Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Um Viertel vor Christus

Beim Applaus für „Monty Python’s Not the Messiah“ hält es das Publikum nicht auf den Sitzen: Das „komische Oratorium“ nach dem Kultfilm „Das Leben des Brian“ – um einen Nobody, der für den Messias gehalten wird – kommt im Theater Hof ohne Sinn und Verstand, aber auch ohne Blasphemien aus.

Nonsens-Show als Oratorium: die Herren Andersson und Gruber, Chakov und Rudziński sowie die Damen Rhaue und Battaglia.


Von Michael Thumser

Hof, 4. November 2025
– Man stelle sich vor: Ein Kritiker alter Schule besucht eine Musicalvorstellung von „Monty Python’s Not the Messiah“, ohne je das kultisch gefeierte Kino-Original „Das Leben des Brian“ von 1979 gesehen zu haben. Wird er die Abenteuer des titelgebenden Nobodys – der „um Viertel vor Christus“ ganz so wie Baby Jesus, allerdings im Nachbarkabuff die Nachtseiten der bethlehemitischen Welt erblickt und gut dreißig Jahre später von den Juden für den verheißenen Heiland gehalten wird –, wird also besagter Rezensent sie in ihrer schrägen Chuzpe ganz begreifen und angemessen belachen können? Womit soll er, von dem doch Expertise verlangt wird, die höchstvergnügliche Hofer Bühnenvariation des Stoffs vergleichen, ohne Kenntnis von dessen kinematografischem Ursprung. Muss ers überhaupt? Bislang war er überzeugt davon, Theater müsse sich selbst erklären.

     Der Film parodiert die Passion Christi – und man darf darüber nachdenken, ob er das tun sollte. Immerhin sieht Brian wie Jesus am Ende seines Erdenwandels der Kreuzigung entgegen, mithin einer der bekanntermaßen grausamsten Hinrichtungsarten, die kranke Menschenhirne je ersannen. Folglich rückt auf der Leinwand die Szene mit dem ans Marterholz geknoteten Brian und dem berühmten Song „Always look on the bright side of Life“ – Schau dir das Leben immer von der Sonnenseite an – nah an die Verhöhnung eines Folteropfers. Und davor macht auch die schärfste Satire am besten halt.

Aus dem Ruder gelaufen

Markus Gruber: Erzkomödiant im Entertainer-Look. (Fotos: H. Dietz Fotografie)

Das Musical von Eric Idle und John Du Prez indes, auch seine Hofer Inszenierung durch den fantasievoll-findigen Manfred Ohnoutka, parodiert die Leidensgeschichte des Messias gar nicht. Sie parodiert noch nicht einmal „Das Leben des Brian“, den Film. Vielmehr nimmt die Produktion in Gestalt eines von Beginn an aus dem Ruder laufenden Oratoriums für Soli, Chor und Orchester à la Händels „Messias“ aufs Amüsanteste die Hochkultur im Allgemeinen und speziell die Klassische Musik aufs Korn, mitsamt ihrer elitären Kleiderordnung – Staatsrobe respektive Frack –, ihrer Bedeutungshuberei, dem Pathos ihrer Deklamationen und Leidenschaftsgebärden. Zumindest so viel lässt sich sagen, wenn man dem mitreißend turbulenten Nonsens überhaupt tiefergehende Neigungen unterzuschieben für nötig hält. Zwar nimmt Brian in einem Augenblick des Idealismus für sich in Anspruch, Judäa von den Römern befreien und überhaupt „die Welt verändern“ zu wollen – aber Mutter Mandy weiß, wie man zu solchen Flausen richtig sagt: „Sentimentaler Quatsch!“

     Um das Spektakel sachgemäß hirnrissig über die Bühne zu bringen, muss für alle Mitwirkenden vom Buffotenor bis zum Dirigenten die Devise gelten: Niemand darf sich für irgendwas zu schade sein. Sogar für den Opernchor gilt das: Je nach Etappe und Situation der un–biblischen Geschichte tänzelt er oder wiegt er sich, schreit auf oder setzt sich Schäfchenmützen auf die Häupter. Vor ihm, aber gleichfalls hinter einem roten Galavorhang hat Annette Mahlendorf zudem die Symphoniker postiert, die unter Michael Falk am Pult zumeist saftig eine Art klassisch-romantischen Pop- und Bigband-Sounds verbreiten, was ihnen hörbar Freude macht. 

