiel auf der Stelle träte; aber ausdrücklich schleichend füllt es Takt um Takt, absichtsvoll allmählich setzt es Schritt vor Schritt. Gemessen, sehr gemessen drängt der Dirigent die Geschichte in die Gegenwart.

     Denn genau genommen spielt der erzählbare Hauptteil von „Tristan und Isolde“ in der Vergangenheit; darauf hat sich Þorleifur Örn Arnarsson bei seiner Neuinszenierung konzentriert. Nicht nur bei Wagner, auch bei dessen Stofflieferanten Gottfried von Straßburg las der 46-jährige Regisseur gründlich nach. Ebenso genau lässt er das Titelheldenpaar ergründen, wie es dazu kam, dass sie nun, auf Bayreuths Grünem Hügel, fast vier Festspiel-Stunden lang nichts anderes tun als einander in letzter Liebe zu verfallen und in Schönheit zu sterben. Denn mag der Dichterkomponist sein Werk auch schlicht als „Handlung“ untertitelt haben, so durfte sich doch bei der Eröffnung des Festival-Sommers am Donnerstag auf der Bühne nicht viel abspielen. Das Jetzt stagniert, aber „was bisher geschah“, wie man so sagt, wirkt Note für Note hinein.

Der Stoff des Lebens

Was geschah denn? Tristan hatte Isoldes Verlobten ermordet und sich, dabei seinerseits verwundet, von ihr heilen lassen, ohne zu durchschauen, wer sie war. Nun soll er sie als Brautwerber zu Schiff seinem alternden König Marke zuführen. Verständlicherweise bringt das ihr Blut doppelt zum Kochen, nicht vor Begehren zunächst, vielmehr vor unversöhnlicher Wut. Eifrig schreibt sie, nein: besessen. Im ersten Aufzug – auf einem Schiffsdeck, das Vytautas Narbutas’ mit sehenswertem Einfallsreichtum bebaute Bühne lediglich durch lange, steile Taue einer Takelage andeutet – kauert sie inmitten eines riesigen kreisrunden Kleids und füllt seinen Stoff kreuz und quer mit dem Stoff ihres bisherigen Lebens: mit Erinnerung und Trauer, mit dem Gefühl, verraten zu sein, mit Rachedurst. Wenn sich hier der weniger tragische als traurige Held Tristan des tenoralen Kraftmeiers Andreas Schager und Camilla Nylunds bis zur Obsession von Gram und Zorn getriebene Isolde zögerlich begegnen, dehnt sich in langen Darlegungen das Gestern um sie aus wie das Rund des Kleides und findet in ein Heute der seelischen und erotischen Raserei, das keine Aussicht auf ein Morgen hat. Ummantelt sind die beiden von einer schwarzen Nacht aus eros und thanatos, in die blendendes Licht nur einfällt, wenn die Außenwelt sich ihren inneren Dialogen störend aufdrängt.

Günther Groissböck als König Marke im Schiffsrumpf: Ein übrig gebliebenes Sammelsurium der Geschichte.

     Erst vor zwei Jahren brachten die Festspiele einen von Roland Schwab durch und durch gediegen inszenierten „Tristan“ heraus; so wenig Zeit ist seither verstrichen, dass im Vergleich Arnarssons aktuelle Version nicht eben überragend abschneidet. So schwer tat sich der Isländer mit der expliziten Ereignislosigkeit der Bühnen-„Handlung“, dass er es gleich ganz bei standbildhafter Statuarik beließ und seinen Darstellerinnen und Darstellern keine akribische Schauspielerei, nur gleichgültige oder bestenfalls ein paar symbolische Gänge und Gebärden abverlangte. Aber seine Grundidee erweist einige Belastbarkeit: Suggestiv löst Arnarsson das Gegenwärtige des Dramas auf in einem Früher, das der Wirklichkeit der Bühne unsicht- und unhörbar vorausgegangen ist.

     Den Raum dafür ließ er sich von Vytautas Narbutas anschaulich in reizvoll rätselhafter Zeichenhaftigkeit gestalten. Vom kaum angedeuteten Oberdeck des Seglers versenken sich die Szenerie und die in ihr reflektierte Zeit nach unten in den Rumpf des Schiffs, in einen rostig-ramponierten Maschinenraum, worin Museumsstücke von der antiken Büste bis zum Caspar-David-Friedrich-Gemälde durcheinanderliegen, im Wortsinn aus der Zeit gefallen: ein übrig gebliebenes Sammelsurium der Geschichte als schöner Krempel, Abraum, Müll. Denn hier gilt nur noch die persönliche Geschichte, das gemeinsame Gedächtnis der beiden Liebenden, wenn sie mit herz- und ohrenzerreißendem, stimmbandzerfetzendem Gejauchze die „Nacht der Liebe“ auf sich herabbeschwören. In deren Zauber versenken sie sich nicht körperlich ineinander, aber mit Blicken, endlich wieder so tief wie (in der lediglich berichteten Vor-Geschichte) Isoldes allererster Blick in Tristans Augen. Durchs Schauen erkennen sie einander, im uneingeschränkten Doppelsinn, den das Alte Testament dem Wort verlieh.

In den Tiefen der Vision

Mit den sich fein austarierenden Musikerinnen und Musikern legt Semyon Bychkov, vom Premierenpublikum dröhnend gefeiert, derweil ein breites Differenzierungs-Netz der orchestralen Plastizität und Dunkelfarbigkeit, der Expression und vitalen wie klanglichen Dynamik aus, von der Piano-Pianissimo-Verschwiegenheit bis zur frenetischen Ekstase. Zwischen jenen Polen findet die klingende Bilder- und Beziehungsfülle der wagnerschen Tiefenpsychologie erhellend Platz. Da darf sich der (von der Hälfte der Premierengäste ausgebuhte) Regisseur auch kleine Überraschungscoups erlauben: So dient der Liebestrank, den Brangäne mischt, diesmal wirklich als ein Todestrank. Die eine Hälfte des Fläschchens stürzt Tristan im zweiten Aufzug hinunter, die andere trinkt Isolde im dritten, karg umstanden von den Resten des Schiffs, das sich inzwischen zu den gestrandeten Trümmern eines Wracks zersetzte.

Andreas Schager als Tristan mit Ólafur Sigurðsson als Kurwenal (rechts): Eine Dreiviertelstunde lang "Fiebermonologe" eines Sterbenden.

     Hier stirbt Tristan einsam, gebettet in letzte Relikte des historischen Gerümpels. Aus der Horizontalen des Erzählbaren hat die Regie die „Handlung“ wie durch einen Trichter vollends in die vertikale Tiefe der Vision zurückbefördert. Und Tristan stirbt ausdauernd: Andreas Schager, dessen singulär kraftvoller und bewundernswert ausdauernder Tenor bis dahin namentlich stattliche Einzeltöne, indes nur eine Handvoll ausgespannter Linien entwickelt hat, findet in den moribunden „Fiebermonologen“ endlich zu einer Intensität der Gestaltung – und der Gestik –, die jeden Begriff von Zeit, Verlauf und Dauer ignoriert, um nur noch den Augenblick zu imaginieren. Eine Dreiviertelstunde lang bricht Tristans Lebenskraft, und Schagers Stimme bricht mit ihr, wenngleich nicht einmal unpassend. Zwei Aufzüge lang sang er sich, bei nicht immer eindeutiger Intonation, schier um Kopf und Kragen, nun treibt er sich endgültig an seine Grenzen und darüber hinaus, zu Sprechgesang und Geschrei sogar; dennoch findet er dabei zu seinen gesanglich geschlossensten, überwältigendsten Momenten.

Am Schlafittchen

Bei ihm hält nur der treue Recke Kurwenal im ruinösen Elend aus: Ólafur Sigurðsson, isländischer Landsmann des Regisseurs, als alter Kämpe breitbeinig mit bärbeißigem, aber haargenauem Bariton, dessen Unverwüstlichkeit selbst den Bass des gramgebeugten Königs Marke (Günther Groissböck) in den Schatten stellt. Für eine Nebenrolle wird die Partie bei ihm wohl niemand halten. Erst recht wächst Christa Mayers begeisternde Brangäne weit über die Position eines Sidekicks für Isolde hinaus: Vor Gefahr und Unheil mit warmer Wehmut warnend, bewährt sie sich mit ihrem inständigen Mezzo im Festspielhaus auch heuer – wie schon in sechs Spielzeiten seit 2015 – als leidenschaftlich-mitleidende Mahnerin. Neben ihr als besonnenem Gegenbild äußert sich die Bitterkeit Isoldes immerhin stimmlich umso dramatischer: Den wackeren Kurwenal packt Camilla Nylund am Schlafittchen und zwingt ihn in die morschen Knie; und sogar Tristan bekommt von ihr eine gelangt. Die Hingebung der fabelhaften finnische Sopranistin kann also überraschend handgreiflich aussehen, nur darf auch sie, so wie die anderen, kaum handeln. Darum legt sie all ihre emotionale Gewalt und Empfindsamkeit, das Zornige und das Zärtliche, die gerade in Arnarssons Deutung heftig miteinander streiten, die Schmach und den Schmelz der Seele in ihre Stimme, die im hinreißenden Schlussgesang zu ihrer Apotheose gelangt.

     Trotzdem vielleicht keine der sogenannten ‚ganz großen‘ Stimmen: zumindest nicht in diesem Haus, schon gar nicht neben einem Titanen des Testosterons wie Andreas Schager. Aber gerade dadurch fallen Nylunds sorgsam abgetönte Farben, ihre Anziehungskräfte und abstoßenden Affekte aufs Zwingendste ins Gewicht. Immer ihrer selbst bewusst agiert ihre Isolde, klar im Innern und nach außen: so wild wie schwermütig entschlossen zu Vergeltung, Liebe, Liebestod. Herrscherin über sich selbst ist sie, eine über die Männer in Wagners „Handlung“, eine über jede musikalische Situation des Musikdramas und über alle Szenen der Produktion. In diesem Bayreuth-Sommer könnte Wagners Oper kurz „Isolde“ heißen.

■ Die Bayreuther Festspiele im Internet: hier lang.



Gesprengte Ketten
Spontaner stehender Beifall im Theater Hof für die Weltpremiere einer zeitgenössischen Oper: Das Mysterienspiel „Dante“ des Iren Patrick Cassidy dauert nicht lang und bleibt durchweg tonal. Mit der eindrucksvollen Regiearbeit verabschiedet sich Reinhardt Friese als Intendant.

Stefanie Rhaue als Vergil, Minseok Kim als Dante mit dem Opernchor und dem Ballett: Die Bühne von einer kolossalen Kette durchgestrichen oder eingekerkert. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 18. Juni – Es gibt die Liebe auf den ersten Blick, und sie kann für ein ganzes Leben reichen. Und auch die Liebe auf den ersten und einzigen Blick soll es geben: Die dauert dann, zumindest im Märchen und in der Dichtung, über den Tod hinaus. Bei Dante Alighieri führt sie in den Tod hinein, in die Unterwelt. Nur ein Mal erblickt Italiens schwergewichtigster, hochmittelalterlicher Poet die ätherische Beatrice, bevor sie, in der schönsten Blüte ihrer Jugend, wie ein Hauch vergeht. In der „Göttlichen Komödie“, seinem monumentalen Hauptwerk, verzehrt er sich fortan in einer Trauer, für die es keinen Trost auf Erden gibt. Auf der kann ihn ohnehin nichts halten. Denn obendrein schlug er sich im Machtkampf zwischen Papst und Kaiser auf die falsche Seite und muss nun, zum Tod verurteilt, aus Florenz, der Vaterstadt, entfliehen. Dem Revenant eines längst verblichenen Kollegen vertraut er sich an, dem Großepiker Vergil aus dem alten Rom, der sich bereit erklärt, ihn durch die Hölle in den Himmel zu geleiten, „from Inferno to Paradise“.

