Unschuldig wie der erste Mensch
Findlinge faszinieren, und gar um Kaspar Hauser ranken sich seit zweihundert Jahren wüste Spekulationen – ein kurzes Leben, aber eine große Geschichte. Endlich scheint der „schönste Krimi aller Zeiten“ aufgelöst: Abkömmling eines hohen Fürstenhauses war der junge Mann definitv nicht.
Von Michael Thumser
21. September 2024 – Es ist, als käme der erste Mensch noch einmal zur Welt. Aus einem Durchbruch im Boden wird er geboren, eine Gestalt wie aus Lehm, Schmutz oder Moder, so wie der Gott der Bibel sagt: „Du bist Erde, und zu Erde musst du wieder werden!“ Kein Monster gelangt da ans Bühnenlicht, auch kein Mensch; sondern ein Ur–Mensch: eine Un–Person, die es eigentlich nicht geben, die man ignorieren, meiden, abtun soll. So illustrierte bei der Freiburger Uraufführung 2016 eine zeitgenössische Oper die große Geschichte eines kurzen Lebens: „Kaspar Hauser“ heißt Hans Thomallas neunzigminütiger Dreiakter für Countertenor sowie acht Sängerinnen und Sänger, schlicht so wie der berühmteste Findling Deutschlands und Europas.
Erstmals sichtbar, aber zunächst namenlos trat er in die Geschichte des Kontinents am Pfingstmontag des Jahres 1828, dem 26. Mai: ein etwa Sechzehnjähriger von bäuerlicher Erscheinung, in einen abgetragenen Militärrock gekleidet, in Händen einen alten Hut, die Füße in geflickten Stiefeln. Mehr stolpernd als gehend, wie ein Betrunkener wankte er durch die Altstadt Nürnbergs, kaum der Sprache mächtig, wie ein Wesen aus einer anderen Welt: ein Alien des neunzehnten Jahrhunderts. Offenbar, so ließ sich aus Äußerungen des offenkundig ausgesetzten Jugendlichen und durch Recherchen allmählich erschließen, hatte er sein bisheriges Leben in Isolationshaft, in einer Art Verließ gefristet, versorgt zwar mit Nahrung und dürftiger Kleidung, doch ohne Bezug zu irgendwelchen Menschen darüber hinaus. Als Spielgefährten standen ihm drei Holztierchen, darunter ein ramponiertes Pferd, zur Verfügung. Wenn er aus dem Schlaf erwachte, fand er Brot und Wasser vor. Auch schnitt ihm irgendwer die Nägel und das Haar, wahrscheinlich während er, verabreichter betäubender Substanzen wegen, bewusstlos lag. Genaueres zu seiner Person wusste er nicht zu sagen und beschied jede Erkundigung danach mit: „Weiß nicht.“ Befragt, wie er heiße, krakelte der Junge immerhin „Kaspar Hauser“ auf einen Fetzen Papier; schreiben konnte er darüber hinaus nicht. Aber fortan hatte die Kreatur einen Namen: war Subjekt.
Anziehendes Naturell
Dass er das Schreiben dann doch lernte, und noch weit mehr, das verdankte er einem Gymnasiallehrer, der ihn vielseitig unterrichtete und währenddessen zum Schluss kam, es bei dem Arg- und Ahnungslosen mit einem auffallend intelligenten und lernbegierigen Burschen mit musischer, auch zeichnerischer Begabung zu tun zu haben. Als Gerichtsschreiber verdingte sich Hauser später in Ansbach, wohin ihn der namhafte Jurist Anselm von Feuerbach, als Gerichtspräsident und sein Vormund, verpflanzt hatte. Hier legte der einst unbeholfene Exot sichtlich an Gewandtheit zu. Zunehmend zeitigte sein Naturell anziehende Seiten, er lernte, eine gute Figur und Konversation zu machen und auf Bällen anmutig zu tanzen. Rasch überwand seine Bekanntheit die Grenzen: Als „Kind von Europa“ adoptierte ihn verklärend die empfindsame Welt. Trotzdem gehörte er nirgends wirklich hin. Schmerzlich erfuhr er dies, als sich ein aufopferungsvoller Gönner, der Brite Philip Earl Stanhope, von ihm abwandte – und später in einem Buch die ganze Affäre zur Täuschung erklärte –; erst recht, als Feuerbach 1833 starb.
Fünf Jahre nach seiner Nürnberger Auffindung empfing Hauser im Ansbacher Hofgarten, angeblich von einem Unbekannten, einen mörderischen Messerstich, dem er nach dreitägigem Todeskampf am 17. Dezember desselben Jahrs erlag, mit etwa 21, rührend milde Dankesworten auf den Lippen. Nicht zum ersten Mal wurden rasch Stimmen laut, die für möglich hielten, er habe sich aus Geltungsdrang eigenhändig verwundet. Auf dem Stadtfriedhof liegt er begraben; auch auf der Opernbühne kehrt er am Ende als Erde zu Erde, als Staub zu Staub zurück. Hauser – ein Pfingstwunder im Zwielicht? Nur ein Herumtreiber wie andere auch? Im Hofgarten erinnert ein Denkmal an ihn: „Hic occultus occulto occisus est“ – „ein Unbekannter wurde hier von einem Unbekannten ermordet.“ Wer weiß, obs stimmt. „Aenigma sui temporis / ignota nativitas / occulta mors“ steht auf seinem Grabstein: „Hier liegt Kaspar Hauser. Das Rätsel seiner Zeit, seine Herkunft unbekannt, geheimnisvoll sein Tod“. Alles drei trifft zu.
Totes Baby in der Wiege
Lange hielten Forscher, Fantasten, Mythenjäger das Findelkind für einen erbberechtigten, aber unerwünschten und darum schonungslos auf die Seite gebrachten Abkömmling des großherzoglichen Hauses Baden und seinen Tod für das Attentat eines gedungenen Mörders. Der brutale Abschluss einer gigantischen Intrige als Stoff für einen veritablen Politkrimi: Zur Welt gekommen sei der angebliche Kaspar in Wirklichkeit als Sohn des Großherzogs Karl und seiner Gemahlin Stéphanie. Das Kind sei nicht etwa, wie seinerzeit behauptet, kurz nach der Geburt verschieden, sondern verschleppt worden; statt seiner habe man am Sterbetag das verblichene Söhnchen einer Dienstbotin in die Wiege gelegt, mit dem Ziel, die reguläre Erb- und Thronfolge auf eine andernfalls nicht anspruchsberechtigte Nebenlinie des Herzogshauses umzulenken. Durch den Austausch habe man vermeiden können, sich am blauen Blut des aristokratischen Säuglings letal zu vergreifen; davor seien die Verschwörer dann doch zurückgeschreckt.
Knapp zweihundert Jahre des wüsten Spekulierens und Gerüchtekochens, stockender Kriminalistik und moderner Forensik mussten ins badische Land gehen, bis zu guter Letzt wenigstens die halbe Wahrheit über den armen Knaben ans Licht kam; soll heißen: bis auch die Legende vom entsorgten Fürstenspross zum Staub in seinem Grab zerfiel. „Kaspar Hausers vorgeblich adelige Herkunft – Neue molekulargenetische Analysen klären den Streitfall“ überschreibt die – seriös unter peer review publizierte, also von Experten begutachtete – interdisziplinäre Online-Plattform iScience eine jüngst veröffentlichte Studie. Für sie hatte sich ein siebzehnköpfiges Kollektiv deutscher und österreichischer, britischer und US-amerikanischer Forschender zusammengetan. Ihnen gelang es durch unwiderleglich zuverlässige Methoden, ein 28 Jahre währendes Für und Wider von zweifelhaften Untersuchungen des Erbmaterials zu beenden, das in der Unterwäsche und in Haarproben des Ermordeten sichergestellt worden war.
Nicht verwandt und nicht verschwägert
Nach Prüfung der Spuren durch drei voneinander unabhängige Laboratorien teilen die Experten nun unmissverständlich mit: „Die Proben wurden mit den modernsten verfügbaren Techniken umfassend begutachtet. Unsere Analysen zeigen, dass die mitochondriale DNS in unterschiedlichen Haar- und Blutproben, die Kaspar Hauser zugeschrieben werden, identisch ist, was zum ersten Mal ihre Echtheit beweist. Deutlich unterscheidet sie sich von der mitochondrialen DNS, wie sie bei mehreren Personen ermittelt wurde, die mütterlicherseits mit Hausers mutmaßlicher Mutter Stéphanie de Beauharnais, Großherzogin von Baden, blutsverwandt sind. Dies schließt die ‚Prinzentheorie‘ aus.“
Der „schönste Krimi aller Zeiten“? So apostrophierte der Historiker Golo Mann launig den tragischen Fall, der nicht nur Bestürzung weckte: Kurt Tucholsky etwa erwählte Kaspar Hausers Namen frech zu einem seiner Pseudonyme als Satiriker. Jedenfalls verlieren Verschwörungstheoretiker mit Affinität zur feudalen Kriminalgeschichte angesichts der abschließenden Genanalyse den dünnen Boden unter ihren Füßen. Dafür rücken zwei Briefe wieder in den Fokus, die sich bei Hauser fanden, als man ihn aufgriff. Im einen entschuldigt sich ein „armes Mägdlein“ dafür, dass sie, seit der Vater ihres Kindes gestorben sei, die Mittel nicht mehr aufbringen könne, ihr Söhnchen weiter zu versorgen. Im anderen, der gleichfalls keine Unterschrift trägt, lässt ein Unbekannter wissen, den fremden Jungen dereinst vor seiner Haustür aufgesammelt und sechzehn Jahre lang aufgezogen, allerdings auch vor aller Welt verborgen zu haben. Fügen sich die Angaben auf den beiden Dokumenten zu einer Geschichte? Wurden die Schriftstücke womöglich mit verstellender Hand von ein und derselben Person verfasst? Auch diese Fragen werden offen bleiben, wohl für immer.
Wunder aus der Wirklichkeit
Wie bei vielen Wundern aus der Wirklichkeit schossen Mutmaßungen über Herkunft und Wesen Hausers derart bunt und zahlreich ins Kraut, dass sie Bände füllen. So gaben und geben einige Zeitgenossen und Nachgeborene Hauser schlechterdings für einen Hochstapler und die insgesamt zwei Anschläge auf ihn für missglückte, schließlich tödliche Selbstverletzungen aus. Ein niederbayerischer Heimatforscher wollte viele kleine Gründe gefunden haben, Europas großen Unbekannten auf den schäbigen Fehltritt eines Geistlichen aus dem Passauer Raum zurückzuführen. Aber will man die Wahrheit wirklich wissen? Noch dazu solch eine ‚Wahrheit‘: Der Mysteriöse, entzaubert als die Lendenfrucht eines allzumenschlich sündigenden Gottesmannes, Ergebnis eines ächzenden Techtelmechtels in schweißfeuchtem Pfarrhausdunkel? Lieber nicht. Verkörpern sich doch in der historischen Mirakelgestalt sozusagen Archetypen des Verlassenseins. Gesetzt, Hausers Geschichte als eines lebendig Begrabenen entspricht den Tatsachen, so wuchs er elternlos auf, um halbwüchsig als Unbehauster nach existenzialistischem Verständnis „in die Welt geworfen“ zu werden. Mithin blieb ihm die wesentlichste Etappe menschlicher Entwicklung grausam vorenthalten: nicht, dass der anonyme Junge, der später das Etikett Kaspar Hauser tragen sollte, eine schlimme Kindheit gehabt hätte; er hatte gar keine.
Und doch wohnte auch diesem Menschenkind der unwillkürliche Lebensimpuls inne, sich zu entwickeln, aus einem amorphen Zustand von Körper, Seele, Geist im Kontakt mit anderen die eigene Persönlichkeit herauszuschälen. Weil er sich nicht als Teil einer Gemeinschaft wahrnahm, musste er sich als Einzelnen empfinden, als Wesen wesenlos. Nirgends gehörte er dazu. Statt elterlicher Zuwendung gewährten seine Kerkermeister ihm lediglich lebenserhaltende Maßnahmen. Anstelle von Außenreizen, Welt- und Vorbildern wurde ihm ausschließlich der Eindruck eines so gut wie unveränderlichen Nichts zuteil – das Schwarze Loch der Erfahrungslosigkeit als eigentlicher Kerker. Wer nichts erlebt, nicht nur keine Liebe, nicht einmal Angst, findet nichts zum Lernen. Indem das Kind von jeder Einsicht in einen Sinn von Sein und Tun ferngehalten wurde, war es zum Stumpfsinn eines niederen Wirbeltiers verurteilt. Einschneidender kann kein Verbrechen gegen Menschsein und Menschlichkeit ausfallen.
Unbeschriebene Blätter
Seit jeher reizen Geschichtslose von Hausers Art den wohlmeinenden Ehrgeiz der Philosophen und Pädagogen. Vor allem während der Aufklärung des achtzehnten, im Zuge des positivistischen neunzehnten Jahrhunderts kam ihnen solch ein Zeitgenosse ‚ohne Vergangenheit‘ gelegen: als Inbild des unbeschriebenen Blatts. In seinem von keinem Außen gelenkten oder gehemmten, folglich von Anstand und Manieren ungetrübten Verhalten fanden sie nicht den ungezogenen, sondern den unerzogenen Menschen vor, nicht das ungebildete, sondern ihr Ideal des unverbildeten Individuums. In ihm meinten die Denker und Erzieher einen Wiedergänger des ersten Menschen am Anfang der Natur vor ihren neugierigen Augen zu haben, eine Verkörperung der Natürlichkeit in aller Unschuld.
Verständlich, dass sich Dichtung und Film immer wieder insistierend daran beteiligten, die Geschichte solch neuen Adams unters Volk zu bringen. Und es gab Vorläufer dafür: Gut ein Dreivierteljahrhundert vor Hausers Auftauchen in Nürnberg und Eintauchen in die moderne Mythologie hatte der Engländer Henry Fielding 1749 mit viel Humor und Abenteurerei die „Geschichte eines Findlings“ in seinem Roman über das Rätselbaby „Tom Jones“ ausgebreitet. Hingegen stellte Heinrich von Kleist den „Findling“ seiner gleichnamigen, 1811 erschienenen Novelle in den Mittelpunkt einer Familienkatastrophe, die sich auf ewig „auch noch in der Hölle“ fortsetzt.
„Trägheit des Herzens“
In Jakob Wassermanns viel gelesenem Roman von 1908 stirbt „Caspar Hauser“ an der „Trägheit des Herzens“ – so der Untertitel des Buchs –, an der eigenen physischen Passivität und, vor allem, der seelischen Indolenz der anderen, die den Ärmsten bequem als Schwindler abtun. Ausdrücklich auf das Motiv des unbeschriebenen Blatts bezog sich Peter Handke 1967 in seinem Stück „Kaspar“: Gleichsam eine weiße Fläche ist sein Findeljunge, weil er keine Sprache hat. Als „einzigen bekannten Fall, dass ein Mensch erwachsen ‚geboren‘“ wurde, rollte Werner Herzog den Kasus in seinem 1974 bei den Hofer Filmtagen uraufgeführten Leinwanddrama „Jeder für sich und Gott gegen alle“ auf. Darin zeigt er Hauser als einsamen Einzelnen, als zunächst „leeres Gefäß“, von der Umwelt mit oft sinnlos erscheinenden Regeln und Normen überfüllt. „Fast den Charakter eines Passionsdramas“ schrieb Dieter Krusche jenem Film zu – was sich hingegen von Peter Sehrs aufwändiger Adaption des Stoffs nicht sagen lässt: Sein „Kaspar Hauser“-Krimi, der 1993 gleichfalls in Hof herauskam, zitiert mit seinem Untertitel Anselm von Feuerbachs Diktum vom „Verbrechen am Seelenleben eines Menschen“ und hält sich, um es aufzuklären, frappierend überzeugend an die „Prinzentheorie“; aus heutiger Sicht erzählt er, dramaturgisch durchaus statthaft, Geschichte nicht, wie sie „wirklich gewesen“ ist, sondern wie sie hätte verlaufen können. Einen anderen, ähnlichen, ebenso historischen Fall verfolgte François Truffaut 1969 im Kino mit dem „Wolfsjungen“: Der ist, als man ihn im Wald fängt, mehr Tier als Mensch; ein so liebevoller wie pedantischer Arzt versucht, es oder ihn zu sozialisieren, bis der Wildling sich schließlich hilflos zwischen Zivilisation und Natur verfangen hat wie in einem Netz.
Lauter Fiktionen. Die reale Spielart des Findelkinds landet heutzutage in der Babyklappe eines Krankenhauses. Und kommt andererseits den Abendländern scharenweise bedrückend nah: Als „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ gelangen junge Menschen – meist mittellos, an Leib und Seele ausgelaugt – über die Grenzen Europas. Um kriegerischer Gewalt, sozialen Zwängen, blanker Not zu entrinnen, lassen sie Heimat, Familie und Freunde hinter sich, entschlagen sich jeder Art von Rückendeckung, Halt und Sicherheit. Ende 2023 kümmerte sich die Jugendhilfe in Deutschland um etwa 41.800 „unbegleitete Minderjährige und junge Volljährige“ (so der amtliche Sprachgebrauch). Elternlose, Verlassene, Unbehauste sind sie; aber hinter jedem liegt, anders als bei Kaspar Hauser, seine weitläufige persönliche Geschichte. Der orientierungslose Knabe Kaspar wurde aufgefangen. Von Tausenden junger Menschen seiner Art indes fehlt in Deutschland jede Spur. Mitten in einer Gesellschaft der sozialen Netze und Netzwerke konnten sie, die Findlinge von heute, einfach verloren gehen.
■ Alle Abbildungen: Wikipedia/gemeinfrei
■ Zitate aus der iScience-Publikation gekürzt, umgestellt, leicht redigiert. Der originale englische Volltext im Internet: hier lang.
Das Kleinmaleins des Lebens
"Deutschlands hoffnungsvollsten Pessimisten" nannte ihn Marcel Reich-Ranicki, selbst sah sich Erich Kästner als Moralisten und Augenzeugen, der in der Heimat blieb, auch als die Nazis die Intelligenz vertrieben. 2024 ist das Jahr seines 125. Geburts- und, am Montag, seines fünfzigsten Todestages.
Abendlied
Der doppelte Erich: Auf einem Foto von 1959 schaut Kästner, sechzigjährig, nachdenklich seinem eigenen Bronzeporträt (von Theodor Freyber) ins Gesicht. Erkennbar sagt ihm, dem Verfasser des „Doppelten Lottchens“, der Hintersinn der Aufnahme zu. Zwiefach war er ja in vielem: ein Autor für Erwachsene und einer für Kinder; ein Kleinbürger und doch in bester Gesellschaft etabliert; bissiger Nazi-Hasser und ‚innerer Emigrant‘, der seinem Deutschland auch dann nicht den Rücken kehrte, als es braun um ihn wurde und er zu „vetrocknen“ drohte; lustvoller Liebhaber und notorischer Junggeselle; reifer Mann und ewiger Knabe, besessen von Mutterliebe. Kann so einer, selbst 125 Jahre nach seiner Geburt am 23. Februar 1899, fünfzig Jahre nach seinem Tod am 29. Juli 1974, an Interesse verloren haben? An doppeltem und dreifachem Interesse: als Schreiber? Zeitzeuge? Mensch?
Der dreifache Erich: Erich Kästner, Erich Ohser, Erich Knauf. Ohne viel Rücksicht berserkerten sie frech in der sächsischen Pressewelt. Knauf, als mutiger Redakteur der Plauener Volkszeitung, veröffentlichte 1927 ein offenherziges Gemeinschaftswerk seiner beiden namensvetterlichen Freunde: Kästners „Abendlied eines Kammervirtuosen“ nebst der punktgenau sitzenden zeichnerischen Übersetzung durch Ohser, der sich später e.o. plauen nannte und zu einem der besten und tragischen satirischen Zeichner der Weimarer Republik avancieren sollte. Musikalische Empfindung durchtönt das nicht unverfängliche Poem: „Du meine neunte Symphonie! / Wenn Du das Hemd anhast mit rosa Streifen … / Komm wie ein Cello zwischen meine Knie / und lass mich zart in Deine Seiten greifen.“ Neben den Strophen pflegt der hingestrichelte „Kammervirtuose“ entsprechend streichend und zupfend innigst Umgang mit seinem apfelbusigen Lieblingsinstrument.
Eine Ohrfeige
Blasphemie, Tempelschändung: So riefen die Leipziger Blätter den publizistischen Frevlern aus dem Vogtland entgegen. Denn zwar geschah die Lästerei in der Faschingszeit, während der grundsätzlich gesteigerte Nachsicht geübt zu werden pflegt, zugleich aber ostentativ im hundertsten Todesjahr des unantastbaren Beethoven. Das Bildungsbürgertum in seiner Klassiker-Schwärmerei spürte sehr wohl die Ohrfeige, die ihm die Frivolität der so kaustischen wie kunstvollen Lyrik versetzte. Kästner und Ohser, damals beide bei der Neuen Leiziger Zeitung in Lohn und Brot, galten fortan in der anständigen Presse- und Messestadt als untragbar. Fristlos entlassen, wanderten sie sogleich nach Berlin aus und tauchten, für Jahre schier schlaflos, ein in die Hektik der metropolitanen Boheme; ein Boden, darauf die Lust am Lästern trefflich gedeiht.
Bis an sein Ende bewahrte sich Kästner seinen Graus vor aller verordneten Erhabenheit und der intellektuellen Unnahbarkeit des „lockig im Winde wallenden Gehirns“. Sarkastisch vom Boden der Tatsachen aus blickte er an den Monumenten empor, die elitäre Geistlosigkeit oder Massenwahnsinn sich errichteten.
Der Moralist
Wer ist das, der da durch das Berlin der späten 1920er-Jahre streicht und horcht und schaut? Fabian, der Roman-Protagonist, oder nicht doch sein Autor selbst, Erich der Einsame, der „Lohnbuchhalter seines Lebens“, nur leicht maskiert und umbenannt? „Da schaut man seinen eignen Schatten an. / Der springt und eilt, um sich nicht zu verspäten, / und Leute kommen, die ihn kühl zertreten. / Da hilft es nichts, wenn man nicht weinen kann“: Das Gedicht, aus dem die Strophe stammt, heißt „Apropos, Einsamkeit!“ Das, wovon darin die Rede geht, erfuhr Kästner und erfährt Fabian, sein wenig reckenhafter Held, am eigenen Leib.
Früh und rasch reifte Kästners Rhetorik aus: zu einer Geläufigkeit, die bei aller Glätte nichts beschönigt, zur „neuen „Sachlichkeit“ eines blitzenden Esprits, der nichts überhöht und künstelt. Fabian, zum bedürfnislosen Lebenskünstler geboren, arbeitet wie sein Autor am fleißigsten mit den Augen. Fast gehen sie ihm über im „Irrenhaus“ Berlin, im apokalyptischen Chaos der Straßen. Die breiten sich aus als „hoffnungsloses, unbarmherziges Labyrinth“, Spinnennetz von Gaunerei und Verbrechen, dunkelfeuchtes Substrat für Laster und Unzucht, Endstation ungezählter Elender. „In allen Himmelsrichtungen Untergang“: Metropolis, in syphilitischer Auflösung begriffen. Viel vom jungen Kästner steckt in der gleichaltrigen Figur: ein im Leben und Lieben unruhig umhergetriebener Werbetexter, der den besten Freund und seine Freundin verliert und, durch dummen Zufall, am Ende das Leben einbüßt, nie aber den guten Grund, sich selber treu zu bleiben.