Orgiastisches Liebesduett

Andrii Chakov: Meschuggene Beklopptheiten.

Als Buffotenor geht Markus Gruber den Weg aller Irdischen, ein Künstler, den der eingangs imaginierte Kritiker schon des Längeren für sein biegsames und mienenspielerisches Komödiantentum schätzt. Knabeninfantilität fügt er mit grandseigneurhafter Eleganz, Verschmitzheit mit Biedersinn übergangslos zusammen. Spätestens sobald er eine Glitzerweste trägt, beherrscht er den Schauplatz als unwiderstehlicher Entertainer. Brian verdankt seine Existenz dem One-Night-Stand von Mama Mandy mit einem Römeroffizier. Stefanie Rhaue, mit (nach wohlgemerkt eigener Aussage) stolzer Brust und voller Bruststimme, entgeht den Überforderungen der alleinerziehenden Mama durch einen an Hexenhaftigkeit grenzende Abwehrinstinkt. Aus ihm heraus versucht sie auch die Gespielin des Sohnemannes wegzubeißen: Annina Olivia Battaglia indes, das verliebte Flittchen Judith, hält dank ihres schlank-ranken Soprans mühelos stand. Mit ihr verschmilzt Brian wie der Papageno der mozartschen „Zauberflöte“ mit seiner Papagena, allerdings ohne jede Unschuld: Ihr Liebesduett endet orgiastisch. Wenig später umschlingen die beiden einander beim rassigen Paartanz, als wären sie das Vorzeigepaar eines opulenten Balls.

   Eine Frau wär auch Thilo Andersson recht gern, behauptet er jedenfalls kokett. Zwei Mal tritt er als eine auf: als in die Jahre gekommener Blaustrumpf. Daneben fungiert er im – durchweg fix und mit kuriosen Konsequenzen aufeinander reagierenden – Solistensextett vielfältig, auch als Erzähler, der in geistlichen Oratorien oft Evangelist heißt: Einen „durchgeknallten Spaß“ nennt er während eines Rezitativs den zunehmend bescheuerten Himmels-, Höllen- und Heidenlärm. In dessen meschuggene Beklopptheiten versteigen sich auch Michał Rudziński und der hibbelige Andrii Chakov gern, der eine mit weniger, der andere mit umso exaltierteren Spaßmachertalenten. Schade, dass man beider Texte nur partiell versteht, steckt doch Thomas Pigors deutsche Fassung voller roher Anzüglichkeiten und absurder Reime.

„Am Ende nageln sie dich fest“

Thilo Andersson: Ein Blaustrumpf, in die Jahre gekommen.

Trotz alledem müssen spirituell empfindliche Gemüter im Zuschauerraum kaum schlimmere Lästerlichkeiten gewärtigen als im völlig blasphemiefreien „Nipplejesus“ der vergangenen Spielzeit. Zwar ist von Kreuzigung die Rede („Was du auch versuchst: Am Ende nageln sie dich fest“), aber sie kommt, anders als im Film, auf der Bühne nicht vor, wie überhaupt all die Kalauer, Schamlosigkeiten und Übergriffe einen ziemlich weiten Bogen um die biblische Geschichte machen. Nicht im Buch der Bücher, nur im „Buch Brian“ gibts die monströsen Handpuppen und Aliens, die den vermeintlichen Messias piesackend umlagern, ein frenetisches Blockflötenquintett, das ihm herrlich misstönend die Trommelfelle zerfetzt, die Randale um eine Sandale, die das verblendete Volk als „von Gott gesandte“ Devotionalie heilig hält …

   Lauter Quatsch, was sonst. Aber in der Musik, aller Verjuxung ungeachtet, pulst viel vom plastischen Leben und der regsamen Seele, durch die sie erst zu Theater werden kann. In loser Folge und bunter Reihe absolvieren Soli, Chor und Orchester bluesige Jazzsongs und schmalzige Broadwaynummern, Stimmungshits und Erweckungshymnen, „Baroque’n’Roll“ und iberische, karibische, ganz am Ende mexikanische Folklore, alles ohne viel Sinn und Verstand, aber stets mit Schwung, mal mit Schmackes, mal mit Schmelz. Und gelegentlich mit einer Prise Poesie.