     So lautet der Untertitel der Oper „Dante“, mit der sich Patrick Cassidy, die Riesendichtung seines Titelhelden fürs kurze Textbuch ausbeutend, zehn Jahre lang auseinandersetzte, bevor das Theater Hof ihr jetzt die Weltpremiere ausrichtete. Eingeladen hat den Komponisten – den das Programmheft als den bedeutendsten Irlands apostrophiert – der scheidende Intendant Reinhardt Friese, der mit der außergewöhnlichen Produktion seine letzte Hofer Regiearbeit im Amt vorlegt. Für beide ein schöner Erfolg: Unmittelbar nach den letzten Klängen erhob sich am Samstag das komplette Premierenpublikum spontan, um seinen Applaus im Stehen abzustatten. Und wirklich, mit beifallswürdigen Schauwerten geizt die Aufführung nicht; kommt hinzu, dass sie es, der Extravaganz des Stoffes ungeachtet, den Zuhörenden nicht eben schwer macht: Nur anderthalb pausenlose Stunden dauert sie; und das Moderato der meist zeremoniell getragenen Musik, von den Symphonikern unter Ivo Hentschel mit erbaulichem Dunkel-Timbre sehr geduldig ausgebreitet, bewegt sich ausschließlich in den überschaubaren Grenzen der „Neuen Einfachheit“. Spätestens Mitte der 1970er-Jahre hat sich der Stil, eingängig in seiner verfremdungs- und verzerrungsfreien Tonalität, auch bei einem Publikum durchgesetzt, das vor den Zumutungen der Neuen Musik zurückzuschrecken pflegt.

Vergil ist eine Frau

Charon (Michał Rudziński) rudert Vergil und Dante über den Acheron: Höllisch-heilsgeschichtliche Halluzinationen.

An die hymnische Feierlichkeit der Klänge passte Reinhardt Friese Bildwelt und Spielweise an. Zum dramaturgischen Prinzip seines Meditationstheaters erhob er eine absichtsvolle Monotonie. Als Serie höllisch-heilsgeschichtlicher Halluzinationen reihen sich die Etappen einprägsam aneinander, in denen sich der Dante Minseok Kims mit einem in Sehnen und Verlassenheit, Erschrecken und Ergebung stets klaren, maßvoll emphatischen Tenor nach der verlorenen Seelenbraut verzehrt. In Gestalt einer Frau auch nimmt ihn Vergil bei der Hand: Stefanie Rhaue, am Stock gehend und weißhaarig wie ein greiser weiblicher Franz Liszt, traurigen Ernst in der gesenkten Stimme, als Reiseleiter gehandicapt und zielstrebig zugleich.

     Seite an Seite setzen sie über den Acheron in den Hades über; lassen sich die brünstige Ehebruchsgeschichte Francesca da Riminis erzählen; überwinden einen Fluss aus siedendem Tyrannenblut; schrecken vor einem verfluchten Fürsten zurück, der am abgeschlagenen Haupt seines Feindes nagt; entgehen Medusen und dem Teufel; gelangen endlich zum Purgatorium, dem Fegefeuer der zeitlichen Sündenstrafen und der Reue – zum Vorhof der Erlösung. Schließlich entlässt Vergil den Schützling vor der Flammenwand zum Paradies. In ihm müsste, der Vorlage folgend, Dante auf Kirchenväter, Heilige, Gott selbst gar stoßen. Das lässt die Oper aus. Beatrice aber, die im Diesseits entbehrte, im Tod gesuchte, erwartet ihn: im ewigen Leben.

Die Zeit hält an

Von vielerlei „zwischen Tod und Leben“, Himmel und Erde geht die Rede in den über vierzehntausend Versen der originalen Dichtung; aber zum dramatischen Event wollte der Komponist (dem beim Libretto der künftige Hofer Intendant, Lothar Krause, zur Hand ging) den Stoff in seiner Oper nicht verflachen. Als Teile eines geistlichen Akts – im Programmheft spricht Friese zutreffend von „Mysterienspiel“ – stehen die Episoden wie in einem szenischen Oratorium für sich. Aus dem Off fasst eine Erzählerstimme (Volker Ringe) sie zusammen, in exaltierte Verzweiflungstänze überträgt sie das Ballett (Choreografie: Barbara Buser). Die Zeit hält an, als Station, als Bild.

     Dafür hat Ausstatterin Annette Mahlendorf, von Günter Schoberth und seinen schaurigen Masken sowie den hypnotischen Videoprojektionen Kristoffer Keudels profitierend, die Szenerie in die „schwarze Luft“ einer unterirdischen Nacht getaucht. Streng stilisierte Lichter dringen, gleißen, nebeln in ihr und durch sie hindurch, ohne dass der Tag je dämmern dürfte. Steil ragt eine Treppe empor, auf deren Stufen der Chor Platz nimmt, gehüllt in finsterfarbene Kutten, hinter knochenbleichen Totenmasken verborgen und mit den Marionetten kleiner Skelette in den Händen; durch Lucia Birzer akkurat vorbereitet und in seinem Zusammenklang sorgsam gepflegt, hinterlässt das Ensemble mit sibyllinischen Kundgebungen einen der machtvollsten Eindrücke des Abends, den unheimlichsten.

     Unheilvoll in die Farben Rot, Schwarz und Weiß hat der Regisseur das Spiel getaucht – das zumindest dem Wortsinn nach keins ist: Die Figuren handeln nicht, sondern treten mit symbolischen Gängen zueinander, erstarren zu Skulpturen, kommunizieren mit kargen Gebärden, die Zeichen sind. Wiederholt auch laufen sie quer durchs Bild, gelegentlich mit der unfreiwilligen Komik allzu plakativer Überzeichnung, wie etwa die Karikatur eines Papstes, der sich an einem Sarg voller Goldmünzen abschleppt.

Die Frau in Rot

Inga Lisa Lehr als Beatrice: Erhabener, weil von Beginn an unirdischer Sopran.

Inga Lisa Lehr, eine Beatrice mit erhabenem, weil von Beginn an unirdischem Sopran, gerät zunächst als Frau in Rot in Dantes Blick, doch nur, um ihn zu verlassen; in derselben Farbe, jener der Liebe, vereint sie sich am Schluss mit ihm. Doch freilich ist dies Rot auch jenes der Höllenglut und des Blutes. Fast schleimig klebt es an den Gliedern einer kolossalen Kette, die sich staunenswert auf die Bühne senkt, wie um sie durchzustreichen oder einzukerkern. In expressiver Verbissenheit zerren Tänzerinnen und Tänzer als Sünder an Ketten, die endlos hoch in den Schnürboden reichen. Erlösung ist indes nicht fern: Im Purgatorium baumeln Fesseln gesprengt von schuldig gewordenen Händen, und Engel, durch flauschige Flügel als solche überdeutlich ausgewiesen, verkünden in Seligpreisungen, dass der „Läuterungsberg“ des Fegefeuers für die Halbbefreiten schon eine Himmelsgegend ist.

     Kein Gottesdienst wie Richard Wagners „Parsifal“ – erst recht kein knalliges Höllenspektakel: Regisseur Friese wusste um die Risiken, die er einging, als er, durchaus mit drastischen Mitteln, nach dem Transzendenten griff. Auf bunte Jahrmarktseffekte ließ er sich darum nicht ein, die Banalitäten bekehrenden Bibel-Theaters erspart er den Betrachtenden ebenso wie den geschmacksverirrten Sakralkitsch gekünstelter „Bühnenweihe“. Sein Theater der Sinne spielt mit dem Übersinnlichen, indem es das Wahnbild wagt, erzählt eine Heilsgeschichte, eine aber, die im Albtraum entspringt. Dass Dantes „Göttliche Komödie“ nichts Heiteres enthält, das einen zum Lachen brächte, verleugnet er so wenig wie die Oper es tut: „Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren“, rät, bedrohlich zuckend, eine rote Schrift am Bühnenprospekt. Von der Tragödie unterscheidet sich der Stoff trotzdem, weil sein Ursprung zwar im Unglück liegt, aber von einer Liebe erzählt, die sich auf den ersten und einzigen Blick im Himmel erfüllt. Eine Komödie? Womöglich doch: Sie geht gut aus.

■ Gesungen wird auf Italienisch mit Übersetzungen in deutschen Übertiteln.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Das Glück ist kein Keks
Im Vogtlandtheater geht ein netter Junge vor die Hunde – aber eine Tragödie wird aus der Geschichte darum noch lange nicht. Ein spielfreudiges Ensemble verwandelt Igor Strawinskys neoklassizistische Oper „The Rake’s Progress“ in eine Satire, veredelt durch einen Beigeschmack von schönem Ernst.

Ann bei Baba (Jennifer Zein, Vera Semieniuk, stehend, mit dem Opernchor und, hinten oben, dem Auktionator): Jahrmarktsattraktion mit attackierender Sinnlichkeit. (Fotos: André Leischner)


Von Michael Thumser

Plauen, 16. Mai – Als Tom den Glückskeks knackt, den der Teufel ihm vor einer Pyramide aus Huren und Herumtreibern gereicht hat: Was wohl liest er auf dem Zettelchen? Dass dem Glücklichen keine Stunde schlägt? Dass er am besten im Lande bleibt und sich redlich nährt? Dass der Ursprung des Glücks in einem selbst liegt? Dass das Glück zerbrechlich ist wie ein Keks?

     In Plauen erzählt seit Samstag das Vogtlandtheater von einem netten Jungen, der glücklich sein könnte und dem das nicht reicht. Rakewell heißt er, Tom Rakewell, und schon sein Nachname, frei übersetzt, spielt darauf an, dass nicht viel Gutes von ihm zu erwarten ist. Als ganz schön schlimmer Finger entpuppt er sich zweieinhalb Stunden lang, während ihn – in Horst Kupichs spielerisch leichter, poetisch persiflierender Inszenierung – ein ungemein agiles Ensemble auf „The Rake’s Progress“, auf der Karriere eines Wüstlings, flankiert. Nach unten, versteht sich, führt seine Laufbahn in der sarkastischen Oper, der einzig abendfüllenden in Igor Strawinskys Schaffen. Im Kleingehäuse einer Schäferszene demonstriert der Regisseur am idyllischen Beginn, dass es Tom eigentlich recht schön hat: Auf dem Lande hüllt ihn seine Braut Ann Trulove in die Unschuld ihrer warmen Zuneigung. Gleichwohl drängts den Taugenichts, aus der wohnlichen, doch engen Zelle auszubrechen: „Der Himmel ist klar, und alles ist möglich.“ London, der Moloch Großstadt, lockt.

Laster, Lüge, Lotterleben

Tom und der Teufel (Wonjong Lee und Johannes Schwarz, links): Verlangen nach Glorie und Überfluss, Lustigkeit und Lust.

Rakewells Ruin ist Stoff für Satire, nicht für Seelenkunde. Vom Teufel, der sich elegant als Nick Shadow vorstellt, lässt er sich dorthin verführen, wo seine geheimen Wünsche wahr werden sollen. Nach Glorie und Überfluss, Lustigkeit und Lust verlangt es ihn, zu haben aber ist all das ausschließlich auf der schiefen Bahn. Ins Etablissement von Puffmutter Goose (in der Premiere: Jennifer Jennifer [sic]) verschlägt es ihn. Aufsehen verspricht er sich von der skandalträchtigen Verbindung mit Baba, der bärtigen Jahrmarktsattraktion: Vera Semieniuk als weibliche Conchita Wurst, ein Ausbund attackierender Sinnlichkeit in den von Ausstatter Stefan Wiel mit surrealer Fantastik trefflich komponierten Szenerien. Zum Geschäftemacher, Beutelschneider, Bankrotteur lässt sich Tom von Nick naiv verbiegen: In einer reißzahnscharfen Wundermaschine will er Steine, statt in China-Kekse, in britisches Brot verwandeln – mit Wein genießt es sein Gefolge, als wärs ein profaniertes Abendmahl. Wie Ramsch versteigert kurz darauf ein Auktionator (Marcus Sandmann als Kreuzung aus volksfestbuntem Zirkusdirektor und Horrorclown) Toms Hab und Gut, und der von Michael Konstantin wohlpräparierte Chor, Schnäbel an den Köpfen, stürzt sich diebisch wie ein Elsternschwarm darauf.

