Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Hauptsache, astronomisch
Seit sage und schreibe 200 Jahren gibt es das Geldinstitut, das heute Sparkasse Hochfranken heißt. Lobenswert kontinuierlich bezuschusst es die Hofer Symphoniker, die auch schon gesegnete 80 sind. Bei einem fesselnden Konzert ließen beide Seiten spüren: Das sind wahrlich Gründe zum Feiern.

Die Symphoniker spielen US-"Klassiker der Leinwand": Trommelwirbel, schmetternde Fanfaren. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 29. Oktober 2025 – So sollte Kino immer beginnen: ungebremst euphorisch mit zackigen Trommelwirbeln, schmetternden Fanfaren, Tutti-Fortissimo. Jedes Mal dann geht Kino so los, wenn die Filme aus dem Haus „20th Century Studios“ kommen. Und warum eigentlich fangen nicht alle Konzerte der Hofer Symphoniker genauso an? Wert wären sies in den allermeisten Fällen. Am Sonntag, passend zum Ende der 59. Hofer Filmtage, gab der berühmte cineastische Auftakt-Tusch wirklich den Startschuss zum Filmmusikkonzert, zu dem die Sparkasse Hochfranken anlässlich ihres 200. Jubiläums eingeladen hatte, zusammen mit dem Orchester, das heuer stolz auf achtzig klangerfüllte Jahre zurückblickt. Seit Langem stärkt ihm das Geldinstitut als verlässlicher Zuschussgeber den Rücken. Das Publikum, im ausverkauften Festsaal der Freiheitshalle zweieinhalb Stunden lang schwung- und anspruchsvoll unterhalten, gratulierte am Ende beiden spontan mit stehendem Applaus.

     Für besagten Schwung sorgt das unüberhörbar motivierte Ensemble, wenn es mit entschlossenem Elan und der Durchschlagskraft der großen Besetzung – und mit dröhnendem, polterndem, glitzerndem Schlagwerk – aufspielt; famos nicht zuletzt das wiederholt exzellierende Englischhorn (die Hörner indes patzen wiederholt). Um wiederum gehobenen Ansprüchen gründlich zu genügen, hat sich Gastdirigent Gottfried Rabl durch profundes Studium sowohl der Partituren wie der Filmgeschichte vorbereitet. 

Farbe und Bedeutung

Nicht nur, dass er mit geschmacksicherem Melos und anheimelnder Harmonik, packenden Rhythmen und schlanker Körpersprache den Musiken Gestalt verleiht; er erinnert zusätzlich als charmanter Moderator das gespannte Auditorium – darunter zahlreiche Sparkassen-Chefs und -Mitarbeiter, uniformiert in schwarzen Anzügen und weißen Hemden mit roten Krawatten – an Höhepunkte des Kinos von den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bis beinah in die Gegenwart, zwischen „Vom Winde verweht“ bis zum „Fluch der Karibik“.

Gottfried Rabl aus Österreich - dirigierend ...

     Ansprüche – die stellten und stellen Regisseure zuhauf an die Scores und Soundtracks ihrer Filme. Durch sie sollen binnen Augenblicken Atmosphären fassbar, Emotionen spürbar werden, sollen Charaktere Farbe und Worte unterschwellige Bedeutungen erhalten, soll die Erzählung Fahrt aufnehmen oder sich zügeln, sollen Szenen miteinander in Kontakt treten oder sich klar scheiden voneinander, sollen Leitmotive eingeführt, entwickelt, transformiert und symbolische Zeichen gesetzt werden … – und das alles, ohne dass die Tonkunst sich vor die Bildkunst und die Dialoge drängt oder gar nach der Hauptrolle giert. Dass aus dem Hinter- oder Untergrund der – von den meisten Zuschauenden kaum bewusst wahrgenommenen – Begleitmusik immer wieder prächtige Perlen aufleuchten, verdankt die Branche den Glanzleistungen älterer und jüngerer Meister wie Alfred Newman (von dem die „20th“-Fanfare stammt) oder Max Steiner, Alan Silvestri – oder John Williams. Der führt, mit heute 93 Jahren immer noch aktiv, die Riege seiner lebenden Kollegen unanfechtbar an. Im Hofer Programm gehen sechs von dreizehn Beiträgen denn auch auf sein Genie zurück. Gut so.