     Den eingangs imaginierten Kritiker könnte die Hofer Bühnenshow anregen, sich bei nächster Gelegenheit endlich doch dem Leinwand-Original zuzuwenden. Und eigentlich wärs auch mal wieder an der Zeit, Händels „Messias“ aus dem CD-Regal zu kramen.

■ Als Grundlage der Rezension diente die zweite Aufführung am 2. November.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.



Alles begann im Dschungelcamp

Was passiert, wenn man Frau und Mann, also Gegensätze, die einfach nicht zusammenpassen, auf Gedeih und Verderb vereint? Mit den „Tagebüchern von Adam und Eva“ gelingt dem Theater Hof das Experiment famos. Als Traumpaar im Paradies: Carolin Waltsgott und Maurice Daniel Ernst.

Carolin Waltsgott, Maurice Daniel Ernst: "Jetzt seid ihr als Team gefragt." (Fotos: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 15. Oktober 2025 – Nach und nach erst dämmert es den beiden: Sie sind Teil eines epochalen „Experiments“. Allerdings schaut die Umgebung ganz und gar nicht aus wie ein Labor mit wissenschaftlicher Versuchsanordnung, eher wie das Set eines fremdartigen „Fernsehgartens“, die exotische Staffage einer Realityshow. Erst mal müssen sich die zwei hier zurechtfinden; erst mal jeder für sich. Er macht es sich leicht: Grunzend gibt er sich im Minizelt dem seligen Nichtstun hin und ist sich ausdrücklich selbst genug. Anders sie: Angetrieben fühlt sie sich von Forscher- und Erkenntnisdrang. Was ist das alles um sie her, wie heißt das Zeug? Eifrig pappt sie den Dingen Namen auf wie Etiketten und steckt ihre niedliche Nase in jeden Winkel. Zwangsläufig müssen die beiden aufeinanderstoßen: eine unheimliche Begegnung der besonderen Art, eine folgenreiche.

     Er und sie: Hänsel und Gretel? Tarzan und Jane? Donald und Daisy? Viel, viel älter: Adam und Eva – das mythische Ur-Gespann der Spezies homo. Damit die beiden sich kennenlernen und erkennen – im biblischen Sinn, also fruchtbar werden und sich mehren – müssen sie zusammenkommen, es miteinander aushalten und beieinanderbleiben. Viel verlangt. Wirklich stellen sich Eintracht und Verständnis nur verzögert ein. Denn er will einfach seine Ruhe haben, während sie ihn unentrinnbar vollquasselt (ohne freilich ein dummes Wort dabei zu sagen), sein Zelt okkupiert und überhaupt findet, es sei nicht gut, dass der Mensch allein sei. Davon muss sie irgendwo gelesen haben.

Jenseits von Eden

Amy Brinkman-Davis, Harry Tröger, Markus Jung, Ralf Wunschelmeier (von links): Tugenden des Kammer-Pop.

Alle Achtung: Den beschränkten Spiel-Platz des Studios im Theater Hof verwandelt Ausstatterin Aylin Kaip scheinbar in eine Riesenbühne mit ziemlich opulenter Urwald-Szenerie, von einem blauen Bällebad wie von einem Strom durchflossen; und Regisseurin Rita Sereinig bringt ein pointenreich-satirisches Musiktheaterstück im Kleinformat – von Marc Seitz und Kevin Schroeder – als ausgewachsenes Musical mächtig in Schwung. Wie auch nicht: bei einem Sujet von solcher Größe; geht es doch um nichts Geringeres als um die Genesis, den Anfang von allem, die Wiege der Menschheit.

