Eine Winterreise
Mit „Eugen Onegin“ eröffnet das Theater Hof klang- und stilvoll die neue Spielzeit. In Tschaikowskys „lyrischen Szenen“ verzichtet Lothar Krause als Regisseur auf alles Überlaute und Spektakuläre. Optisch und musikalisch dominiert feines Kolorit. Reichlich der Beifall: ein Einstand nach Maß.
Von Michael Thumser
Hof, 23. September 2025 – Alles nichts Besonderes: Ein Mädchen, nicht mehr ganz jung, schreibt einen Liebesbrief; ein Mann, kurz vor den besten Jahren, gefällt sich in mondänem Überdruss und glaubt nicht an Gefühle; zwei zornige Herren werfen einander ihre Busenfreundschaft vor die Füße, natürlich wegen einer schönen Frau; am Ende eines Wanderlebens durchschaut ein eitler Einsamer sein Leben als verpasste Chance … Jedes der Details für sich: nicht sehr bemerkenswert. Alle zusammengenommen ergeben sie Pjotr Iljitsch Tschaikowskys „Eugen Onegin“, Russlands berühmteste Oper; die genau genommen, weil wenig und schon gar nichts Ungezügeltes darin geschieht, keine richtig ‚große‘ Oper ist. Als „lyrische Szenen“ hat der Komponist die Puschkin-Adaption wohlweislich untertitelt, und so auch füllte, zur Eröffnung der neuen Spielzeit, Hausherr Lothar Krause die Bühne des Theaters Hof: Getragen wird die Aufführung von poetischer Musik und schöner zwischenmenschlicher Resignation, von sparsamen Bewegungen, dafür seelenvoll und zeichenhaft schimmernden Tableaus des guten Geschmacks und der schmerzlichen Entsagung. Ein Einstand nach Maß. Eine effektheischend durchgefochtene Sensation ists nicht und soll es auch nicht sein.
„Es kann keine Helden geben“, belehrt Mutter Larina ihre Töchter Olga und Tatjana. Als Ehemaklerin der beiden akut heiratsbedürftigen Jungfrauen lässt Franziska Rabl durchblicken, dass die alternde Gutsbesitzerin einst wohl eine große Dame war, bis ihr in der ereignislosen Abgeschiedenheit ihres Landbesitzes das Geld aus- und der Lack abging. Es kann keinen Helden geben, nicht in Tschaikowskys Musikdrama, jedenfalls taugt Eugen Onegin zwar zum Titelhelden, aber nicht zur Hauptfigur. Diesen Rang beansprucht Tatjana, die das aktive Leben und die ernsten Emotionen nur aus Büchern kennt. Mit ihren vielleicht 22 Jahren geht sie noch als das durch, was man früher einen Backfisch nannte: Inga Lisa Lehr, Kern- und Lichtgestalt der Hofer Produktion, bricht die äußerliche Ruhe der sympathischen Figur mit einem schwärmerischen Innenleben und bewahrt ihr dabei viel neugierige Naivität und anrührende Angreifbar- und Verletzlichkeit. (Stefanie Rhaue, hingebungsvoll als ihre alte Amme, tut deshalb alles, um Misslichkeiten von ihrem Schützling fernzuhalten.) Mit hellem, ungeduldig bebendem Sopran bekundet Inga Lisa Lehr die Sehnsucht Tatjanas nach einer romanhaften Romanze, die ihr unerfahrenes Verlangen zum ersten und ein für alle Mal erfüllen soll. In der berühmten Briefszene – als sie dem adrett blasierten Onegin gleich nach der ersten Begegnung ihr Herz schriftlich zu Füßen legt – offenbart sie in sich steigernden Konvulsionen, dass hier eine demütige Träumerin sich bereit macht, die Flügel einer schrankenlosen, den siebten Himmel stürmenden Liebesfähigkeit zu spreiten.
Verlorene Illusionen
Aber sie muss am Boden bleiben – dort, wo sich Sylwia Pietrzak als ihre Schwester Olga leichtsinnig und lebenslustig sehr zu Hause fühlt („Es scheint die Sonne nur für mich“). Denn Onegin, sich auf verlorene Illusionen über die ewige Liebe berufend, weist die Brief- und Antragstellerin unterkühlt zurück: Andrii Chakov, mit wiederholt indifferentem Bariton und strahlungsarmer Attitüde, verwechselt pomadige Steifheit mit stolzer Reserve und tritt erst in der abschließenden Wiedererkennungs- und Trennungsszene aus sich heraus, nun allerdings mit verzweifelter Expressivität.