Unendliche Weiten

So das main theme der abenteuerlichen „Indiana Jones“-Reihe. Mit seiner Aufbruchsbereitschaft, der pulsierenden Marschrhythmik und den massiven Bläsersätzen könnte es ebenso gut in die „Star Wars“-Partitur passen. Die Rabl natürlich auch im Portfolio hat: Da lässt er das Orchester durchstarten wie Han Solos „Millenniumsfalken“, mitten hinein in die sprichwörtlichen „unendlichen Weiten“ des Weltraums, und hat dabei hier und da astronomische Anspielungen auf Gustav Holsts „Planeten“ in petto. Aber ebenso weiß der österreichische Dirigent die Triebwerke der Musikerinnen und Musiker zu drosseln: Bei einer Suite aus Alan Silvestris „Forrest Gump“-Vertonung dringen sie in das schlichte Gemüt des Titel- und Sympathiehelden mit argloser Federleichtigkeit ein, und das Klavier klimpert hell in heiliger Einfalt, als wärs ein Kinderlied.

... und moderierend.

     In einer Suite aus „Casablanca“ offenbart sich beispielhaft die immer ein wenig übertriebene Vollmundigkeit des Genres Filmmusik: die stets um eine Spur zu stark aufgetragene Plakatfarbe, die allzu betonte Unmissverständlichkeit der Gefühlszustände. Gleichwohl zeigt sich, mit welch erfinderischer Fertigkeit Max Steiner 1942 in dem legendären Anti-Nazi-Streifen deutsche und französische Hymnen und den – von Herman Hupfeld schon 1931 ersonnenen – Song „As Time goes by“ in raffinierter Kontrapunktik verknotete.

Griff nach den Sternen

Zeit-, Welt- und Weltraumreisen: Zusammen mit „E.T.“, der „komischen Figur“ (Rabl) from outer space, gleiten die Symphoniker wie erdenthoben abermals durch den Äther ins All. Gleich danach, bei Weisen aus Hugo Friedhofers „Die große Liebe meines Lebens“, schmachten sie voll Sehnsucht und Erfüllung, wie es sich für ein kunstgerechtes Rührstück ziemt. Als der Dirigent, abermals direkt im Anschluss, in „Schindlers Liste“ von John Williams blättert, übernimmt Lorenzo Lucca die Rolle des berühmten Geigers Itzhak Perlan, der das bestürzt klagende main theme aus dem singulären Holocaust-Drama als Solist zum Welthit machte; schmerzerfüllt, berührend einfach breitet auch der Hofer Konzertmeister die Melodie aus wie einen traurigen Traum.

     Nach den Sternen greifen die Symphoniker und der Dirigent noch einmal zum offiziellen Abschluss des Abends; wenn auch diesmal nicht mit Klängen der Science-Fiction. „Vom Winde verweht“, der Klassiker, dem Max Steiner über drei Stunden Musik beisteuerte, hat seit der Uraufführung 1939 inflationsbereinigt unglaubliche dreieinhalb Milliarden Dollar eingespielt. Rabl wagt sich sogar auf sechs Milliarden vor. Eine astronomisch Kennzahl. Anzunehmen, dass sie die Bankerherzen unter den weißen Hemden und roten Krawatten der Sparkassler erheblich höher schlagen lässt.

■ Die Hofer Symphoniker feiern ihr achtzigstes Jubiläum am 5. Dezember mit einem Festkonzert im Festsaal der Freiheitshalle. Chefdirigent Martijn Dendievel leitet sie dann bei Werken von Peggy Glanville-Hicks, Ludwig van Beethoven und dem Hofer Komponisten Wolfram Graf. Sein „Hymnus“, ein Auftragswerk des Orchesters, wird zur Eröffnung des Abends als Festmusik uraufgeführt.
■ Die Symphoniker im Internet: hier lang



Gelobte Länder
Sehr alt ist die neue Konzertsaison noch nicht – da sorgten die Symphoniker unter Publikumsliebling Johannes Wildner mit Antonín Dvořáks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ schon für eine schwer zu toppende Sternstunde. Als Solist war der Grieche Stathis Karapanos mit seiner Flöte in Hof zu Gast.