     Unter den umso sorgsamer abwägenden Händen des Dirigenten Paul Taubitz erweist Strawinskys Partitur bei all dem ihre vielschichtigen Reize. Nicht nur, dass die Clara-Schumann-Philharmonie die Klassizität des Musiktheaters aus Mozarts Zeiten ironisiert; überdies pflegt sie mit wandelbarer Artikulation und Koloristik deren stimmstützenden Qualitäten. Gern nämlich überlässt Taubitz den Primat der Bühne, wo Wonjong Lee als Rakewell sich mit frechem Tenor als koksender Lehrjunge des Lasters, der Lüge und des Lotterlebens fröhlich in den Abgrund manövriert. Sobald er doch noch umzukehren droht, lenkt ihn Johannes Schwarz auf den rechten, also falschen Kurs zurück: Sein Nick Shadow – mit einem Belcanto, schlank und schwarz und aalglatt wie sein Habitus – ist der Schatten, der überall dort nicht fehlt, wo etwas Helles ist.

Die wahre Liebe

Tom und Ann: Schäferszene in ländlicher Idylle.

An ihren Namen sollt ihr sie erkennen: Hell strahlt Ann Trulove, die Jungfrau der wahren Liebe, bei Jennifer Zein gar eine Lichtgestalt in reinem Unschuldsweiß, barfuß zudem. Doch ungeachtet der damit angedeuteten Verletzlichkeit verstrahlt der Sopran der Künstlerin bereits von Anfang an die selbstbewusste Kraft, die sich fortan in ihrem Kampf um Tom bestätigt. Der freilich schlingert auf seinem Irrweg haltlos unreif wie ein Bengel. Inmitten von Huren und Raufbolden betet er zu Ann wie zu seiner Heiligen, folgt dann aber trotzdem Goose, der Bordellière, willenlos-willig in ihr Sündenbett; und als Ann – die Grund für seine Gaunereien bei sich suchend – ihm nachreist, um ihn rettend ins gefahrlos-trauliche Zuhause heimzuholen, da offenbart der Maulheld, mit einem Mal zerbrochen wie das Glück, vor ihr seine Würdelosigkeit, das schwankende Charakterbild des Schaumschlägers und Gernegroß, der seinen verfaulten, einst guten Kern beklagt. Den Kampf verlieren beide: Am Ende, in einem Irrenhaus, lässt Ann den verendend Tom los, verlässt ihn, um sich selbst zu finden. So ist im Scherz und Charme der Satire durchaus ein Quantum Schmerz und schöner Ernst zu spüren.

     Am „Todesort“ des Narrenasyls singt Ann „den Wahn und die Furcht“ der Insassen für ein paar Paradies-Momente weg. Derweil verteilt Nick Shadow auch unter ihnen sein chinesisches Kleingebäck. Was wohl drinnen auf den Zettelchen steht? Dass fast jedes Unheil aus der Gier erwächst? Die schlummert in den meisten, auch den Grundsoliden, verborgen wie im Glückskeks das Papier.

■ Der Text der Oper – von Wystan Hugh Auden und Chester Simon Kallman – wird auf Englisch, der kurze Epilog auf Deutsch gesungen.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Das fatale Zeichen Z
Romantik und Rapiere: Das Theater Hof feiert „100 Jahre Zorro“ mit einem Musical. Das macht instrumental, gesanglich, tänzerisch was her. Den eingestaubten Superhelden ohne Superkräfte erhält es dennoch nicht am Leben: Seine Zeit ist vorbei.

Ruud van Overdijk und Nicole Rushin (vorn) als Diego/Zorro und Inez: "Jung, schön, leidenschaftlich, selbstlos". (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 25. April – Sogar Buchstaben können ihre Unschuld verlieren, vom ersten bis zum letzten. A steht für Anarchie, die niemand wirklich wollen kann. Z steht für den barbarischen Krieg des entfesselten Russlands gegen die Ukraine.

     Auch im Theater Hof fällt es signifikant ins Auge. Z – für „Zorro“. Mit der Spitze seines Degens schlitzt der strahlende Held es in die unangemessen geschwellte Brust seines bösen Bruders, wo das fatale Zeichen, aus Blut geschrieben, gut zu entziffern ist. Auf ihr soll es als Chiffre für Recht, Menschlich-, Unabhängigkeit unaustilgbar vernarben. In der Wirklichkeit ist das Z seit gut zwei Jahren das Signet für das imperialistische Vormachtstreben Moskaus und des dortigen selbst ernannten Völkerbefreiers. Ein für alle Mal desavouiert, lässt es sich auch auf einer noch so unverdächtigen Bühne nicht mit einem noch so guten Willen verkleiden.

     Überhaupt fällt das Musical befremdlich aus der Zeit. Für die 2008 in London uraufgeführte Show spann Stephen Clark rund um die feindlichen Brüder eine wüste wüsten- und kellerstaubige, belanglos platte Geschichte. In ihrer Antiquiertheit gemahnt sie, unfreiwillig komisch bis zur Lächerlichkeit, jedoch völlig ironiefrei, an Friedrich von Schillers „Räuber“; nicht einmal der greise Vater (Thilo Andersson) fehlt, den ein gemeingefährlicher Filius im finsteren Verließ festhält, bis der brave Bruder ihn – wie bei Schiller den „alten Moor“ – endlich zottelhaarig und verrottet aus seinem Kerker hervorholt. Freude macht allein die Musik, bei deren Komposition sich John Cameron wiederholt auf Hits der Gipsy Kings besann.

Ein Gedenktermin?

„100 Jahre Zorro“ feiert das Haus ausdrücklich. Indes: ein Anlass, des Gedenkens wert? Vor (genau genommen) 105 Jahren erschien der erste Roman um den vom Scheitel bis zur Sohle schwarz gewandeten Mantel-und-Degen-Recken in einem US-amerikanischen Kolportage-Magazin: Darin macht der Kämpe, bis zur Kenntlichkeit maskiert, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der damals spanischen Kolonie Kalifornien als anarchistischer oder wenigstens eigengesetzlicher „Rächer der Armen“ Furore. Das Hofer Premierenpublikum überschüttete am Wochenende nach drei langen Premierenstunden eines lateinamerikanisch durchglühten Spektakels die Ensembles und das Regieteam stehend mit rauschendem Beifall. Tatsächlich werden die Zuschauenden klanglich aufs Unterhaltsamste versorgt. Vom Flügel aus führt Michael Falk eine exquisite, sowohl mit schmetternden Trompeten wie mit vier einschmeichelnden Gitarren besetzte Kombo teils aus Musikern der Symphoniker an; mit ihr beschwört er sowohl den planmäßigen Radau einer Mariachi-Kapelle wie anheimelnde Schlager-Streicheleien aus dem nur halb versenkten Orchestergraben herauf. Die absehbare Handlung wissen er und die Seinen immer dann mit unerwartetem, folkloristisch-emotionalem Drive zu unterfüttern, sobald die wenig entwickelte Spannung vollends abzuflauen droht.

Anna Langner als Luisa: Eine Empfindsame, die sich zur Revolutionsführerin mausert.

     Nicht weit über ihnen, auf der Bühne, bescheidet sich die Szenerie mit weniger Plastizität. Bei einer nüchternen Metallbrücke ließ es Annette Mahlendorf bewenden und greift damit nach einem halben Jahr neuerlich Elemente ihrer Szenografie zum Dickens-Musical „A Tale of two Cities“ auf. Zunächst spiegelverkehrt, dann, zurechtgedreht und flammenzüngelnd, prangt gut lesbar das zwielichtige Z darauf. Bei den Entwürfen der vielgestaltig-prächtigen Kostüme hingegen ließ die Ausstatterin ihrer Fantasie die Zügel schießen, besonders zugunsten des explosiv quirligen Balletts. Mehrere üppige Chor- und Tanzensembles füllen denn auch die schwungvollsten und inspiriertesten Minuten der Aufführung.

     Nicht zuletzt wird berückend gesungen, von den Damen vor allem. Anna Langner als Luisa, auf die beide Brüder seit frühester Jugend aspirieren, schwingt ihren empfindsamen Sopran mit Verve auch in die Höhen eines sich damenhaft ermannenden, nie aber mannweiblichen Temperaments, durch das sie sich zur Revolutionsführerin mausert. Und Nicole Rushin, als Inez „jung, schön, leidenschaftlich, selbstlos“, wie es einmal heißt, ist Herz und Unterleib einer Gitano-, also Roma-Truppe, das in Hof mit Müßiggang, Tanz- und Tändellust so manches verpönte „Zigeuner“-Klischee bedient; unverfroren aufmüpfig lebt die Künstlerin eine leichtlebige Luderhaftigkeit aus und könnte mit ihrer hochmusikalischen Körperpräsenz und ihrem Stimmfeuer die Bühne zur Not allein füllen. Wenn dann obendrein die fabelhafte Irene Garcia Torres ihre Kastagnetten-bewehrten Hände, den straffen Leib, ihre stampfenden Füße zu reizbar-glühendem Flamenco anspannt – dann mögen auch „Zorro“-Skeptiker und -Verächter eine Zeit lang ihren Frieden mit der Produktion machen.

Rabaukenrolle

An anderen Stellen fällt das nicht so leicht. Aus der im Grund ur–theatralen Situation – der ehrenwerte Diego kostümiert sich unerkannt als Zorro, um zugleich er selbst und ein anderer zu sein – gewann Tamás Mester als Regisseur und Choreograf bei weitem nicht genug szenisch-spielerischen Zauber, um den männlichen Hauptgestalten über die fadendünnen Dialogpartien hinwegzuhelfen. Umplappert von braven bis pubertären Witzeleien, kommen sie um pathetische Hohlheiten und naives Posieren nicht herum: Ruud van Overdijk als Diego, Typ ‚gestandenes Mannsbild‘, der vor seinem erzfeindlichen Blutsverwandten Ramon (Maciej Salamon) inkognito den speichelleckenden Kasper und schwächlichen Idioten markiert, um nicht vor der Zeit als Lichtgestalt in Dunkelschwarz aufzufliegen. Das glaube, wer will.

     Zorro heute: eher ein in die eigene Rabaukenrolle verliebter Superman ohne Superkräfte als ein legitimierter Erlöser, mehr überheblicher Rächer als rettende „Antwort auf unsere Gebete“. Da mag er in den vielen Kampfszenen, für die sich Fechtmeister Mester während des Inszenierens offenkundig am stärksten interessierte, noch so klappernd mit dem Rapier fuchteln. Z wie Zorro – wie zwecklos, zerschlissen, zu nichts mehr zu gebrauchen: Seine Zeit ist abgelaufen, derart unübersehbar und gründlich, dass er auf einer seriösen Bühne nichts mehr zu suchen hat. Dass in Hof Kinder spielfroh und possierlich mitwirken (in der Premiere Tom Andersson und Gustav Maul, Isabell und Madeleine Szegedi), setzt in der behaupteten romantischen Vergangenheit, die es so nie gab, immerhin ein Zeichen für die Zukunft. Gleichwohl haben Mantel und Degen ihre Unschuld verloren. Die Geschichte der Bluttaten, ob in Familien, ob zwischen Völkern, lehrt: Gib einem fanatischen Wohltäter eine Waffe in die Hand, und es wird ein Unglück geschehen.

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Die Arithmetik der Freiheit
Zwei und zwei ist fünf? Wenn der Große Bruder das sagt, muss es stimmen. Die Ballettcompagnie des Theaters Hof übersetzt im Studio George Orwells Roman „1984“ und seine 75 Jahre alten Visionen einer totalitären Zukunft erschreckend attraktiv in die Gegenwart des modern dance.

"Big Brother is watching you" - der Große Bruder sieht dich, und alle sehen auf den großen Bruder. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 15. März – Frei ist jemand, wenn er in der Lage ist, sich das eigene Hirn zu zermartern. Unwiderruflich gefangen ist jemand, sobald er der simplen Rechnung zustimmt: „2 + 2 = 5“. Totalitarismus herrscht, wo eine Gesellschaft sich wider alle Vernunft mit diesem Ergebnis einverstanden erklärt: kollektive Dyskalkulie. „Wenn Sie sich ein Bild von der Zukunft machen wollen, dann stellen sie sich einen Stiefel vor, der in ein menschliches Gesicht tritt – immer wieder“, sagt im Studio des Theaters Hof wortlos der Folterer zum Gefolterten, der gequält wird, weil er „4“ herausbekam.