     Natürlich weiß die Regisseurin, dass es selbst bei Geschichten, die so alt sind wie die Menschheit selbst, nicht genügt, sie immer aufs Neue so zu erzählen, wie es die Menschheit schon immer getan hat. Auch am Schöpfungsbericht der Heiligen Schrift wird die Notwendigkeit sichtbar, ihn anders zu begreifen als vor drei- oder zweitausend Jahren. Das göttliche „Es werde Licht“ sehen Astrophysiker und Kosmologen heute im Urknall manifestiert. Und was die sogenannten ersten Menschen angeht, so lokalisieren Paläoanthropologen sie heutzutage nicht in der Blätter- und Blütenpracht eines jenseitigen Gartens Eden, sondern in ostafrikanischen Savannen einer dreihunderttausend Jahre zurückliegenden Vorzeit. Aber wäre es, wenns anders gewesen wäre, nicht viel schöner? Und lustiger? Liegt uns feierabendlichen Dauerfernsehguckern eine grün strotzende Wildnis nicht viel näher als ein Ödland mit nichts als Trockengras und Sträuchern?

Die Mutter aller Challenges

Maurice Daniel Ernst: Seelenruhe im Minizelt.

Also raus aus der jenseitigen Poesie der biblischen Ursprungserzählung – und rein in den realen Wildwuchs einer schwülen Tropenzone: mitten hinein ins „Dschungelcamp“. Dort breitet Rita Sereinig aus, was die „Tagebücher von Adam und Eva“ so hergeben an menschlichen und allzumenschlichen Einsichten, Erlebnissen und Anekdoten. Gerade „heilige“ Schriften sind die Protokolle der beiden Proto-Menschen nicht, sondern durchaus auch Notizen über Schwachheiten und Fehlleistungen, über abgeschmetterte Annäherungsversuche und zwangsnachbarschaftliche Nerverei. Hätte die Regisseurin das Musical einfach in bunte Natur eingepasst, so wär es wohl beim Kinderhumor des herzigen Pärchens aus den „Liebe ist …“-Cartoons der Australierin Kim Casali geblieben. Sereinig aber – begnadete Idee – deportiert ihre Protagonisten lieber in den superpopulären Quotenbringer des Trash-TV und mutet ihnen zwischen übermannshohen Blumen und schirmgroßem Blattwerk die Mutter aller Challenges zu: sich auf Gedeih und Verderb zu er- und zu vertragen. „Jetzt seid ihr als Team gefragt“, verkündet eine Stimme aus dem Off (Markus Richter) – obwohl doch feststeht: „Mann und Frau passen nicht zueinander.“

     Im Allgemeinen nicht. Im Hofer Studio schon; und wie. Die hinreißende Carolin Waltsgott und Maurice Daniel Ernst, der sich hartnäckig herrlich dumm stellt, ergeben zusammen bei reichlich Körperbewegung und Bodenturnerei ein unwiderstehliches Traumpaar im Paradies. Die beiden mit sozusagen himmlischen Harmonien in elysischem Einklang zu ummanteln, gelingt Amy Brinkman-Davis als Musikalischer Leiterin am Klavier zusammen mit Markus Jung, Ralf Wunschelmeier und Harry Tröger an Cello, E-Bass und Schlagzeug oft einschmeichelnd, gelegentlich energisch. Zu viert pflegen sie alle Tugenden eines munteren, auch kultiviert sentimentalen Kammer-Pop. Dazu gehen Adam und Eva mit vokaler Kernigkeit (er) und tirilierendem Schöngesang voller blütenreiner Spitzentöne (sie) erst mal aufeinander los, dann allmählich aufeinander ein, endlich ineinander auf.

Der Katzenjammer nach dem Sündenfall

Carolin Waltsgott: Treibauf und Störenfried.

Nölend gibt Maurice Daniel Ernst den Adam als Popanz und Phlegmatiker, in eine Gegenwart gebettet, die ihm als endloser Stillstand am liebsten wäre; bis Waltsgotts Eva als unaufhaltsamer Treibauf, Störenfried und zierlicher, aber zündender Funke in ihm die Flamme des Verantwortungsbewusstseins anfacht. Das gelingt ihr spätestens nach dem Sündenfall, als sich die beiden jenseits paradiesischer Geborgenheit im irdischen Leben wiederfinden. „Müde, kalt, Hunger!“: Da macht sich Katzenjammer breit. Dann aber bringt Eva mit Waltsgotts Kraftnatur zwei Jungs zur Welt, Kain und Abel, und erfährt an  ihnen und an Adams Seite zweierlei: das Glück der Elternliebe, aber ebenso die Wucht von Schmerz, Sterben, Tod. Trotzdem bleibt sie dabei: „Außerhalb des Gartens zusammenzuleben ist besser als innerhalb des Gartens allein.“