Johannes Wildner mit Stathis Karapanos und Young-Phil Hyun (links) vor den Symphonikern: Wer ist Muse, wer Poet? (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 21. Oktober 2025 – Wenn in diesen Zeiten Nachrichten aus der „Neuen Welt“ hierher gelangen, so steckt zumeist nicht viel Willkommenes in ihnen. Der zu gesunder Vernunft und Mäßigung wenig begabte Staatschef in god’s own country legt die Axt an die Wurzelwerke der Demokratie, diskreditiert die Wissenschaft, zwingt die Welt in Zollkonflikte, hetzt missliebigen Bundesstaaten und ihren Gouverneuren Militär auf den Hals, verhöhnt Klima-, Umwelt- und LGBTQ-Aktivistinnen und -Aktivisten … Schon fühlt sich besagter Präsident als „König“ im gelobten Land. Bis ers wirklich wird, verlangt er erst mal den Friedensnobelpreis für sich. Freude macht das alles nicht.

     Wenn die Symphoniker mit Antonín Dvořáks Neunter Geschichten „Aus der Neuen Welt“ erzählen, dann hört sich das, zum Glück, vollkommen anders an: kraftvoll, wenngleich nie ohne Maß und Ziel, traumhaft, aber ohne Halluzinationen, dramatisch, dennoch ausgeglichen, fesselnd, aber doch befreiend. Beim zweiten Hofer Konzert des Orchesters im Festsaal der Freiheitshalle erfanden die Musikerinnen und Musiker das allerorten allzu oft gespielte Werk für eine Dreiviertelstunde neu – und wurden sehr zu Recht mit schier nicht endendem Beifall gefeiert, zusammen mit Johannes Wildner, dem so leutseligen wie hochkompetenten, auswendig agierenden Gast am Pult. Der hat es in der Region längst zu einem Favoriten des Publikums gebracht, in das sich am Freitag auffallend viele junge Leute mischten.

Relief und Farbe

Bestechend gleich die Adagio-Einleitung in den Kopfsatz mit ihren Leise-laut-Kontrasten und der Vielfalt angedeuteter Stimmungen und Szenerien; so könnte eine große Oper beginnen. Indem Wildner erst recht nach dem vehementen Einstieg ins eigentliche Geschehen das idyllisch Liebliche neben das felsig Schroffe, stürmische Aufregungen neben beschauliche Andacht stellt, formt er Dramaturgie und Klang ungemein lebendig in der Farbigkeit und Dynamik. In jenem Anfangs-Allegro und von hier aus in der ganzen Symphonie breitet sich das tönende Relief aus wie ein kolossales Landschaftsgemälde mit detaillierten Nahsichten und überwältigenden Panoramen. Im Pastorale des Largos stimmen die Blechbläser einen fast sakralen Choral an, bis das Englischhorn seine berühmte Solokantilene anstimmt – nicht als Primadonna geriert es sich dabei, sondern bescheiden feierlich als Hüterin einer idealen, darum schlichten Schönheit. Indessen schließt die anfängliche Traumverlorenheit dieses zweiten Satzes unwillige Ausbrüche und Offenbarungen der Leidenschaft nicht aus. So wird er, gut beobachtbar, zum Musterbeispiel für die Gabe des Dirigenten, jeden Takt minuziös in ein kreatives Verhältnis zum Ganzen zu setzen. 

Stathis Karapanos (bei einer der Zugaben): Immer voll in Fahrt.

     Auch über die Schwelle zwischen den Sätzen hinweg gelingt ihm dies; denn die im Largo zwischenzeitlich entfesselte Impulsivität überhöht Wildner im Scherzo zu treibender Unerbittlichkeit, freilich ohne den Verlauf zu zerfetzen oder lärmend zu zerschmettern. So planvoll organisiert er die Kräfte, dass das Trio (in dem Pauke und Triangel kaum noch hörbar, aber eben doch unerlässlich assistieren) völlig plausibel wirkt in seiner wiederum selbstvergessen-tänzerischen Milde. Auch die anfänglich katastrophische Wucht des Finales bleibt nicht unwidersprochen. Durchatmen darf das Orchester etwa während zarter Klarinettenpassagen. Von der Spannung aber geht weder hier noch in den ausführlichen Durchführungsteilen auch nur eine Nuance verloren, und selbst im Fortissimo-Gebraus hält der Dirigent souverän an seinem Grundsatz fest: vollkommene Transparenz bis zum letzten, langen Nachhall des Blechs.