     Wenn es nach George Orwell, dem Romanautor, und den Choreografen Ali San Uzer und Özkan Ayik geht, hat die Zukunft fast begonnen und ist doch irgendwie bereits vorbei. Mit „1984“ veröffentlichte der britische Erzähler vor 75 Jahren eine der bedeutendsten Dystopien der Weltliteratur, um - nach dem globalen Entsetzen über die massenmörderische Hitler-Tyrannei - vor dem sowjetischen Stalinismus zu warnen. Das titelgebende Jahr verstrich, ohne dass sich Orwells Unheilsvisionen bewahrheitet hätten. Noch stimmte die Arithmetik: „Freiheit bedeutet die Freiheit, zu sagen, dass zwei und zwei vier ist. Gilt dies, ergibt sich alles Übrige von selbst“, definierte 1949 Orwell im Roman. Doch heute? Da dichten deepfakes die Realität nach Gutdünken um, aus den Mündern von Weltmachthabern kläffen „alternative Wahrheiten“, Myriaden von Kameras erfassen jeden und jede auf Schritt und Tritt, rasende Diktatoren pressen ihre Völker in Ideologien, die jede Rechtsstaatlichkeit und liberale Wertsetzung verhöhnen. „Big Brother is watching you“ – der Große Bruder des Romans sieht, manipuliert, be- und verurteilt alles und alle, immer und überall. Steht der Wirklichkeit das Jahr 1984 bevor?

Die schlimmstmögliche Wendung

Die Welt der Frei- und Sicherheit hat die (von Friedrich Dürrenmatt geweissagte) „schlimmstmögliche Wendung“ genommen: Im Hofer Studio verkehrt sie sich in ihr Gegenteil. Und zieht sich zugleich in sich zusammen: Hier, wo Ali San Uzer und Özkan Ayik ihr mitreißend zeitgemäßes Tanzstück „1984“ aufführen, hegte Ausstatterin Annette Mahlendorf den ohnehin begrenzten Ort zusätzlich durch schwarze Wände ein zu einem klaustrophobischen Schauplatz für Situationen äußerster Bedrängnis und Unentrinnbarkeit. Vierhundert wortreiche Romanseiten galt es räumlich unterzubringen und in 65 pantomimischen Minuten zu spiegeln; es galt, die Eloquenz eines ungemein gedankenreichen und -tiefen, nicht zuletzt über Sprache und „Neusprech“ reflektierenden Gegenwelt-Entwurfs in stummes Spiel zu übertragen. Mithin ist die Choreografie ein gewagter Versuch wie letztlich jedes narrative Ballett – und er gelingt bestechend, beklemmend, bewegend. Zum einzig vernünftigen Ziel setzt sich die Inszenierung klugerweise nicht, den Stoff nachzuerzählen, sondern ihn neu zu erfinden, durch die Entfaltung einer eigenständigen Ausdruckssphäre.

Denis Mehmeti und Tania Angelovski als Winston und Julia: Die Schönheit und das Leid der Liebe.

     Beibehalten haben die Regisseure die Handlungskonstruktion über drei zentralen Gestalten. Denis Mehmeti als Winston, der Rebell, verkörpert einen Widerstand, der nicht so sehr aus tapferer Selbstermächtigung erwächst als aus nachfragendem Zweifel, einem zarten, gleichwohl zähen „Ich denke, also bin ich“. Schlank, ja grazil tritt er als das Gegenteil eines Helden auf; zum ‚großen Einzelnen‘, der die Menschheit messianisch aus einer bösen Gegenwart in eine lichte Zukunft führt, taugt einer wie er nicht – er ist nur ein unbequemer, weil sich seiner selbst bewusster Zeitgenosse. Wieviel Furcht er überwinden muss, um zu sich zu stehen, zeigt nicht allein sein gegen nervöse Überspannung und entmutigende Erschlaffung kämpfender Körper, ebenso die Schmerzlichkeit seines Gesichts: Mehmetis Mimik erwächst zu einem mitteilsamen Element der Choreografie.

     „Nieder mit dem Großen Bruder“, schreibt Winston wie unter Druck, nicht weil er will, sondern weil er muss, mit Kreide auf eine Wand an einer Seite der Bühne. Auf die gegenüberliegende schreibt Julia: „Ich liebe dich.“ Sie muss es nicht, sie will es einfach. Gefühle, überhaupt jede einträchtige Zwischenmenschlichkeit laufen dem Totalanspruch des Großen Bruders und seiner Parteigänger zuwider – in der Julia von Tania Angelovski aber verschaffen sich ein radikaler, wenn auch nicht gedankenloser Mut, die Magnetkraft fragloser Zuneigung, die Stärke der Sinne und auch der Schönheit unwiderstehlich Geltung. Die Wahrheit, vom Regime mit tödlicher Konsequenz unterdrückt, lebt in der Liebe des Paares auf, die nicht Besitz ergreift, sondern sich nur hingibt; und die das Leiden einschließt: Einmal – noch bevor das Bündnis der beiden endgültig auffliegt – stehen Angelovski und Mehmeti Rücken an Rücken, mit ausgebreiteten Armen, als hätte man sie schon gemeinsam gekreuzigt.

Gleichgeschalteter Gehorsam

Den Sieg der Perversion über Recht, Redlichkeit und individuellen Willen trägt O’Brien davon: Denison Silva als Oberscherge der unsichtbaren Obrigkeit. Nicht als Monster setzt er sich durch, nicht wie eine entmenschte Maschine vollzieht er den Ganzheitsanspruch der Partei, sondern mit Zügen, die vor sarkastischer Intelligenz leuchten, und der präpotenten Physis und Eleganz eines Flamencotänzers. Schließlich zermartert er Winstons Kopf, brutaler Folter unterzieht er sein Opfer, bis sich Denis Mehmeti in den kreatürlichen Konvulsionen extremer Pein windet. Dann baut sich Silva, auf seinen Händen stehend, wie ein Turm über dem Wehrlosen, Zerbrochenen auf.

     „Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“ Am Ende steht an einer Wand „2 + 2 = 5“. Nach der Arithmetik der Unfreiheit gehen solch paradoxe Gleichungen auf. Äußerlich und innerlich zu gleichgeschaltetem Gehorsam uniformiert, versammelt sich die Hofer Compagnie zu elektronischer Geräuschmusik vor einem „Monitor“, aus dem der allgegenwärtige Große Bruder das Unvereinbare auf einen absurden Nenner bringt, der keinen Widerspruch duldet. Überraschend in jedem Augenblick, erstaunlich einfallsreich und beherzt unorthodox hat das Choreografen-Duo die Gebärdensprache des Stücks dem modern dance verpflichtet. Packend spinnt das Ensemble um die grob umrissenen Grundzüge der Romanhandlung chorische Aktionen des Wunderlichen und Unwirklichen, Seltsamen und Sensationellen aus. Die freie Assoziation, das Abstrakte jenseits der übersetzbaren Bedeutung ist unersetzliches, unentbehrliches Privileg des Theaters, des Tanztheaters zumal, und diese Produktion nutzt es begeisternd: Selbst, was „nicht stimmt“, wirkt in ihr stimmig. Im richtigen Leben und Zusammenleben freilich darf fünf niemals gerade sein.

■ Als Grundlage der Rezension diente die Premiere am 10. März, die das Publikum mit begeistertem Applaus quittierte; in den folgenden Aufführungen wechseln in den Rollen die Tänzerinnen und Tänzer von Fall zu Fall.
■ Es empfiehlt sich sehr, vor dem Besuch der Aufführung den Roman George Orwells, eine detaillierte Inhaltsbeschreibung oder die Angaben im Programmheft zurate zu ziehen.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Unterm Rad
Großer Applaus für eine richtig große Oper: Als erstes Haus in Europa zeigt das Theater Hof David Carlsons „Anna Karenina“. Regie bei der anspruchsvollen Tolstoi-Adaption führte Lothar Krause. Für seine im Herbst beginnende Intendanz lässt die mitreißende Aufführung Bedeutendes erwarten.

Inga Lisa Lehr und Andrii Chakov als Anna und Wronskij: An der Tür zwischen Begegnung und Abschied. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 5. März – Eine Tür ist wie ein Bahnhof: ein Saum zwischen Kommen und Gehen. Durch eine Tür kann man einen Raum betreten oder jemanden zu sich einlassen, man kann jemanden aus- oder sich einsperren. Man kann durch sie zu den anderen gelangen oder dahinter für sich allein sein.

     Annette Mahlendorf mag Türen. Gerade erst, fürs Tanzstück „Winterreise“ nach Franz Schuberts Liederzyklus, umstellte die Bühnenbildnerin des Theaters Hof den Schauplatz mit einer Reihe weißer drehbarer Öffnungen. Für die Oper „Anna Karenina“ griff sie als Ausstatterin auf jene öfter verwendbare Idee zurück: Um die Szenerie – ein sparsam elegantes, stilisiert realistisches Tschechow-Ambiente (nicht einmal das Birkenwäldchen fehlt) – reihen sich Flügeltüren und sperren den Raum bisweilen auch nach vorne ab: Übergänge für Innenräume, die sich zu Außenräumen wandeln, Pforten für Zusammenkünfte der Upperclass Moskaus und St. Petersburgs – die Mahlendorf in großartig prunkende Galagarderoben kleiden ließ –; mal überwinden Liebende die Schwellen, mal trennen die Barrieren Menschen, die sich immer weniger zu sagen haben.

Unglück der besonderen Art

Anna Karenina, eine vornehme Dame aus den ersten Kreisen, geht erst fremd und dann vor die Hunde: eine Geschichte wie Tausende, trotzdem nur scheinbar banal. Auf tausend Romanseiten entwarf Lew Tolstoi 1887/88 ein Cinemascope-Panorama der besseren bis besten russischen Gesellschaft, um exemplarisch zu beweisen, dass „jede unglückliche Familie auf ihre besondere Art unglücklich“ ist. Mag Librettist Colin Graham für sein Textbuch auch notgedrungen auf fast alle Nebenwege und zahllose Details des monumentalen Originals verzichtet haben –das Unglück der Titelheldin ereignet sich im Musikdrama David Carlsons trotzdem greifbar und zwingend katastrophisch. 2007 und 2010 wurde das bedeutende Werk des US-Amerikaners an Häusern in den Vereinigten Staaten aufgeführt; jetzt präsentiert das Hofer Theater es erstmals in Europa, unter der so straffen wie emotionsgeladenen Regie des künftigen Intendanten Lothar Krause. Als ganz große Oper imponiert seine Produktion und wurde dafür bei der Premiere am Samstag mit ganz großem Applaus belohnt.

     Eine Tragödie, durch und durch; Regie führt eigentlich der Tod. Gleich im allerersten Bild – „Bahnhof“ – kommt er an und reist nicht wieder ab: Ein armer Schlucker gerät unter die Räder einer Lokomotive, deren Frontscheinwerfer durch eine der geöffneten Türen gleißen. Anna hat den Schritt vom Wege ihrer streng reglementierten Aristokratinnen-Existenz noch nicht getan, da ahnt sie in dem tödlichen Unfall schon ein schlimmes Vorzeichen für sich selbst. Mit einem ersten elektrisierten Blick schaut sie dem schimmernden Grafen Wronkij nach – Andrii Chakov als schneidiger Offizier mit männlicher, aber nicht übertrieben machohafter Aura und Stimme –, wenig später ergibt sie sich ihm ganz hinter den Türen ihres Schlafzimmers, die er mühelos öffnet. Gegen den attraktiven Charmeur kommt Annas finster-freudloser Gatte Karenin nicht an; kein Wunder: Mit apodiktischer Dunkelstimme verleiht ihm Michal Rudzinski eine geradezu zeremoniöse Unnahbar- und Unberührbarkeit.