     Was in den Labors der Wissenschaft als äußerst heikel gilt, ein Versuch am lebenden Menschen, kann Theater sich bedenkenlos erlauben. Das „Experiment“ im Hofer Studio verläuft nach biblischem Plan und glückt dabei zeitgemäß ironisch aufs Wünschenswerteste. Lebensklug hält Eva dem anfänglichen Hier-er-dort-sie, dem Ich-oder-du die „erste Person Plural“ entgegen: ein umfassendes „Wir“. Alles ist erträglich, Hauptsache, man trägt es zu zweit.

■ Das Musical (kreative Entwicklung: Christian Struppeck und Andreas Gergen) basiert auf dem gleichnamigen Prosaband des US-amerikanischen Schriftstellers Mark Twain (1835 bis 1910, „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“). In deutscher Übersetzung liegt das Buch in mehreren, sämtlich preiswerten Ausgaben vor und ist über jede Buchhandlung und online zu beziehen.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang



Guido hat euch lieb
Ein Draufgänger auf der Durststrecke: Dem abgehalfterten Schlagerfutzi Guido gehen die Frauen, die Auftritte und das wertschätzende Publikum verloren, aber nicht die Selbstachtung. Im Bistro des Theaters Hof gründelt Thilo Andersson in alten Hitparaden und entdeckt die Liebe und den Mut.

Von der Nailaer "XXL-Schaumparty" ins Theater-Bistro: Das Duo Andersson-Schmidt. (Foto: H. Dietz Fotografie)


Von Michael Thumser

Hof, 25. September 2025 – Als Thilo Andersson vor 24 Jahren nach Hof kam, ging er glatt als der Peter Alexander des hiesigen Theaters durch. Jetzt ist er der Guildo Horn des Hauses. Als „singende Nussecke“ hatte der echte Guildo (mit l) 1998 seine große Zeit, als er mit Stirn-Scheitel-Glatze vom Typ Hamilton-Norwood VI, schulterlangem Resthaar und seiner Band „Die orthopädischen Strümpfe“ den Eurovision Song Contest rockte. Kindlich trällerte er ein sinnfreies Liebesliedchen – und wurde überraschend Siebter: „Guildo hat euch lieb“. Kaum ein Herz konnte damals anders, als ihm zuzufliegen. Seither hat der Kurzzeitstar nicht nur Haare, auch Federn gelassen.

Bei Thilo Andersson hingegen sitzt die Frisur und schwingt im Rhythmus alter deutscher Schlager: eine tolle Tolle. Und eine tolle Rolle: Als Guido (ohne l) stapft und stiefelt, tanzt und turnt der Sänger über die kleine Bühne von „Mocky’s Backstage Bistro“, so gelenkig, dass niemand unter seiner grellorangen Siebziger-Jahre-Hose mit den Schuhgrößen-weiten Schlägen Stützstrümpfe vermuten würde. Allerdings: Apropos Schlag – den früheren Schlag bei Frauen hat Guido heut nicht mehr, und bei seinen Auftritten, wie jüngst während einer „Mega-XXL-Schaumparty in Naila“, muss er sich mit einem nicht sehr wertschätzenden Publikum bescheiden. Jetzt - gecoacht von Lena Herpich als Regisseurin und Ausstatterin sowie von Michael Falk als musikalischem Leiter - positioniert er sich im Theater-Bistro gelegentlich mit einem kalten Bier im Schaukelstuhl, wenn er nicht am Mikrofonstativ die seit Jahren und Jahrzehnten gecoverten Hits aufs eigene Schattendasein anwendet.

Lasch wie Dosenspargel

Thilo Andersson: "Es ist aus mit Heike."