Muse und Poet

Auf Dvořák und das bezwingende Hauptereignis des Programms haben die Symphoniker sich und die Zuhörenden mit kleineren Kompositionen, wenn auch nicht mit Kleinigkeiten vorbereitet. Bei beiden Gelegenheiten setzt sich der Flötist Stathis Karapanos temperamentvoll in Szene, bei einer von ihnen im Verein mit Young-Phil Hyun, dem imponierenden Solocellisten der Symphoniker, als ruhigerem Partner und Widerpart. Im dialogischen Konzertstück „La Muse et le Poète“ von Camille Saint-Saëns, nach einer einleitenden Abendstimmung des Orchesters von äußerster Zartheit, imaginieren sie zu zweit einen Dichter, der darauf wartet, dass die Inspiration ihn endlich küssen möge. Erst einmal nähern sich die Protagonisten, jeder für sich, einer an den andern an: luftig, dabei klar zeichnend die zur Ungeduld neigende Flöte des 29-jährigen Gasts aus Griechenland, sonor und ernsthaft inständig das Cello. 

     Nahtlos im Einzel- und Wechselspiel, nicht aber ohne konsequent empfundene Widerhaken und Krisen-, ja Schreckmomente musizieren die beiden weniger gemeinsam als aufeinander zu. Nach einer ausführlichen Virtuosenstrecke des Cellos lässt sich Young-Phil Hyun von Karapanos’ Flöte (und Ruth Munzerts empathisch unterstützender Harfe) besänftigen; und sodann gleich wieder motivieren zu übermütigem Miteinander und zum vollends einverständigen Unisono des orgiastischen Schlusses. Solcher Kuss der Muse ist ein Liebesakt.

Geschick und Geschmack

Als Solist, obendrein als Arrangeur exzelliert Stathis Karapanos in der „Zorbas-Suite“, die er mit Geschick und Geschmack aus der berühmten Film- und Ballettmusik seines Landsmanns Mikis Theodorakis destilliert und 2019 in Berlin uraufgeführt hat. Zwar durchdringt mediterrane Folklore die farbensatt und abwechslungsreich instrumentierte Partitur des 2021 hochbetagt in Athen gestorbenen Komponisten; der war (sich) gleichwohl zu gut, um es beim Kitsch klingender Ansichtskarten und Speisekarten-Bildchen zu belassen. Die Flöte, der Karapanos in seiner Bearbeitung die Hauptrolle zuschrieb, dominiert in der symphonisch gearbeiteten Faktur nicht um jeden Preis; allerdings ist der Künstler immer voll in Fahrt und weiß sein Instrument mit fingergelenkiger Artistik und vitalem Atem auf die Höhen technischer Brillanz zu führen. Empfindsam getragene Passagen bleiben Episoden; haarsträubend die zahlreicheren Etappen, in denen sich sein rapides Spiel zu überstürzen scheint – bis, nach tiefer Zäsur, der Gassenhauer-bekannte „Sirtaki“ aus anfänglicher Behaglichkeit in einem Crescendo und Accelerando à la Rossini gipfelt. Unvermeidlich verbreitet sich endlich doch das Aroma eines griechischen Restaurants.

     Was das alles mit der „Neuen Welt“ zu tun hat? Mit Dvořák, zugegeben, nichts. Mit dem transatlantischen Präsidenten immerhin so viel, dass es, anders als er, Mikis Theodorakis wegen seines Engagements für Gerechtigkeit und Freiheit kurz vor seinem Tod auf die Shortlist des Friedensnobelpreises geschafft haben soll; und dass seine Heimat Griechenland, nicht die USA, beanspruchen darf, dass man es als das gelobte Ursprungsland der Demokratie verehrt.

■ Die Texte des Programmhefts verfassten im Rahmen einer „Mitmach-Werkstatt“ acht Schülerinnen und Schüler aus Hofer Gymnasien: Elisa Bice, Leon-Luca Themel, Lilly Rödel, Nelli Kleinhans, Elias Stelzer, Sarah Wolfrum, Hugo Burger und Clara Lang.
■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang



Wegmarken für Mutmacher
Um am Nationalfeiertag das 35. Jubiläum der Wiedervereinigung zu begehen, hat die Stadt Hof die Dresdner Sinfoniker eingeladen. Zum ungewöhnlichen, begeistert beklatschten Konzeptkonzert gehören Inszenierungen: Eine Menschenmauer teilt den Saal, der Dirigent agiert von einem Wachturm herab.

Vor dem Auftritt des Orchesters: Streng wird die Grenze durch den Festsaal bewacht. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 7. Oktober 2025 – Ist zusammengewachsen, was zusammengehört? In Deutschland, seit 35 Jahren wiedervereinigt, immerhin zum Teil. In der Freiheitshalle umso weniger. Dort spaltete sich am Freitagabend die Nation noch einmal, nicht an einer Todeszone, aber an einer kaum durchdringlichen Nahtstelle aus Menschen.