Risse im Gemüt

Mithin zerren starke Spannungen an den Seiten dieses Dreiecks der Gefühle. Klug und empathisch bricht Lothar Krauses Regie die Gemüter und Charaktere auf. Anna offenbart bei Inga Lisa Lehr bewundernswert ausdauernd, weil mit stets angemessen dosierten Kräften eine wachsende Größe im Leiden; ihr Sopran hütet sich vor gewaltsamer Expression und bewahrt sich darum auch in blutvollen Schlüsselmomenten ergreifend seine fraulich-jugendliche Schönheit. Ein Anrecht auf Sympathie darf Anna durchaus geltend machen, und doch darf man sie in ihrer Orientierungslosigkeit, im Wankelmut ihrer übereilten Herzensregungen schwerlich nur für ein Opfer halten und schon gar nicht für eine Heilige. Überhaupt offenbart die Produktion in jedem der Gemüter Risse solcher Art, auch in denen der hohen Herren, die Täter sind und Duldende allerdings auch. 

Anna und Wronskij: Leidenschaftliche Liebe, Größe im Leiden.

     Während einer anrührenden Szene legt Anna, halbtot nach der Fehlgeburt von Wronskijs Kind, die Hände der Männer zur Versöhnung ineinander. Und wirklich, die Konkurrenten wollen es ehrlich meinen mit „Vergessen“ und „Verzeihen“; aber lang hält so viel Vernunft nicht durch. So bleibt die Inszenierung schwebend in der Balance zwischen dem Befreiungsdrang der Herzen und den Bindungskräften der Konvention: Zwischen beiden Polen reiben die feinen Herren sich scheiternd auf, wie Regisseur Krause plausibel macht. Mit durchgedrücktem Rückgrat beharrt Karenin auf seinem durch Annas Treubruch angeschlagenen Ruf und der Unverletzbarkeit der Familienehre. Und Wronskij, weit mehr Libertin als Libidinist und zunächst bereit, seine Offizierskarriere für die schöne Geliebte aufzugeben, spürt allmählich doch, wie deren verzweifelte Hingabe ihn wie hinter die Zellentüren eines „Gefängnisses“ einschließt. Bis sich um Anna der Kreis ihres Unglücks schließt, werden beide sie ins Gesicht geschlagen haben.

     Eine große Oper der großen, ja archaischen Affekte: Miteinander ringend, regen und verbreiten sie sich in David Carlsons subtilen oder satten Klängen als stimmungsvielfältiger und stimmungsschwankender Strom, von Ivo Hentschel und den Hofer Symphonikern nuanciert durchgearbeitet und tatsächlich symphonisch ausgefeilt. Tonsprachlich lässt sich die Partitur etwa bei der Klassischen Moderne eines Benjamin Britten verorten (für den Colin Graham sein Libretto ursprünglich verfasste); wer konzentriert zuhört, wird von der anspruchsvollen Musik unmittelbar angesprochen und mitgenommen, auch wenn sie sich nie liebedienerisch anbiedert. Teilnahmsvoll entfaltet Hentschel die Valeurs der Liebesszenen, verschiedentlich dürfen Harfe und Celesta magische Momente untermalen. Emphatisch greift der temperamentvolle Dirigent nach Kulminationen der konstant aufrechterhaltenen Dramatik, beispielhaft erreicht sie einen von etlichen Gipfeln während eines böse endenden Pferderennens, dem der Chor (Einstudierung: Lucia Birzer) mit wachsender Erregung, schließlich mit Entsetzen folgt. Wie zu Annas Jüngstem Gericht schmettern gleich zu Beginn und später wieder Bläserfanfaren, und ein paar Mal entfesselt der Dirigent sogar die Klangcluster apokalyptischen Tuttigetöses.

Tor zum Glück

Nur selten indes (und kaum noch nach der ersten halben Stunde) kommt solch ausgeprägter poetischer Realismus aus dem Graben den Stimmen oben in die Quere. Wiederholt teilt sich für sie die Bühne in ein Vorn und Hinten und wird dann simultan bevölkert, denn Schauspiel ist dieses gehaltvolle Musikdrama durchaus auch. Entsprechend wenig Raum gönnt die Komposition, wiewohl dem Verismo verpflichtet, den Vordergründigkeiten eines bloß ohrenschmeichelnden Belcantos. Gleichwohl ergeben sich Gelegenheiten für markante Monologe und beredte Ensembles, in denen namentlich Frauen – etwa Sylwia Pietrzak und Annett Tsoungui – abgestufte Formate zwischen leichtlebiger Hochwohlgeborenheit und lebenskluger Ernüchterung gewinnen. Unter den Männern leuchtet Minseok Kim – wie schon als Gesangssolist der vertanzten „Winterreise“ – mit seinem in allen Linien klaren Tenor hervor: Ihm und der jugendlich-innigen Yvonne Prentki als Ljewin und seiner Braut Kitty öffnet sich im Epilog ein Tor zu ländlichem Glück und lächelnder Zukunft: „Wir können lernen, zu lieben und geliebt zu werden.“

     Anna, zuvor, bleibt von solch paradiesischer Erlösung fern vom „verderbten Babylon“ der Zivilisation ausgeschlossen. Inga Lisa Lehr, durch stimmliches wie darstellerisches Charisma, durch den Drang der Sehnsucht und die Fülle der Enttäuschung wie in Schatten strahlende Kristallisationsgestalt der Produktion, sie vollendet Annas Größe und Niederlage nicht wie andere Opernheldinnen vor ihr in einer Wahnsinnsarie, sondern durch einen seelentiefen Schwanengesang. Damit kehrt sie zum Anfang ihrer Tragödie zurück, zum Bahnhof mit seinen Türen der Begegnung und des Abschieds, zum schmalen Saum zwischen Kommen und Gehen, Aufbruch und Rückzug, Leben und Tod. Vor eine der Öffnungen rollen wie auf Rädern die glühenden Scheinwerfer einer Lokomotive. Ein Zug kommt. Anna geht.

■ Die Oper wird auf Englisch mit deutschen Übertiteln gespielt (Sprach-Coach: Lyndon Green).
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Wer nicht frisst, wird gefressen
Triumphale Premiere in Hof: Im Musical „Sweeney Todd“ zelebriert das Theater den Serienmord als Akt der Selbstermächtigung. Ein Barbier und eine Köchin gehen darin ein Joint Venture zur finanzschonenden Frischfleischbeschaffung ein. Die Inszenierung des Intendanten ist eine seiner gelungensten.

Dominique Bals, Cornelia Löhr als Sweeney Todd und Mrs. Lovett: Versatzstücke trivialen Splatters, genüsslich aneinandergereiht. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 6. Februar – Dann lieber eine Trockenrasur. Seit Freitag bekommen im Theater Hof, wo ein Serientäter seine Kapitalverbrechen als Akte der Selbstermächtigung zelebriert, Wendungen wie „einseifen“ oder „den Hals abschneiden“ eine ungemütlich plastische Bedeutung. Sweeney Todd nennt sich der Unhold. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hat er als geachteter Barbier in Londons Fleet Street geschabt und geschnippelt. Fünfzehn Jahre später mutiert er zum fluchwürdigen Racheengel, wodurch und wie gründlich, das erzählt unter seinem Namen die „tragische Operette“ Stephen Sondheims lukullisch makaber mehr als drei kurzweilige Stunden lang. Zwar, nicht einen Tropfen Theaterblut lässt Reinhardt Friese fließen in seiner Inszenierung, die als eine seiner geglücktesten amüsiert und imponiert. Aber gemordet wird auf offener Bühne reichlich, Schnitt auf Schnitt. Und nicht nur das: Nachtschwarzer Humor enthüllt, wie die Fleischpasteten-Spezialistin Mrs. Lovett in ihrem Backkeller die Opfer des Schlächters recycelt. Im Haifischbecken der Klassengesellschaft wird „gefressen, wer selber nicht frisst“. Alte Römer würden rufen: Kannibal ante portas.

     Nicht, dass sich das Premierenpublikum – das den Aktricen und Akteuren wie dem Regieteam am Ende stehend einen Triumph bereitete – vor Grauen geschüttelt hätte. Vor Lachen schon eher. Eine Geschichte wie diese, die in Hugo Wheelers wortwitzigem Libretto genüsslich die Versatzstücke trivialen splatters aneinanderreiht, sie lässt sich ernstlich kaum anders auf eine Bühne bringen denn als finstere (Tragi-)Komödie. Die Hofer Szenerie aber stellt die ausdrücklich krude Mördermoritat obendrein in eine bedenkenswerte literarisch-dramatische Tradition und wertet den niederen Grusel zum bedeutungsvolleren Format der Groteske auf.

Machtwechsel im Irrenhaus

Gemeinsam mit Herbert Buckmiller, dem Bühnenbildner, hat der Regisseur den gepflasterten Straßenzug der Fleet Street zu einem vielsagend widersprüchlichen Einheitsraum umgedacht, zum Mittelgang eines nüchternen Schlafsaals nämlich, wo die Insassen eines Irrenhauses in ihren Abteilen, nur durch Gardinen getrennt, zur Ruhe kommen sollen. Indes verspüren sie wenig Lust dazu. Offenbar haben sie sich kürzlich ihrer Bewacher irgendwie entledigt (das Schlussbild verrät, wie) und in der Anstalt die Herrschaft übernommen, ähnlich wie es schon 1845 die Kranken in Edgar Allan Poes berühmter Erzählung „Das System des Doktor Teer und des Professor Feder“ taten. Jetzt stimmt die ramponierte und zerzauste Truppe, teils in Zwangsjacken (Kostüme: Annette Mahlendorf), die Horrorballade vom „Barbier des Grauens“ an und geht sodann daran, die Schauermär als Stück im Stück aufzuführen, nicht viel anders, als es in Peter Weiss’ Drama von 1964 „die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ mit der „Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats“ tut. Großartige Grundidee: Beinah wirklich, in Wahrheit wahnhaft tut sich wie ein Zwischen-Raum der Schauplatz eines schwarz-grau-weißen Albtraums auf. In ihm vermischen sich Innen und Außen, Oben und Unten, magisch schweben Betten in trügerische Wolkenkuckucksheimhöhe empor, wenngleich andere weitaus häufiger als Tatorte eines ums andere durch den Bühnenboden in eine qualmende Tiefe krachen.

Carolin Waltsgott, Benjamin Muth: Befreiung durch kindliche Liebe.

     In einer Epoche vor Erfindung der Trockenrasur muss jeder Kunde Sweeney Todds gewärtigen, von ihm die schärfste und letzte Bartbehandlung seines Lebens zu erhalten. Reihenweise schneidet er Hälse ab, die Halsabschneider aber sind andere. In der Titelrolle verdient Dominique Bals, bleich wie Tod und Teufel, als wutschnaubend blutgieriger, kaltherziger und -blütiger Höllenhund zwar wenig Nachsicht; im langen schwarzen Mantel schließt er optisch und charakterlich an seinen großen Auftritt im Jahr 2020 als Shakespeares Richard III. an. Aber Opfer ist er auch. Richter Turpin hat seine Frau missbraucht und will jetzt sein unmündiges Töchterlein als schmutziger Hochzeiter schänden (Volker Ringe spielt den furchtbaren Juristen ziemlich blass, steigert sich dafür als Anstaltsdirektor zum spinnerten Sadisten.) Beim Ausräumen allfälliger Hindernisse ist der Büttel Bamford gefällig: Ralf Hocke, kriechend und tretend. Wie in Turpins Käfig gefangen, tiriliert Todds Töchterlein bei Carolin Waltsgott in höchsten Tönen, als wär sie ein Vöglein im Bauer, und wünscht sich nichts so sehr, wie möglichst bald durch kindliche Liebe erlöst zu werden. Als Befreier stellt sich Seemann Anthony zu Verfügung: Benjamin Muth, das Musterbeispiel eines guten Jungen.

Popmusik, klassisch-modern

Aufs Innigste sind die insgesamt drei Damen und sechs Herren aufeinander eingestellt (zu ihnen gehören auch Kerstin Maus als Bettlerin, Andréa Matthias Pagani als Möchtegern-italienischer Konkurrent Sweeneys und der pausbäckige Maurice Daniel Ernst als sein Laufbursche), unauflöslich hält ihre organische Ganzheit auf der Bühne zusammen. Dass (fast) ausschließlich Schauspielerinnen und Schauspieler agieren, mit hier freieren, dort lässlich ungefügen Stimmen, wiegt umso schwerer angesichts der Diffizilität der Songs, der fast undurchschaubar komplexen Ensembles, die sich in dem brillant komponierten Meistermusical eins ans andere fügen. Der unzweifelhaft multiplen Begabung aller Beteiligten stellt die Aufführung ein glanzvolles Zeugnis aus. Getragen werden sie im Graben von einer gleichfalls neunköpfigen, klangsinnigen und anpassungsfähigen Symphoniker-Kombo, an deren Pult Michael Falk als Rhythmus-Routinier und Hüter farbintensiver Harmonik die Stilarten der Klassischen Moderne mit dem Mantel anspruchsvoller Popmusik umhüllt.