Hatte Guido je das Zeug zum Star? Heute jedenfalls umfunzeln ihn, statt Glanzlichtern, nur „Ranzlichter“. So überschrieb Knut Winkmann einen „Abend mit Musik über halbvolle Gläser“, dessen erstes Stück 2015 das Uraufführungspublikum in Lübeck in einen solchen Taumel versetzte, dass es sich dort inzwischen zur „Kult-Trilogie“ auswuchs. Auch in Hof, bei der Premiere am Sonntag, zündete der Funke gleich: Kaum hatte Andersson – in lilagoldner Fransenjacke – das quietschbunte Kleinkunstbühnensetting geentert, klatschten die vielfach mittelalterlichen bis spätmittelalterlichen Evergreen-Fans im Takt.

Dennoch reichen selbst Roland Kaisers „Sieben Fässer Wein“ kaum hin, sich die Welt schön zu saufen. „Es ist aus mit Heike“, der von Guidos Dosenspargel-Lebenslaschheit längst abgetörnten Partnerin, jetzt erfährt er auch noch am Telefon, dass seine geplante Tour gecancelt wurde, zu seinem „eigenen Besten“. Mit den Rodgau Monotones gibt er denn auch zu: „Heute ist nicht mein Tag“, und weil sich gerade keine Gelegenheit ergibt, wie Ikke Hüftgold „Hackevoll durch die Nacht“ zu düsen, fantasiert er sich wenigstens, wie Rio Reiser, auf den Thron eines anarchisch absolutistischen „Königs von Deutschland“. Ein Traum, was sonst. Melancholisch erinnert er sich an seinen allerersten Song, den er pubertierend einer Franzi dedizierte, und dankt in Gedanken einer Gabi, die für ihn nach „zwanzig Jägermeistern“ zum „Engel in der Notaufnahme“ wurde. Also reißt sich der „ranzig“ gewordene Charts-Restposten zusammen: „Du musst aus der Regenrinne saufen, auch wenn du winzig klein bist“, und tatsächlich reckt und streckt er sich nach Kräften, weil die nicht ganz unzerkratzte Kehle ja noch ein paar Takte durchlässt. Er wagt sogar, wie Nena, „irgendwie, irgendwo, irgendwann“ eine neue Liebe zu erwarten.

Aus Mut gemacht

Oliver Schmidt: Stoischer Begleiter in allen Lebens-, Lieder- und Niederlagen.

Denn auch die wird „aus Mut gemacht“, und an dem fehlts Thilo Andersson nicht. Als einer der Sympathiehelden des Hofer Theaters zieht er sich wie ein welkender Berufsjugendlicher die Schnulzenheini-Existenz an, mit witziger Wichtigtuerei und der Verve eines unbeirrten Ohrwurm-Aufwärmers, der als verlöschender Stern nicht zu hoffen aufhört, er könne noch ein bisschen was für sich abzweigen von der Strahlkraft der Stars seiner jungen Jahre. Ein Draufgänger auf der Durststrecke: Zu aufrichtig ist der Künstler, als dass er Guido kurzerhand als lächerlichen Kitschkasper dissen wollte; vielleicht bekundet Andersson in der Rolle des unverdrossenen Untergehers hier und da ja sogar ein Stück von sich selbst. Dazu gehört so viel Courage wie zur Liebe, und das lässt ihn, den Heldenmütigen und Nimmermüden, nur charmanter wirken. Die Zuschauerinnen und Zuschauer im Bistro feiern ihn dafür, bis ihm Herz und Mund übergehen: Guido (ohne l) „hat euch lieb.“

■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.


Eine Winterreise

Mit „Eugen Onegin“ eröffnet das Theater Hof klang- und stilvoll die neue Spielzeit. In Tschaikowskys „lyrischen Szenen“ verzichtet Lothar Krause als Regisseur auf alles Überlaute und Spektakuläre. Optisch und musikalisch dominiert feines Kolorit. Reichlich der Beifall: ein Einstand nach Maß.

Feierlicher Gespensterzug aus Eis - nur ein Paar tanzt (Isabella Bartolini und Ali San Uzer. - Foto: H. Dietz Fotografie).