     Anfang Oktober 1989 kamen in Sonderzügen die ersten DDR-Flüchtlinge aus der Prager Botschaft in der Stadt an und wurden mit Jubel und einer Flut der Hilfsbereitschaft überschüttet – Auftakt des welthistorischen Umbruchs, der ein Jahr später im Ende der Deutschen Demokratischen Republik und in der neuen deutschen Einheit mündete. Im Festsaal aber stehen die Zeichen  auf Teilung. Wer Einlass finden will zum Gastauftritt der Dresdner Sinfoniker, muss es sich gefallen lassen, wahllos entweder in den ärmlichen „Osten“ oder den snobistischen „Westen“ der verwunderlich inszenierten Spielstätte bugsiert zu werden. Drinnen zerschneidet eine Mauer grau gekleideter junger Leute mit symbolischer Unverrückbarkeit den Raum von hinten bis ganz nach vorn und über das Podium hinweg. Grimmig streng bewachen Uniformierte die Demarkation. Ein Wachturm - Wegzeichen, Meilenstein, Orientierungsmal der DDR-Grenzbefestigungen - ragt en miniature an der Rampe auf: „Halt! Staatsgrenze! Passieren verboten!“

Löwenthal kontra „Sudel-Ede“

Unverrückbar: Die Mauer aus jungen Menschenleibern. Vorn Choreograf Ali San Uzer vom Theater Hof.

Über zwei Projektionswände, auf denen zunächst Schwarz-Rot-Gold mit und ohne „Hammer und Zirkel im Ährenkranz“ geprangt haben, flackern alsbald Uralt-Fernsehbilder aus gar nicht so lang vergangenen deutsch-deutschen Zeiten: schwarz-weiße Werbeclips der kapitalistischen Konsumgesellschaft versus Elogen auf Errungenschaften sozialistischer Ingenieurskunst; Ost-Mode aus dem Versandhandel („Vierzehn Tage Lieferfrist“) versus Farbfilterfolien für das Fernsehgerät der westlichen Wirtschaftswunderfamilie („vom Augenarzt empfohlen“); hier ein Ratgeber für „Reisen nach drüben“ und das „ZDF-Magazin“ des Kommunistenfressers Gerhard Löwenthal, dort Walter Ulbrichts Mauer, die „niemand“ zu errichten beabsichtigte, und der „Schwarze Kanal“ von „Sudel-Ede“ Schnitzler, der Gift und Galle geifert.

     In Zeiten, da es die Klassische Musik beim Breitenpublikum immer schwerer hat, spezialisiert sich das Projektorchester in Dresden seit 1997 auf neue Tonkunst, auf Klänge aus entfernten Teilen der Welt – und auf Konzerte, die Konzepte sind. „Drüben“: So hat es ein Projekt betitelt, das am 3. Oktober 2022 im Kulturpalast über die Bühne ging und heuer von der Stadt Hof eingeladen wurde, als „Jubiläumskonzert zum 35. Tag der Deutschen Einheit“. Unter den 600 Besucherinnen und Besuchern im ausverkauften Festsaal finden sich kaum Damen und Herren, die hier als Abonnenten die Programme der ortsansässigen Symphoniker zu besuchen pflegen. Mithin ein ‚anderes‘ Konzert für ein unerwartet ‚anderes‘ Publikum: Tiefen Eindruck macht es auf unverhofft ‚andere‘, innovative und belebende Art.

Bis an die Grenzen

Sopranistin Franziska Abram mit Markus Schwind: Erfrischend natürlich.

„Hüben“ versus „Drüben“ – Nenas „99 Luftballons“ versus „Born in the G.D.R.“ der Cottbusser Band Sandow: „Wir können bis an unsere Grenzen gehen.“ Mit Liedern aus Ost und West vereinen sich Franziska Abram, erfrischend natürlich, und Cornelius Uhle diesseits und jenseits der Grenze – nämlich auf den Seitenrängen ganz links und ganz rechts – zur Ouvertüre aus historischen Hitparaden-Evergreens, für die sie eigentlich viel zu jung sind. Mit Bassklarinette und Flügelhorn werden sie von Georg Wettin und Markus Schwind begleitet, die sich danach fix in die Reihen des nur mit Holz- und Blechbläsern, Kontrabässen, Schlagwerk und Orgel besetzten Kammerorchesters eingliedern.