    In nicht wenigen Stücken und Inszenierungen sind Titelfigur und Hauptfigur nicht ein und dieselbe. In dieser Produktion auch? Vielleicht darf man Cornelia Löhr, erfrischend erschütternde Protagonistin neben dem balsschen Sweeney, sogar für ihr eigentliches Gravitationszentrum halten. Indem sie ungeahnte Qualitäten als fast karnevalistische Ulknudel zu erkennen gibt, bekennt sie sich zugleich als bitterer Kern des Unheils. Mit absichtsvoll derber, dabei gut sitzender und genau zielender Stimme gibt sie die noch recht junge Version einer ‚Komischen Alten‘ – zumal wenn sie, wiewohl vergebens, Sweeney mit Avancen umgarnt – und wirft doch zynisch den Motor des Massenmords erst eigentlich an. Eine ansehnliche Kleinunternehmerin des großen Schreckens, am tiefschwarzen Grund ihrer Seele „unappetitlich“ wie ihre Pasteten. Vegetariern muss sie wie eine horrende Allegorie der omnivoren Ernährung erscheinen: Das Schlachten erledigt sie noch nicht einmal selbst und garantiert dem Markt der Fleischfresser trotzdem eine Lieferkette ohne Unterbrechungen.

■ Mit Stephen Sontheims „Sweeney Todd”, damals von Hartmut Forche inszeniert und mit Claus Klinke in der Titelrolle, nahm vor dreißig Jahren, im Mai 1994, das Musikensemble des Theaters Hof Abschied vom alten Haus in der Schützenstraße.
■ Informationen über die aktuelle Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Wanderer-Fantasien
Auf Hofs großer Bühne wird die „Winterreise“ zum lyrisch-dramatischen Seelen-Theater. Ballettdirektorin Barbara Buser verschmolz mit dem Sänger Minseok Kim und Anna Gebhardt am Flügel Schuberts „Zyklus schauerlicher Lieder“ zu einem Amalgam aus Kantabilität, Choreografie und Kammermusik.

Minseok Kim (vorn stehend) und David Santos Ollero vor den schwebenden Damen der Hofer Compagnie: Das Alter Ego als großer Bruder. (Fotos: Harald Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 26. JanuarWenn das Wandern „des Müllers Lust“ ist, kann dieser Wanderer kein Müller sein. Denn „lustig“ schreitet er, der scheiternd-traurige Held der „Winterreise“, auf seinen Straßen ganz und gar nicht aus. So wurde er zum wohl berühmtesten Protagonisten aus dem Liedschaffen Franz Schuberts, jenes Komponisten, der von sich bekannten, er kenne keine „lustige Musik“ und der den Zyklus selber für „schauerlich“ hielt: für schreckenerregend. Namenlos geht der jugendliche Wanderer seiner Wege und vermutlich in den Untergang, ein Abgeblitzter. Das Mädel seines Herzens gab ihm den Laufpass und seinem Herzen den Todesstoß. Als Ich-Erzähler der Verse, die der (weithin unterschätzte) Wilhelm Müller 1824 publizierte, kehrt der Bursche einsam der „Stadt der Unbeständigkeit“ den gebeugten Rücken, streift ziellos durchs frostige Land, wo ihm von fern die Hunde nachkläffen, fühlt seine Tränen gefrieren wie die Spiegel von „Bächlein“ und Fluss und lauscht schließlich einem „Leiermann“, der ihn mitnimmt auf der „Straße, die noch keiner ging zurück“.

     Als Liederabend richtet die „Winterreise“ ein subtiles Seelentheater auf. Richtiges Theater wird auf Hofs Großer Bühne daraus, ein Amalgam von Kantabilität, Choreografie und Kammermusik, das wohl noch das eingefrorenste Herz im Publikum auftaut. Barbara Busers Tanzstück steht heuer an der Stelle des sonst üblichen „Großen Ballettabends“, ohne einer sein zu wollen. Absichts- und wirkungsvoll setzt die Adaption, mit Leidenschaft und Liebesleid voll beladen, auf die haarkleinen Ausdrucksfacetten der sogenannten großen Gefühle und erlegt sich dabei wohlweislich die Tugend der Bescheidenheit auf. Denn anstelle des Orchesters trägt diesmal allein ein Flügel die musikalische Ausstattung bei. Als Begleiterin des „wandernden“ Tenors Minseok Kim bewährt sich Anna Gebhardt mit vorzüglicher Dezenz und partnerschaftlichem Verständnis.

Ein Spiegelbild

Kana Imagawa und David Santos Ollero als Wanderer: Erinnerungsbilder des Liebesglücks, Symbolisationen der Enttäuschung.

Nicht aus dem Off des Grabens oder der Seitenbühne gelangen Klavierklang und Gesang ins Spiel; vielmehr wirkt beides gleichsam handelnd auf der Bühne mit. Goldblond, in schlankes Schwarz gekleidet, fast nymphenartig fügt sich die Pianistin mit ihrem filigran nuancierenden, emotional beweglichen Tastenspiel an die Agilität der Tänzerinnen und Tänzer, gleichwohl gebunden an die Starrheit des unverrückbar wuchtigen Instruments. Bestandteile der Szenerie sind die eine und das andere – während der Sänger als eine von vielen dramatis personae, als primus inter pares fungiert. Zu Sentimentalitäten lässt sich Minseok Kim von den „gefrorenen Tränen“ nicht verleiten, sondern hält Tongebung, Lautstärke, Expressivität der Stimme behutsam und bemessend unter Kontrolle. Nichts bleibt er der Lyrik des epischen Erzählers schuldig in seiner Verzagtheit und seinen Klagen, den kurzen Besinnungspausen, Genesungsphasen, trügerischen Hoffnungskonjunkturen.

     Indes wächst bei jedem Atemzug seine innere Beteiligung mit der Figur über sich hinaus zur Beteiligung der Figur an der Handlung. Dann wird der Lied-Interpret zum Alter Ego oder Spiegelbild von David Santos Ollero, des Tänzers, der seine Rolle in der Compagnie repräsentiert. Einmal staucht Kim wie ein großer Bruder den Kleinmütigen zusammen; ein andermal birgt er den vor Müdigkeit Erschlafften in den Armen und im Schoß, wie eine Pietà: Komm, o Schlaf, des Todes Bruder ...

Wandelndes Paradoxon

Nicht den Jammerlappen oder Kümmerling gibt David Santos Ollero, aber eine sich verzehrende Seele in einem wie ausgezehrten Körper. Der Wanderer als wandelndes Paradoxon: Denn zwar tanzt er sich auf dem Ödland der Bühne seine Entleert- und Verlassenheit in vielerlei Variationen unumkehrbarer Gebrochenheit und illusorischer Erwartung aus dem Leib, doch unablässig umvölkern ihn Solisten oder Paare, Gruppen, wenn nicht Scharen weiblicher und männlicher Gestalten. Als flüchtige Imaginationen kann man sie alle verstehen, und doch greifen sie nach ihm und sind begreifbar wie Menschenwesen. Die Kontakte zwischen corps de ballet und dem Wanderer, die Berührungen mit ihm, seine Erinnerungsbilder und Visionen von Liebesglück scheinen ebenso wie die Symbolisationen seiner Enttäuschung und Schwarzseherei, die Allegorien von Angst und Ausgestoßensein sämtlich seinem Innern zu entspringen. Was ersichtlich wird, ist Fantasie, Phantasmagorie: episodisch, fließend, flüchtig.

Larissa Guerra mit dem Wanderer vor Anna Gebhardt am Flügel: Emotional bewegliches Tastenspiel, filigran nuanciert.

     Statt mit Wänden hat Ausstatterin Annette Mahlendorf die Bühne mit Drehtüren lückenlos umschlossen; So wird der Ort zugänglich und entrinnbar bis zur Ungreifbarkeit des Geschehens. Auf mehrere Bezirke teilt sich die Compagnie im Raum zu multiplen Simultan-Aktionen auf oder findet in chorischer Gleichzeitigkeit zusammen. Muster des Liebesspiels oder der Kollision dekliniert sie durch, der Schmeichelei oder Zurückweisung. In Umarmungen und Umschlingungen, in Trage- und Hebefiguren entwirft sie Metaphern für Sehnsucht und Erfüllung oder deutet tätlich Aversion und Widerstreben an, Winterkälte.

     Nicht wohlfeil Herz auf Schmerz und Schuld auf Huld reimen die Szenen; vielmehr suchte die Choreografin von Lied zu Lied nach je eigenen atmosphärischen Details, wobei Barbara Buser alles Illustrative schützend mit einer Schonschicht der Verrätselung umgab. Die nur scheinbar so offenkundigen Verse verrätselte sie dadurch mit.

Unterkühlte Aura

Winterkälte - sie herrscht auch sichtbar hinter der Bühne. Am Tag nach der Hofer Premiere jährte sich der Geburtstag Caspar David Friedrichs zum 250. Mal, denkbar wäre mithin gewesen, Ausschnitte aus seiner sterbensnahen, vielfach winterlichen Bilderwelt in Bühnenbilder zu verwandeln. Dergleichen war wohl auch erwogen worden. Am Ende aber blieb nur eines der naturfrommen Sinngebilde, das berühmte Mönchsbegräbnis vor der „Abtei im Eichwald“, im Konzept erhalten. Stattdessen schaffen nun auf dem Rückprospekt Kristoffer Keudels sparsame Foto- und Video-Projektionen von kahlen Zweigen oder Spuren im Schnee, vom „Lindenbaum“ des fünften Lieds oder Krähen die stimmig unterkühlte Aura.

     Den Schluss, so teilt die Choreografin mit, denkt sie sich „offen“: Nicht zwingend mag sie den „Leiermann“ des letzten Liedes als Freund Hein identifizieren. Folglich ist die schnurgerade in die Ferne führende Allee der letzten Projektion nicht unbedingt als die Straße zu denken, „die noch keiner ging zurück“, sondern als Weg, der womöglich hinausführt – hinaus aus der Ausweglosigkeit des Scheiterns und Versagens, des pathologischen Selbstbezugs und -betrugs. Allerdings nimmt am Ende Ali San Uzer als viriler Führer oder Verführer den Wanderer mit sich, der ihm geknickt, stolpernd, ja vernichtet durch eine sich wie für immer schließende Tür folgt. Wohin wohl, wenn nicht in den Tod, wie ein geprügelter Hund? Oder soll so das Leben sein?

■ Als Grundlage der Rezension diente die zweite Aufführung am 20. Januar.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Doppelgänger sterben zwei Mal

Aus dem blutigen Paris der Französischen Revolution ins bourgeoise London und zurück: Das Theater Hof zeigt Charles Dickens’ „Geschichte aus zwei Städten“ als Musical. Die Uraufführungsproduktion peitscht den Wellengang des Ärmelkanals zwischen den Nationen gehörig auf, doch über Untiefen.

Liebe unterm Damoklesschwert der Guillotine: Szene mit (vorn von links nach rechts) Hans-Peter Pollmer, Birgit Reutter und Stefan Reil als Lucie und Charles Darnay, Yngve Gasoy-Romdal (Doktor Manette) sowie Yvonne Prentki und Thilo Andersson als Ehepaar Defarge. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 11. November – Nicht, dass man nicht vorher schon verwirrt gewesen wäre. Aber die finale Wendung macht die Konfusion perfekt. Da besteigt der Strahlemann des Stücks die Guillotine: Ein messerscharfes Geräusch aus den Lautsprechern – und ab ist die hübsche Rübe. Aber gleich danach tritt er schon wieder ungestüm unter die Lebendigen, lächelnd wie den ganzen Abend über; um Sekunden später umso schmachtender in einem Kerker seine Hinrichtung zu erwarten. Demgemäß besteigt er neuerlich das gräuliche Schafott – die Klinge fällt wiederum auf seinen Nacken – doch unversehens soll es diesmal ein ganz anderer gewesen sein, der sein Blut verspritzte. Wie geht das zu? Wer nicht die fünfhundert Seiten von Charles Dickens’ „Geschichte aus zwei Städten“ gelesen hat (oder zumindest die gründliche Online-Inhaltsangabe bei getabstract), sitzt nach zweieinhalb Theaterstunden ratlos da. Er mag sich mit der Einsicht trösten, dass ihm soeben von einem Paar Doppelgänger erzählt worden ist: Solche Leute sterben zwei Mal.