Das angeblich unmoralische Buch: Nur zu gern bestätigte Kästner, es werde in dem Roman mehrfach „auf die anatomische Verschiedenheit der Geschlechter hingewiesen. Er deutet wiederholt jenen Vorgang an, den man temperamentloserweise Beischlaf nennt. Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden. Nichts unterlässt [der Autor], was die Sittenrichter zu der Bemerkung veranlassen könnte: Dieser Mensch ist ein Schweinigel.“ Als Nachbemerkung fügte der Dichter diese Sätze einem Buch an, das doch, im Untertitel, für sich in Anspruch nimmt, „die Geschichte eines Moralisten“ zu erzählen. Prosa ‚ab achtzehn‘: Jene Deutlichkeit und starknackige Integrität, gepaart mit schamlos-unverschämter Gallig- und Bissigkeit, führte den Autor zu Einsichten in die gesellschaftlichen Verhältnisse, an denen sich so wenig rütteln lässt wie an der grundlegenden Anthropologie des Buchs: „Die Liebe ist ein Zeitvertreib, / man nimmt dazu den Unterleib.“
Bittere Satire
Der „Fabian“ des 31-Jährigen ist also ein satirisches Buch, und ein bitteres auch. Was Kästner einmal über den Freund Joachim Ringelnatz in die Zeitung setzte, galt sein Leben lang auch für ihn: „Er reißt keine Witze. Er hat Humor, also jene Gemütskrankheit, die eine große Traurigkeit mit Ironie und Güte zu kurieren sucht.“ Beobachtungen finden sich in seinem Roman aufgezeichnet, keine Rezepte, um Abhilfe zu schaffen und Deutschland, Europa und die Welt zu retten.
Aufschreibungen eines Zuschauers: Zeugnis legen sie ab über seine Alltagswelt und sein Krisenbewusstsein während der Agonie der Weimarer Republik. Eine sich radikalisierende Gesellschaft trat ihm vor Augen, eine verelendende Masse, eine nationalistische Rechte, die nach der Herrschaft im trudelnden Nach- und Vorkriegsland gierte. Die Zeitgenossen sah er „rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist“. Wie ein Bordell durchstreift der illusionslose Ironiker Kästner alias Fabian Berlin, schwermütig amüsiert und angewidert von der fauligen Luft im Moloch. Hier blühen Gier und Süchte, eine Mittellosigkeit, die in Opportunismus mündet, belanglose Zwischenmenschlichkeit aus der Distanz, gleichgültige Erotik („Die eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei serviert“). Liebe, wo Fabian sie versucht, geht unheilbar zugrunde. Gewalt sieht er kommen, einen Krieg Arm gegen Reich, Faschismus gegen Grund- und Menschenrecht.
Wer Kästners „Fabian“ heute liest, staunt über die Wahr- und Offenheit in den Fiktionen. Noch schonungsloser dokumentiert seine Beobachtungen das ursprüngliche Typoskript, rauer, dorniger. Da hieß das Buch noch „Der Gang vor die Hunde“, war aber aus Sicht der Deutschen Verlags-Anstalt der Öffentlichkeit weder unter diesem Titel noch ohne mäßigend zensierende Eingriffe zumutbar. Erst über achtzig Jahre später, 2013, durften Lesende die Urfassung kennenlernen, vom Kästner-Biografen Sven Hanuschek so herausgegeben, „wie sie vom Autor geplant und gemeint war“. Die Rekonstruktion brachte mit sich, dass ein ganzes (vorzügliches) Kapitel der bisherigen Druckfassung nun in den Anhang wanderte, während andere, mindestens ebenso groteske Episoden des Originals zurück in den Haupttext fanden, zusammen mit drastischen Notaten über Männlein und Weiblein, ihr Beieinandersein und Zusammen-Kommen. All das hatte der Rotstift des errötenden Lektors Curt Weiler 1931 vorsichtshalber ausgemerzt.
Auf verlorenem Posten
„Als Zuschauer“, wird Kästner einmal schreiben, „bin ich nicht zu überbieten.“ Was er sah und notierte, könnte heute gesehen und notiert sein: die Krise des Kapitals, die Angst vor „Überfremdung“, Manipulationen der Medien und durch sie, Vernichtung von Arbeit durch Automation … Unter die „Tiefseelentaucher“ musste einer wie Kästner gar nicht erst gehen: Schon „Beschreibung ist Erklärung genug“.
Nicht der Psycho- und Zeitanalytiker in ihm wars, der ihn zum Aufschreiben drängte, wohl aber der Moralist. „Dessen angestammter Platz bleibt der verlorene Posten. Sein Wahlspruch heißt: Dennoch!“ Über ein sittliches Programm und Predigerworte verfügte er dabei nicht. Blauäugig, allerdings ehrlich benannte er sein Ziel: Schlicht zu Anständigkeit und Vernunft will der mitlaufende Fabian, wollte der mitschreibende Kästner den Menschen verhelfen. Darin trafen sich zwei Schreibweisen: zum einen der mahnende Witz der anzüglichen Gedichte und Kabarett-Chansons, der (von ihm selbst so genannten) „Gebrauchslyrik“ mit ihrer frappierenden Gescheitheit, ihren Spiegelungen des durchsonnten oder eintrübenden Alltags, mit ihrer Scharfsicht auf soziale Stimmungslagen, mit der hier scharfzüngigen, dort schwarzmelancholischen, mitunter sentimentalen, stets hochliterarischen Sprachvirtuosität, etwa in der „Entwicklung der Menschheit“ und der „Sachlichen Romanze“; auf der anderen Seite seines Œuvres stehen die gemäßigteren, auch schon mal leichter gewichteten Worte, die er an die großen und kleinen Leser seiner Geschichten richtete.
„Deutschlands hoffnungsvollsten Pessimisten“ hat Marcel Reich-Ranicki ihn genannt. Und doch verstand sich Kästner als Urenkel der erleuchteten deutschen Aufklärung – und des von ihm verehrten Gotthold Ephraim Lessing –, als Rationalisten, „spinnefeind der unechten ‚Tiefe‘, die im Land der Dichter und Denker nie aus der Mode“ kam. Dreierlei setzte er ihr entgegen: Aufrichtigkeit des Empfindens; klares Denken; einfache Sprache. Mögen manche Verse vergnüglich zur Unanständigkeit neigen – sein Stil besitzt und verlangt Anstand durch und durch. Gerade hat sich Fabians Freund, der aufrechte Labude, das Leben genommen, einer von einem Neider schmählich inszenierten Täuschung wegen. „Fabian blieb apathisch. Wollte er die Besserung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen. Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dorthin.“ Indes: „Apathie“? Tatenlosigkeit? Bei einem Autor, der, bis heute sprichwörtlich, postulierte: „Es gibt nichts Gutes, / außer man tut es“? Er „warte auf den Sieg der Anständigkeit“, sagt Fabian – und Kästner sagt es an anderer Stelle noch einmal –, „aber ich warte darauf wie der Ungläubige auf ein Wunder.“
Der Augenzeuge
Das Wunder kam nicht. Die Nazis kamen. Und als sie da waren, blieb Kästner im Lande, trotzdem, wiewohl die Aussicht gering schien, sich dort weiter „redlich nähren“ zu können. „Ich bin ein Deutscher aus Dresden in Sachsen. / Mich lässt die Heimat nicht fort. / Ich bin wie ein Baum, der – in Deutschland gewachsen –,/ wenns sein muss, in Deutschland verdorrt.“
Bevor die Nationalsozialisten Feuer an die Synagogen legten, bevor sie, „neuen Lebensraum“ erobernd, Osteuropa weitflächig versengten, ließen sie Bücher in Flammen aufgehen. Zu den ersten Schriftstellerinnen und Schriftstellern gehörte Kästner, deren Werke 1933 ins Feuer gingen. Aus der Nähe schaute er dabei zu, als wohnte er seiner eigenen Hinrichtung bei. Als Augenzeuge verfolgte er eine Art Verbrennung bei lebendigem Leib, die zwar nicht seinen Körper, wohl aber sein geistiges Schaffen – und das von über 120 einheimischen wie internationalen Autoren – zu Asche zerfallen ließ.
Die zentrale Exekution (andere hatten andernorts schon stattgefunden oder fanden noch statt) war für den 10. Mai auf dem Berliner Opernplatz anberaumt, genau hundert Tage nach der Übergabe der Macht im Lande ans Hitlerregime und ausgerechnet gegenüber der Humboldt-Universität. Die „Deutsche Studentenschaft“ war losgezogen gegen „den jüdischen Geist, wie er in der Welthetze in seiner ganzen Hemmungslosigkeit zum Ausdruck kommt“; am Tag vor dem Autodafé hatte Joseph Goebbels als Festredner zugesagt. Ein Magnet für die Menge wurde aus dem pathetischen Spektakel, multimediales Hauptereignis auch für Rundfunk und Presse. Als grausiges Volksfest beschrieb die Landarbeiterin und Schriftstellerin Elisabeth Castonier den Abend: „Menschenmassen strömten die Linden entlang, Musikkapellen spielten, es herrschte Feiertagsstimmung. Hoch beladene Lastwagen brachten das Brennmaterial, die deutsche Literatur.“
Theatralische Frechheit
Als Einziger der namentlich aufgerufenen, fortan verfemten Autoren sah Kästner „dieser theatralischen Frechheit“ zu: „Ich stand eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen, abgefeimten Lügners.“ Der „Feuerspruch“, mit dem der Schreihals Goebbels zugleich mit Kästners Schriften auch die von Heinrich Mann und Ernst Glaeser kläffend verdammte, wandte sich schwülstig „gegen Dekadenz und moralischen Verfall“ und hielt die Fahne von „Zucht und Sitte in Familie und Staat“ hoch. Über Kästner, der damals auf dem Gipfel seiner Berühmtheit stand, wurde ein Publikationsverbot verhängt, wenngleich erst spät; zwei Mal holte die Gestapo ihn ab zum Verhör, ohne allerdings weitere Konsequenzen zu ziehen. Wie ernstlich er dennoch prinzipiell an Leib und Leben bedroht war, konnte er am Schicksal der Freunde Erich Knauf und e.o. plauen ablesen, die der mörderischen Diktatur zum Opfer fielen. Aber Kästner, auf seinem Horch- und Beobachtungsposten, blieb: Als „Augenzeuge“, stand für ihn fest, sei er unverzichtbar.
Er hat weiter geschrieben und später, nach Zusammenbruch und Wiederaufbau, recht verächtlich herabgeschaut auf die Produktion jener Jahre: etwa auf die altmodisch-köstliche Romankomödie um die „Drei Männer im Schnee“. Er schrieb weiter, pikanterweise – unter dem Pseudonym Berthold Bürger – auch das Drehbuch zum Kolossal-Farbfilm „Münchhausen“, mit dem Joseph Goebbels, als „Volksaufklärer“ selber Lügenbaron, 1943 das 25. Jubiläum der Ufa zelebrieren ließ. Dienstbar aber machte Kästner sich den Ideologen nicht: „Was immer geschieht: / Nie darfst du so tief sinken, / von dem Kakao, / durch den man dich zieht, / auch noch zu trinken.“ Letztlich hat er sich daran gehalten. Dass Goebbels’ Schergen ihn zwar einzuschüchtern, aber letztlich nicht zu greifen wagten, mag, wie der Literaturkritiker und Autor Tobias Lehmkuhl in seiner – im runden Geburts- und Todesjahr 2024 erschienenen– Untersuchung „Der doppelte Erich“ vermutet, seinen Grund in der enormen Popularität des Autors gehabt haben.
Zu aufsässigem Heroismus raffte der sich zwar nicht auf und schrieb auch später eine solche Haltung sich nicht zu. Aber „bestimmt nie, auch nicht zum Schein [war er] ein Nazi geworden“, das attestierte ihm sein Schriftsteller-Kollege Carl Zuckmayer bereits 1943 in einem Bericht an US-amerikanische Geheimdienstler. Vor beidem scheint er immer gerade noch rechtzeitig haltgemacht zu haben: vor zu viel Widersetzlichkeit, vor zu viel Subordination. Ein Hasardspiel trieb er über all die Jahre, das ungeachtet seiner Dauer überraschend günstig für ihn endete und auch urplötzlich hätte anders ausgehen können. Beim Vergleich „mit dem Schicksal der meisten anderen ‚unerwünschten‘ Autoren“ nannte er das seine „ein Kinderspiel“.
Gutes Gewissen
Für seine Steherqualitäten wie für seine Wendigkeit wurde er belohnt. Den Büchnerpreis nahm er 1957 entgegen – Ehre, wem Ehre gebührt. Zugleich zogen Missgünstige und Skeptiker ihn, als ‚inneren Emigranten‘, durch den Kakao der Verdächtigungen. Warum hatte nicht auch er sich den Beschwernissen des Exils aussetzen wollen? Hatte er – aus Bequemlichkeit zurückbleibend, duldend, durchhaltend – sich nicht unter der Hand einverstanden erklärt mit den Gräueln, von denen er wusste? „Ich habe ein gutes Gewissen“, hatte er schon nach dem Brand des Reichstags in Berlin an seine Mutter geschrieben, „ich würde mir später den Vorwurf der Feigheit machen.“ Im Tagebuch „Notabene 45“ – als Abrechnung mit der Gewaltherrschaft fesselnder als die Theatergroteske „Die Schule der Diktatoren“ – dokumentiert Kästner 1961 subjektiv und, mag sein, idealisierend und bemäntelnd, wie er zwölf Jahre Nazi-Gegenwart bewältigte und wie er Vergangenheitsbewältigung verstand. Die „Große Chronik“, die rückblickend über Hitlers Despotie und Krieg zu schreiben sei, nenne „Zahlen und zieht Bilanzen, das ist ihre Aufgabe. Sie verbürgt die Zahlen und verbirgt den Menschen, das ist ihre Grenze.“ Und ein paar Sätze später: „Die Menschen wurden wie vierstellige Zahlen auf die schwarze Tafel geschrieben und, Schwamm drüber, ausgelöscht. In der Großen Chronik ist für sie alle Platz, doch nur für alle miteinander. Der Einzelne kommt darin nicht vor.“ Die „großen Chroniken“, die seither geschrieben wurden, würden ihn inzwischen eines Besseren belehren.
Doch gab Kästner ausdrücklich als Einzelner Auskunft, mit „Beobachtungen aus der Perspektive einer denkenden Ameise“. In einem von ihm streng geheim gehaltenen „Blauen Buch“ – einem blau eingebundenen Diarium – verzeichnete er zwischen 1941 und 1945, wie er den Alltag in Deutschland erlebte, das sich immer mehr in die Lage brachte, den vom Zaun gebrochenen Krieg und jede Achtung zu verlieren. Wenn einer wie er, linksbürgerlicher Regimegegner, sich zugegeben fragwürdigerweise zum Ausharren entschloss, so immerhin nicht, um es sich leichter zu machen als jene, die es auf sich nahmen, Leben und Habe zurückzulassen, um wenigstens die nackte Haut zu retten. Jene zwölf Jahre lang war er Tag für Tag mit der Lebensaufgabe des Überlebens ausgelastet gewesen, nun fragte er die Frager und Zweifler: ob sie denn vergessen hätten, dass „Deutschland das von Hitler zuerst und am längsten besetzte und gequälte Land gewesen“ sei. Weder sich noch die zig Millionen „Untertanen“ entschuldigte er, die sich geduckt und gebeugt hatten. Aber er wusste, wie leicht der erste Stein in der Hand wiegt und wie ungenau es sich dennoch mit ihm treffen lässt.
Der Musterknabe
Vor, zumal während und noch nach Diktatur und Krieg war Kästners unverlorenes, immer wieder aufgesuchtes Paradies die Kindheit. Zeitlebens blieb er großer Junge, Muttersöhnchen, „Musterknabe“, der seine Vorbildlichkeit bisweilen peinlich unterstrich. Nicht zur Haupt- und Staatsaktion neigte er in seinen Stoffen – wiewohl er es bedauerte, dass er selbst zur Großen (Roman-)Chronik über die Zeit von 1933 bis 1945 nicht berufen war –; lieber und besser rechnete er mit dem „Kleinmaleins des Lebens“.
Viel Autobiografie steckt in vielen seiner Bücher, im „Fabian“ (erst gar im „Gang vor die Hunde“) und auch in den „Drei Männern“ , desgleichen in den Kinderromanen des Emil Erich Kästner, wie er vollständig hieß, im kleinen Berliner Großstadtkrimi um „Emil und die Detektive“, dem Bestseller von 1929, ebenso wie in den Schüler- und Pädagogen-Abenteuern rund ums „Fliegende Klassenzimmer“. Lehrer hatte er selbst werden wollen und dann doch erkannt, dass er für den Dienst in den Schul-„Kasernen“ so wenig geschaffen war wie für den in den Kasernen der Armee. Als Lehrer verstand sich der Aufklärer gleichwohl: Durchaus auch als „Schulmeiser“ trat der Moralist an, der nachfolgenden Generationen beibrachte, „Mut und Klugheit unter einen Hut zu bringen“ (wie es im „Fliegenden Klassenzimmer“ heißt). Reif für Ideale hielt er allein die Kinder, „dem Guten noch nah wie Stubennachbarn. Man muss sie nur lehren, die Tür behutsam aufzuklinken.“
Einen der anrührendsten Texte, die Kästner den Kindern ans Herz legte, scheint er insgeheim an einen Erwachsenen adressiert zu haben und an das Kind, das er einst war: an sich selbst. In „Als ich ein kleiner Junge war“ singt er das Loblied erster Jugend, errichtet dem bis zur Unsinnigkeit verzärtelten „lieben, guten Muttchen“ Ida - das zu starken Depressionen, zur Suizidgefahr gar neigte - ein weichgezeichnetes Denkmal und feiert in warmen Bildern und Worten die Pracht Dresdens, in dem Emil Erich, der Knabe, in einfachsten Verhältnissen und frühreifer Hellsicht herangewachsen war. „Geschichte, Kunst und Natur schwebten über Stadt und Tal wie ein von seiner eigenen Harmonie bezauberter Akkord.“ Das hätte auch ein anderer, früherer Erzähler und Kindheitsautobiograf, Jean Paul, in seiner „Selberlebensbeschreibung“ nicht beseligter formulieren können.
Kästners Dresden ging unter wie die Kinderzeitidylle des oberfränkischen Poeten, nur noch gründlicher. Die Erinnerung daran blieb ihm – der schließlich in München lebte und dort 75-jährig starb – unauslöschlich wie der Schmerz um die Herrlichkeiten der sächsischen Residenz, die nach den alliierten Nacht-Bombardements vom Februar 1945 auf ewig vernichtet waren. Seinen Sinn, zu wissen, was schön sei, wusste er gewachsen an den Ansichten jener Stadt und ihrer Landschaft.
Gesunde Sinne
Es gibt sie also, die Konstanten im kurvenreichen Leben des vielfach zwiefachen Erich Kästner: moralische Maßstäbe, autarken Eigensinn und Mitmenschlichkeit, pointierten Verstand, Jugendzauber … Und die „gesunden Sinne“ gehörten dazu: in den Sinn fürs Schöne eingeschlossen auch die Sinnlichkeit. In Wort und Tat kein Kostverächter der Liebe, seinerseits erotischer „Kammervirtuose“ wie jener des abendlichen Frühgedichts, griff er vielen Damen zart und genüsslich „in die Seiten“. Er, der bekannte, nicht gern zu reisen, war beharrlich unterwegs zu den Frauen und hinterließ, mit einem selbstzufriedenen Dominanz-Anspruch, wie er sich heute schwerlich mehr ausstehen ließe, wohl da und dort die Trümmer gebrochener, kaum heilbarer Herzen. „Wir winden keine Jungfernkränze mehr. / Wir überwanden sie mit viel Vergnügen. / Zwar gibt es Herrn, die stört das sehr. / Die müssen wir belügen“, lässt er einen „Chor der Fräuleins“ frivol trällern. Der mutterbezogene „Kleinbürger“, auf persönliche Sicherheit bedacht, durchbrach den Kodex der Bürgersittlichkeit, indem er dreißig Jahre lang unverehelicht mit Luiselotte Enderle zusammenlebte; und eine andere, Friedel Siebert, zur Mutter eines Sohnes machte.
Den spät, erst mit 58 Jahren, erfüllten Kinderwunsch hatte er schon früh, wenn auch nur gelegentlich verspürt. Noch der gut situierte, auch saturierte Lebemann und reichlich dekorierte Preisträger blieb nicht nur als Essayist, Anti-Atom-Aktivist und Festredner unverwüstlich, sondern auch in einem halbreifen Wesenszug des Nicht-Erwachsenseins. Eine Kinderzeitschrift, den Pinguin, gab er ein paar Jahre lang heraus. Weiterhin schrieb er Kinderbücher – und auch Erwachsene lasen (und lesen noch?) seine geisterfrischenden, herzstärkenden, sinneschärfenden Jugendgeschichten mit Gewinn und vielleicht ein wenig Wehmut.
Gedächtnis und Erinnerung sind „geheimnisvolle Kräfte“. Sich selbst schien Kästner sehr jugendlich zu charakterisieren, als er 1957 den seit dreizehn Jahren toten Freund e.o. plauen schilderte: „Er war ein rauflustiger Kritiker seiner Zeit, er hasste die Profitmacher, er verlachte die Spießer und Heuchler, er attackierte die Bürokratie, er focht für die Freiheit des Einzelnen und kämpfte gegen die Dummheit der meisten.“
Nicht jede Zeile, jeder Vers geriet Kästner gleich wesentlich. Doch dass er sich und andere gelangweilt hätte, unterlief ihm nie. Das will viel heißen, mögen auch „lockig im Winde wallende Gehirne“, nach „Tiefe“ forschend, seine Hohe Schule der Leichtigkeit aufs Schwerste unterschätzen. Der Populäre – miss- und unverstanden? Erich, wem Erich gebührt: Vielleicht müssen sich die Deutschen den ganzen Kästner wieder von Neuem verdienen.
Schwebende Verfahren
Im Juni jährt sich der Todestag Franz Kafkas zum hundertsten Mal. Mit einer Fernsehserie bereitet die ARD das kurze Leben des singulären Erzählers auf. Die labyrinthische Unentrinnbarkeit der Traumwelten in seinen drei Romanen, den Novellen und Parabeln wirkte in der Weltliteratur stilbildend.
Von Michael Thumser
23. März – Vor Gericht und auf hoher See, sagt das Sprichwort, sind die Menschen „in Gottes Hand“. 1913 schickte Franz Kafka in der Erzählung „Der Heizer“ – die später seinen Roman „Der Verschollene“ eröffnen sollte – den jugendlichen Transatlantikfahrer Karl Roßmann auf einem Schiff übers Meer. Zwar trifft Karl da nicht Gott, aber einen zwielichtigen Onkel, der ihn verstößt. Nicht viel später ließ der Autor in seinem berühmtesten Roman vom Nachnamen des Protagonisten nur mehr ein K. übrig. K. wie Kafka? Der eben dreißigjährige Josef K. erfährt „eines Morgens“, das Frühstück erwartend und den Kopf noch in den Kissen, aus dem Mund eines zu ihm vordringenden Unbekannten, dass er verhaftet sei und ihm „Der Proceß“ gemacht werde. Dies geschieht, ohne dass K. „etwas Böses getan hätte“ und er je erführe, warum. „Jemand musste ihn verleumdet haben.“
Wenn Gott ihm jetzt nicht helfend die Hand hinhält, wann dann? Überhaupt beginnt das Elend wiederholt gleich zu Tagesbeginn. So findet sich, in Kafkas berühmtester Erzählung, Gregor Samsa, als er „eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht“, transformiert in ein „ungeheueres Ungeziefer“. Schleierhaft die Ursache jener „Verwandlung“, dafür liegen die Folgen auf der Hand: Seine Familie lässt das Insekt „krepieren“.