Von Michael Thumser

Hof, 23. September 2025 – Alles nichts Besonderes: Ein Mädchen, nicht mehr ganz jung, schreibt einen Liebesbrief; ein Mann, kurz vor den besten Jahren, gefällt sich in mondänem Überdruss und glaubt nicht an Gefühle; zwei zornige Herren werfen einander ihre Busenfreundschaft vor die Füße, natürlich wegen einer schönen Frau; am Ende eines Wanderlebens durchschaut ein eitler Einsamer sein Leben als verpasste Chance … Jedes der Details für sich: nicht sehr bemerkenswert. Alle zusammengenommen ergeben sie Pjotr Iljitsch Tschaikowskys „Eugen Onegin“, Russlands berühmteste Oper; die genau genommen, weil wenig und schon gar nichts Ungezügeltes darin geschieht, keine richtig ‚große‘ Oper ist. Als „lyrische Szenen“ hat der Komponist die Puschkin-Adaption wohlweislich untertitelt, und so auch füllte, zur Eröffnung der neuen Spielzeit, Hausherr Lothar Krause die Bühne des Theaters Hof: Getragen wird die Aufführung von poetischer Musik und schöner zwischenmenschlicher Resignation, von sparsamen Bewegungen, dafür seelenvoll und zeichenhaft schimmernden Tableaus des guten Geschmacks und der schmerzlichen Entsagung. Ein Einstand nach Maß. Eine effektheischend durchgefochtene Sensation ists nicht und soll es auch nicht sein.

     „Es kann keine Helden geben“, belehrt Mutter Larina ihre Töchter Olga und Tatjana. Als Ehemaklerin der beiden akut heiratsbedürftigen Jungfrauen lässt Franziska Rabl durchblicken, dass die alternde Gutsbesitzerin einst wohl eine große Dame war, bis ihr in der ereignislosen Abgeschiedenheit ihres Landbesitzes das Geld aus- und der Lack abging. Es kann keinen Helden geben, nicht in Tschaikowskys Musikdrama, jedenfalls taugt Eugen Onegin zwar zum Titelhelden, aber nicht zur Hauptfigur. Diesen Rang beansprucht Tatjana, die das aktive Leben und die ernsten Emotionen nur aus Büchern kennt. Mit ihren vielleicht 22 Jahren geht sie noch als das durch, was man früher einen Backfisch nannte: Inga Lisa Lehr, Kern- und Lichtgestalt der Hofer Produktion, bricht die äußerliche Ruhe der sympathischen Figur mit einem schwärmerischen Innenleben und bewahrt ihr dabei viel neugierige Naivität und anrührende Angreifbar- und Verletzlichkeit. (Stefanie Rhaue, hingebungsvoll als ihre alte Amme, tut deshalb alles, um Misslichkeiten von ihrem Schützling fernzuhalten.) Mit hellem, ungeduldig bebendem Sopran bekundet Inga Lisa Lehr die Sehnsucht Tatjanas nach einer romanhaften Romanze, die ihr unerfahrenes Verlangen zum ersten und ein für alle Mal erfüllen soll. In der berühmten Briefszene – als sie dem adrett blasierten Onegin gleich nach der ersten Begegnung ihr Herz schriftlich zu Füßen legt – offenbart sie in sich steigernden Konvulsionen, dass hier eine demütige Träumerin sich bereit macht, die Flügel einer schrankenlosen, den siebten Himmel stürmenden Liebesfähigkeit zu spreiten.

Verlorene Illusionen

Vor dem Duell im Schnee: Minseok Kim und Andrii Chakov (links).

Aber sie muss am Boden bleiben – dort, wo sich Sylwia Pietrzak als ihre Schwester Olga leichtsinnig und lebenslustig sehr zu Hause fühlt („Es scheint die Sonne nur für mich“). Denn Onegin, sich auf verlorene Illusionen über die ewige Liebe berufend, weist die Brief- und Antragstellerin unterkühlt zurück: Andrii Chakov, mit wiederholt indifferentem Bariton und strahlungsarmer Attitüde, verwechselt pomadige Steifheit mit stolzer Reserve und tritt erst in der abschließenden Wiedererkennungs- und Trennungsszene aus sich heraus, nun allerdings mit verzweifelter Expressivität.