     Denn nach dem Schlagerschmalz wirds für die Ohren ernst. Zwei Werke aus jüngster Vergangenheit folgen, Auftragsarbeiten beide und 2022 uraufgeführt. Zunächst insistieren visionäre Harmonien, durch Überzeugungskraft bewegend: Der Münchner Markus Lehmann-Horn fasste seine Komposition denn auch unter der Überschrift „Utopian Melodies – yelling at Me“ zusammen, „Utopische Melodien rufen nach mir“. Oder „schreien mich an“? Denn Utopien – Ideale, Traumbilder, gesamtgesellschaftliche Wolkenkuckucksheime – erweisen sich schnell als vertrackt: Die meisten Menschen erklären sich mit ihnen einverstanden; die wenigsten erleben, dass sie wahr werden.

Die Mauer fällt

NVA-Soldat und DDR-Grenzer (vom Verein Lebendige Geschichte München): Das Konzert begann schon vor der Freiheitshalle.

Tatsächlich malt Lehmann-Horns grandios komponierte, von den Sinfonikern (vor allem rhythmisch) virtuos dargestellte Satzfolge kein märchenbuntes Bild einer heilen Welt. „Stets drängend“, sogar dröhnend und pulsierend, führt Jonathan Stockhammer, auf dem stacheldrahtbewehrten Dach des Wachturms dirigierend, in unheilvolles Dunkel, durch das bald ein gellender Klangausbruch hallt. Wo sich etwa Flöten und Oboen Fröhlichkeit erlauben, tun sie es mit Schostakowitsch’scher Doppelbödigkeit. „Ruhig und fast geisterhaft“ widerstreiten im akkordischen Mittelteil gespenstische Stagnation und gedämpfte Turbulenz, als stellten sich die Musikerinnen und Musiker bang abwartend auf einen Überfall ein, der dann wirklich wild über sie hereinbricht, noch in verhalteneren Passagen unterschwellig auf Vernichtung pochend. 

     „Energetisch“ bringt der Schlusssatz die Menschenkette quer durch den Saal in Bewegung, um sie endlich niederzuringen: Vom Theater-Hof-Tänzer Ali San Uzer choreografisch angeleitet, sinken die Jungs und Mädchen zu Boden, während die Musik, durchsetzt von Anspielungen auf beide deutsche Nationalhymnen, mit dem Mut zu Pathos und Apotheose den Ton getragener Choräle anstimmt. Die Mauer ist gefallen. Man mag das für überdeutlich, sogar reißerisch halten; unmissverständlich in seiner Anschaulichkeit, nachhaltig in der Wirkung ists gleichwohl.

Kein Geschenk des Himmels

Andreas Boyde: Rasant, treffsicher, jovial.

Dass die „Einheit in Freiheit nicht als Geschenk des Himmels über uns gekommen ist“, merkt Oberbürgermeisterin Eva Döhla mit Fug und Recht an: „Sie wurde von mutigen Menschen errungen.“ Das haben Lehmann-Horns „Utopische Melodien“ mit eindringlichen gestischen Mitteln illustriert. Und auch Charlotte Bray versuchte sich an einem angemessenen Tongemälde: „Landmark“ soll als Wegzeichen, Meilenstein, Orientierungsmal der Demokratie, Freiheit und Menschenrechtlichkeit unüberhörbar die Richtung weisen. Ein nervenzerrend dissonanter Zeitenwendepunkt: Mit grellen Flächen und Konturen will die Komponistin – wie sie schreibt – darauf verweisen, dass die „Hoffnung“ auf etwas vermeintlich „Undenkbares“ Wirklichkeit werden kann.

     Die erneuerte nationale Einheit dokumentiert dann auch der Konzertsaal, der jetzt wieder so wie immer aussieht: Turm, ost-westliche Staffage und Statisterie sind weggeräumt. Stattdessen rollt ein großer Flügel aufs Podium, für Igor Strawinskys 101-jähriges Konzert für Klavier und Blasorchester und den so jovialen wie fingerflinken, zielgenau treffsicheren, rhythmisch rasanten und peniblen Pianisten Andreas Boyde. Zwischen die extrem komplexen Ecksätze schiebt er tief kontemplativ das Largo als ausdrücklichen und ausdrucksvollen Kontrast. Immer bewährt der imponierende Solist einen Anschlag, als ließe sich ein leichthändiger Mozart-Interpret auf Prokofjews Brutalismus ein. Überschwänglich applaudiert und johlt das Publikum, dem Vernehmen nach: ungeteilt.