Der Dichter, der 1883 in Prag zur Welt kam und vor hundert Jahren, am 3. Juni 1924, tödlich an Tuberkulose erkrankt, genau einen Monat vor seinem 41. Geburtstag in einem niederösterreichischen Sanatorium starb, er machte Schule, wenngleich erst nach seinem Tod. In „kafkaeskes“ Misterioso aus Fremdheit und Verschlossenheit hüllen sich seither allerlei Prosa, Filme, Bilder gern. Unter den Schriftstellern sei Kafka der Einzige, dessen Name es zum Rang eines Adjektivs gebracht habe, stellte der Literaturwissenschaftler Dieter Lamping 2007 im Nachwort zu einem (heute leider vergriffenen) Sammelband der drei Romane fest.
Sechsteilige Fernsehserie
Mit Fernblick auf den hundertsten Todestag und ein gutes Stück davor strahlen ARD und ORF in deutsch-österreichischer Zusammenarbeit eine Fernsehserie aus, die Kafkas kurzes Leben und unstet-verzweifeltes Lieben, seine Arbeit als an sich selbst zweifelnder Autor und als widerwillig erfolgreicher Versicherungsjurist szenisch aufbereitet. So bündig wie der Erzählstil des Dichters lautet der Titel des formal ambitionierten Sechsteilers: „Kafka“. Die Expertise der Urheber wird niemand bestreiten: Regie führte David Schalko, die Drehbücher gründete Erfolgsautor Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“, „Tyll“, „Lichtspiel“) auf der dreibändigen Biografie Reiner Stachs, des wohl ausgewiesensten Experten.
Die Biografie des Erzählers, den Joel Basman spielt, verfolgt die Produktion nicht chronologisch, sondern reflektiert sie von Teil zu Teil in verschiedenen Konfigurationen und Themenbezügen, aus wechselnden Blickwinkeln. Den Auftakt macht die dauerhafte Beziehung des Dichters zu Max Brod, dem engsten Freund und Vertrauten (David Kross), dessen Kusine Felice Bauer (Lia von Blarer) er jahrelang mit Mal um Mal gebrochenen Eheversprechen hinhielt. Aus der Familie tritt namentlich der patriarchalisch-dominante Vater (Nicolas Ofczarek) hervor. Eine andere Episode folgt dem geachteten Versicherungsfachmann ins verhasste „Bureau“, wo ihn ein üppiges Pensum peinigend von seiner poetischen Berufung ablenkte: „Ich bestehe aus Literatur. Ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“ Schließlich bestimmen die letzten Frauen in Kafkas Leben, Milena Jesenská und Dora Diamant (Liv Lisa Fries, Tamara Romera Ginés), auch die letzten der jeweils 45-minütigen Teile der Reihe, die seit vergangenem Mittwoch in der ARD-Mediathek abrufbar ist und am kommenden Dienstag und Mittwoch, jeweils ab 20.15 Uhr, in zwei Dreier-Blocks im Ersten „linear“ zu sehen sein wird.
Eine Zwischenposition
Mit seiner Erzählkunst nahm der Autor eine Zwischenposition ein: Die westeuropäische Linie des späten Realismus und aufkeimenden Existenzialismus verband er mit der osteuropäischen, auch jüdischen Tradition. In deren Fantastik löst sich Wirklichkeit bei ihm immer wieder auf in die „alogische und beklommene Narretei der Träume“, wie Thomas Mann als Bewunderer befand. Seine kürzeren Arbeiten nicht anders als die Romane – „Der Verschollene“ (vormals „Amerika“), „Der Proceß“ und, als letzter, „Das Schloss“ – verführen oder täuschen gar mit ihrer scheinbar einfachen Sprache; und sie irritieren, ja verunsichern tief durch die Symbolwelt, die aus verklausulierten Bilder erwächst, durch die unergründliche Zwangsläufigkeit der Schicksale, die ihre Gestalten erleiden. „Man sollte nur Bücher lesen, die einen beißen, stechen und mit einem Faustschlag auf den Schädel wecken“, verlangte Kafka, und zu solchen Büchern gehören die seinen gewiss.
Eigenartig, wie ergeben etliche seiner Protagonisten – die oft zu nicht viel und nie zu Helden taugen – ihr Geschick hinnehmen: Sie wundern sich, aber fragen nicht viel, auch wenn sie leiden. Nicht wenige gehen in den Untergang ohne Impuls zur Flucht, so wie Josef K. bei seiner Exekution. Andere machen sich buchstäblich in die Vollstreckung des „Urteils“ davon: So heißt eine Erzählung, darin ein Sohn, vom Vater „zum Tode des Ertrinkens“ verdammt, losstürzt, um ins Wasser zu gehen. Wer dergleichen schreibt, wer zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als böhmischer Jude in deutscher Sprache Prosa hervorbringt, die so ganz anders klingt als das Gros der sonstigen literarischen Produktion – der muss anders sein als die anderen. Aufs Gründlichste setzte sich Kafka mit seinem Schaffen von den oft geräuschvolleren, vielfach weit ertragreicheren Autorenkollegen ab.
Verrätselte Welt
Das „Kafkaeske“ der von ihm erzählten, immer verrätselten, nie durchleuchteten Welt entführt seine Figuren in lichtschwache, vernebelte, die Sinne schwindeln und schwinden machende Imaginations- oder Erlebnissphären der Verlassenheit, des Ausgegrenzt- und Nicht-zugelassen-Seins. Verwundert und verwundet wehrlos, manchmal bis zur Unterwürfigkeit andächtig sehen sich die Figuren namenlosen Wirkungen und unausweichlichen, doch offenbar zweckfreien Gesetzen administrativer Apparate ausgeliefert. Der Abscheu vor seinem eigenen „Bureau“ führte ihn dazu, dass er in seinen Stoffen Kanzleien zu obskuren Räumen blind-obrigkeitlicher Mächte ausstaffierte. Durch ihre Flure irren die Figuren hilfsbedürftig, durch Aktenarchive und andere Labyrinthe, die nie ins Innere der oberen Instanzen führen, indes ebenso wenig heraus. K. wie Kafka heißt auch der – seinerseits zwielichtige – Landvermesser, der im umfänglichsten Roman-Bruchstück des Dichters in einem dumpfen Dorf hängen bleibt, mit gelegentlichem Ausblick auf das „Schloss“, das er zu erreichen sucht, ohne Aussicht auf Rückkehr. „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.“ Nachforschen heißt fehlgehen.
Auch die Strecken, die Josef K. im „Proceß“ zurücklegt, sind ziel- und im Grunde weglos: Die Verhaftung überliefert ihn einem unentwirrbaren System nicht begründbarer Verdächtigungen, namenloser Schuld, anonymer Macht, die sich willkürlich Zugriff auf ihn, den Ohnmächtigen, verschafft. Gegen die vermutete „Verleumdung“ will er vorgehen, aber Recht, etwa das auf Klarstellung, gibt es für ihn im „Rechtsstaat“, den er anruft, nicht. Vielmehr wird dort, wo er sich aufhält, „die Lüge zur Weltordnung gemacht“. In einer Justizbehörde verläuft er sich, die vor allem aus Korridoren besteht. Mal um Mal durchquert er sie, nirgends aber kommt er an einer Stelle an, wo ihm, dem Unschuldslamm, Aufklärung und womöglich Gerechtigkeit, bestenfalls Freispruch zuteilwürde. K. ist entgleist; doch erst glaubt ers nicht, dann will ers nicht wahrhaben; schließlich verläuft er sich grübelnd, ermittelnd, Auskunft – oder Absolution? – begehrend in seinem wie in Visionen verwirrten Verstand.
Kein „Verschollener“ ist K., aber ein Verlorener: Sich selbst kommt er abhanden, indem er seine Unbefangenheit, Schuldlosig- und Unantastbarkeit einbüßt im Spinnennetz einer Bürokratie, die sich aufbraucht, indem sie sich selbst verwaltet: ein verborgener, gleichwohl wie zwischen göttlichen Allmachtshänden zermalmender Apparat. Ein unwirklich schwebendes Verfahren entwirft der Roman, das den Tiefsinn des Surrealen, Überwirklichen und Unterbewussten nie aufdeckt, sondern unbestimmt der Ahnung der Lesenden anheimstellt. Am Ende liegt K., „unwillkürlich fröstelnd“, vor zwei Scharfrichtern „wie ein Hund“, und ein „langes, dünnes, beiderseitig geschärftes Fleischermesser“ fährt ihm, zwei Mal gedreht, „tief ins Herz“. Der Delinquent unterliegt, unbelehrt und verständnislos, doch letztlich einverständig, dem Diktat eines okkulten Über-Ichs. Wenn es Gott gibt, dann ist es kein lieber.
Ausnahme im Schöpfungsplan
Von einer radikalen Ausnahme im göttlichen Schöpfungsplan berichtet „Die Verwandlung“: Ein Mann wird zum Tier - sonst sagt man dergleichen redensartlich über einen, der vehement in Wut gerät. Hier wird ein Mensch zum Kerbtier; eigentlich als Idee höchst komisch. Im Text manifestiert sie sich dem Wortsinn nach. Die unergründliche Metamorphose des unauffälligen Kleinbürgers Gregor Samsa zu einem „ungeheuren Ungeziefer“ dokumentierte er 1912 grandios grausam in der unbeteiligt präzisen Prosa eines Protokollanten. Zum Schädling ist der Sohn der Familie entartet, für die er die längste Zeit als ihr Alleinverdiener ein Nützling war. Dem jungen Handelsvertreter haben Druck und Demütigungen entfremdeter Arbeit zugesetzt – nun muss, darf und will er aufhören, zu funktionieren, sieht er sich doch durch den Schicksalsschlag seiner Alltagspein entzogen. Der Menschheit und der Menschlichkeit allerdings desgleichen. Eine Zeit lang schwebt auch sein „Verfahren“. Zusehends aber wenden sich Eltern und Schwester gegen ihn und von ihm ab. Um sich in den „veränderten Verhältnissen“ einzurichten, einigen sie sich darauf, den zum Un–Menschen, zum tierischen ‚Es‘ entarteten Fremdkörper auszugrenzen, den Störenfried auszubürgern.
Ratlos lässt Gregor über sich ergehen, was ihm unerklärlich widerfährt. Statt an Auflehnung zu denken, resigniert er, und noch nicht mal ungern: „Lieber wollte er im Bett bleiben.“ Er findet sich ab mit seiner „ekelhaften Gestalt“, lernt gar seine Nutzlosigkeit, ihrer freizeitlichen Tatenlosigkeit halber, zu schätzen. Doch als gleichgültiger Kreatur werden ihm Persönlichkeit und Individualität abgesprochen: Als einem Schmarotzer gibt ihm der Vater, wie immer bei Kafka Konfliktgestalt, den Rest, als er ihn mit Äpfeln „bombardiert“ und tödlich verletzt. Eine Bedienerin „schafft das Zeug weg“, und die Hinterbliebenen, „alle ein wenig verweint“, beschließen, die Wohnung zu wechseln.
Nicht die äußere Biografie des Autors, aber viel Seelen-Erleben, auch viel Prager Aura stecken in und hinter seinen Sujets. Unnahbar wie die Dienstwege und Gerichtsstände seiner Geschichten, Fabeln, Gleichnisse erschien Kafka seiner Umgebung, trotz des „stillen und liebenswürdigen Lächelns“, das schon ein Schulfreund schüchtern schätzte: „Wir hatten ihn alle sehr gern, aber immer umgab ihn irgendwie eine gläserne Wand.“ Gläsern, hart, doch schwach der Boden unter ihm: dünn und kalt wie Eis über einem Abgrund. Gleichwohl verlangte er von den Büchern, die er las und die er schrieb, sie sollten „die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“.
„Alles verbrennen“
Traute er dem, was er schrieb, solche Wucht und Schneidenschärfe selber nicht zu? Von Max Brod als seinem engsten „Lebensmenschen“ verlangte er in zwei Testamenten für nahezu sein gesamtes Œuvre ein heute unvorstellbares Autodafé: „Von allem, was ich geschrieben habe, gelten nur die Bücher: ‚Urteil‘, ‚Heizer‘, ‚Verwandlung‘, ‚Strafkolonie‘, ‚Landarzt‘ und die Erzählung ‚Hungerkünstler‘. Damit meine ich nicht, dass ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, sollten sie ganz verloren gehen, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Dagegen ist alles, was sonst an Geschriebenem von mir vorliegt (in Zeitschriften Gedrucktes, im Manuskript oder in Briefen) ausnahmslos, soweit es erreichbar oder durch Bitten von den Adressaten zu erhalten ist, am liebsten ungelesen zu verbrennen, und dies möglichst bald zu tun bitte ich Dich.“
Allerdings verweigerte der Freund die Vollstreckung des Todesurteils. Er veröffentlichte den Nachlass – ein profunder, doch lässlicher Vertrauensbruch, dem der weltweit folgenreichste deutsche Schriftsteller des vergangenen Jahrhunderts sein Nachleben verdankt. Als hätte der Dichter Wind davon bekommen, sorgte er zu Lebzeiten verschlüsselnd dafür, dass zwischen den zahllosen plausiblen, gleichwohl grundsätzlich widerstreitenden Auslegungen seiner Texte Konsens nie herrschte und nicht herrschen kann. Dazu trägt bei, dass er vieles, allem voran die Romane, mehr oder weniger unvollendet hinterließ.
Unvollständigkeit, das Leben als unhaltbaren Zustand, als System wechselnden, aber dauernden Drucks erfuhr Kafka selbst. Seinem Erzeuger warf der begnadete Briefschreiber in einem langen „Brief an den Vater“ vor, ihn wie ein übelwollender Gott „mit Kraft, Lärm und Jähzorn“ unterworfen zu haben. Der Lohnfron seiner jahrzehntelangen „Kanzlei-Existenz“ fügte er sich zwar beispielhaft fleißig, entwich aber nachts in die Gegenwelt seiner Fiktionen: „Ich brauche“, schrieb er in einem Brief, „zu meinem Schreiben Abgeschiedenheit wie ein Toter. Wie man einen Toten nicht aus seinem Grab ziehen wird und kann, so auch mich nicht vom Schreibtisch in der Nacht.“ Drei Mal verlobte er sich, zwei Mal mit derselben Braut, Felice Bauer, und nahm doch ein ums andere Mal den Heiratsantrag zurück. Den potenziellen Schwiegervater warnte er mit einer schonungslos abstoßenden Selbstcharakteristik vor sich: „Ich bin schweigsam, ungesellig, verdrossen, eigennützig, hypochondrisch und tatsächlich kränklich.“ Und Felice fleht er geradezu an: „Stoße mich fort, alles andere ist unser beider Untergang.“ Die Liebesbeziehung als schwebendes Verfahren: Reserve und Bindungsscheu blieben eine Konstante seines Daseins.
Konsternierte Gehirne
Zum Trauerklos, zum Tragiker verhärmte er darum nicht, und all das Fantastische, dem er in seinen Texten Raum gab, stempelt ihn nicht zum Fantasten. Mit allen Mitteln realistischen Erzählens, so sachlich wie anschaulich, oft akribisch wie ein Buchhalter schildert er Menschen, Orte, Situationen. In gläsern klaren, eingängig schlichten Worten, wie etwas Selbstverständliches protokolliert er die hypnotischen Tauchfahrten konsternierter Gehirne, traumartige Abwege, diffuse Logik-Brüche. So erscheint alles daran wahr, wirklich, glaubhaft. Wo seine Protagonisten verzweifelt zu verstehen und zu durchdringen suchen, deutet und erläutert Kafka, als ihr Schöpfer, in aller Ruhe – nichts.
Das ist das Grauen; freilich jenes der Groteske. Noch das Schreckliche riskiert bittere Scherzerei, Witz lauert im Aberwitz, im Absurden die Ironie der Satire – wenn auch kaum je so vordringlich wie in den Spitzfindigkeiten des eingefangenen Urwaldaffen Rotpeter: Der räumt in seinem „Bericht für eine Akademie“ munter ein, unter Zwang zum allzu menschlichen Spießer mutiert zu sein – noch eine „Verwandlung“ in ein „Ungeziefer“. Und Max Brod, der Vertraute, berichtete, Kafka habe ihm den Anfang des „Processes“ nicht anders als glucksend vorzutragen vermocht: Vor lauter Lachen brachte er die Lesung kaum zu Ende.
■ Zur Website der ARD mit detaillierten Angaben über alle sechs Teile der Serie und zur Dokumentation „Kafka und ich“ von Vera Weber und Benjamin Kahlmeyer: hier lang.
■ Ausführliche Informationen zum Leben und Werk des Dichters und zur Sekundärliteratur über ihn, „Wissenswertes“, Fundstücke“ und „Kafka-Links“ im Internet: hier lang.
Ein Quantum Brecht muss bleiben
Er wurde, was er nie werden, aber doch wohl sein wollte: ein Klassiker der literarischen Moderne. Am heutigen Freitag jährt sich der Geburtstag des Stückeschreibers zum 125. Mal. Über so manches aus seinem Schaffen ging die Zeit hinweg. Übrig blieb dennoch genug.
Von Michael Thumser
10. Februar – Es geht um „Bedeutung“. Also um Dinge, die für uns von Gewicht und Belang sein sollen, um Anlässe mit überdurchschnittlicher Tragweite, um Personen von zu Recht dauerhafter Geltung. Wenn das Bundesministerium der Finanzen Sammlermünzen herausbringt, was Jahr für Jahr geschieht, so will es uns damit „historische, kulturelle oder gesellschaftspolitische Themen“ nahebringen, „die für Deutschland von Bedeutung sind“. Fünfzehn Editionen sind es heuer: darunter die Zehn-Euro-Sammlerstücke „Feuerwehr“ und „Polizei“ („Im Dienst der Gesellschaft“), vier teilkolorierte Fünf-Euro-Münzen über die „Wunderwelt der Insekten“ (Hainschwebfliege, Hirschkäfer und Konsorten) und ein Silberling (zwanzig Euro) zum hundertsten Geburtstag Loriots, „eines der größten und vielseitigsten deutschen Humoristen“. Und, immerhin, auch an Bertolt Brecht erinnert uns das Ministerium, ebenfalls ein Zwanzig-Euro-Stück ist er ihm wert. Ausgegeben wurde der Gratulationstaler termingerecht gestern, am 9. Februar: Denn heute, am 10., jährt sich sein Geburtstag zum 125. Mal.
„Ändere die Welt. Sie braucht es“, steht, mit Worten des Autors, auf der Bildseite der Münze, mit der die Republik einen der „einflussreichsten deutschen Dramatiker, Librettisten und Lyriker“ heraushebt. Die Prägung betrachtend, darf uns der „Librettist“ ein wenig befremden, wo doch der Prosaautor unerwähnt bleibt. Katrin Pannicke aus Halle/Saale gestaltete das Konterfei mit knappen, fast karikierenden Strichen nach einem berühmten Porträtfoto. Als Relief hebt sich der kluge, klobige Kopf des ‚nicht nur‘ sozialistischen, aber auch ‚nicht ganz‘ kommunistischen Schriftstellers hervor: In die Stirn graben sich skeptische Falten, wie gegen Gewichte wehren sich die Augen gegen die Schwere der Lider; die rechte Hand, deren Daumen nachdenklich den strichschmalen Mund berührt, hält zwischen Zeige- und Mittelfinger die unvermeidliche Zigarre. So kennt man ihn: So ehrt das Land den stets umstrittenen Schriftsteller zu Recht. Andere Deutschländer, zuvor, tatens umso weniger.
Versteht sich, dass Brechts langjähriger Lebensmittelpunkt, die alte und neue Hauptstadt, sich mit Veranstaltungen hervortut: „Ändere die Welt, sie braucht es“ – die Devise der Münze steht von Freitag bis Sonntag auch über dem „Brecht-Wochenende“ des Berliner Ensembles, das auf die „Aktualität seines Denkens“ mit jeweils drei Stück-Inszenierungen und Podiumsdiskussionen sowie einem interaktiven „Audioworkshop“ verweisen will. Augsburg, wo Brecht – unter den Vornamen Eugen Berthold Friedrich – 1898 zur Welt kam, unterstellt sein Kulturleben in diesem Jahr fast komplett dem Patronat seines größten Sohnes, wenngleich der seine Vaterstadt nicht zu schätzen wusste: Für „das Schönste“ an ihr soll er „den Schnellzug nach München“ gehalten haben; aber vielleicht hat er die Verleumdung, obschon oft und gern mit ihm als Quelle zitiert, gar nicht selbst geprägt. Also braucht die Stadt sich nicht zu scheuen, das Geburtshaus für Künstlerinnen und Künstler auf der Flucht zu öffnen, während des heute beginnenden Brechtfestivals den Bertolt-Brecht-Preis zu verleihen, ab Samstag bei der Festwoche „Bier mit Bert“ die Gläser zu heben, eine Forschungskooperation mit der Iwan-Franko-Universität im ukrainischen Schytomyr auf den Weg zu bringen, in einer Ausstellung das Zusammenwirken Brechts mit Lotte Lenya und Caspar Neher zu illustrieren und zum „krönenden Abschluss des Jubiläumsjahrs einen Klassiker aus dem Brecht-Repertoire“ aufzuführen, wie Staatstheaterintendant André Bücker fröhlich verheißt. Und das ist noch lange nicht alles.
Alles, bloß kein Dichter
Gerade das, ein Klassiker, wollte Brecht nicht werden. „Ändere die Welt“: Die Welt hat er, der weltberühmteste deutschsprachige Autor des zwanzigsten Jahrhunderts, bewegt, verändert – die Welt des Theaters jedenfalls. Ein Klassiker wollte er am Ende wahrscheinlich doch sein, hartnäckig aber sträubte er sich, ein Dichter zu heißen. Handwerklich nüchtern setzte er die Berufsbezeichnung Stückeschreiber dagegen. Kein unumstößliches Œuvre strebte er an, sondern Literatur, namentlich für das Theater, als stets mutierenden, von Korrekturen und Anpassungen vorwärtsgedrängten Vorgang: Neufassung zu sein, war Wert- und Warenzeichen vieler seiner Texte. Vom „Leben des Galilei“ zum Beispiel existieren drei Versionen, die sich in der Beurteilung des Forschers und seiner Furcht vor den Folterern der Inquisition – derentwegen er den von ihm enthüllten kosmologischen Wahrheiten abschwor – beträchtlich unterscheiden.
Ähnlich war ihm Deutschland, waren die Deutschländer im Lauf seines Lebens ein Thema mit Variationen. Zur Hoch-Zeit der stark preußisch veranlagten Monarchie hat er das Zwielicht des Kaiserreichs erblickt. Als sechzehnjähriger Schreibanfänger begrüßte er in einer Zeitung seiner Heimatstadt den Weltkrieg als nationale Notwendigkeit – lässliche Jugendsünde. Schon wenige Reifejahre später entlarvte der Fabrikdirektorssohn und gutbürgerliche Gymnasiast den antiken Aus- und Anspruch, es sei „gut und ehrenvoll, fürs Vaterland zu sterben“, als hohlköpfige „Zweckpropaganda“; beinah hätte ihn die Unmutsäußerung das Abitur gekostet. Weiter ging die Lebensreise durch die Revolution und in die demokratisch-bürgerliche Republik. Diese schmähend, jener sekundierend, setzte er sich sorgfältig als Proletarier und Prolet in Szene – ein herrschaftsfeindlicher Provokateur, der an nichts glaubte; der aber schon eine Sprachgewalt ausübte, wie sie hundert Jahre zuvor sein Altersgenosse Georg Büchner entfesselt hatte. Vor dem Nationalsozialismus floh Brecht, wie ein großer Teil vom Rest der deutschen Kulturelite, denn auch in ein Land, das auf keiner Weltkarte fehlt, obgleich es keinen festen Platz darauf hat: ins Exil.