     Für Verwirrung haben schon zuvor – drängender noch als die handelnden Personen durch ihre hohe Zahl – sowohl die enorme Dichte der Ereignisse als auch eine verstörende Serie beträchtlicher Zeitsprünge und die überschnellen Wechsel zwischen sehr unterschiedlichen Schauplätzen gesorgt. Anders gehts auch nicht: Immerhin wollen zwei illustre Metropolen angemessen illustriert werden. Zwischen ihnen ist die Welt geteilt. Sie ist es heute: zwischen Russland und der Ukraine, überhaupt wieder zwischen Ost und West, nicht anders zwischen Muslimen und Juden …; seit jeher zwischen Not und Reichtum, Übermacht und Unterlegenheit. Im spannend-gefühlvollen Roman des großen englischen Romanciers dehnt sich die Scheidelinie zwischen dem Paris der Französischen Revolution und dem London einer königstreuen Bourgeoisie und lässt sich kaum mehr überwinden.

Umsturz, Mordgier, Terror

Heutzutage schaut der Tod allenthalben zum Fenster hinein: aus jedem Fernseher heraus. Auch in Hofs Großem Haus, nämlich im Musical „A Tale of two Cities“ und also vor gut 230 Jahren, ist er stets präsent, schon durch das zigfach aufblitzende, aufspritzende Geräusch des Fallbeils; erst recht, weil das Mordinstrument selbst, expressionistisch schräg errichtet, wie ein monströses Damoklesschwert das Spielfeld dominiert und seine Pflichten umstandslos erfüllt. Die „zwei Städte“ des Titels – vom tumultuarisch beteiligten Chor atemlos besungen – integriert Herbert Buckmillers Drehbühnenbild zu einem britisch-französischen, nämlich blau-weiß-rot bestrahlten Einheitsort von hoher Beweglichkeit: Steile Stellagen mit Treppen und Balkons ergeben, während des laufenden Spiels wandelbar konfiguriert, immer andere Schauräume. Wer im Publikum wissen will, wo er und die sich überstürzende Handlung gerade Station machen, liest dies von einer Leuchtschrift über dem Geschehen ab.

Birgit Reutter mit Jannik Harneit und Stefan Reil (rechts): Enthusiasmus des Opfermuts.

     Die multiplen Orte mitsamt dem sprunghaften Zeitverlauf finden in Sonnyboy Charles Darney zusammen. Der verdingt sich in London als braver Sprachlehrer, ist in Wirklichkeit jedoch ein französischer Marquis aus dem Geschlecht derer von Evrémonde, der „meistgehassten Familie Frankreichs“. Weil sein Onkel (Ralf Hocke) ein schmähliches Verbrechen auf sich lud, entsagt er den Hohlheiten des Aristokraten-Luxus, ehelicht in England Lucie, die Tochter des nach langer unverschuldeter Haft in der Bastille freigekommenen Arztes und Menschenfreunds Doktor Manette, kehrt trotzdem, aus humanitären Gründen, in das von Umsturz, Mordgier, Terror verpestete Paris zurück, wird ergriffen, eingekerkert, zum Tod verurteilt. Dass er entkommt, verdankt er Carton, einem verkommenen Schlucker und „jämmerlichen“ Schluckspecht: Dem Gefangenen wie aus dem Gesicht geschnitten, erweist er sich durch radikale Hingabe als Seelenaristokrat von gleichem Edelmut.

Im Hofer Auftrag entstand das Musical und ging mithin als Uraufführungsproduktion in Szene. Nicht allein für die gediegen-gefällige (von den Symphonikern unter Michael Falk allerdings oft unpräzis und holzschnittartig zubereitete) Musik mit ihren einprägsamen Leitmotiven, dramatischen Gewitterwolkenballungen und lyrischen Sentimenten, ebenso für Dialogbuch und Songtexte gewann der Intendant den Briten Paul Graham Brown. Als Koryphäe gilt er hierzulande – nicht anders als Uwe Kröger, der mit gattungsüblichen Mitteln die Regie für ein Revolutionsstück übernahm, das die Gattung nicht gerade revolutioniert. Dem gefeierten Musicaldarsteller blieb vielerorts nicht viel anderes übrig, als in Schicksalsmomenten, Gefühlsergüssen und Massenaufläufen (mit aufgespießten Delinquenten-Köpfen) die Oberflächen der ungleich substanzielleren Romanvorlage abzuernten: Zum Teil beträchtlich zwar nimmt der Wellengang des Ärmelkanals zwischen den Nationen zu, doch über Untiefen.

Die Bestie des Volkswillens

Demzufolge vordergründig, wenn auch meist wacker schlagen sich die Protagonisten: so Yngve Gasoy-Romdal als Doktor Manette, über eine angeknackste Würde gebietend, die seinem traumatisierten Charakterhaupt entspricht; oder Stefanie Rhaue, die als seine Hausdame Miss Pross couragiert (und etwas krampfhaft) auftrumpft. Thilo Andersson bewahrt sich als Revolutionsführer Defarge Reste mäßigender Vernunft; demgegenüber macht Yvonne Prentki als seine dämonische Madame mit rigider Selbstbehauptung in ihrem Sopran Freude und als entfesselte Bestie des Volkswillens Angst und Bange. Am innigsten kommt das Stück in der Gestaltung Birgit Reutters zu sich: Ins Weiß besonnener Unschuld, später schillernd in ein marianisches Blau der Sehnsucht und Klarheit gekleidet (Kostüme: Annette Mahlendorf), kommt sie dem empfindungsvoll-starken Typus, wie Charles Dickens ihn in der Figur entwarf, stimmschön sehr nah.

    Farblos blass hingegen: Stefan Reil als ihr Ein und Alles Darney. Ihm ist noch und gerade im dramaturgisch verunglückten Schlusstwist Jannik Harneit als Carton gesanglich und emotional weit voraus: nicht als spiegelbildlicher Konkurrent um Lucies Hand, schon gar nicht triumphierend als fiebriger Ersatzmann, sondern durch den verzichtend stillen Enthusiasmus eines Opfermuts, der es ernst meint bis zum Tod. Was zwischen den beiden in Hof geschieht, gab es in der Kulturgeschichte der Doppelgänger wiederholt: Sie berichtet von vielen Fällen, in denen der eine dem andern die Schau stiehlt.

■ Als Grundlage der Rezension diente die zweite Aufführung am 8. November.
■ Die Orchesterarrangements besorgte Lucia Birzer, die auch den Chor einstudierte. Die Übersetzung des im Original englischen Stücktexts stammt von Moritz Staemmler.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Wie man verloren geht
Das Theater Hof prunkt mit einem Frühwerk Andrew Lloyd Webbers. In „Tell me on a Sunday“ legt Cornelia Löhr als gefühlsgierige Engländerin in Manhattan eine tragikomische Liebes- und Lebensbeichte ab: Ungetrübtes Glück gibts nur im Bilderbuch, und „auf Träume ist kein Verlass“.

Cornelia Löhr als Emma aus England vor dem Mini-Manhattan von Ausstatterin Aylin Kaip: Reisen, die keine leichten Touren sind. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 28. September – Der Sprung über den Großen Teich wird leicht zum Sprung ins kalte Wasser. Im Studio des Theaters Hof darf sich eine junge Frau gut eine Stunde Zeit nehmen, um zu erzählen, wie sie sich der Liebe wegen vom Westen Londons nach Manhattan aufmachte, um sich und ihr heißes Herz einer emotionalen ice bucket challenge nach der anderen zu stellen. Mit „Tell me on a Sunday“ feierte das Premierenpublikum (passenderweise am Sonntag) nicht einfach ein Kammermusical von vielen, sondern ein besonders gelungenes aus der Werkstatt des Gattungsgottes Andrew Lloyd Webber; ein beachtliches Frühwerk noch dazu, das der Komponist zwischen 1979 und 2016 allerdings wiederholt und tiefgreifend um- und ausarbeitete. „Dies mag die kleinste Show sein, die er je geschrieben hat“, urteilte ein Rezensent der BBC, „aber die Partitur (zu den unterhaltsamen Texten von Don Black) enthält einige seiner besten Songs.“ Da kann nur zustimmen, wer jetzt die Rarität in Hof erlebt.

     Kein Liebesreigen – nur eine Reihe von Liebesgeschichten, Liebesversuchen; und man kann Emma nicht vorwerfen, sie wiederhole sich dabei. Ihr erster, vergleichsweise blasser Partner geht bald fremd; den zweiten findet sie unter den Tycoons, „Monstern und Supermännern“ Hollywoods, der aber lässt sie viel zu viel allein; zurück in Greenwich Village, probiert sies mit einem Geschäftsmann, der indes mit reichlich Lug und Trug handelt; beim Vierten akzeptiert sie eine Weile, ihn sich mit einer Ehefrau teilen zu müssen –als heimliche Hotelzimmer-Geliebte rangiert sie bestenfalls als die „Nummer zwei“. Immerhin kommt sie an eine green card: Wenn sie auch bei keinem ihrer Männer bleibt – sie bleibt doch in New York. Zu Hause ist dort darum noch lange nicht.

Die Frau mit dem Koffer

Im Gegenteil. In Hof gibt Cornelia Löhr die Transatlantikerin geflissentlich als Frau mit Koffer. Auf der raffiniert-sinnfälligen Puppenstuben-Szenerie von Ausstatterin Aylin Kaip öffnet sie nach und nach drei spitze, weiße Wolkenkratzerchen, um es sich darin auf weichen Polstern gemütlich zu machen; trotzdem bleibt sie gleichsam obdachlos – eine Frau auf Reisen, die keine leichten Touren sind. Auseinandergefaltet, formieren die Schranktüren der Hochhäuschen aufs Ansehnlichste eine Mini-Skyline mit Videowänden, auf denen, zum Beispiel, die goldenen Dollarzeichen auf den Glücksrädern einer slot machine Erfüllung und Erfolg verheißen. Ein Schwindel: „Auf Träume“, heult Emma einmal am Boden zerstört, „ist kein Verlass.“

Emma in Hollywood: Champagnerlaune zwischen Monstern und Supermännern.

     Zuvor hat sie unverdrossen einen Anlauf um den anderen genommen, immer aus einer Enttäuschung zu einem weiteren „Neubeginn“ ihres „Bilderbuchglücks“. Laut, leicht und mit unermüdlicher Kondition entfesselt Cornelia Löhr unverlorene, unverfrorene Jugend-Temperamente, mit markigem Musical-Sopran singt sie Emmas kindlich-fiebrige Lebensgier und -freude heraus. Rockig, jazzig, swingend von einer Backstage-Combo unter der Klavierdirektion von Rebecca Lang begleitet, wechselt sie sinnlich und robust von der Gardinenpredigt für den ersten Ex zur Champagnerlaune, wie er sich für die Reichen und Schönen im gleißend luxuriösen Beverley Hills gehört, vom Katzenjammer zum nächsten Sturm der Liebe. Zum Sturmangriff auf die Liebe: „Ich geh nicht verloren“, brüstet sie sich und schreibt es der fernen Mama in launigen Briefen, die wie Wunschzettel eines kleinen Mädchens klingen. Sie wills erzwingen: So hoch fliegt sie wie ihre Pläne und rappelt sich nach jedem Absturz taff wieder auf.