■ Ein Projekt der Dresdner Sinfoniker und der Stadt Hof in Kooperation mit der Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte. Gefördert von der Sparkasse Hochfranken.
■ Idee und Leitung: Markus Rindt (Mitbegründer und Intendant der Dresdner Sinfoniker), nach einer Inszenierung von Tom Quaas. Inszenierungen vor der Halle: Verein Lebendige Geschichte München (Leitung: Michel Geiß). Vorprogramm: Spielclub H.A.I.D.E (Leitung: Marco Stickel, Theater Hof; Regie: Therese Menzel und Markus Rindt). Menschenmauer: Schülerinnen und Schüler der FOS BOS Hof (Leitung: Anne Geyer). Fernsehprogramm: Ben Deiß und Markus Rindt.


Alles aus Liebe

Ein Eröffnungsabend mit doppelter „Abendmusik“: Beim Start in die neue Hofer Konzertsaison der Symphoniker feiert das Publikum Christian Zacharias nicht nur als Dirigenten der beiden Brahms-Serenaden, sondern auch als Klaviersolisten in Robert Schumanns „Introduktion und Allegro“.

Die Symphoniker mit dem Gastdirigenten am Flügel im Festsaal der Hofer Freiheitshalle. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Hof, 30. September 2025 – Wenn man eine Serenade als Abendmusik wörtlich nimmt, so hätte das Programm der Symphoniker am Freitag gut für zwei Abende gereicht. Nicht nur, dass da eine Serenade erklang – wenig später folgte gleich eine weitere. Wer auf die Überschrift über der Werkfolge – „Lieben Sie Brahms?“ – rundheraus mit Ja antworten konnte, erlebte im Festsaal der Freiheitshalle zur Eröffnung der neuen Hofer Konzertsaison ein doppeltes Vergnügen: stammen doch beide Werke von ihm. Wer schließlich bei der Betitelung des Abends an einen berühmten gleichnamigen Roman (und dessen nicht minder klassische Verfilmung) dachte, sah sich nur zunächst verwirrt, denn am Ende durfte er zufrieden sein: Zwar haben die beiden Serenaden aus dem Frühwerk von Johannes Brahms nichts zu tun mit der Dreiecks-Liebesgeschichte der französischen Schriftstellerin Françoise Sagan; aber das dortige Auf und Ab stillerer und heftigerer Emotionen illustrieren auch sie, auf ihre eigene Weise, durchaus.

     Wie komponiert man zum ersten Mal ein ausgewachsenes Orchesterwerk? Indem man sich erst mal mit einem Stück Kammermusik bescheidet. Dafür jedenfalls entschied sich Brahms, während er, geplagt von Selbstzweifeln und Skrupeln, sich lang schwer tat, mit einem eigenständigen Erstling aus dem Schatten des „Riesen“ Beethoven hervorzutreten. Tatsächlich entstand zunächst als Nonett, was seine erste Symphonie hätte werden können und die Serenade Nummer 1 wurde. In ihr setzt sich, wie in der fast gleichzeitig entstandenen Nummer 2, bereits der charakteristische, klassisch-romantische Brahms-Tonfall aus emotionaler Reserve, kontrolliertem Tiefengefühl und melodischer Schönheit unverkennbar durch.

Ansteckender Elan

Die reduzierte Herkunft hört man den sechs Sätzen nicht an, wenn Christian Zacharias sie den Symphonikern ans Herz legt. Der 75-Jährige, als Pianist wie als Dirigent international renommiert und auch in Hof beliebt, betritt das Podium und Pult mit ansteckendem Elan, wenngleich die oft befremdliche Zeichengebung der mal schlappen, mal wedelnden, mal flatternden Hände wenig dazu passt. Aber der Erfolg gibt ihm recht. Nachdem sich über den Bordunquinten der Celli das Horn wohllautend mit dem Thema erhoben hat, macht er Beethovens Schatten hörbar, indem er an die freimütige Stimmung der „Pastorale“ erinnert. Zwielichtig hingegen (auch durch ungenaue Intonation in Celli und Geigen) das Scherzo, in dessen Walzermotivik Zacharias das Trio als naives Zwischenspiel buchstäblich hineinschiebt. Die ungezierte Thematik des Adagios wertet er durch explizite Punktierung auf; nicht in Nachdenklichkeit, aber in gelassener Selbstbeherrschung üben sich die Musikerinnen und Musiker, die der Dirigent dynamisch wohlweislich in Mezzo- und Piano-Bereichen ausharren lässt.