Zwei Länder in einem
Dem Rückkehrer schließlich standen nach der braunen Katastrophe zwei Deutschländer zur Wahl – verhehrte Kriegs-, umstrittene Nachkriegsschauplätze beide. Das eine, immer fester im Griff des Westens, verschmähte ihn; das andere machte ihm indes Avancen, die er sich bis zu seinem Tod 1956 gefallen ließ, wiewohl aufs Neue widerstrebend, widerborstig. Umstritten war und blieb er in West wie Ost. Überhaupt kann uns Brecht als Inbild des ‚umstrittenen Autors‘ gelten: insofern das jemand ist, dessen Bild sich stets – und immer eigensinnig – verändern kann, der ein ums andere Mal andere Züge offenbart, je nachdem, wer oder welche Zeit ihn gerade ansieht und unter welchem Licht.
Brechts Werk steht im Dienst der Gesellschaft – einer durch Umbruch neu gewordenen, klassenlosen, proletarischen Gesellschaft. Die Um-, Zu-, Missstände der bestehenden lassen sich seiner Überzeugung nach verändern: die Entrechtung der Massen, die Armut der Vielen, die Herrschaft der Wenigen. Inzwischen haben sich im freiheitlich-demokratisch verfassten deutschen Sozialstaat die Verhältnisse gebessert und gedreht - verändert; gleichwohl machen sich empörende Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten noch immer und gerade wieder geltend. Mithin war und bleibt Brecht für die intellektuelle Linke einer der Ihren.
Er war dagegen: gegen das großbürgerliche Kapital und die ausbeuterische Industrie; gegen die Gewissenlosig- und Gleichgültigkeit des Besitzens und das breite Elend, das es für andere anrichtet; gegen eine Kunst, die umso höher gilt, je mehr man sie sich leisten können muss; gegen das „kulinarische“ Theater, jenes also, das unseren Verstand durch guten Geschmack und appetitliche Genießbarkeit vom Faulgeruch fragwürdiger Tatsächlichkeiten abzieht; gegen ein „klassisches“ Theater, darin (wie er es empfand) durch Prunk und aufgeblasene Ideale sich die herrschende Klasse bestätigt sehen darf. Zugleich stellte er sich gegen kleinbürgerliche, kleinkarierte Faschisten, ihre sogenannten großen Männer, großen Führer und großen Grausamkeiten. Für den Kommunismus war er, jedoch gegen die Leblosigkeit bewegungsunfähiger Doktrinen. Mitglied einer kommunistischen Partei wurde er nie, der SED trat er nicht bei.
Zum Untertan von Diktaturen taugte Brecht nicht; obgleich er seinerseits selbstherrlich hauszuhalten pflegte. Bei allem, was er brauchen konnte, bediente er sich, bedenkenlos das Fremde zum Eigenen machend. Ideen und Stoffe anderer verwandelte er sich an (während er umgekehrt seine Stacheln ausfuhr, wenn er sich plagiiert zu finden meinte). Von Assistenten ließ er sich raten, soufflieren, unterstützen, ohne ihre Mitwirkung gebührend öffentlich auszuweisen. Nicht zuletzt Frauen – so Marianne Zoff, Elisabeth Hauptmann, Helene Weigel, Margarete Steffin, Ruth Berlau – beutete er der Reihe nach oder nebeneinanderher aus, künstlerisch und/oder sexuell, und manche ließ er später schnöde fallen. Brecht – der stattliche „Hirschkäfer“, umschwebt von einer Gilde klein gehaltener Zu-Arbeiterinnen.
Der Unausstehliche
Manchmal ist er unausstehlich. Mehr denn je dürfen wir das knurrende Aperçu Heiner Müllers für wahr halten: „Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, ist Verrat.“ Müller selbst, Brechts Bruder im Geiste und Prätendent auf seinen „Thron“ (Frank Raddatz), „gebrauchte“ ihn spektakulär, freilich nicht ohne ihn aufsässig zu kritisieren. Einer wie der andere ging als personifizierter erhobener Zeigefinger einher mit starker Neigung zu Besserwisserei und Selbstgerechtigkeit. Unter die „größten und vielseitigsten deutschen Humoristen“ rechnet sicher keiner der beiden.
Es gibt, neben dem einen Brecht, der für Geist und Kunst unbedingte Freiheit forderte, auch den anderen, bei dem die Partei immer recht hat (wie im Drama von der „Mutter“, in Propagandaliedern); der das Kollektiv tödlichen Gerichtstag halten lässt über den Einzelnen, wenn der den Ansprüchen nicht genügt (wie im Lehrstück von der „Maßnahme“); der die Stimme unbarmherzig zum Ruf nach Gewalt erhebt (wie in der „Heiligen Johanna der Schlachthöfe“, den „Gesichten der Simone Machard“); den Brecht, der, wie in den „Tagen der Commune“, die Freiheit lästert. Solche Stücke agitieren ihre „Bedeutung“ als Manifest, Proklamation, Appell aus ihren Texten heraus, von der Bühne herunter. Den Irrtum, das Versagen, die Furcht mochte ihr Autor den Menschen, dem sozialistischen zumal, nicht zugestehen und nicht verzeihen.
Diesen Brecht können wir, wenn wir wollen, heute rezipieren als einen, der übers Ziel hinaus schießend immerhin geräuschvoll und aufweckend aneckt, der uns aufdringlich über Unbequemes nachzudenken aufgibt, der aufrüttelt und beunruhigt dort, wo er mit seinem antibürgerlichen Dagegensein im Grunde richtig liegt. Indes ging, so wie über zahllose andere einst für unverweslich gehaltene Texte, auch über sie die Zeit zersetzend hin und machte sie für uns entbehrlich. Aber ein Quantum Brecht muss bleiben, ein gehöriges. Mit etlichen seiner Stücken vermag er uns nach wie vor zu inspirieren, um nicht zu sagen: zu gefallen – mit un–kulinarischen Bühnenschlachtschiffen von Gewicht und Belang und ohne Schlagseite, egal wie kreuzbrav oder brauseköpfig sie jemand durch die Kulissen navigiert. Solch ewiges Leben scheinen sich der „Galilei“ und die „Mutter Courage“ zu bewahren, auch der „Gute Menschen von Sezuan“, der „Kaukasischen Kreidekreis“, nicht zu vergessen „Herr Puntila und sein Knecht Matti“.
Schullektüre, Pflichtprogramm
Jene Teile seines Schaffens gehören zum eisernen Bühnenbestand, zu unserem bildungsbürgerlichen Pflichtprogramm, zur Schullektüre unserer Kinder. „Glotz nicht so romantisch“, denn zwar besteht Brechts Bühne ausdrücklich aus „Brettern und einem Papiermond“; doch ob mit all den Verfremdungs- und sonstigen Entzauberungs-Effekten seines reformerischen, „Epischen Theaters“ oder ohne sie – die Texte und Spiele faszinieren an ihrer ‚modernen‘ Oberfläche sowohl wie in ihrer Tiefe. Brechts beste Figuren belehren nicht nur, nicht allein Thesen tönen aus ihnen, sondern Temperamente schon auch. Unter den beim Publikum beliebtesten Stücken in deutschsprachigen Schauspielhäusern hält sich, anderen „Klassikern“ wie Shakespeares „Romeo und Julia“ oder Goethes „Faust“ beinah ebenbürtig, die „Dreigroschenoper“, fast ungebrochen seit der Uraufführung 1928. Der Geniestreich („nach dem Englischen des John Gay“) mit den zündenden Evergreens des Komponisten Kurt Weill war der Bühnenerfolg der Weimarer Republik, deren feine Welt sich in ihr doch hätte satirisch attackiert sehen sollen. Heute locken ihre Aufführungen mit der Magnetkraft einer Operette. Ein Genussstück: äußerst kulinarisch.
Dies eingestehen: Heißt das schon Brecht „verraten“? Wie ihn „gebrauchen“? Wie ihn für uns fruchtbar machen in jenem der Deutschländer aus den vergangenen 125 Jahren, das er nicht mehr kennenlernte – im friedlich wiedervereinten? Vielleicht dürfen wir zurück zu jenen Positionen, von denen er einst ausging: Dann schalten wir zwar das kommunistische Dogma aus, machen uns aber seine Macht- und Geldkritik zu eigen, auch eingedenk der Unterfütterung durch Marx. Brechts Skepsis gegenüber Spießertum, Populismus und National-Getrommel dürfen wir teilen. Auch sein Streben nach Glück kann uns fremd nicht sein: sein Verlangen nach gesellschaftlicher, zerebraler, auch sinnlicher Vitalität. Nur weil wir bereit sind, Brecht infrage zu stellen, müssen wir nicht seinen Geist aufgeben Stattdessen sollten wir uns vielleicht auch wieder seiner Prosa zuwenden, was heutzutage nicht mehr allzu viele wagen, den unverwüstlichen „Geschichten vom Herrn Keuner“ etwa. Auch seine wunderbaren Liebes- und viele seiner Ideengedichte lassen wir gern an uns heran – wie die „Erinnerung an die Marie A.“ oder die „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking“ –, desgleichen etliche Bänkellieder, Songs und Moritaten, erst recht dann, wenn sie sich gemeinsam mit der Musik von Weill, Eissler, Dessau hören lassen, mit der sie sich längst zu Legierungen amalgamierten.
„Das Harte unterliegt“
Mit dem Ziel der Weltrevolution hat auch der Revolutionär Brecht ausgedient. Der Mahner, Belehrer, Bewusstmacher keineswegs. Als solcher wusste er, der die Rhetorik der Agitation beherrschte, doch auch mit der Macht der Milde für Veränderungen zu argumentieren – so in der Taoteking-„Legende“, die den Hinweis enthält, „dass das weiche Wasser in Bewegung / mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst: Das Harte unterliegt.“ Seine Geburtsstadt hindert das nicht, für eine ihrer Festival-Veranstaltungen nicht stein-, doch gleichsam knochenbrechend eine Profi-Catcherin zu engagieren: Jazzy Gabert stammt, wie die Bild-Zeitung mitzuteilen weiß, aus Bisingen in Baden-Württemberg und hat mehrmals die Damen-Weltmeisterschaft im Wrestling gewonnen. Das Stück „Kampf um Augsburg“, in dem sie als 40-jährige Debütantin mitwirkt, stammt zwar nicht vom Jubilar, soll aber, wie er, „Konfliktthemen“ nachgehen, wie eine Sprecherin wissen ließ. Durch ein Megafon dröhnend, figuriert die Brachial-Athletin als Allegorie des „Big Business“. Mit lauter Dollar-Noten ist ihr Sakko bedruckt, in dessen Ärmel Jazzys 41 Zentimeter dicken Bizepse passen müssen.
Mag solch eine Aufführung auch keine überdurchschnittliche Tragweite entfalten und die muskelprotzende Amazone keine Person von dauerhafter Geltung sein – Brecht, dem selbst ernannten Proleten unter den deutschen Klassikern, hätte ihr grundstürzender Einsatz womöglich nicht übel gefallen.
Vor 125 Jahren erschien Bram Stokers Meisterwerk „Dracula“, die Urschrift aller modernen Vampirgeschichten. Gleichwohl erfand er das Motiv nicht, sondern vollendete eine stoffgeschichtliche Tradition. Seit der Jahrtausendwende hat der Vampirismus in der Populärkultur Hochkonjunktur.
Von Michael Thumser
2. Juli - Aus dem weit am Himmel sich erstreckenden, aber wenig namhaften Sternbild „Schlangenträger“ berichten Astronomen Ungeheuerliches. Ein Weißer Zwerg – also eine Sternenleiche von extrem verdichteter Substanz und exorbitanter Anziehungskraft – namens „RS Ophiuchi“ droht neben dem Roten Riesen in seiner Nachbarschaft zwar als Winzling zu verschwinden; gleichwohl hat er ihn unwiderstehlich angezapft: „Er saugt von ihm Materie ab“, ließen Forscherinnen und Forscher der Bochumer Ruhr-Universität im April wissen, „so wie Vampire in Legenden, die ihren Opfern den Lebenssaft aussaugen.“
Mithin gibt es Parasiten außerhalb unseres planetaren Gesichtskreises auch: Wesen, die, ob ihre Opfer wollen oder nicht, von ihnen nehmen, was ihnen nicht zusteht und von Natur aus nicht zu ihnen gehört. Auf unserer Erde ergänzen sie sich günstigenfalls mit ihren Wirten wie Partner in symbiotischem Einverständnis, einer Art win win-Situation. Oft genug aber leben sie als ungebetene Gäste auf Kosten derer, die sie befallen haben, und bedienen sich beim fremden Stoffwechsel, um sich zu ernähren, zu vermehren oder fortzuentwickeln. Für den Organismus, dem der Schädling sich aufdrängt, bedeutet die Heimsuchung oft Schwund, Krankheit oder gar den Tod.
In uns nisten sich zum Beispiel Band- und Fadenwürmer als Parasiten ein, aber auch in Menschengestalt kann uns ein solcherart eigensüchtig-rücksichtsloser Nutznießer leicht unterkommen: als Schmarotzer, Nassauer, Schnorrer. Volksglaube und die Künste kennen ihn zu dämonischer, grausig-tödlicher Konsequenz überhöht: Der Vampir ist die bekannteste und erschreckendste seiner Allegorien – unverweslichen Leibes, fast unsterblich, unfrei, aber mit übernatürlichen Fähigkeiten zwischen Leben und Tod siedelnd. In der Gestalt, wie sie heute Menschen in aller Welt im Sinn haben, tritt er seit nun 125 Jahren auf: Am 18. Mai 1897 lag Bram Stokers Roman „Dracula“ erstmals in den Schaufenstern englischer Buchhandlungen. Viel machte die Originalausgabe damals, im gelben Einband, der nur Titel und Autorennamen trug, noch nicht her.
105 Jahre soll der Einsiedler Antonius alt geworden sein. Bis zu seinem Tod im Jahr 356 habe der vorbildliche Frühchrist aus Ägypten, so berichtet die Legende, ein gottgefälliges Leben geführt. Den Himmel indes hinderte das nicht, zuzulassen, dass der Satan ihn aufs Entsetzlichste versuchte: zunächst, und wiederholt, mit schönen, willigen Frauen, denen der fromme Eremit indes nur wenig abgewann; schließlich mit einer Legion höllischer Ausgeburten, die ihre Hörner, Klauen, Reißzähne in ihn zu schlagen suchten. Schockierend haben uns Alte Meister wie Hieronymus Bosch und Matthias Grünewald die Szene in eindrucksvoll abschreckenden Albtraumbildern ausgemalt, die sie mit Ungeziefer und Schlangengezücht bevölkerten, mit Bruchstück-, Zwischen-, Zwitterwesen aus Tier- und Menschenteilen: Fleischfresser und Blutsauger zweifellos. Dagegen umgab Lovis Corinth 1897 den tugendreinen Heiligen mit einer Schar lüstern-lieblicher Mädchen, die ihm, nebst anderen Genüssen, ihr eigenes Fleisch zudringlich offerieren. Grässliche Gebisse tragen sie in den Gesichtern nicht; Vamps sind sie gleichwohl.
Furchterregende Nachtgestalten kennen wir alle. Einen schlimmen Traum lang gewinnen in ihnen Archetypen, Verdrängtes und Befürchtetes Gestalt. In vielen volkstümlichen Vorstellungen fallen Vampir und Teufel beinah zusammen: als Ausgeburt der Unterwelt, Inbild des Bösen, grimmige Perversion jenes unsterblichen Lebens, das der Glaube dem Frommen als ewige Seligkeit verheißt. Umso lieber begegnen manche von uns, vor allem die Jüngeren, hinreißend hässlichen oder schrecklich schönen Exemplaren von Blutsaugern in der populären Belletristik und im Unterhaltungsfilm, wo männliche und weibliche Vampire, ausgestattet mit den unvermeidlichen spitzen Eckzähnen, seit der zweiten Jahrtausendwende eine Konjunktur wie noch nie erleben. Als Unholde gibt es sie oder, im Gegenteil, geläutert, liebend. Mit dem „Tanz der Vampire“, einem Coup des Kinos, vollendete Roman Polanski das Genre bereits 1967, indem er ein nervenzerrendes Schauerstück und zugleich dessen hochkomische Parodie schuf.
In Anne Rices „Chronik der Vampire“ tummeln sich Vampire seit 1976, dreizehn Bände lang. 2005 eröffnete die US-Autorin Stephenie Meyers ihre bisher achtteilige „Twilight“-Kultserie, internationale Bestseller Band für Band; hierzulande reichte die Reihe, mit „Bis(s) zum Morgengrauen“ beginnend, „Bis(s) zum Ende der Nacht“. Auch die Verfilmungen gerieten durchweg zu Blockbustern, so dass, dem Time-Magazin zufolge, Meyers in die Riege der hundert international einflussreichsten Persönlichkeiten aufrückte. Zur Weltrettungsaktion gegen eine Übermacht der Kreaturen trat 1992 der Teenie „Buffy“ im Kino und von 1997 bis 2003 in 144 Fernsehserienfolgen auf. Wesley Snipes setzte als Kampfsportler in der „Blade“-Kinotrilogie von 1998 bis 2004 seine runden Muskeln gegen die Ungeheuer ein. Im Auftrag eines vatikanischen Geheimdienstes killte 2004 Hugh Jackman alias Vampirjäger Van Helsing in einem Streifen gleichen Namens die Monster.
1994 wurden Vampire im Kino „interviewt“ und 2014 therapiert, obwohl sich ihnen bereits zwei Jahre zuvor der weiland US-Präsident Abraham Lincoln persönlich auf die Fersen gesetzt hatte. Andere traten 1996 als scharfe Vampirellas auf, brachten sich 2010 mit Babysitten durch oder traten, wie 2012/14, als kesse Schwestern auf. Den geradezu spießbürgerlichen Namen Rüdiger führt der niedlich-menschenfreundliche „Kleine Vampir“, dessen Abenteuer Angela Sommer-Bodenburg von 1979 an in Kinderbüchern erzählte und der auch als Held von Kino- und Fernsehfilmen sowie reihenweise Hörbüchern kameradschaftlich in unzählige Kinderzimmer einzog.
Dem Serienkomplex um die „Vampire-Diaries“, seit 2009 für weltweit zigmillionen Fans ein schier unverzichtbarer Teil ihres Daseins, scheint mit dem abrupten Ende des letzten Ablegers „Legacies“ vor wenigen Tagen endgültig die Luft ausgegangen zu sein. Dafür finden fast gleichzeitig in der Netflix-Serie „First Kill“ eine Jungvampirin und eine Vampirjägerin in lesbischer Liebe zusammen. Den Film „Enemy Unknown“ rufen Branchenmedien gerade als „wilden Genremix“ aus Drogenthriller und Vampirhorror aus. Mächtig soll von August an bei Netflix das Blut in der Serie „Day Shift“ spritzen, im selben Monat wird auch das Gruselstück „The Invitation – Bis dass der Tod uns scheide“ die unendliche Geschichte der spitzzahnigen Schreckgestalten im Kino fortsetzen. Und so fort. Ein ewiger Blutkreislauf: Bis(s) zum Abwinken.
Wer sich, angesichts solcher Fülle und Freude am Gräulichen und Abscheulichen, die Augen staunend reibt, den drängt es vielleicht so wie den forschenden Faust, den „Grundtext wieder aufzuschlagen“; nicht freilich das „heilige Original“ des Neuen Testaments wie Goethes Tragödienheld – sondern Bram Stokers „Dracula“. Auch wenn uns nichts ferner liegt als der Glaube an Vampire, so werden viele von uns an dem haarsträubenden Wälzer ihre helle respektive dunkle Freude finden. Dem Bild der Bestie gab der Roman die bis heute gültige Form und Farbe eines kalt-eleganten Aristokraten aus der Finsternis.
Der „Grundtext“? Jenem chef d’œuvre aus dem Geist der englischen gothic novel gingen kaum weniger bedeutsame, nur weniger bekannte Erzählungen voraus. Als Kopie, Variation oder Gegenentwurf läuft und lief auf Stokers Roman so gut wie alles zurück, was sich im Vampir-Hype unserer Gegenwart lesen oder blicken lässt. Aber schon fast achtzig Jahre vor Stoker, 1819, etablierte der Londoner John Polidori, Lord Byrons Freund und Arzt, den „Vampyr“ erstmals, effektvoll und dauerhaft in der Literatur. Übrigens war seine Idee dazu bei demselben literarischen Gesellschaftsspiel entstanden, mit dem er, Byron und das (spätere) Ehepaar Shelley sich in einer Villa am Genfer See den verregneten Sommer 1816 vertrieben und dem sich auch der Roman „Frankenstein“ verdankt, das Glanzstück der erst neunzehnjährigen Mary Shelley. Polidoris Stoff wurde, unterm selben Titel, vor allem als Oper von Heinrich Marschner, uraufgeführt 1828 in Leipzig, während des neunzehnten Jahrhunderts weithin populär.
Auf den Umstand, dass im Aberglauben vieler Völker und im Lauf der Kulturgeschichte besagte Gruselgeschöpfe nicht zuletzt in weiblicher Gestalt auftreten, griff der Ire Sheridan Le Fanu 1872 in seiner Novelle um das junge, schöne Scheusal „Carmilla“ zurück. 1884 präsentierte eine Erzählung Alexei Konstantinowitsch Tolstois, eines Vetters von Leo Tolstoi, als russische Unterart den Wurdalak, der sich ausschließlich an vertrauten Menschen seiner engsten Umgebung schadlos hält.
Wer will so wohnen? Wer will das sehen, immerzu? 73-jährig, im Februar 1819, siedelte sich der große spanische Maler Francisco de Goya nicht weit von Madrid in einem Landhaus an. Schlimme Erlebnisse hatten ihn zerrüttet, seit einer Krankheit hörte er nichts mehr. Quinta del Sordo, das Haus des Tauben, nannte er das Refugium seiner Einsamkeit. Im Jahr nach dem Einzug begann er, die Wände in Erdgeschoss und Oberstock mit vierzehn Bildern auszumalen – nicht aber, um dem Auge Freude zu bereiten.
Die pinturas negras, schwarzen Bilder, erzählen in Schattentönen von Makabrem und Grauenvollem. Hexen tanzen, ein Hund versinkt im Sand, Raufbolde prügeln mit Knüppeln aufeinander ein … – Saturn, als magerer Greis mit den geweiteten Augen des Irrsinns, beißt einem seiner Söhne Kopf und Arme vom Rumpf. Goya hatte die Schrecken des Krieges gesehen, die Gräuel, wie sie entartete Krieger anrichten. Dunkel sahs in ihm aus: „Ich fürchte keine Kreatur außer dem Menschen.“
Düsterkeit herrscht auch um den Mönch, den Caspar David Friedrich 1809 in einem seiner berühmtesten, suggestivsten Bilder verlassen am Rand eines Meers postierte: vor ihm und dem sandbraunen Felsen unter seinen Sandalen ein Streifen stahlschwarzen Wassers mit einer Eisschicht aus weißblauem Wolkenhimmel darüber – wahrlich kein Andachtsbild. In Gemälden wie diesen tut sich eine Gegenwelt auf, die das Grausige, Grausame oder gar Grässliche in die Wirklichkeit entlässt. Dabei muss, was ängstigt und erschreckt, keineswegs abstoßen. Schon im alten Griechenland fand Aristoteles Gründe, auch das Hässliche oder Unheimliche attraktiv zu finden, sofern ein fähiger Künstler es zunftgerecht herrichtet. Dann haben auch Kinder schon Lust, ins schwarze Reich einzutreten, zwar nicht gleich in die Nacht der Vampire, so doch ins Zwielicht der von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten, redigierten und ab 1812 veröffentlichten „Kinder- und Hausmärchen“: Die keineswegs harmlosen Ereignisse in den Geschichten stecken voller Prüfungen, Bedrohungen, Schicksalsschlägen und Verzauberungen.