     Es kann keine Helden geben: Auch Lenski, erst Intimus, dann Duellgegner Onegins, darf keiner sein, obwohl sein Charakter ihn weit überragt. Mit elegischer Wehmut sättigt Minseok Kim sein Abschiedslied vor dem Zweikampf, in dem Regisseur Krause ihn überraschend nicht als Kombattanten, sondern als Mordopfer sterben lässt. Für jede Art von Heroismus ungeeignet ist erst recht Gremin, nach etlichen Jahren der Gatte Tatjanas, der sie vergöttert und mit Gold aufwiegt - und den sie nicht liebt. Bei ihr als seiner treuen, „engelsgleichen Retterin“ fühlt sich der steinreiche Fürst sicher vor „Lug und Trug“, was Michal Rudziński steif, wenn auch mit warmer Würde kundtut. Einzig Triquet erntet bei den Leuten auf dem Lande Ruhm: den des Narren; als Buffo-Schalk macht Markus Gruber bei einem Kurzauftritt in vogeligem Outfit grotesk Eindruck.

     Zum Helden der „lyrischen Szenen“ muss das Orchester werden. Beim kräftig anhaltenden Premierenapplaus am Samstag wurde den auf der Bühne versammelten Symphonikern denn auch verdienter Extrabeifall zuteil. In der Tat lyrisch, aber nicht rührselig entrollt Arn Goerke die Partitur; einst Musikchef des Hauses, kehrte der Dirigent jetzt aus Regensburg als Gast zurück. Gleichermaßen berufen erweist er sich für Stimmung und Kontur, sowohl für innere wie äußere Anspannungen. Verhalten „szenisch“ fasst er die Oper, doch dort, wo Gelegenheit besteht, durchaus dramatisch. Stets ist es ihm darum zu tun, die jeder Episode jeweils eigene Klanggestalt und Schallstärke auszuwählen, was ihm und dem Orchester viel Nuancierung und dynamische Veränderlichkeit (vom Mezzoforte bis ins Pianissimo) abverlangt. Mit Innigkeit motiviert die Solo-Oboe Tatjana, den fatalen Brief zu schreiben; sorgenvoll deuten tiefe Streicher vor dem Duell an: Das kann nicht gut gehen. Auch schon mal zum Tanz spielen die Symphoniker auf, doch lässt sich nur ein einzelnes Paar aus der Ballettcompagnie – am Samstag Isabella Bartolini und Ali San Uzer – mit stilisierter Leidenschaft auf den fast übertriebenen Schwung aus dem Graben ein.

Tschechow ginge hier auch

Tatjana, durch Leid gehärtet: Inga Lisa Lehr mit Andrii Chakov.

Alles nichts Besonderes? Ohne an Kolorit zu sparen, passt sich Dirigent Goerke den zurückhaltenden Pastelltönen der in gebrochenem Weiß gehaltenen Bühne, dem gedeckten Blattgrün der Kostüme geflissentlich an. Die Musik ist intakt – die Szenerie von Ausstatterin Aylin Kaip ists nicht: Wandelemente, Fenstertüren, ein sich wie ein Rahmen hebender und senkender leerer Plafond, sämtlich ramponiert und angeschimmelt, signalisieren Zeitstillstand, Öde und Verfall eines in Ennui und Schönheit gestorbenen Provinzlebens. Auf dieser Bühne ließe sich auch Tschechow prima spielen.

     Aber nur zwei der drei Akte lang. Der letzte bestätigt, dass Sommer und Herbst zuvor eine Reise in einen ewigen Winter der Gefühle waren. Ein (Alb-)Traum in Weiß: Als gleißender Gespensterzug geht der Chor um (in dem diesmal vor allem die Damen glänzen), lauter hochwohlgeborene Geister in gefrorener Eleganz – und Tatjana, gekrönt mit einem Hut groß wie ein Wagenrad, ist ihre charismatische „Königin“. Hier, an einem Un-Ort der Herzenskälte, flammen Onegins verheimlichte Empfindungen für die einst Verstoßene endlich auf; und müssen an Tatjanas Gravität zuschanden werden: Dem Drängen ihres einstigen Herzenshelden, der jetzt als gebrochener Ent- und Verführer am Boden um sie fleht, widersteht Inga Lisa Lehr als Marmorstatue, durch Leid gehärtet, wie ein Denkmal tragischer Selbstermächtigung: Was man im Leben wünschen kann, ist ihr zuteilgeworden, nur nicht das Glück.

■ Choreinstudierung: Ruben Hawer. Choreografie: Barbara Buser.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.