Christian Zacharias: Emotionale Reserve, kontrolliertes Tiefengefühl, melodische Schönheit. (Foto: Constanze Zacharias)

     Verständig prägt Zacharias jenem dritten Satz das inhaltliche Hauptgewicht der Satzfolge auf, um es sich auch danach nicht einfach zu machen: Statt die jeweils kurzen Teile vier bis sechs zu einem verkappten Symphonie-Finale zu verklumpen, belässt er jedem Abschnitt dessen je individuellen Stellenwert. Im Menuett entspinnen er und das Fagott mit seinen pulsierenden Aufwärtssprüngen eine behagliche Humoreske, bevor sich das zweite Scherzo umso impulsiver dagegenstellt. Durch beherzte Frische derart vorbereitet, vollendet die Unbeschwertheit des entschlossenen Schlussrondos den lebensbejahenden Esprit des Werks.

Wohlgemerkt aber nicht mit der ersten, sondern mit der zweiten der Brahmsschen Serenaden hat der Abend begonnen – und da mag sich so manchem und mancher im Publikum der Eindruck aufgedrängt haben: Da fehlt doch was … ? Wirklich kommen die hier fünf Sätze ohne Violinen aus. Überhaupt erklingen sie subtiler dank einer vergleichsweise kammerorchestral limitierten Besetzung. Auf den folgerichtig tiefergelegten Ensembleklang lässt sich Zacharias gründlich differenzierend ein, nicht zuletzt indem er vom Auftakt an die Holzbläser zur treibenden Kraft des Ganzen aufwertet. Spannungsfördernde Wechsel zwischen Dur und Moll vertiefen die gleichsam philosophischen Neigungen des Kopfsatzes, allzu versunkene Kontemplation aber weiß der Dirigent durch die spontan anspringende Rhythmik des zweiten Teils zu unterbinden. Im folgenden Adagio erlaubt er, über Passacaglia-artiger Streichermotivik, dann doch noch einmal schicksalsbewusste Grübelei – bis er dem selbst in Phasen der Besänftigung untergründig-illusionslosen Ernst neuerlich widerspricht, diesmal mit der Launigkeit des Menuetts. Dem Schlusssatz endlich, über munter ausschreitendem Vierer-Takt, pflanzt die hell vernehmliche Piccoloflöte die Marschmusikalität eines fröhlich-militärischen Standkonzerts ein.

Kurzweilig und gediegen

Lieben Sie Brahms? Da hätte Clara Schumann, Gattin seines Mentors Robert Schumann, nach züchtigem Zögern wohl ein „Ja“ gehaucht. Über bloße Freundschaft ging ihre zärtliche Zugewandtheit zum vierzehn Jahre jüngeren Protegé des Gemahls denn doch hinaus; für viele seiner Werke setzte sie sich als virtuose Pianistin ein. Vor allem aber fungierte sie als Uraufführungs-Interpretin für etliche Werke ihres Mannes, so auch 1850 in Leipzig für ein selten aufgeführtes Konzertstück in G-Dur. Bestehend aus „Introduktion und Allegro appassionato“, reicht dies Opus 92 nie und nimmer für zwei Musikabende, mit nur fünfzehn Minuten Spieldauer kaum für einen. So schmuggelt es sich in Hof zwischen die Serenaden als Intermezzo von willkommen kurzweiliger, wenn auch gediegener Andersartigkeit.

     Als „sehr leidenschaftlich“ empfand Clara Schumann das Werk, als es entstand, „und gewiss werde ich es so spielen.“ Auch Christian Zacharias, vom Flügel aus dirigierend und vom Publikum gefeiert, spielt es so: In der Einleitung tastet er sich mit sachten Arpeggien wie abwartend zum Hauptteil vor, in das er und die Symphoniker dann kraftvolle Temperamente einspeisen. Trotzdem löscht er einen unüberhörbaren Hang zur Zartheit nie ganz aus. Geschwisterlich setzt sein Tastenspiel sich mit Horn und Klarinette ins Benehmen, fließend gleiten seine Läufe, glühend greift er in Akkordpassagen hinei n und zeigt sich um keinen enthusiastischen oder genussvollen Akzent verlegen

     Lieben Sie Schumann? Die „Träumerei“ aus den „Kinderszenen“ als Zugabe spielt Christian Zacharias so schlicht und klar, als hätte er für drei Minuten sein Herz allein an ihn verloren.

■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.