Jene Gegenwelt des Wunderlichen und Wunderbaren ist die der „Schwarzen Romantik“: Sie inszeniert unselige Geister in horrenden Gegenden, in erschreckende Geschehnisse verwickelt. „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ auf den Buchseiten, Leinwänden, auch Notenblättern der Stilepoche, nicht nur auf den Zimmerwänden und Grafikblättern Francisco de Goyas, der eine seiner Radierungen so unterschrieb.
Romantik ist Anti-Aufklärung wider die Vernunft. Enttäuscht und ratlos nahmen die Kreativen und Intellektuellen Europas zur Kenntnis, das 1782 in der Schweiz noch einmal eine verleumdete Frau als Hexe unterm Henkersschwert starb. Dann zwar schien sich Frankreich 1789 durch seine Revolution von allem altertümlichen Unverstand zu verabschieden; doch bald ließ, unterm Deckmantel einer „Vernunftreligion“, blutrünstigster Terror Tausende Köpfe rollen. Vom Rationalismus, vom vielfach enttäuschten Glauben an einen durch Menschen erwirkbaren Fortschritt der Humanität, später vom entzaubernden Materialismus der Technik und der Industrien zogen sich die Romantiker zurück – aus der Vernunft in die Natur; auch zu ihren „Nachtseiten“ und den Schatten, die das Licht des aufgeklärten Geistes in ihr warf.
In der Natur glaubten sie einen ursprünglichen und unendlichen, organischen Zusammenhang zu erkennen: Alle Teile darin stehen in Wechselverhältnissen miteinander, der Tag mit der Nacht, der Nebel mit der klaren Luft und also auch der reine Verstand mit der blühenden Fantasie, der Traum, die Angstvision, sogar der Wahn mit der Wirklichkeit. In ihr schienen sich doppelte Böden aufzutun, Falltüren und -stricke, ungekannte Winkel. Die Schauplätze ähnelten architektonisch nun weniger klassisch-antiken Tempeln in ihrer stillen Größe als den Ruinen sagenhafter Burgen und Abteien, wie das Mittelalter sie übriggelassen hatte. Dort leben und weben Märchenwesen und Dämonen, Spuk- und Schreckgestalten, Magier und Hexen, allemal der Teufel und seine Schergen in Menschen- und Geistergestalt. So wie die fünf Sinne verliert das Gute jede Verlässlichkeit: Das Böse legt sich darüber, und unter der Larve der Anmut lauert Verderben.
Den Blick auf die dunkle Rückfront romantischer Gefühlsseligkeit öffneten namentlich zwei Autoren. 1808 ließ Gotthilf Heinrich Schubert seine „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ erscheinen (und schickte ihnen 1814 noch eine „Symbolik des Traumes“ nach). Dem Unbewussten kommt – schon hier, nicht erst bei Sigmund Freud – die Rolle eines grenzenlosen Paralleluniversums zu, in dem der Verstand ebenso wie der Eros wurzelt. Nicht nur „das Schöne“ erwuchs für die Romantiker aus der Natur, sondern zugleich Versuchung und Sünde, das Kranke und Abartige.
Zur „Entzweiung und Entfremdung“ des Menschen mit der bisher anerkannten Welt, die der Poet Novalis benannte, gehörte fortan auch der Umsturz hergebrachter Vorstellungen von Sitte und Moral, gehörten Verbrechen und geheim gehaltene Schuld, die sich mal verkappende, mal befreiende, wenn nicht gar pervertierende Lust. Die Romantiker erachteten die Realität, wie arglose Sinne sie wahrnehmen und wie Naturwissenschaftler sie ausmessen und berechnen, nur als eine reflektierende Oberfläche, wie den Wasserspiegel, unter dem eine beängstigende Tiefe unsicht- und unabsehbar sich auftut.
Im zwanzigsten Jahrhundert ging der italienische Anglist Mario Praz jener Haltung nach: „Liebe, Tod und Teufel“ heißt sein 1930 erschienenes Buch in der deutschen Übersetzung von 1963, die ihm den Untertitel „Schwarze Romantik“ hinzufügte. Ihm verdankt das kulturgeschichtliche Phänomen hierzulande den Namen. Zunächst manifestierte es sich literarisch – im Schauerroman, wie er in Englands achtzehntem Jahrhundert aufkam, in Horace Walpoles „Schloss von Otranto“ 1764 gleich zu Beginn der Strömung einen Gipfel erklomm und sich 1796 im „Mönch“ von Matthew Gregory Lewis, etwa zwanzig Jahre später im „Frankenstein“ der jugendlichen Mary Shelley vollendete. Das eingetrocknete Imaginationsvermögen der aufklärerischen Autoren wie der Leser sah sich herausgefordert von Fantastik und Groteske, von Undurchschaubarem und Unheimlichem, bald sublimem, bald plakativem Grauen.
Nach Amerika und zu Edgar Allan Poe gelangte die Schwarze Romantik über den Einfluss des grandiosen deutschen Fantasten Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, vor allem durch seinen Roman „Die Elixiere des Teufels“ von 1815/16. Dessen Icherzähler und unheilvolle Hauptfigur, der Klosterbruder Medardus, lässt sich, wie so manche Gestalten der Weltliteratur vor und nach ihm, auf eine Art Pakt mit dem Leibhaftigen ein, indem er einen von jenem offerierten Zaubertrank zu und dadurch gleichsam freiwillig einen Fluch auf sich nimmt. In der Folge sieht er sich, durch das südliche Deutschland und Italien reisend, der sündigen Liebe zu einer Unbekannten, abgründig-amourösen Verwicklungen, verhängnisvollen Verwandtschaftsnetzen ausgesetzt, nicht zuletzt den Anschlägen eines Doppelgängers (der ein weiteres Lieblingsmotiv der Schwarzen Romantik ist, gleichfalls transatlantisch durch Poe prädisponiert).
In Hoffmanns zwischen 1819 und 1821 ediertem Geschichten- und Märchenkreis „Die Serapionsbrüder“ taucht endlich, unter der vergleichsweise noch harmlosen Beschreibung als „grässliche Geschichte“, ein Vampir auf - eine vampirische Aristokratin, genauer gesagt, groß und „knochendürr“ und mit „glühendem Blick“, „eiskalten Händen“ und Fingern wie „im Tode erstarrte“ Krallen, überhaupt von denkbar abstoßendem Äußeren: „Niemals hatte eine Person, ohne im mindesten hässlich zu sein, in ihrer äußern Erscheinung solch einen widerwärtigen Eindruck auf den Grafen gemacht, als eben die Baronesse“. In ihren „hässlich bunten Kleidern“ kommt sie besagtem Grafen wie „eine angeputzte Leiche“ vor. Er heiratet ihre Tochter, fühlt sich allerdings, nach dem Tod der Alten, bald aufs Äußerste alarmiert: Als er ihr bei einer rätselhaften Nachtwanderung zum Totenacker folgt, muss er gewahren, wie sie im Verein mit anderen Dämonen ihresgleichen eine Leiche verzehrt. Zur Rede gestellt, verbeißt sie sich „mit der Wut der Hyäne“ in den Gemahl, der „die Rasende von sich zur Erde niederschleuderte, und sie gab den Geist auf unter grauenhaften Verzuckungen. Der Graf verfiel in Wahnsinn“ – abermals ein Thema, darin die Schauerromantiker mit Vorliebe badeten.
Die Idee des männlichen oder weiblichen „Zehrers“, der seinen Appetit durch Fleisch und Blut, also Leben und Kraft von Lebenden stillt, um sein untotes Dasein zu fristen, wirkte als kraftvolle oder subtile Allegorie zunächst bis in die Jahrzehnte um 1900 fort, in den Symbolismus der „décadence“ und des fin de siècle hinein und darüber hinaus, in den Surrealismus. 1924 erklärte André Breton, der frühe Theoretiker und Wortführer der Richtung, Traum und Wirklichkeit zu nur „scheinbar gegensätzlichen Zuständen“. Folgerichtig unterwarf und opferte Salvador Dalí in seinen fantasmagorischen Gemälden die „faktische Welt“ den Wucherungen der Einbildungskraft.
Wer den „Dracula“, Bram Stokers Meisterwerk, auf eine triviale Horrorhandlung reduziert, setzt die gründlichen Vorstudien des irischen Autors herab. Recherchierend erschloss er sich die Stoff- und Motivgeschichte des Vampirismus seit der Antike, mit der reichen Sagenüberlieferung und dem Volksaberglauben besonders in Ost- und Südosteuropa machte er sich vertraut. Nicht nur, dass Stoker erzählt, wie sein transsilvanischer Graf – ein auf einem Totenschiff anreisendes Mischwesen aus Menschlichem und Tierischem, aus lebender und toter Materie –Wege sucht, von England aus die Welt mit der Pest des Untoten-Daseins zu infizieren. Überdies verbreitet sich der Autor in seinem Werk pseudowissenschaftlich genau – und formal scheinbar objektiv in einer Folge von Briefen und Aufzeichnungen, Memoranden und Expertisen, Telegrammen und Pressemeldungen – über die Eigenschaften des Vampirs, die allen Natur- und moralischen Gesetzen spotten. Nicht zuletzt offenbart er die einzige Methode, ihn zur Strecke zu bringen. Anheimelnd geht’s dabei nicht zu: Man durchbohre ihm das Herz mit einem Pflock, enthaupte ihn, verbrenne seinen Körper.
Mehr als das Buch haben seine Verfilmungen das Bild des Grafen Dracula verbreitet. Um Friedrich Wilhelm Murnaus Horror-Stummfilm „Nosferatu“ von 1922 vollends in eine „Symphonie des Grauens“ (so der Untertitel) zu verwandeln, musste der Hauptdarsteller nicht erst ein erschreckendes Pseudonym ersinnen. Unter seinem Klarnamen Max Schreck machte er sich, entsprechend maskenbildnerisch entsprechend hergerichtet, unsterblich in der Rolle des todbringenden Raffzahns und Blutsaugers Graf Orlok: spindeldürr, langarmig, ausgestattet mit Krallenhänden, Hauern und dem Bleichgesicht des Unterirdischen. (Im wirklichen Leben sah er umso unauffälliger aus). Noch neunzig Jahre später bekannte Erfolgsregisseur Tom Tykwer, er habe, nachdem er das grausige Leinwanddrama erstmals erlebt und durchlitten hätte, sich im Dunkeln kaum mehr vom Kino nach Haus getraut.
Nach Max Schreck im hundertjährigen Stummfilmklassiker hatten Filmstars wie Bela Lugosi und Christopher Lee im Frack und mit Cape der Figur einen sehr anderen Habitus verschafft, den der kultivierten Kälte und eleganten Morbidität. Zum historischen Drăculea, dem Sohn des walachischen Fürsten und „Drachen“-Ritters Vlad II. – passt dies insofern, als jener dritte Vlad sich einerseits als Massenmörder und abstoßender Schänder missliebig machte, andererseits keineswegs schäbig auftrat. Den 1431 geborenen, 1477 ermordeten Finsterling porträtiert ein Bildnis kostbar gekleidet, der Kopfputz von Gold, Perlen, edlen Steinen schwer.
Als Feldherr im Kampf gegen die anrückenden Osmanen zeichnete er sich im fünfzehnten Jahrhundert achtbar aus – umso unrühmlicher indes als „Vlad der Pfähler“ und Quäler. Weit über zwanzigtausend Männer, Frauen und Kinder, Kriegsgefangene sowohl wie unbotmäßige Untertanen, verendeten auf sein Geheiß durch eine bestialische Tortur: Nicht mit den Zähnen zwar stillte der Autokrat seinen Blutdurst, doch ließ er Feinde und Gefangene, Dissidenten und Zufallspassanten, die ihm missfielen, rektal auf angespitzte Stämme spießen. Auf den erlauchten „Drachenorden“ des Kaisers Sigismund verweist sein nom de guerre, den Bram Stoker zu Dracula, zum Eigennamen seines fiktiven fatalen Fürsten aus Transsilvanien ummünzte.
Die Erotik, als ein im Sadismus stets mitwirkendes Ingrediens, verkörpern andere Scheusale in Menschengestalt unverhüllter als Vlad Tepes, doch auch sie schwimmend in Blut. Der 1440 hingerichtete französische Graf und Militär Gilles des Rais oder Erzsébet Báthory, die 1614 als Serienmörderin (angeblich) lebendig eingemauerte „Blutgräfin“ aus Ungarn, folterten und schlachteten Knaben, Mädchen, junge Frauen zu Dutzenden, wenn nicht Hunderten in ihrer sexuellen Gier. Unverkennbar steht in Bram Stokers Buch der Biss ins Blut, der Zahn im Frauenfleisch für erotische Hingabe und Besitznahme, für Penetration und gewaltsame Vereinigung. Und dort, wo Frauen in die Verführer- und Verderberinnenrolle treten – von Le Fanus „Carmilla“ bis zur gut gesinnten Comic- und Kinoheldin „Vampirella“, von Edvard Munchs in sanfter Umarmung gemalter Blutsaugerin bis zu krassen Videospielen wie „Vampire Survivors“ oder, seit Kurzem, „20 Minutes till Dawn“ –, da begegnet der begehrende Mann seiner faszinierend schlimmen Überwinderin lustvoll. Nicht alle Herren verhalten sich angesichts der Versuchung so sittenfest wie der heilige Antonius. Nicht jeder will so sein.
In der Liebe, bei der ersten zumal, fließt Blut, schnell und stark pulst es durch Herz und Adern und die Regionen zwischen Nabel und Knie. Der Tod aber, tritt er gewaltsam ein, vergießt es und macht es in jedem Falle still. Im Blut berühren sich eros und thanatos, Begehren und Vergehen. Rot schimmert oder glüht es, in der Farbe nicht des Todes allein, auch des Lebens und der Sinnenlust – und steht mit der Leben spendenden Milch und ihrer Weiße in Verwandtschaft. An der Mutterbrust saugend und mitunter beißend, nährt sich mit Vergnügen und Begier jedes Stillkind. Nur dass der Vampir nie damit aufhört: eine orale Phase, die nicht endet.
1919 ergründete Sigmund Freud „Das Unheimliche" in einem berühmt gewordenen Essay. Es lasse uns, meinte er, eine unbestimmte Furcht verspüren, indem sich Gruseln oder Grauen ins Gefühl einschleiche und uns den wohlbekannten Schauer über den Rücken treibe. Ausgehend von E.T.A. Hoffmanns Novelle „Der Sandmann“ umschrieb Freud dies wohlige Unwohlsein der Seele, indem er es mit dem verglich, was allgemein als heimlich gilt: mit dem Geheimen also – dem bescheiden Unauffälligen wie dem Verheimlichten, dem Unerlaubten gar, das im Verborgenen blüht. Wenn derart Totgeschwiegenes mitten im Alltag, im Vertrauten augenfällig wird, im Wortsinn merk–würdig und außerordentlich, dann befremdet es, erschreckt und ängstigt, lässt schaudern und erbeben. Da können dann Albtraum und Wirklichkeit untrennbar sich vermischen.
Die Angst vor dem Vampir nährt sich aus dem Angstbild des Wiedergängers: Jahrhundertelang glaubten Menschen nicht allein im Osten des Kontinents mit aufgestellten Haaren an Begrabene, die es nicht in ihren Gräbern hält, an Werwölfe, würgende Nachtmahre und drückende Albe, an Hexensabbat und Satansmesse. In derlei Horrorvorstellungen finden Gefahren aus der Natur ihre horrende Überhöhung: die Furcht vor Raubtieren, die Scheu vor Parasiten. Auch in der Gesellschaft taucht der Blutsauger auf, fast so fein gekleidet wie in den Filmen mit Christopher Lee: als unmenschlicher Lohndrücker, ausbeuterischer Finanzmagnat, rücksichtsloser Profiteur.
Der Vampir – ein „europäischen Mythos“. Nicht erst in der gruselgierigen und schauersüchtigen, ins Schwarz verliebten Romantik, sondern schon etwa hundert Jahre vorher, ausgerechnet im vermeintlich erleuchteten Zeitalter der Aufklärung, blühte der Aberglaube an sein tatsächliches Vorkommen auf. Vom Balkan ausgehend, machte sich furchteinflößend die Kunde von Untoten, Wanderern zwischen dem Dies- und dem Jenseits und zwischen Erde und Hölle, breit: Unverwest peinigten sie die Lebenden durch ihren bloßen Anblick, wenn nicht gar durch Schaden an Leib und Leben. Gestandene Mediziner erstellten Gutachten über Leichen, die sonderbarerweise unversehrt aus ihren Gräbern exhumiert worden waren. Als „Nachzehrer“, so las man, hätten etliche von ihnen ihre Leichentücher, hörbar schmatzend, angenagt. Um die Drangsal abzustellen, trieb man den Toten vielfach Pfähle durchs Herz, hieb ihnen die Köpfe ab und verbrannte die Körper zu Asche – post mortem die Hinrichtung eines Delinquenten, der dem Reich Satans verfiel.
Im Blut, das der walachische Blutfürst Vlad Tepes so erbarmungslos vergoss und das Vampire so unersättlich schlürfen, vermischt sich symbolisch Lebenskraft mit Gewalt und Tod, herzliche Liebe mit geiler Begierde, unabtragbare Schuld mit der Sehnsucht nach Erlösung und dem Ritus des Opfers. „Bin ich ein Vampir?“ Das kann, unter www.testedich.de, jeder im Internet leicht herausfinden. Und wer wird zu einem? Der, den ein Blutsauger beißt; der als Selbstmörder an einem Kreuzweg verscharrt wird; der als siebter Sohn eines siebten Sohns zur Welt kommt; der zu Lebzeiten als Werwolf umging … Gehörte man zu einer jener Gruppen, dann hieß einen bis vor Kurzem online die „Vampir-Unity“ willkommen, eine „Gemeinschaft, die sich auf vielen unterschiedlichen Ebenen mit den Themen reale Vampire und gelebter Vampirismus befasst und Austausch darüber bietet“. Untote aller Länder, vereinigt euch. Leider änderte die Website ihr Profil: Angeboten werden uns darauf jetzt billige Umzüge (von Transsilvanien im erdgefüllten Sarg nach London?) und, dem sinnlos gewordenen Seitennamen angemessen, kieferorthopädische Serviceleistungen: „Gerade Zähne – tolles Lächeln.“
Anders als Stephenie Meyers, als Anne Rice vermied es Bram Stoker, die Wirkung seiner größten literarischen Eingebung zu inflationieren: Zur Romanreihe bauschte und blies er sie nicht auf. Ohne „Dracula“ spräche heute wohl keiner mehr von dem Autor, dem es Zeit seines Lebens nicht gelingen wollte, einen Publikumserfolg zu veröffentlichen, um einigen Ruhm und, wenn nicht reichlich, so doch ausreichend Geld zu ernten. Als Junge gar hatte er geringe Aussichten, überhaupt erwachsen zu werden: Das stets kränkelnde Kind, 1847 bei Dublin in eine Beamtenfamilie geboren, war lange so gut wie gelähmt ans Bett gefesselt; was ihn später nicht hinderte, von Grund auf genesen unter den Studenten des Trinity College zu Dublin als Sportler und Fußballer zu reüssieren.
Mit Theaterkritiken machte er den britischen Bühnenstar Henry Irving auf sich aufmerksam, der ihn als Intendanten eines von ihm erworbenen Londoner Theaters installierte. Nach einem Band mit Erzählungen und ersten Romanen fühlte sich Stoker so weit, sein Hauptwerk zu konzipieren: Sieben Jahre wandte er an „Dracula“, ohne damit glanzvoller aufzufallen als mit den Werken zuvor und danach. Ernüchtert musste er erleben, dass nicht einmal dieses singuläre Buch zu seinen Lebzeiten für einen Kassenschlager taugen wollte. Recht ärmlich blieben Stokers Lebensverhältnisse, bis er 1912 in London starb. Aber selbst ohne „Dracula“ wäre dämonisches Parasitentum als Motiv der Künste eine, wenn auch vermutlich eine andere, Konstante geblieben.
Die Rolle, die der transsilvanische Graf in den narrativen Künsten spielt, darf in der bildenden „Der Nachtmahr“ des Malers Johann Heinrich Füssli beanspruchen. Von 1781 an schuf der Künstler jene Ikone des schwarzromantischen Albtraums in mehreren hoch- und querformatigen Versionen: Mit grämlicher Häme hockt der titelgebende Quälgeist bedrückend auf der Brust einer Beauté, die wie ausgeblutet in weißen Schleiern nach einer Liebesnacht eingeschlafen scheint, während ein Pferd, den Kopf durch einen Vorhangspalt reckend, aus milchig-blinden Glupschaugen die Szene lusthungrig verfolgt. Wiederholt inspirierte das Sujet, das sich jedem und jeder ins Gedächtnis brennt, der oder die nur ein Mal seiner ansichtig wurde, Interieurs und Arrangements von Kinofilmen, bevor es, 2015 durch den deutschen Regisseur Achim Bornhak alias Akiz, zur Mystery- und coming of age-Geschichte umgedeutet, auch unter dem angestammten Titel vollends auf die Leinwand fand.
„The wild Swiss“ nannten die Engländer den schwerintellektuellen Schweizer Maler, dem brave Bürger voller Misstrauen Opiumsucht und einen verdächtigen Hang zum Okkulten, übrigens auch einen gleichsam vampirischen Hunger nach blutig-rohem Schweinefleisch nachsagten. 150 Jahre nach seiner unvergesslichen Bilderfindung kehrte die bewusstlos hingestreckte Venus in James Whales „Frankenstein“-Verfilmung von 1931 wieder: Da liegt Mae Clarke als Forscherbraut Elizabeth wie entseelt und ausgesaugt über die Polster ihres Lagers gegossen. Kinematografisches Musterbeispiel für eine Ästhetik des Grauens: Der Schmerz, der Schauder, das Schöne fallen ins eins.
Vollender der Französischen Revolution oder Liquidator der Republik? Schirmherr der Bürgerrechte oder Kriegsverbrecher gegen die Menschlichkeit? Vor zweihundert Jahren starb Napoleon Bonaparte, von eigenen Gnaden Kaiser, im ärmlichen Exil.
Von Michael Thumser
1. Mai – Hier liegt er richtig. Dieser Ort ist ihm gemäß. Der Tote ruht in einem Monument unter der Kuppel des Invalidendoms, des stolzen Gotteshauses mitten im Hotel des Invalides. Das hatte König Ludwig XIV. in Paris errichten lassen, um Soldaten eine Bleibe zu geben, die sich während seiner vielen Feldzüge hatten zu Krüppeln niedersäbeln und zusammenschießen lassen. Als noch rigoroserer Feldherr sammelte Napoleon Bonaparte auf sein Blutkonto weit horrendere Opfer – allein sein grausig gescheiterter Russlandfeldzug, so rechnet der Londoner Historiker Adam Zamoyski in seinem 2012 erschienenen Buch „1812“ vor, habe alles in allem eine Million Menschen das Leben gekostet.