Es kann keine Helden geben: Auch Lenski, erst Intimus, dann Duellgegner Onegins, darf keiner sein, obwohl sein Charakter ihn weit überragt. Mit elegischer Wehmut sättigt Minseok Kim sein Abschiedslied vor dem Zweikampf, in dem Regisseur Krause ihn überraschend nicht als Kombattanten, sondern als Mordopfer sterben lässt. Für jede Art von Heroismus ungeeignet ist erst recht Gremin, nach etlichen Jahren der Gatte Tatjanas, der sie vergöttert und mit Gold aufwiegt - und den sie nicht liebt. Bei ihr als seiner treuen, „engelsgleichen Retterin“ fühlt sich der steinreiche Fürst sicher vor „Lug und Trug“, was Michal Rudziński steif, wenn auch mit warmer Würde kundtut. Einzig Triquet erntet bei den Leuten auf dem Lande Ruhm: den des Narren; als Buffo-Schalk macht Markus Gruber bei einem Kurzauftritt in vogeligem Outfit grotesk Eindruck.
Zum Helden der „lyrischen Szenen“ muss das Orchester werden. Beim kräftig anhaltenden Premierenapplaus am Samstag wurde den auf der Bühne versammelten Symphonikern denn auch verdienter Extrabeifall zuteil. In der Tat lyrisch, aber nicht rührselig entrollt Arn Goerke die Partitur; einst Musikchef des Hauses, kehrte der Dirigent jetzt aus Regensburg als Gast zurück. Gleichermaßen berufen erweist er sich für Stimmung und Kontur, sowohl für innere wie äußere Anspannungen. Verhalten „szenisch“ fasst er die Oper, doch dort, wo Gelegenheit besteht, durchaus dramatisch. Stets ist es ihm darum zu tun, die jeder Episode jeweils eigene Klanggestalt und Schallstärke auszuwählen, was ihm und dem Orchester viel Nuancierung und dynamische Veränderlichkeit (vom Mezzoforte bis ins Pianissimo) abverlangt. Mit Innigkeit motiviert die Solo-Oboe Tatjana, den fatalen Brief zu schreiben; sorgenvoll deuten tiefe Streicher vor dem Duell an: Das kann nicht gut gehen. Auch schon mal zum Tanz spielen die Symphoniker auf, doch lässt sich nur ein einzelnes Paar aus der Ballettcompagnie – am Samstag Isabella Bartolini und Ali San Uzer – mit stilisierter Leidenschaft auf den fast übertriebenen Schwung aus dem Graben ein.
Tschechow ginge hier auch
Alles nichts Besonderes? Ohne an Kolorit zu sparen, passt sich Dirigent Goerke den zurückhaltenden Pastelltönen der in gebrochenem Weiß gehaltenen Bühne, dem gedeckten Blattgrün der Kostüme geflissentlich an. Die Musik ist intakt – die Szenerie von Ausstatterin Aylin Kaip ists nicht: Wandelemente, Fenstertüren, ein sich wie ein Rahmen hebender und senkender leerer Plafond, sämtlich ramponiert und angeschimmelt, signalisieren Zeitstillstand, Öde und Verfall eines in Ennui und Schönheit gestorbenen Provinzlebens. Auf dieser Bühne ließe sich auch Tschechow prima spielen.
Aber nur zwei der drei Akte lang. Der letzte bestätigt, dass Sommer und Herbst zuvor eine Reise in einen ewigen Winter der Gefühle waren. Ein (Alb-)Traum in Weiß: Als gleißender Gespensterzug geht der Chor um (in dem diesmal vor allem die Damen glänzen), lauter hochwohlgeborene Geister in gefrorener Eleganz – und Tatjana, gekrönt mit einem Hut groß wie ein Wagenrad, ist ihre charismatische „Königin“. Hier, an einem Un-Ort der Herzenskälte, flammen Onegins verheimlichte Empfindungen für die einst Verstoßene endlich auf; und müssen an Tatjanas Gravität zuschanden werden: Dem Drängen ihres einstigen Herzenshelden, der jetzt als gebrochener Ent- und Verführer am Boden um sie fleht, widersteht Inga Lisa Lehr als Marmorstatue, durch Leid gehärtet, wie ein Denkmal tragischer Selbstermächtigung: Was man im Leben wünschen kann, ist ihr zuteilgeworden, nur nicht das Glück.
■ Choreinstudierung: Ruben Hawer. Choreografie: Barbara Buser.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.