Am Ende gehts schief

Freilich schrumpft und schwindet so allmählich ihre Resilienz, während die Resignation wuchert, bis sie in keinen Koffer und erst recht auf kein Blatt Papier mehr passt. Gern lacht Cornelia Löhr, doch endlich unter Tränen: Das kalte Wasser steht ihrer Emma schließlich bis zum Hals. Bei allem Spaß, den ihre Liebes- und Lebensbeichte den Zuschauenden macht – und am Premierenabend wollten sie gar nicht aufhören, die Interpretin und ihre Instrumentalisten mit Beifall zu überschütten –, sie bekommen es doch mit der Tragikomödie einer hoffnungstrunkenen, indes traurigen Existenz zu tun: „Was immer ich anfange, es geht am Ende schief.“ In Florian Lühnsdorfs Inszenierung wird das schöne, aber gefühlskalte Eisweiß der Millionenmetropolen-Silhouette dem Stoff gerecht, indem es sich der Herzenswärme in Emmas verloren trudelnder Seele unüberbrückbar entgegenstellt. Nicht einfach eine Schlagerparade lässt der Regisseur abspulen; vielmehr formt seine Protagonistin (und Ehefrau) aus den – melodisch und rhythmisch teils hochkomplexen – Gesangsnummern einen szenisch-narrativen Song-Zyklus, einen Liederkreis mit beklemmend losen Enden.

„Alles geht vorbei“ – nicht nur der Liebeskummer, auch und zuallererst die Zeit, die niemand zurückholen kann. In den Videos (von Krtistoffer Keudel) taucht zeichenstark auch eine Art ewiger Sanduhr auf, die sich, kaum dass sie ausgelaufen ist, von unten jedes Mal aufs Neue füllt, um sich immer wieder zu entleeren … Wär es so: Schön wärs.

■ Als Kombo musizierten bei der Premiere Rebecca Lang (Klavier, Leitung), Frank Gareis, Saxofon, Martin Seel, Flöte, Wolf-Dieter Zastrow, Cello, Ralf Wunschelmeier, Bass, und Harry Tröger, Schlagzeug.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.


Alles, bloß kein Weib sein

Mit Mozarts „Zauberflöte“ startet das Theater Hof zeitgemäß, szenisch spektakulär und musikalisch beachtlich in die neue Spielzeit. Kerstin Steeb inszenierte die abstruse Handlung von einst als „dystopisches Märchen“ von heute, bei dem vor allem Scheinwerfer und Licht die Bühnenwelt erschaffen.

Minseok Kim als Tamino mit Laura Braun als Königin der Nacht und ihren Erfüllungsgehilfinnen (von links: Stefanie Rhaue, Marta Mika, Inga Lisa Lehr): Das sogenannte Böse hat schon immer fasziniert. (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 26. September – Eigentlich ist alles ganz einfach: Das Böse ist dunkel, das Gute ist hell. Wer je „Die Zauberflöte“ für Schwarz-Weiß-Malerei hielt, darf sich hier bestätigt fühlen, allerdings nur auf den ersten Blick. Denn so wie in Wolfgang Amadeus Mozarts beliebtester Oper verwischen sich die scheinbar eindeutigen Scheidelinien allmählich auch in Hof, wo das Theater am Samstag mit einer konsequenten Überschreibung ziemlich spektakulär und unter reichlich Publikumsjubel in die Spielzeit startete. Nicht gerade neu, aber mit ambitionierten Akzentsetzungen erzählt Regisseurin Kerstin Steeb die notorisch abstruse Geschichte, indem sie namentlich junge Frauenfiguren aus der Unschuldsengelhaftigkeit herausholt, die ihnen das Original verordnet: Der „Führung weiser Männer“ bedürfen sie nicht länger.

     Obendrein punktet die Aufführung durch neue Dialoge aus der Feder Ivana Sokolas. Zwar hat auch die wiederholt preisgekrönte Theaterautorin den „Prüfungsquatsch“ und das aufdringlich salbadernde Pathos aus der Handlung nicht ausmerzen können; gleichwohl mutiert die Läuterungsgeschichte trotz Gags und Witz – was nicht dasselbe ist – ernstzunehmend zum „dystopischen Märchen“, wie Jan Hendrik Neidert im Programmheft resümiert. Daran lassen seine Bilder keinen Zweifel: Stellenweise könnte ihre elektrisierende Großartigkeit ebenso gut von irgendeiner renommierten Großstadtbühne stammen.

Eine Art von „Geworfensein“

Unterhaltsam in unaufdringlichem Gegenwartsjargon, zwischendurch unerwartet lyrisch-expressiv sprudeln die Sprechtexte; auch gelegentlich anstößig, sodass fortan in der „Zauberflöte“ sogar Sätze möglich sind wie dieser: „Wir wurden auf diese Welt geschissen.“ Mit solch drastischer Revidierung des heideggerschen „Geworfenseins“ raubt Prinzessin Pamina dem Vogelfänger Papageno seine Illusionen. Deutlich wird, in was für einer schlimmen Welt Emanuel Schikaneders Geschichte aus dem Wien des Jahres 1791 jetzt, im Hof des Jahres 2023, spielt. Binnen weniger Generationen zugrunde gerichtet, ist die Erde zu einer Abraumhalde (mit verkohlter Waschmaschine) verkommen, und der Mensch, unentschuldbar schuldig, hat nicht verdient, selber mehr und anderes als Müll einer von ihm vernichteten Schöpfung zu sein.

     Der erste Akt zeigt den schwarz ausgebrannten Grabhügel einer überheblichen Zivilisation, tag-, zukunfts- und hoffnungsferne Sphäre der Königin der Nacht: Die Hof-Debütantin Laura Braun, bei ihren Koloraturen und Spitzentönen durch gläserne Arabesken und extreme Treffsicherheit imponierend, steht in der Rolle als schlank-hohes, halb pflanzliches, halb geisterhaftes Wesen beispielhaft auch für den Einfallsreichtum und die Fantastik der (teils aus Taschen, Beuteln, Rucksäcken komponierten) Kostüme von Lorena Diaz Stephens. Bei aller lästerlichen Rachgier macht die Herrscherin was her, und auch ihre drei hexenhaften Erfüllungsgehilfinnen – Inga Lisa Lehr, Marta Mika und Stefanie Rhaue, im Transporter auf die Bühne einfahrend – nehmen, statt schrill zu geifern und zu keifen, durch unangefochtenen Wohllaut für sich ein. Das sogenannte Böse hat schon immer fasziniert.

Michal Rudziński als Sarastro, Sophie-Magdalena Reuter als Pamina: Pastorale Rhetorik eines selbst ernannten Edelmenschen.

     Ist das Böse immer und überall? Nicht im leeren, glatten, weißen Lichtreich Sarastros, den Michal Rudzińskis tiefsinnig tiefer, wenn auch nicht ganz fester Bass mit selbstherrlicher Salbungsfülle ausstaffiert. Bei einem Gebieter wie ihm, so könnte man meinen, hat das Wahreguteschöne unantastbar lauter seine Heimat. Aber es kommt auch vor, dass die pastorale Rhetorik des selbst ernannten Edelmenschen sich als hohl, Sarastro sich als einigermaßen anmaßend entlarvt. Umgekehrt entpuppt sich Monostatos, der einzige schlimme Finger in des Gurus „heiligen Hallen“, buchstäblich als gerupftes Huhn und jedenfalls als armer Hund: Unter lauter Gutmenschen erleidet Markus Gruber ergreifend die „schlimme Hölle Einsamkeit“, in der „alle Dinge weg von mir“ streben, und bringt es zustande, dem Scheusal Spuren tragischer Tiefe aufzuprägen.

Patchwork mit feinen Nähten

Aus den auf solche und andere Weise hervorgehobenen Lücken, Brüchen, Widersprüchlichkeiten des Stoffs macht Ivo Hentschel am Pult der Symphoniker eine Tugend. Von der eingangs majestätisch auftrumpfenden, sogleich davonfedernden Ouvertüre an stückt er mit feinen Nähten ein Patchwork gemischter Stile aneinander, das sich zur bunten Harmonie eines von Herzen romantischen Kaleidoskops verbindet. So geraten auf der Bühne und im Graben zwar die Liederleichtigkeit des Singspiels und der barock strenge Choralsatz der „Geharnischten“ (Kwanghun Mun, Thilo Andersson), seria-Leidenschaft und lockeres Parlando, empfindsamer Liebesschwur und fluchende Vergeltungssucht aneinander; am Ende aber ergibt all das und mehr ein Kontinuum vielgesichtiger, immer in sich stimmiger Klassizität.

     Von Nummer zu Nummer weiß Hentschel die Stimmen, ihre Timbres und affektiven Potenziale gesondert einzuschätzen. Wenn Minseok Kim als Tamino in Hoody und Sneakers mit den Kräften seines freien, ausgewogenen Tenors nuancierend haushaltet, so rückt das Orchester ihn behutsam ins rechte Gleis und schiebt ihn auch bei leisen Wendungen nicht ins Abseits. Hingegen befeuert Ivo Hentschel die von Sophie-Magdalena Reuter als krasses Comic-Supergirl in scharfem Outfit gezeichnete Pamina. Für den von ihr erwählten Mann will sie gern „Kollegin“ und „Gefährtin“, „Freundin“ und „Frau“ sein, nur keinesfalls sein „Weib“, wie der sonnige Sopran der Künstlerin überlegen postuliert; aber der Dirigent hilft ihr auch kammermusikalisch intensivierend dabei, aus der melancholischen Abgründigkeit ihrer Arie „Ach, ich fühls, es ist verschwunden“ die vielleicht belangvollsten musikalischen Augenblicke der Aufführung zu destillieren.

Sarastros Sauberfrauen

Mit entlasteter Verspieltheit wiederum ist er zwei weiteren Hof-Debütanten dienlich: dem Papageno des jungen Andrii Chakov, der als flitterbunter, flatterhafter Spaßvogel durch sympathische Spielfreude wettmacht, was seinem (noch) ungefügen Bariton an Präsenz mangeln mag; und Henriette Schein: Ihren abgedunkelt schmelzenden Sopran im Ohr, bedauert man, dass Mozart der Papagena nicht weit mehr zu singen gab. Allenthalben vereinen sich verschiedene Stimmen – etwa die der Sauberfrauen Kim, Iwamoto-Ruiter und Tsoungui als Sarastros Putztrupp – zu Ensembles, so einmütig, anmutig, makellos, dass selbst saturierte „Zauberflöten“-Freunde nicht leicht genug davon bekommen.

Andrii Chakov als Papageno (links, mit Minseok Kim): Flatterhaft und flitterbunt.

     Was derart anziehend klingt, schaut auch großartig aus. Manche Anblicke ‚flashen‘ einen geradezu wie die Sets eines Science-Fiction-Filmgewitters – vor allem jene, in denen Scheinwerfer nicht bloß Helligkeit und Schatten spenden, sondern reihenweise selbst die Szenerie errichten. So konstruiert Jürgen Burgers strahlend-meisterhaftes Lichtdesign die „heiligen Hallen“ Sarastros als ausgeräumten Tempel mit Säulen aus senkrecht gleißenden Spotlights; und die Königin der Nacht thront auf einer Art Geschütz, gefügt aus glutvollen Batterien großer Lampen. Zentimeter- und momentgenau, sozusagen choreografisch senken sich die Lichtbringer aus dem Schnürboden herab – und entschwinden wieder dorthin.

     Auch nach dem Finale (mit dem von Lucia Birzer prima präparierten Chor). Dann steht Pamina unverhofft alleine da, während alle anderen mitsamt Tamino, dem vermeintlichen Ewigkeitsgemahl, nach all dem Isisundosiris-Kokolores und Feuerundwasser-Larifari erlöst und erleichtert den Ort der Handlung verlassen, zum Feiern vielleicht, jedenfalls nach hinten ins Helle. Entgeistert schaut ihnen Pamina nach, zurückgelassen im Dunklen der „schlimmen Hölle Einsamkeit“. Alle Menschen: weg von ihr. Elegant auf einem E-Roller über den Schauplatz kurvend, hat ihr kurz zuvor ein Priester (Thilo Andersson) mit Ivana Sokolas klaren Worten Bescheid gestoßen: „Der Himmel steht nicht für immer offen. Und für alle erst recht nicht.“ Sollte ausgerechnet Pamina, die modernste Frau im Spiel, die sein, vor der er sich verschließt?

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.