So schmählich wie die Soldaten seiner Grande Armée beim Rückzug durch Schnee und Eis des gnadenlosen russischen Winters musste der selbst gekrönte Kaiser nicht verenden. Gleichwohl hatte sein Tod vor zweihundert Jahre nichts von der ‚Größe‘, die der Imperator und Imperialist in kaum zu befriedigendem Geltungsdrang für sich beanspruchte. Im zweiten und letzten, nun unentrinnbaren Exil auf der südatlantischen Insel Saint Helena verblich er am 5. Mai 1821. Fünfeinhalb Jahre hatte er hier, unter Aufsicht englischer Militärs, vom 10. Dezember 1815 an verbracht, im nicht eben fürstlichen Longwood House.
Als er den letzten Atemzug tat, zählte er 51 Jahre; auch für die damalige Zeit kein hohes Alter. Um vor der Zeit einen Mann zur Strecke zu bringen, der so viele Menschenleben hatte vernichten lassen, schien eine einzige Todesursache nicht auszureichen. Als am Tag nach seinem Hintritt nicht weniger als acht Mediziner ihn sezierten, konstatierten sie, neben anderen unschönen Veränderungen der Organe, vor allem Geschwüre an der Außenwand des Magens und in seinem Innern. Tatsächlich scheint der Kaiser, familiär einschlägig vorbelastet, letztlich einem Krebsleiden erlegen zu sein.
Arsen und Quecksilber
Zum andern lassen sich Spuren des hochtoxischen Giftes Arsen nicht wegleugnen, nachgewiesen in mehreren Haarproben, wobei unklar bleibt, ob ihm andere die Substanz in mörderischer Absicht beibrachten oder er sich anderweitig damit kontaminierte. Ferner setzte das klamme Klima im Nordosten der Insel seiner angegriffenen Gesundheit massiv zu. Final den Rest gab dem Leidenden die Verordnung eines unsinnig hoch dosierten Quecksilberpräparats. Alles in allem starb Napoleon gewissermaßen vier Tode, womit er einen noch unheilvoller dreinschlagenden Kriegsherrn, den furchtbarsten bisher, mindestens ums Doppelte übertraf: Adolf Hitler, am 30. April 1945, nahm wahrscheinlich Zyankali und schoss sich feige einfach eine Kugel in den Kopf. Hingegen tönte Napoleon während der Befreiungskriege noch 1814, nach der für ihn siegreichen Schlacht von Montereau: „Die Kugel, die mich zu töten bestimmt ist, ward noch nicht gegossen.“
Am liebsten wäre der vierfach Verschiedene in Saint-Denis bestattet worden, der königlichen Ruhestätte. Für einen wie ihn darf man jedoch den Invalidendom, wo höchstrangige, ruhmreichste Krieger liegen, für angemessen halten. Die Überführung des exhumierten – Zeitzeugen zufolge „hervorragend erhaltenen und ohne Weiteres erkennbaren“ – Leichnams veranlasste 25 Jahre nach seinem Tod der „Bürgerkönig“ Louis-Philippe 1840 mit dem Einverständnis Englands. Einzug in Paris hielt der Heros mit unvergleichlichem Pomp auf einem Prunkwagen, dreizehn Tonnen schwer, an die zehn Meter hoch und auf vergoldeten Rädern rollend, den sechzehn Pferden zogen. Zugunsten der napoleonischen Glorie, so urteilte im zwanzigsten Jahrhundert der skeptische Historiker Jean Tulard, habe sich niemand mehr an seine Despotie erinnern wollen.
Jetzt ruhen die sterblichen Reste in der früheren, nach oben geöffneten Krypta des Invalidendoms in einer Totenlade, die vier weitere Särge umhüllen, eingeschlossen in einem riesigen Quarzitsarkophag im Empire-Stil, der porphyrfarben auf einem grünen Granitsockel aufragt, etliche Meter hoch. Darum herum feiern Reliefs und Skulpturen Napoleons staatsmännische Leistungen, etwa den Code civile, ebenso wie seine feldherrlichen Triumphe. Als hätte er Niederlagen nie erlitten: Moskau, das ihn, indem es seinetwegen brannte, zur Aufgabe zwang, taucht in der Ruhmesserie desgleichen auf. Dafür fehlen Leipzig und Waterloo, wo seine Armeen untergingen und seine vermeintliche Größe mitrissen. Zwar brachte er das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und Österreich zur Strecke; an Russland aber biss er sich die Zähne aus, und England war partout nicht in die Knie zu zwingen. Preußens sanftmütige Königin Luise fand ihn verblendet von „ungemessenem Ehrgeiz“ – das konnte nicht gutgehen.
Die Abgründe, die Napoleon den Ländern Europas und schließlich sich selbst eröffnete, versinnbildlicht mit Pathos und noch mehr Dramatik ein 1802 entstandenes Bild Johann Baptist Seeles, das den „Kampf der Russen und Franzosen auf der Teufelsbrücke am St. Gotthardpass im Jahre 1799“ schildert. Teufelsbrücke heißt der Ort zu Recht. Der deutsche Maler zeigt ein Gemetzel, bei dem von links Russen und Österreicher, von rechts Franzosen gegeneinander stürmen, aus langen Gewehren feuernd, die Bajonette aufgepflanzt. Aus einem gischtenden Sturzbach in der Tiefe emporsteigend, mengt sich Nebel in den Pulverdampf. Eingestürzt ist der tragende Steinbogen des ohnehin nur fadenscheinigen Übergangs, gerade mal ein paar gebrechliche Bretter, etliche lose, führen über die Kluft. Die Brücke ist des Teufels, auf ihr hat der Weg nur noch eine einzige Richtung, hinab, und ihr zertrümmerter Bogen markiert das Höllentor.
Hierzu ein Gegenbild entwarf Nicolas Antoine Taunay vom Einzug Napoleons in München sechs Jahre später, 1805. Das Geschehen – das sich in Wahrheit am Abend zutrug – verlegte der Maler an den hellichten Tag: Jubelnd bewillkommnen Bürger den Eroberer vor einer stilisierten Hauptstadt-Silhouette, beschirmt von einem reinklaren Firmament. Hier sprengt auf feurigem Pferd ein Erlöser herbei, rosig überwölkt, um mit neuzeitlicher Politik schönes Wetter zu machen.
Höllenschlund und Himmelsbläue: Ebenso oft als größenwahnsinnig wie als genial apostrophierte die Nachwelt den Usurpator aus korsischem Bagatelladel, den bis heute nicht wenige Franzosen für die bedeutendste Gestalt ihrer Geschichte halten. Eine der gewaltigsten und gewalttätigsten Gestalten war er ohne Zweifel. Immerhin verband Napoleon Bonaparte – obwohl 1769 auf einer Insel geboren und auf einer anderen gestorben – die Landmassen des Kontinents zum ausgedehntesten abendländischen Reich seit dem Altertum. Von Spanien dehnte er es bis nach Polen aus, vom Ärmelkanal bis an den Tiber. Wie der frühmittelalterliche Karl, den die Deutschen einen ihrer „Großen“ nennen und den ihre linksrheinischen Nachbarn als Charlemagne für sich reklamieren, legte er sich die Aura und Attribute des antiken Roms und seiner Imperatoren zu: Empire heißt denn auch der künstlerische und kunstgewerbliche Stil seiner Zeit, der zu seiner corporate identity wurde – eine prahlerische Sprache des Ausdrucks und der Formen, der Dekors und Gebärden, worin altrömische, altägyptische, orientalische Einflüsse sich amalgamierten.
Verteufelt als Popanz, strahlend als Ikone
Als geschmäcklerisch mag man die heroischen Bilder und Plastiken, die protzenden Möbel von damals ansehen. Als „Erinnerungsort“ taugt der Protagonist in jener Staffage, Napoleon, auch zweihundert Jahre nach seinem Tod. Das kollektive Gedächtnis hat seine historische Gestalt so oft verklärt wie verteufelt, als Popanz ausgestellt oder als Ikone strahlen lassen. So oder so zeigt er alle Erkennungsmerkmale des „großen Einzelnen“, der hochmögend die Zeitläufte nach seiner Willkür dirigiert, seinem Willen unterwirft – und für den viele geschichtsaffine Menschen seit jeher ein Faible haben.
Eine „Schule des Universums“ wollten die Propheten der 1789 in Paris ausgebrochenen Französischen Revolution einrichten. Den Umsturz zu besiegeln, den Rest der erreichbaren Welt mit den Menschenrechten und -pflichten von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu beglücken, schien Napoleon ausersehen. Die Royalisten bekämpfte er und half, die Monarchie des (1793 enthaupteten) Königs Ludwig XVI. abzuschaffen. Zum Vollender der bürgerlichen Revolution war er begabt, doch er vollstreckte an ihr ein Todesurteil, das er selbst verhängt hatte: als Erster Konsul und Militärdiktator, als Kaiser, der sich 1804 die Krone selber auf den Scheitel drückte. Eine Erbdynastie gar suchte er zu begründen. Korsischem Clandenken folgend, besetzte er die Throne der okkupierten Territorien mit seinen Brüdern. Indem er seinen Traum verwirklichte und überspannte, trug er, wie die Revolution, schließlich auch sein Kaiserreich höchstselbst zu Grabe.
Mit Prometheus haben ihn bereits die Zeitgenossen verglichen: mit dem griechischen Helden, der den Menschen das Feuer und das Licht brachte; und den, gescheitert an einen Felsen gekettet, ein Geier zerfleischt. Napoleon, mit dem Feuer seiner Fackel, setzte Europa, dessen Throne stürzend, in Brand. Fünf Millionen Tote, fünfzehn Millionen Verletzte stehen als Summe auf der Rechnung des Oberbefehlshabers. Das Zeitalter, das bis heute seinen stolzen Namen trägt, firmiert in der Geschichte als Periode schier pausenloser Feldzüge, die er zunächst als Defensiv-, dann als Angriffskriege führte. Er, der antrat, der ganzen Menschheit die Freiheitslichter des antifeudalen Aufstands in seinem Land aufzustecken, brachte unermessliches Leid über einen Großteil derer, die in den Tätigkeitsbereich, ja nur ins Blickfeld seines unersättlichen Eroberungsdrangs gerieten. Unbesiegbar schien er, als er 1805 bei Austerlitz in der „Dreikaiserschlacht“ Österreich und Russland, 1807 bei Jena und Auerstedt die Preußen niederrang. Indem er jeden Staat in seiner Reichweite demütigend zum Feind erklärte, konnte er den aufgeklärten Idealen seiner Nation keine Freunde schaffen.
Auf den Hochmut folgte tiefer Fall. Den verhängnisvollen Russland-Zug von 1812 trat er mit einem zwangsrekrutierten Vielvölkerheer von 600 000 Soldaten an; zurückzukehren war nicht mehr als 25 000 beschieden. Nach seinem Debakel in der dreitägigen „Völkerschlacht“ bei Leipzig 1813 kam man seinem hoheitsvollen Wesen so weit entgegen, ihn respektvoll als „Majestät“ ins erste, luxuriöse Exil auf Elba zu verabschieden. Das Ende bereitete er seiner Herrschaft unwiderruflich als Wiedergänger der „Hundert Tage“ 1815 beim niederländischen Dorf Waterloo, das heute eine Kleinstadt ist und zu Belgien gehört.
Ein Thema in Millionen Variationen
Ein einst viel reproduziertes Gemälde von Karl August von Steuben überhöht den kurz darauf verbannten, 1821 sterbenden Napoleon ergreifend als verglimmende Lichtgestalt: Schon im Schatten und umgeben von erschütterten Angehörigen und Offizieren, gibt er einen Geist auf, der zu flammend war für das Kleinklein auf Erden. Demgegenüber ist Johann Baptist Seeles Gemälde vom Kampf am St. Gotthard weit mehr als die effektvolle Inszenierung eines Scharmützels in Öl: Das Bild gibt, insofern realistisch, das Thema für Millionen Variationen an. Soldaten starben in Schmutz und Blut, Exkrementen und verwesendem Fleisch. Tagelang mussten Verwundete auf Hilfe warten; kam überhaupt welche, blieb als einzige Therapie meist nur die Radikalkur der Amputation, vollzogen ohne Narkose. Napoleons eisern durchgesetzter Macht-Traum erschuf ein Trauma, das eine komplette Generation junger Männer in Europa lebenslang quälte. Wer dies bedenkt, mag ins Grübeln kommen: Einem wie ihm (oder dem „Führer“ Adolf Hitler) gönnt man den eher leichten Abgang nicht recht.
Freilich, auch der europäische Gedanke eines „ewigen Friedens“ steckte in Napoleons Machtbesessenheit und Blutopferbereitschaft. Den Kontinent ordnete er neu, wenn auch aus dem Geist des präpotenten modernen Frankreich und allein zu seinen Zwecken. In Deutschland und Österreich sorgte er für die Beseitigung des Heiligen Römischen Reiches mit seiner Kleinstaaterei, der in Minimalstrukturen sich verzettelnden Wirtschaft und Verwaltung. Sein Bürgerliches Gesetzbuch, das in Frankreich noch immer in wesentlichen Teilen gilt, krempelte auch das Rechtsverständnis in den Trabantenstaaten um: Alle sind gleich vor dem Gesetz, Kirche und Staat gehen getrennte Wege ... War also doch „nicht alles schlecht“ unter Napoleon?
Wohl für immer scheiden sich die Geister am Kriegsverbrecher, der als Gesellschaftsreformer wirkte. Wie die Revolutionäre vor ihm propagierte er die Freiheit der Person, aber er ließ sie nicht unbeschränkt gelten. „Das Leben eines Bürgers“, dekretierte er, „ist Eigentum seines Landes.“ Drakonisch installierte sein Code civil den Mann familienrechtlich als Herrn im Haus, unter dessen Gutdünken und Willkür Frau und Kinder ohne Recht auf wirksamen Widerspruch gestellt waren – verurteilt zu einer Unmündigkeit, die Élisabeth Moreno, Frankreichs Gleichstellungsministerin, veranlasste, ihn als den „größten Frauenfeind“ von allen zu benennen.
1794 war die Sklaverei in Frankreich offiziell abgeschafft worden; fortan galten auch die Bewohner der französischen Kolonien, zumindest auf dem Papier, „ungeachtet ihrer Hautfarbe“ als freie und mit den verfassungsmäßigen Rechten ausgestattete Staatsbürger. 1802 machte Napoleon den Schritt rückgängig und ließ, wie der französische Schriftsteller und Menschenrechtler Claude Ribbe 2005 in einem Buch nachwies, auf den Antillen schauerliche, von „negrophobem“ Rassismus befeuerte Gräuel zu: Widerständige Leibeigene wurden in Schiffsrümpfe eingeschlossen und mit Schwefelgas wie Schädlinge vergast; andere starben qualvoll bei öffentlichen Spektakeln, an Pfählen festgebunden und von ausgehungerten Bluthunden zerfleischt. Den verantwortlichen Kommandanten auf Kuba versicherte Napoleon brieflich seines Vertrauens und ließ ihm ausdrücklich freie Hand bei „den unerlässlichen Maßnahmen, welche die Umstände Sie anzuwenden zwingen oder zwingen sollten“.
Selbst Gegner Ribbes können die von ihm aufgeführten Fakten nicht bestreiten. In der gewesenen grande nation, wo der Mythos Napoleon die Erinnerung an glanzvolle Vergangenheiten wachhält, redet und hört man ungern von dergleichen, und wer es dennoch zur Sprache bringt, muss mit wilden Anfeindungen rechnen. „Gewöhnlich“, sagt Ribbe, „herrscht bei unbequemen historischen Themen eine Omertà [unbedingte Schweigepflicht] der französischen Art.“ Angesichts solcher Verbrechen gegen die Menschlichkeit fällt zusätzlich scheinbar kaum noch ins Gewicht, dass es dem Potentaten obendrein gefiel, Europas Kultur und Gedächtnis in Form kostbarster Kunstschätze und umfänglicher Archive zusammenrauben und in Paris versammeln zu lassen, als wärs die Hauptstadt der Welt.
Ein erzählter Mensch, ein Mann auf Bildern
Was nun also? Genius oder Gewaltherrscher? So oder so ist der Mann Napoleon bereits seit seinen Lebzeiten eine unwirkliche, fast fiktive Gestalt, ein erzählter Mensch, ein Mann auf Bildern. Er ist der Mann mit der Hand in der Weste: Für offizielle Porträts, zuerst für jenes, auf dem ihn 1803/04 Jean Auguste Dominique Ingres als Ersten Konsul darstellte, wählte er die Pose mit der berühmten „Napoleongeste“ als jugendliches Inbild kontrollierter Überlegenheit. „Das ist ein kluger, ein ruhiger, ein besonnener Herrscher“, soll gemäß der Deutung durch den Historiker Paul Nolte die Haltung besagen, „einer der nachdenkt und den Überblick behält, nicht nur im Schlachtengetümmel.“ Später versah derselbe Maler den selbst ernannten Fürsten mit dem Ornat und den Insignien des Kaisers – und mit der Götter-Aura Jupiters. Bild-Propaganda, die Gegenpropaganda provozierte: In Europa kursierten gleichzeitig zahllose Spottbilder von ihm. Keineswegs als Karikatur indes entstand etwa um 1820 eine Lithografie, die den entthronten Gottkaiser als bescheidenen Pfleger einer Landparzelle schildert: Napoleon auf Saint Helena als Gärtner eines winzigen Reichs der Stille.
Ein Bild, das in Deutschland einst als Postkarte verschickt wurde und das in Frankreich kaum einer mehr sehen will, ist eine Fotografie und entstand mithin viel später. Sie zeigt Adolf Hitler, der am 23. Juni 1940 nach dem „Blitzkrieg“ gegen Frankreich und dessen Kapitulation die Kapitale Paris und auch den Invalidendom besuchte. Begleitet von einer dunkel uniformierten Entourage, blickt der Tyrann im weißen Gabardinemantel vom Umgang auf den Sarkophag hinab. (Kaum anders hatte Napoleon 1806 dem Preußenkönig Friedrich II. seine Aufwartung am Grab gemacht.) Wie es heißt, entblößte Hitler den Kopf, verbeugte sich und verharrte in stummer Andacht. Ein dem Cäsarenwahn erlegener Despot erweist einem Alleinherrscher die Ehre, der sich „Größe“ um jeden Preis angemaßt hatte – und der zugleich sehr wohl wusste: „Größe bedeutet nichts, es sei denn, sie ist von Dauer.“ Allein beständig aber ist der Wandel. Napoleons Größe währte etwas länger als anderthalb Jahrzehnte, von 1799 bis 1815. Hat ihm das genügt? Es genügte jedenfalls, den verhassten Parlamentarismus auszuhebeln, einen ‚starken‘ Staat aufzurichten und ihn mitsamt den Satelliten, die ihn gleichsam umkreisten, autoritär zu führen. Es genügte, sich dank einer rückhaltlosen Selbstfeier und des unbeschränkten Einsatzes werbewirksamer Mittel zum Idol zu stilisieren. Hat sich der faszinierte Blick auf Napoleon seither gewandelt?
Der „18. Brumaire“: Tag der Machtergreifung
Adolf Hitlers „Tausendjähriges Reich“ währte noch kürzer als seines. Nach zwölf Jahren hatte der deutsche „Führer“ es in Trümmer gelegt und dem Rest der Welt, der Moral und dem Glauben an die Zukunft unmittel- oder mittelbar die schlimmsten Verheerungen aller Zeiten beschert. Hitlers Namen, sein Andenken hochzuhalten, fällt keinem Demokraten ein. Jedes geschichtliche Beispiel für Exzesse der Unmenschlichkeit haben er und seine Exekutoren in den Schatten gestellt. Nur eine Bezichtigung trifft ihn zu Unrecht: der Vorwurf der „Machtergreifung“ – setzte doch ein zwar resigniertes und bedrängtes, gleichwohl noch freies Volk in freier Wahl seine NSDAP auf Platz eins; ein Akt sich pervertierender Demokratie. Napoleon hingegen wurde seiner Macht auf andere, direkte Weise habhaft: Er „ergriff“ sie wirklich am „18. Brumaire im Jahr VIII“, dem 9. November 1799, packte sie als putschender General und riss sie an sich, indem er sich mit militärischem Druck zum „Ersten Konsul“ (neben zwei nachrangigen, Emmanuel Joseph Sieyès und Roger Ducot) und de facto zum Alleinherrscher aufschwang. So machte er zwar dem Terror der entarteten Revolution den Garaus, allerdings auch der Republik.
Von Napoleon ist das Aperçu überliefert, Geschichte sei „die Lüge, auf die man sich geeinigt hat“. Besonders verdächtig macht sich, so betrachtet, die Geschichte der sogenannten Großen: Nur wenige Legenden stecken so voll Blendwerk wie Berichte von Ehre, Ruhm und Heldentum.
Die Zeit zwischen Karfreitag, dem Datum grauer Trauer, und Ostern, dem lichten Fest der Auferstehung, eignet sich für einen Abstieg in die Unterwelt: Wie in Rom fanden auch in Paris und Wien Abertausende Leichen ihre letzte Bleibe in Katakomben – meist wenig würde- und weihevoll.
Von Michael Thumser
3. April – Die Lady aus England war Schockierendes gewohnt. Doch was ihr in Wien durch die Augen ins Gemüt drang, brachte sie beinah um den Verstand. In Romanen hatte Frances Trollope gegen mancherlei Entsetzlichkeiten angeschrieben, gegen Frauendiskriminierung, Kinderarbeit in Fabriken, Sklaverei. Doch noch unmittelbarer traumatisierten sie die Ungeheuerlichkeiten, denen sie eines grauen Dezembertags im Jahr 1836 begegnete: Als sie sich 56-jährig für acht Monate in Österreichs Hauptstadt aufhielt, nahm sie an einer Expedition in die Unterwelt unter dem Stephansdom teil.
Dass sie an Wänden vorüberkam, „die aus menschlichen Gebeinen bestanden, wie die Abbildungen der Pariser Katakomben [sie] zeigen“, hatte sie erwartet und ertragen. Dann aber gelangten sie und ihre Begleiter in eine Gruft, deren Boden wegen „ungeheurer Massen widerlichen Moders hügelig“ aussah, lag doch dort „ein Haufen ganzer, nackter, unbestatteter Leichen“ herum. Furchtlos hob der ungehobelte Führer „einen dieser kläglichen Überreste menschlichen Seins an der Kehle auf und riss mit der Hand lange Streifen der zu dickem Leder eingetrockneten Haut ab“ – die „schrecklichste Szene, die sich je den Blicken von Sterblichen darbot“. Zitternd fürchtete Mrs Trollope, „dass ich wahnsinnig würde“.
Beeindruckend weitläufig dehnen sich die Katakomben unter Paris und Wien aus. Doch die von Rom übertreffen sie an Berühmtheit, Zahl und Ausmaßen bei weitem. Etwa sechzig solcher Totenstädte wurden unter der „ewigen Stadt“ bislang entdeckt. Nur fünf von ihnen sind der Öffentlichkeit zugänglich – eine sechste aber soll in einiger Zeit geöffnet werden: Vor wenigen Wochen beschloss der Vatikan, die Restaurierung der Comodilla-Katakombe fortzusetzen. Bislang wurde ein kleiner Kultraum gesichert, die sogenannte Basilichetta, eine „kleine Basilika“, die einst die Reliquien der Märtyrer Felix und Adauctus enthielt. Wiederhergestellt werden künftig auch Fresken, unter denen sich, im späten vierten Jahrhundert entstanden, ein Prototyp findet: der erste Christus mit Bart.
Rom
Das heilige Zentrum der katholischen Christenheit, in dem die Päpste alljährlich an Karfreitag und -samstag den Abschluss der Passionszeit zelebrieren, um an Ostern den Segen urbi et orbi, der Stadt und dem Erdkreis, zu spenden – es beherbergt die unterirdischen Totenstädte mit der geschichtsmächtigsten Tradition, mögen auch jene von Wien und Paris alljährlich Tausende Besucher gruseln lassen. Dass in Roms Hypogäen vor allem Gläubige aus der spätantiken Phase des Christentums bestattet wurden, macht sie für Pilger wie für mehr oder weniger fromme Städtereisende besonders attraktiv. Allerdings waren unter den etwa 850 000 Verstorbenen, die in und zwischen den Nischen, Gängen und Kulträumen ihre endgültige Ruhe fanden, keineswegs nur Angehörige des frühen Jesus-Glaubens; auch Gefolgschaft der alten Götter und Juden kamen hier post mortem unter. Insgesamt etwa 170 Kilometer weit erstrecken sich die voluminösen Hohlräume unter der Oberfläche der betriebsamen Kapitale; allein die besonders ins Licht der Forschung geratene Katakombe der Stifterin Domitilla misst gut zwölf Kilometer und gibt in ihren Wänden ungefähr 26 500 Gräbern Raum.
Auf das dritte Jahrhundert gehen die frühesten Tiefbauten zurück. Christliche Bestattungen fanden hier wohl hauptsächlich seit dem Regierungsantritt Konstantins des Großen statt, der sich, durch die Mutter geprägt, von Kindheit an stark zu der neuen, monotheistisch-messianischen Erlösungsreligion hingezogen fühlte. Den Sieg über seinen Gegner Maxentius, den der Kaiser 312 in der kirchengeschichtlich bedeutsamen Schlacht an der Milvischen Brücke errungen hatte, führte er auf das Wirken des Christengotts zurück. Vor dem Kampf, so wird überliefert, habe Konstantin in einer Vision ein Kreuzzeichen am Himmel erblickt, mit Christusmonogramm und dem griechischen Appell: En touto nika, oder auf Latein: In hoc signo vinces, „In diesem Zeichen wirst du siegen“. Nur ein Jahr später verkündete der Kaiser die Tolerierung des Christenglaubens (und aller anderen Religionen) im Imperium Romanum, unmittelbar vor seinem Tod an Pfingsten 337 ließ er selbst sich taufen. Noch etwa hundert Jahre lang gruben die Römer an ihren Katakomben. Je jünger sie sind, desto tiefer liegen sie.
Der Krösus wie der Habenichts verlangten danach, am Jüngsten Ostertag möglichst vollständigen Leibes aufzuerstehen und ins paradiesische ewige Leben einzukehren, das ihnen als Christen verheißen war. Darum ließen sie – anders als ihre ‚heidnischen‘, ein freudlos-graues Jenseits erwartenden Zeitgenossen – ihre toten Körper nicht verbrennen. Vor allem Verblichene aus den unteren und armen Schichten der millionenstädtischen Gesellschaft bevölkerten die Totenstädte; für sie wurden einfache Nischen aus dem Tuff, einem weichen Gestein vulkanischen Ursprungs, ausgehauen und nach der Bestattung zugemauert. Zumeist nennen sie denn auch keine Namen. Angehörige machten sie, um sie wiederzufinden, mit Merkzeichen kenntlich. Aber auch prächtige, mit verzierten Platten aus Marmor versiegelte Gräber finden sich, zudem aufwendig ausgestattete Sakralräume; sie dienten, vor allem in späterer Zeit, der Verehrung von Märtyrern, die während der Christenverfolgungen einen oft grauenvollen Tod gefunden hatten, oder von frühen Päpsten, den Nachfolgern Petri. Die Wände mancher Räume zeigen Illustrationen zu den Geschichten der Bibel, die ersten, von denen die Kunstgeschichte weiß; sie geben zugleich Aufschlüsse über die Lebenswelt und -weise der Menschen jener Zeit. Andere Wandgemälde stellen Petrus und Paulus dar, die Urapostel der römischen Kirche. Ruheräume waren die letzten Ruhestätten nicht: Regelmäßig fanden sich Hinterbliebene zur Trauer und zum Gedenken ein, später zog es Scharen von Pilgern an die Erinnerungsorte der ersten Glaubenszeugen.
Kaum mag man glauben, dass eine Wunderwelt wie die römischen Katakomben in Vergessenheit geraten konnte. Gleichwohl geschahs: Denn als der Reliquienkult in späteren Jahrhunderten zunahm, wurden immer mehr der Überreste, vielfach mit der erfundenen Behauptung, sie stammten von Blutzeugen ihres Glaubens, in die immer zahlreicheren Kirchen umgelagert. Obendrein standen durch die Entvölkerung der – nach 476 ihrer metropolitanen Macht beraubten – Stadt immer größere Freiflächen für Friedhöfe zur Verfügung. Den Ruhm eines „Kolumbus der Katakomben“, ihres Wiederentdeckers also, heimste der Malteser Gelehrte Antonio Bosio ein. 1593 verirrte sich der „Antiquar“ (oder Amateur-Archäologe) in der Domitilla-Katakombe und widmete daraufhin mehr als drei Jahrzehnte seines Lebens der Erforschung der verzweigten Grab- und Grabungssysteme. Sein riesiges Kompendium „Roma sotterrana“ (Unterirdisches Rom) verschlang Johann Wolfgang von Goethe, wenngleich der sich während seines Aufenthalts in Rom 1788 persönlich nicht gern und nur kurz hinabbegeben hatte: Die „dumpfigen Räume“, schrieb er in seiner „Italienischen Reise“, hätten in ihm ein starkes „Missbehagen“ hervorgerufen. „Alsobald“ zog es ihn wieder nach oben zu Luft und Licht. Auch eine Art Ostern: Probe für die Auferstehung.
Paris
Damit in Frankreichs Hauptstadt oben Bauten wachsen konnten, mussten unten Steine weichen. Die Katakomben von Paris entstanden, wie überhaupt der auf dreihundert Kilometern ausgehöhlte Untergrund, als carrières, Steinbrüche. Unter schier unmenschlichen Mühen wurde hier vor zweitausend Jahren wie im fünfzehnten Jahrhundert der Pierre de Paris, der (Kalk-)„Stein von Paris“ gefördert. Über viele Jahrhunderte hochgeschätzt, findet sich der Baustoff beispielsweise in den Gemäuern des Louvre und der Kathedrale Notre-Dame. So nah der Fels schien, so fern war er: Bis zu den endlosen Korridoren und Grotten geht es 35 Meter in die Tiefe.
Und doch lag er nicht tief genug. Über den Kavernen begann der Boden nachzugeben oder stürzte sogar ein. Endlich wurde verfügt, nach und nach die carrières zu schließen, die letzte in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Schon 1777 hatte eine spezielle Behörde begonnen, die Aushöhlungen zu inspizieren und abzusichern – etwa zur selben Zeit, da die Stadtverwaltung begann, die Friedhöfe aufzulassen. Denn die häufig nicht tief genug vergrabenen Leichen auf ihnen legten einen morbiden, schweren Gestank über die Hauptstadt. Der deutsche Schriftsteller Patrick Süßkind schilderte die Atmosphäre 1985 im „Parfum“, seinem olfaktorischen Weltbestseller.
Als Sammelstelle für Schädel und Gerippe wie für kaum verrottete Kadaver bot sich die wieder stabilisierte Unterwelt an. Mit der Zeit wurden in ihr die Relikte von mehr als sechs Millionen Menschen abgelagert, zunächst weitgehend achtlos. Bis 1809 Héricart de Thury als Chef der Inspection des Carrières beschloss, für Ordnung zu sorgen: Auf sein Geheiß hin sortierten Arbeiter die Gebeine und stapelten sie sorgfältig zu Mauern und Monumenten, deren harmonische Muster einer seriös einheitlichen, wenn auch ein wenig makaber-verspielten Geschmacksvorstellung folgen. Vielleicht nicht schon zur ersten, doch jedenfalls zur zweiten Touristenreise nach Paris sollte der geführte Besuch durch die von beinernen Wänden begleiteten Gänge und Flure gehören.
Wien
Wenn eine Dame, ein Herr aus der Familie der herrschenden Habsburger den erlauchten Geist aufgegeben hatte, musste der Körper ein recht horrendes Verfahren erdulden: Er wurde ausgeweidet und zerlegt. Zum einen entnahmen ihm die Präparatoren das Herz, den mythischen Kern des menschlichen Lebens und Wesens, denn es wurde separat in der Augustinerkirche bestattet. Während die leere Hülle des oder der Toten in die Kapuzinergruft, die kaiserliche Grablege unter der Kapuzinerkirche, aufbrach, wanderten die Innereien in die seit nun bald sieben Jahrhunderten bestehende – Herzogsgruft des Stephansdoms. Die reich dekorierten Gefäße, die das durch Alkohol konservierte Gekröse einschließen, sind den Kanopenkrügen aus altägyptischen Gräbern vergleichbar.
Der Weg zu ihnen öffnet sich im südlichen Seitenschiff der Kathedrale. Der Herzogsgruft benachbart weiten sich noch einmal zwei Grüfte, für hohe geistliche Würdenträger der Stadt bestimmt. Neben diesen ältesten Bezirken der Katakomben entstanden von 1775 bis 1779 auf (mindestens) zwei Etagen mehr als dreißig Knochenkeller, die „Neuen Grüfte“, die sich unter dem gesamten Stephansplatz und darüber hinaus erstrecken. Wie die Stadt Paris beschloss auch Wien, seinen zentralen, überfüllten Friedhof aufzugeben. Von ihm brachte man viele Gebeine in die Knochenlager, indes kamen reihenweise Jüngstverstorbene hinzu. Ihre Leiber, ob eingesargt oder nur in Tücher gehüllt, schichtete man ohne viel Federlesens einen auf den anderen, bis unter die Decke eines der Gelasse. War es voll, wurde ein nächstes ausgehoben und das vorige vermauert. Dennoch drang Fäulnisgestank aus ihnen hinaus ins Kircheninnere, so unerträglich schließlich, dass der Zugang zum Gotteshaus unterbunden wurde. Mit diesen im Barock geschaffenen Totengewölben ist der „Karner zu der Totenpein“ verbunden, in den durch eine Öffnung, nicht viel breiter als die Schultern eines Mannes, Leichen befördert wurden. Bis obenhin ist der Karner mit Skeletten gefüllt. Als die Katakomben 1783/84 geschlossen wurden, waren auf diese oder ähnlich verächtliche Weisen 10 893 Tote bestattet worden – entsorgt: weggeworfen.
„Schrecklichste Szenen“, um Frances Trollopes Horrorbericht zu zitieren; „den Blicken von Sterblichen“ bleiben sie besser erspart. Doch wie die britische Autorin mutete sich auch der österreichische Erzähler Adalbert Stifter den Anblick zu. 1841 wagte er einen „Gang durch die Katakomben“ (so der Titel seines danach entstandenen Feuilletons), besah sich die schaurige Unterwelt und die Haufen von Gebeinen und sann nach: „Was werden alle diese Werkzeuge, als sie noch ein denkender Geist belebte, ein liebendes oder hassendes Gemüt stachelte, Schönes, Herrliches oder Entsetzliches getan haben? Nun liegen sie hier, starr, eine wertlose schauererregende Masse.“ In einem Gewölbe stieß er auf einen einsamen Sarg und erkannte darin die unverweste, gleichwohl verwahrloste Hülle einer Frau, „das Antlitz und der Körper wunderbar erhalten“. Schmerzvoll konstatierte er, was vom einstigen „Pomp“ ihrer Totengwänder übrig war: „Die züchtige Hülle [des Körpers] ist verstaubt und zerrissen, nur einige schmutzig-schwarze Lappen liegen um die Glieder und verhüllen sie dürftig, auf einem Fuße schlottert ein schwarzer seidener Strumpf, der andere ist nackt, die Haare liegen wirr und staubig, und Fetzen eines schwarzen Schleiers ziehen sich seitwärts und kleben aneinander wie ein gedrehter Strick. Diese Zerfetzung des Anzuges und die Unordnung, gleichsam wie eine Art von Liederlichkeit, zeigte mir ins Herz schneidend die rührende Hilflosigkeit eines Toten und kontrastierte fürchterlich mit der Heiligkeit einer Leiche.“
Heilig, also sakrosankt, unantastbar, schon halb himmlisch, mutete die Tote mit keinem Überbleibsel ihres durch den irdischen Dreck gezogenen Leichnams mehr an. Was Stifter, der Poet, vor ihr zu beherzigen lernte, sollte kein Tourist in den Städten der Gestorbenen vergessen: Zur Würde des Lebens gehört die Würde des Todes dazu.
Gegen Panik scheint kein Kraut gewachsen. Allein heuer haben vier Schreckensereignisse rund um wichtige Fußballspiele runde Jahrestage. Die gleiche extreme Angst, die Massen in tödliches Chaos führt, kann auch den Einzelnen anfallen.
Von Michael Thumser
6. März – Er trieb mit dem Entsetzen Scherz, indem er Amerika in einen Krieg gegen den Terror trieb. New York, 30. Oktober 1938: Aus dem Radio teilt eine Stimme nach den Nachrichten den Wetterbericht mit: alles Grau in Grau. Dann erklingt aus dem Park Plaza Hotel live Tanzmusik. Doch nicht lange, und eine Sondermeldung stört den einlullenden Feierabendfrieden: Forscher hätten, heißt es, auf dem fernen Mars unerklärliche Explosionen beobachtet … Kurz darauf schlägt in New Jersey ein Meteorit ein … Nein, melden Reporter, die sich sogleich an Ort und Stelle eingefunden haben, keinen Stein habe man entdeckt, sondern ein undefinierbares großes Artefakt von zylindrischer Gestalt … und es öffnet sich … und ein grausiger Außerirdischer steigt aus ... zückt eine Strahlenwunderwaffe, setzt damit flugs Feld und Scheune einer nahen Farm in Brand … Alsbald streichen zahllose Raumkriegsschiffe sengend und brennend über Nordamerikas Ostküste … Zehntausende Soldaten ziehen aus zu verzweifelter Verteidigung … lassen ihr Leben …
Das Ganze war, natürlich, fake. Ersonnen hatte ihn der genialische Schauspieler und Massenmanipulator Orson Welles. Extra den Abend von Helloween hatte er gewählt, um mit dem Mercury Theatre on the Air einen „Krieg der Welten“ zu inszenieren, inspiriert von H. G. Wells’ gleichnamigem Roman. Die – seither legendäre – Hörspielproduktion warf eine beängstigende Frage auf und führte zu einer bedenkenswerten Einsicht: Reicht eine einzige Stunde aus, um den Fortbestand der Zivilisation auf Erden infrage zu stellen? Beeindruckend und bedrückend hatte Welles’ fantastisches Lehrstück zum Thema offenbart, was Medienmacht vermag und wieviel Verantwortungsbewusstsein sie denen abverlangt, die sie gebrauchen.
Im Land, das bis heute uneingeschränkt an alles zu glauben bereit scheint, hatten Millionen wie festgenagelt vor den Rundfunkgeräten ausgeharrt und den atem- und fassungslosen Schilderungen der angeblichen Apokalypse gelauscht. Das Drama hatte ausgemalt, wie Einwohner Manhattans reihenweise atomisiert wurden oder in Panik massenhaft die Flucht ergriffen. Im richtigen Leben waren hier und da immerhin kleinere Scharen von Amerikanern losgezogen, um sich mit Notproviant zu versorgen oder sich irgendwo in vermeintliche Sicherheit zu bringen. Im deutschen Nazi-Reich, dass sich darauf vorbereitete, demnächst seine Nachbarn im Osten und Westen anzugreifen, höhnte Adolf Hitler, eine „verlogene, niederträchtige Presse“ schüre mit „Panikmache“ die allgemeine Kriegsfurcht derart, dass „selbst Interventionen von Planeten für möglich gehalten“ und auf den Straßen „heillose Schreckenszenen“ wirklich würden.
Katastrophen ohne Panik – kaum vorstellbar
Der Krieg, Hitlers Krieg, wurde Wirklichkeit, kaum ein Jahr danach. Und Panik ist, immer wieder, möglich. Allein heuer gilt es, an die runden Jahrestage von nicht weniger als vier verhängnisvollen crowd disasters (wie Experten sagen) zu erinnern, die sich bei großen Fußballspielen zutrugen. Genau heute liegt das Bolton Disaster 75 Jahre zurück: Bei einem Pokalspiel am 9. März 1946 in der nordwestenglischen Stadt versuchten 20 000 Menschen, zusätzlich zu schon 65 000 Zuschauern ins prall gefüllte Stadion zu drängen, dessen Barrieren am Eingang und am Spielfeldrand unter dem Druck der Menge fielen. Über fünfhundert Menschen erlitten teils schwere Verletzungen, 33 blieben tot liegen. Im Ibrox Stadium von Glasgow kamen am 2. Januar vor fünfzig Jahren 66 Menschen ums Leben, als der Einsturz einer Tribüne in eine Massenpanik mündete – bis dahin das schwerste Unglück der britischen Fußballgeschichte. Vor 25 Jahren, am 16. Oktober 1996, wurden im überfüllten Estadio Doroteo Guamuch Floresin in Guatemala-Stadt über achtzig Personen erdrückt oder erstickten, weil auf den Rängen Trupps von Besuchern mit gefälschten Eintrittskarten mit den rechtmäßigen Inhabern der begehrten Plätze stritten; 150 Zuschauer nahmen bei den Rangeleien Schaden. Nach einem Meisterschaftsspiel im ausverkauften Stadion im ghanaischen Accra wurden am 9. Mai 2001, vor zwanzig Jahren, 127 Fans Opfer einer Panik; zuvor war es in dem afrikanischen Land bereits zu drei ähnlichen Tragödien gekommen.
Oft ist, wo Katastrophen sich in die Historie einschreiben, von Panik kaum die Rede. Gleichwohl bleibt sie nur selten aus. Im Jahr 79 verschüttete die Explosion des Vesuvs das blühende Pompeji; etwa tausend Tote wiesen Archäologen in den Ruinen der 20 000-Einwohner-Stadt nach; wie viele mögen bei der wilden Flucht auf den Ausfallstraßen ihr Ende gefunden haben? Den guten Glauben der europäischen Aufklärung, die Menschen lebten in der „besten aller möglichen Welten“, machte am 1. November 1755 das Beben von Lissabon zunichte, als schwere Erdstöße, Flächenbrände und ein Tsunami die reiche Hauptstadt Portugals fast völlig auslöschten, als wütete das Jüngste Gericht. Dass mit Zar Nikolaus II. das russische Kaisertum und überhaupt das alte Russland untergehen würden, schien sich bereits kurz nach der Krönung des Monarchen im Mai 1896 anzukündigen: Auf einem riesigen Volksfest zur Feier der Inauguration löste das Gerücht, es würden Geschenke für alle verteilt, einen Massenauflauf aus, den 1389 Menschen nicht überlebten; 1300 kamen nur mit Verletzungen davon.
Hochinfektiöse Heidenangst
Am 24. September 2015 verwickelten sich in Mekka islamische Pilgermassen in einen folgenschweren Tumult, der wahrscheinlich über 2400 Gläubigen den Tod brachte; bis heute bleiben Hunderte vermisst. Hierzulande hat sich die Loveparade des Jahres 2010 in Duisburg, das letzte Spektakel seiner Art, ins kollektive Unheilsgedächtnis eingebrannt. 21 Raverinnen und Raver wurden am 24. Juli erdrückt und zertrampelt, über 650 trugen vielfach schwere Blessuren davon, als im langen Zugangstunnel am ehemaligen Güterbahnhof der Stadt die Lage außer Kontrolle geriet. Vermutlich hatten einige Technofans versucht, sich über eine gesperrte Nottreppe Zugang zum Festivalgelände zu verschaffen oder über die Sprossen eines Lautsprechergerüsts zu klettern, und waren abgestürzt.
Mit Pan, dem im Grund gutmütigen, bei Ruhestörung allerdings jährzornigen Gott der Hirten, Wiesen und Wälder aus der griechischen Mythologie, hat die Panik wesensmäßig nichts zu tun, auch wenn sich ihm das Wort verdankt. Blitzartig pflanzt sich wie ein hochinfektiöser Schock die Überzeugung fort, Leib und Leben seien massiv bedroht. Für den Einzelnen wie für die von der blitzartig grassierenden Heidenangst erfasste Masse spielt es dabei keine Rolle, ob das Chaos einem tatsächlichen oder nur eingebildeten Anlass entspringt. Die Maxime heißt: Nichts wie weg!
Angefacht vom Entsetzen der anderen – der vielen –, steigen im Organismus der Blutdruck und die Versorgung der Muskulatur mit Energie, das Hormonsystem schüttet verschwenderisch Adrenalin aus, der Blick verengt, das Wahrnehmungsvermögen verzerrt sich. Über die planende Vernunft triumphiert archaischer Instinkt, keinem Willen mehr gehorsam, keinem moralisch-altruistischen Gebot mehr folgend: der spontane Impuls zu unbedingter, unverzögerter Selbsterhaltung durch blinde Flucht, zugleich das triebhafte Bestreben, sich einer Gruppe, der Herde anzuschließen. Allgemeine Unbesonnenheit – und doch komplex im Zusammenhang; Panik entsteht aus einem Moment und verbreitet sich binnen Sekunden. Errungenschaften eines verständigen, durch gegenseitige Rücksicht geordneten Miteinanders, von der Spezies über Jahrhunderte mühsam erworben, löscht die Panik während eines Wimpernschlags aus und ersetzt sie , wie die Experten sagen, durch ein „Primitivverhalten“, wie man es aus aufgeschreckter Tierwelt kennt.
Vorzugsweise bilden sich in „Flaschenhälsen“ Brutstätten solch tödlichen Gewühls, in Zu- oder Durchgängen also, Engstellen oder Nadelöhren, vor denen sich ein breiter Zustrom zusammenschiebt, verdichtet, staut. Zu den ererbten Verhaltensweisen des Menschen gehört eine unbewusste Anpassung des Schritttempos: Dort, wo er nur wenigen Artgenossen begegnet, verlangsamt er es entspannt, während er es an Stellen, wo sich eine Menge zusammenballt, anzieht, um nur rasch hindurchzukommen. Wenn in solchem Engpass eine Masse, warum auch immer, nicht mehr aus noch ein weiß, können sogenannte crowd turbulences entstehen, Schock- und Stop and go-Wellen, Strömungen und Wirbel, wie durch die Stöße eines Erdbebens ausgelöst. Wer jetzt an einer Wand oder Säule, einem Gitter oder Pfeiler steht, muss damit rechnen, zusammengepresst zu werden und zu ersticken; wer stürzt oder umgeworfen wird, den zerquetschen und zermalmen Hunderte Füße, oder Tausende, oder Zehntausende.
Schweißausbrüche, Herzrasen, Gliederzittern ...
Wenn die Denkfähigkeit der Individuen sich auflöst und eine Stampede die Menschen kopflos mitreißt, als wärs eine durchgehende Büffelhorde, ist Hilfe ausgeschlossen. Gegen Panik scheint kein Kraut gewachsen – es sei denn, umsichtige Veranstalter und Sicherheitsfachleute versuchen, es erst gar nicht dazu kommen zu lassen. Aufgrund vieler schlimmer Erfahrungen hat sich eine Art Wissenschaft zur Panik-Prävention und -Deeskalation herausgebildet. Die Maxime heißt: Gedränge vermeiden. Das lässt sich leisten, indem Menschenströme den Wegen angepasst geführt und, durch einbahnige Routen zum Ort des Geschehens hin und von ihm fort, voneinander getrennt werden, auch indem eine nicht mehr beherrschbare Übermacht gleichsam in ein Ablaufbecken umgeleitet wird. Video- und Computertechnik hilft, Verhaltens-, Strömungs-, Störungsmuster aufzuzeichnen, zu analysieren und, um rechtzeitig Abhilfe zu schaffen, gefährliche Situationen virtuell zu simulieren, bevor sie eintreten.
Und allerdings ist die Panik als geistiger Ausnahmezustand und seelische Extremsituation nicht auf den Massemenschen als Tier in der Herde beschränkt. Grundsätzlich gehören Vorsicht und Scheu, Furcht und Angst, in Maßen und bei gemäßer Gelegenheit auftretend, zu den unveräußerlichen Komponenten des alltäglichen Selbstschutzapparats. Wo sie indes überreich und ungeheißen in ein Leben eindringen, wachsen sie sich zur Qual, zum Albtraum aus, wenn nicht zur Bedrohung: Zwischen fünf und zehn Prozent der Deutschen sehen sich mindestens ein Mal von einer Panikattacke heimgesucht, meist ohne erkennbare Ursache, stets ohne dass Gefahr für Leib und Leben bestünde. Dergleichen widerfährt doppelt so vielen Frauen wie Männern. Urplötzlich bricht den Betroffenen der Schweiß aus, das Herz rast, der Mund trocknet aus, der Atem stockt bei gleichzeitiger Hyperventilation, den Körper überläuft es heiß und kalt, die Glieder zittern, der Kopf fasst keinen klaren Gedanken mehr, der Körper ist zu keiner vernünftigen Handlung fähig. Ihnen ist, als ginge es unweigerlich aufs Ende zu. Bei vielen, so fanden Genetiker heraus, hängt der Raptus offenbar mit der Veränderung eines bestimmten Gens (des Transmembran-Proteins TMEM132D) und seinem abnorm starken Einfluss auf die Nervenverbindungen zwischen verschiedenen Bereichen des Gehirns zusammen. Freilich hilft jene Erkenntnis dem angstverwirrten Schädel bei Ausbruch des Anfalls nicht heraus. So spiegelt sich in Agoraphobikern – Menschen mit der außer Gefecht setzenden Angst, sich in die Öffentlichkeit und unter Menschen zu begeben – die Panik der Masse in der Panik vor der Masse.
„Dies ist keine Übung“
Umgekehrt verzeichnet die Geschichte Vorfälle, in denen Furchtbares geschah, ohne dass sich die Leute – zunächst – aus der Ruhe bringen ließen. Ein groteskes Beispiel gibt der unerwartete Angriff, den die japanische Luftwaffe am 7. Dezember 1941 auf die US-Pazifikflotte im Hafen von Pearl Harbour auf der Hawaii-Insel Oahu flog: Als die Rundfunksender aufgeregt von dem Inferno berichteten, das 2403 Amerikanern das Leben kostete, wollten viele Hörer nicht daran glauben und nahmen nicht einmal den Hinweis ernst, es handle sich ausdrücklich um „keine Übung“. Sie meinten, Orson Welles oder ein Spaßvogel seinesgleichen hätte sich abermals eine krachende Spinnerei ausgedacht. Wirklich sahen, auf furchtbare Art, die Folgen der Attacke ähnlich aus: Die USA traten nicht in einen „Krieg der Welten“, aber in den Zweiten Weltkrieg ein.
Kein Weltkrieg, doch ein Krieg in vielen Teilen der Welt ist der Feldzug der Vereinigten Staaten gegen den Terror. Befeuert, wenn nicht erst eigentlich ausgelöst haben ihn die Attentate, bei denen Islamisten am 11. September 2001 drei Verkehrsmaschinen ins New Yorker World Trade Center und das Pentagon in Arlington steuerten. Den verdammenswerten Anschlägen fielen fast dreitausend Menschen zum Opfer. Dutzende sprangen von den WTC-Türmen fast 400 Meter in die Tiefe – wahrlich kein Freitod, sondern einer, den die Unentrinnbarkeit des Verderbens erzwang. Ikonisch wurde eine schaurige, darum heftig umstrittene Aufnahme des Fotojournalisten Richard Drew: Sein „Falling Man“ scheint einen entspannten Moment lang mit absonderlicher Eleganz in der Luft zu stehen, kopfüber, fast kerzengerade, die Arme gentlemanlike angelegt, ein Bein scheinbar bequem angewinkelt.
Der ungeschützte Sturzflug ist freilich die Folge panischer Angst: Dem armen Kerl – sein Name war Jonathan Briley – war natürlich bewusst, dass er sich vor den Flammen und der Hitze nur auf denkbar absurde Weise retten konnte, durch einen Sprung in den sicheren Tod. Der aber vielleicht trotzdem so etwas wie ein Freitod war: Brileys letzter Schritt, einer ins Freie – entsprang er nicht doch seinem letzten eigenen Entschluss? War er nicht ein Schritt aus der Panik heraus?
Am Montag ist Internationaler Frauentag. Noch immer gibt es schlimme Gründe, die ungleichen Rollen und Rechte der Geschlechter zu beklagen. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert waren viele der selbst ernannten Herren der Schöpfung nicht einmal bereit, ihren Gattinnen und Töchtern helle Köpfe zuzutrauen.
Von Michael Thumser
6. März – Dass Frauen vom aktiven und passiven Wahlrecht völlig ausgeschlossen sind – was hierzulande bis 1918 der Fall war –: Kann man sich das heute noch vorstellen? Oder dass die Nationalsozialisten ihnen 1933 das passive Wahlrecht wieder abknöpften. Oder dass nach 1949 berufstätige Frauen zwar zum Alltagsstandard der DDR gehörten, aber in der Bundesrepublik weit weniger vorkamen und bis 1977 ohne Einverständnis des Herrn Gemahls keine bezahlte Tätigkeit aufnehmen durften („Warum willst du arbeiten? Ich verdiene doch genug“). Oder dass Frauen bis 1958 der Genehmigung des Vaters oder Ehemanns bedurften, um Fahrstunden zu nehmen, ein Bankkonto zu eröffnen und über das Geld in der Familienkasse zu verfügen. Oder dass sie bis 1997 von ihren Männern gegen ihren Willen zum Sex gezwungen werden konnten, ohne dass die fürchten mussten, als Vergewaltiger belangt zu werden.
Am Montag ist Weltfrauentag. Vor 110 Jahren wurde er zum ersten Mal begangen, nicht nur in Österreich und der Schweiz, Dänemark und den Vereinigten Staaten – auch Deutschland war gleich im Premierenjahr dabei. In der „Geschichte der Bewegung für die Emanzipation des weiblichen Geschlechts“ waren die Feierlichkeiten, um Clara Zetkin zu zitieren, die bis dato „wuchtigste Kundgebung für das Frauenwahlrecht“. Heutzutage herrscht In Deutschland längst Gleichberechtigung, zumindest nach dem Grundgesetz. Andere Länder kennen dergleichen kaum in Ansätzen: Der Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums nennt den Jemen und Pakistan, den Iran und den Tschad, die Elfenbeinküste … – um nur einige Länder anzuführen – als Regionen, in denen die Mehrheit der Frauen schauerliches Unrecht leiden. Dabei ist das Verhüllungs- oder Verschleierungsgebot bei Weitem nicht das Schlimmste. Da dürfen sie weder Lesen noch Schreiben lernen, geschweige denn einen Beruf ergreifen. Dort müssen sich zwischen vierzig und achtzig Prozent der Mädchen von Beschneiderinnen schauerlich verstümmeln lassen. Hier bleibt es Vergewaltigten verwehrt, die beim Missbrauch empfangenen Kinder abzutreiben. Und überhaupt messen den Frauen die Männer - und oft auch das Gesetz - nur den Wert einer Nebensache bei.
Seliges Europa? Die erste Frau, die in Deutschland zur Ärztin approbiert wurde, hieß Ida Democh und bestand vor jetzt 120 Jahren, am 18. März 1901, an der Universität von Halle ihr Colloquium vor der medizinischen Fakultät, wenige Tage vor ihrem 24. Geburtstag. Sie hatte das Glück, Kind aufgeschlossener Eltern zu sein. Zwar hatte sie nach entsprechender Ausbildung begonnen, im ostpreußischen Lyck als Lehrerin zu unterrichten, länger als ein halbes Jahr aber hielt sies nicht aus. So unterstützten sie denn Vater und Mutter in ihrem sehnlichen Wunsch, Ärztin zu werden. Das war, nach Beschluss des Deutschen Bundesrats von 1899, auch möglich; allerdings konnten Frauen die dafür beizubringenden Hochschulnachweise ausschließlich im Ausland erwerben. Zum Beispiel in der Schweiz: Ida Democh (die später erst in Dresden, dann in München praktizierte) nahm ein Studium in Zürich auf.
Der Fall erinnert an einen weit früheren mit erst recht diskriminierenden Risiken und Nebenwirkungen – an den der Ärztin Dorothea Christiane Erxleben aus Quedlinburg. In einer „gründlichen Untersuchung“ beklagte sie schon als 27-Jährige, „dass das weibliche Geschlecht vom Studieren abgehalten“ werde, worin sie eine „Verachtung der Gelehrsamkeit“ überhaupt ausmachte. 1987, also 225 Jahre nach dem Tod der erst 46-Jährigen, ehrte die Deutsche Bundespost sie mit einer Briefmarke als willensstarke Impulsgeberin der Frauenbewegung, die lange, bevor es die Bezeichnung gab, erfolgreich und sich selbst nicht schonend für die eigene Selbstverwirklichung und die ihrer Geschlechtsgenossinnen eingetreten war. Das Wertzeichen zeigte das volle Profil einer jungen Frau mit stolz vorwärtsstrebender Nase und üppigem Lockenhaar, deren leichtes Lächeln gelassene Laune und zugleich widerständige Pfiffigkeit ausdrückt.
Mit allerhöchstem Wohlwollen
„Jeder“, beanstandete sie, wolle zwar „gern ein verständiges Weib haben, aber die Mittel des Verstandes will man den Weibern nicht zulassen.“ Madam Erxleben war nicht gesonnen, sich vorenthalten zu lassen, worauf sie begründet Anspruch erhob. Als erste Ärztin in deutschen Landen praktizierte sie eigenständig und konnte sich sogar auf das allerhöchste Wohlwollen des „großen“ Preußenkönigs Friedrich II. berufen, der zwar keine Frauen schätzte, immer aber einen hellen Kopf. Gleich zwei Mal fand er sich bereit, der jungen und blitzgescheiten Dame Wind in die Segel ihres geradezu männlichen Bildungsstrebens zu blasen.
1715 zur Welt gekommen, hatte sich die jugendliche Dorothea von ihrem weitsichtigen Vater, dem Quedlinburger Arzt Christian Leporin, theoretisch und bei Hausbesuchen in die Urgründe der Heilkunde einführen lassen. Da mochten die Kollegen des Papas maulen wie sie wollten. Einem königlichen Sondererlass verdankte sie 1741 den Zugang zu einem medizinischen Studium – eine Ungeheuerlichkeit für die akademische Männerwelt, die ein „Weib“ für dergleichen schlichtweg als untüchtig erachtete. Dann kam auch Dorothea erst einmal ein Mann dazwischen: Sie ehelichte den Diakon Johann Christian Erxleben, in dessen Haushalt sie sich besonders durch die Aufzucht seiner fünf mitgebrachten und der vier gemeinsamen Kinder weidlich ausgelastet sah. Gleichwohl stellte sie eine Dissertation fertig – über die „gar zu geschwinde und deswegen unsichere Heilung der Krankheiten“ –, die 1774 von der Universität in Halle angenommen wurde, wiederum auf Intervention des Königs hin. Dabei wäre royaler Druck vielleicht gar nicht nötig gewesen: „Vollkommen vergnügt“ zeigten sich die Prüfer, weil die Kandidatin „alle theoretischen und praktischen Fragen in lateinischer Sprache mit glücklicher Akkuratesse und modester Beredsamkeit“ zu beantworten vermochte. Fortan empfing sie in ihrer Heimatstadt Quedlinburg mit schönen Heilerfolgen Patientinnen und Patienten – freilich von der eingeschüchterten, darum peinlich berührten männlichen Konkurrenz übel angefeindet, verhöhnt, verleumdet.
Die Damen Democh und Erxleben hatten es, jede zu ihrer Zeit, jede auf ihre Weise, geschafft. Nicht so, zum Beispiel, Laura Reusch-Form, eine US-Amerikanerin, die sich um ein Medizinstudium in Würzburg bewarb: Sie sah 1869 ihren Antrag abgeschmettert mit der summarischen – und grotesk bürokratendeutschen – Begründung, dass „die Verleihung der Universitätsmatrikel an die Voraussetzung des männlichen Geschlechts geknüpft“ sei. In Bayern gab Prinzregent Luitpold erst 1903 den Frauen den Weg zum Studium frei (zuvor hatte sich nur Baden dazu durchgerungen), und auch danach mussten Akademikerinnen damit rechnen, dass ihnen männliche Missgünstlinge eine Hürde nach der anderen in ihre Berufs- oder gar Hochschullaufbahn stellten. Noch heute liegt in der Republik der Anteil der Frauen unter den Hochschulprofessoren bei trostlosen neunzehn Prozent; seltsam: wo doch 48 von hundert Studierenden weiblich sind.
„Verteidigung der Rechte der Frau“
Kein Wunder, dass viele, die für die Gleichstellung der Frauen in Familie und Gesellschaft, in Recht und Bildung, bei Lohn und Gehalt agitieren, sich radikaler Argumente bedienen. Das war immer so – wofür eine streitbare Dame des achtzehnten Jahrhunderts stehen kann, die Ende vergangenen Jahres in London endlich das verdiente Denkmal erhielt. Auf einem Wiesenplatz in Newington Green im Norden der Hauptstadt wurde es aufgestellt – für 143 000 Pfund, die eine zehnjährige Spendenkampagne zusammengebracht hatte. Auf eigenwillige – und sehr umstrittene Weise – hält es die Publizistin Mary Wollstonecraft im Gedächtnis, die sich mit ihrem Hauptwerk, der 1792 veröffentlichten „Verteidigung der Rechte der Frau“, unauslöschlich einschrieb in die „Geschichte der Bewegung für die Emanzipation des weiblichen Geschlechts“.
Auch Verehrern schön-schauriger Literatur muss sie insofern wichtig sein, als sie 1797 Mary Shelley das Leben schenkte, die, literarisch eindeutig frühreif, zu einer Protagonistin der fantastischen Weltliteratur heranwuchs: Mit ihrem nonkonformistischen Selbstbewusstsein Erbin der Mutter, schrieb sie neunzehnjährig den „Frankenstein“. Leider sah und las die Mama den grandiosen Roman nie: Anderthalb Wochen nach der Geburt erlag Mary Wollstonecraft dem Kindbettfieber. Erst 38 Jahre war sie da alt und hatte doch mit ihrem Engagement in Wort und Tat ebenso wie mit ihrer unangepassten Lebensweise bereits beträchtliches Aufsehen erregt.
Mit gerade mal 25 Jahren schon setzte sie ihr Lebensthema greifbar und anschaulich um – die Erziehung der „Töchter“ zu selbst- und verständigen, lebenspraktischen und gesellschaftsgewandten Wesen: Gemeinsam mit ihren Schwestern und einer Freundin gründete sie eine Mädchenschule. Nach Ausbruch der Französischen Revolution zog sie als erklärte Republikanerin mit fliegenden Fahnen nach Paris und blieb auch nach der englischen Kriegserklärung dort, obwohl der Terror der jakobinischen Schreckensherrschaft sie anwiderte. In Frankreich lernte sie den US-Amerikaner Gilbert Imlay kennen und lieben, dem sie, unehelich, ihre erste Tochter gebar. Zurück in London, musste sie allerings einsehen, dass Imlays Interesse zu anderen Damen weitergezogen war. Verzweifelt versuchte sie deshalb, wie damals üblich „ins Wasser zu gehen“ und sich in der Themse zu ertränken, wurde aber gerettet; zum Glück: Sie fand, später, den Mann ihres Lebens. Im Haus ihres Verlegers Joseph Johnson – bei dem 1787 ihr erstes Buch, „Gedanken über die Erziehung von Töchtern“, herausgekommen war – traf sie 1791 auf den nicht minder streitbaren Philosophen William Godwin, der einem sozialistischen Anarchismus anhing. Zwar hielt er nicht viel von der Ehe; trotzdem heirateten die beiden 1797, weil Mary Wollstonecraft ein Kind von ihm erwartete. Von da an sollte beider Glück leider nur mehr wenige Monate währen.
Unter Kuratel gestellt
Befeuert von der Französischen Revolution, hatte Wollstonecraft sich 1790 mit einer „Verteidigung der Menschenrechte“ ideenreich und sprachmächtig für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ins Zeug gelegt und damit monarchistischen Meinungsführern in ihrer britischen Heimat den Fehdehandschuh hingeworfen. Zwei Jahre später legte sie mit ihrem frauenrechtlerischen Grundlagenwerk nach. Neuerlich forderte sie darin eine freiheitlich-gleiche Erziehung der Mädchen in einem reformierten Schulwesen. An der Rolle der Frau als Mutter rüttelte sie nicht, auch eine typisch feminine Neigung zur Welt der Gefühle wollte sie nicht leugnen. Aber sie bestritt, dass sie den Frauen angeboren sei.
Vielmehr fand sie die Wurzeln dafür in einer Fehlbehandlung der „Töchter“ von klein auf – weil man eben „die Mittel des Verstandes Weibern nicht zulassen“ wollte; jenen Satz der Madam Erxleben hätte leicht auch Mistress Wollstonecraft niederschreiben können. Hinter der „Empfindsamkeit“, wie sie den unter Kuratel gestellten Frauen von den Herren der Schöpfung selbstherrlich aufgezwungen war – und die einer ganzen wehleidigen Kulturepoche den Namen gab –, erkannte Wollstonecraft den geschlechterpolitischen Zweck, die Damen dämlich zu machen, sie in Küche, Kinderstube und Salon zurück- und von öffentlicher Wirkung fernzuhalten. In Wahrheit und im Gegenteil war am moralischen und intellektuellen Format der Frau – wie auch an der Einsicht, dass es mit dem des Manns auf gleicher Stufe stehe – nicht zu zweifeln. Frauen seien nicht da, damit die Männer eine Freude hätten, unterstrich Wollstonecraft, sondern um gleichgeordnet als Gefährtinnen neben ihnen zu agieren. Nur eine fortschrittliche Erziehung könne sie dazu in die Lage versetzen, denn „es ist zweierlei, Verstand empfangen haben, und den Verstand, den man empfangen hat, auch anzuwenden gelernt haben“. Jenes Diktum der Dorothea Christiane Erxleben wäre ihrer englischen Geistesverwandten Mary Wollstonecraft wohl aus der Seele gesprochen.
Aus Versehen frauenfeindlich
Den Männern, nicht nur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, war und ist es ins Stammbuch geschrieben. Freilich unterläuft Frauenfeindlichkeit mitunter auch den Frauen selbst. Das erwähnte Londoner Ehrenmal, von der 76-jährigen Künstlerin Meggi Hambling nicht als Monument, sondern als ranke, silberne Bildsäule gestaltet und nahe des früheren Standorts von Wollstonecrafts Töchterschule aufgestellt – besteht aus einer sportlichen Figur auf der Spitze einer undefinierbar unförmigen, steil und unregelmäßig aufragenden Struktur. Seit der Einweihung im November verstummen die Vorwürfe nicht, das – in der Tat gründlich missratene – Werk würdige keine Propagandistin weiblicher Gleichberechtigung, sondern illustriere den feuchten Traum eines Pickeljünglings. Das kann man wohl sagen: Kein Abbild der Widmungsträgerin nahm sich die Künstlerin vor, sondern formte lieber eine anonyme junge Nackte, sinnlich schlank und sehnig durchtrainiert, mit merkwürdig männlichem Kopf und kurz geschnittener Lockenfrisur, dafür umso vollerem Haar im Schoß. Nicht eben ein Memorial des Feminismus.
Obschon unfreiwillig und nur leise, klang eine misogyne Note sogar mit, als die „Vindication of the Rights of Woman“ gleich im Jahr nach der englischen Originalausgabe zum ersten Mal auf Deutsch erschien. 1799 gab der Reformpädagoge Christian Gotthilf Salzmann, der in Thüringen eine wohl beleumundete „Erziehungsanstalt“ betrieb, die Übersetzung heraus, mit der er seinen Schwiegersohn G.F.C. Weissenborn beauftragt hatte. Die beiden Bände erschienen ausgerechnet in einem Örtchen namens Schnepfenthal.
Teil 2 und Schluss
Heute ist Faschingsdienstag. Aber viel Karneval ist nicht. Den Jecken, wenn auch nicht den Narren kommt das Corona-Virus in die Quere. Auf einer Reise durch die verkehrte Welt stößt man auf Hofzwerge, Ozeanfahrer und einen Humanisten, der die Torheit rühmt.
Von Michael Thumser
16. Februar - Ein Narr der satirischen Kategorie wie der Kabarettist, die Kabarettistin hat mit dem dummen August nichts zu tun, verkörpert er doch zwei unverzichtbare Abwehrreflexe gegen die Macht der Regeln und den Ernst des Lebens. Auf der einen Seite ist er der leibhaftige Vertreter des Ausnahmezustands: Während das Gros von uns sich an Zeitgeist und Lifestyle, Trends und Tendenzen anpasst, steht er couragiert für den Gegenentwurf, für einen Lebensstil der Differenz, des Unterschieds. Auf der anderen Seite gefällt er sich als Stachel im Fleisch der Saturierten, als frecher investigativer Frager nach leeren Konventionen, unfairen Vorurteilen, wohlfeilen Lebenslügen. Das mag ihn schlimmstenfalls in die Isolation treiben; dort aber bleibt er wach und schärft Wahrnehmung, Witz und Urteilskraft.
Als „Geist, der stets verneint“, führt jener Narr mit Genuss und zum allgemeinen Gaudium dorthin, wo unter alltäglichen Bedingungen niemand gern ankommt: auf den Grund der Skepsis. Hier, nur hier, wird sein Widerspruch fruchtbar: als Erleuchtung. Indem uns der Narr kontra gibt, bringt er unsere Erkenntnis voran. Denn sie, wie alle Wissenschaft, schreitet ja nicht durch den billigen Konsens breiter Massen fort, sondern durch die Widerlegung einer Auffassung, durch die Entkräftung der Gewissheiten. Von Falsifikation sprach der Philosoph Karl Popper und führte ein vielzitiertes Beispiel an: Der Umstand, dass die meisten Schwäne, so wie das von Parsifal, Richard Wagners „reinem Toren“, erlegte Geflügel, schneeweiß aussehen, könnte uns vermuten lassen, die Tierart trage überhaupt ausschließlich weiße Federn; stimmt aber nicht: wenngleich vereinzelt, schwimmen auch schwarze Exemplare übern Teich; indem wir dies zur Kenntnis nehmen, kommen wir der Wahrheit um die Spezies Schwan ein wichtiges Stück näher.
Die Wahrheit ist ein Privileg
Die Wahrheit, die unbekannte, gar die unbequeme, laut zu äußern: Das genoss der Hofnarr als sein Privileg. Nur bedurfte er währenddessen kenntlichmachender Verkleidung zu seinem Schutz. Oft durch bunten Habit, vielfach mit der Narrenkappe wies er sich als Aktiver einer Zunft aus, der erlaubt war, was sich sonst niemand straffrei unterstand. Vielfach übernahmen hellköpfige Männer (seltener Frauen) den Posten, für dessen Außenseiterposition Zwergwuchs, Buckel oder anderweitige Missgestalt sie zusätzlich qualifizierte; sollte man doch ihresgleichen mit den feinen und reichen Leuten schon äußerlich nicht verwechseln können. Vor allem Hofhaltungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit leisteten sich derlei Unterhaltungskünstler. Günstigenfalls waren ihre Zungen geschickt genug, Dienstwege, steifes Protokoll und formellen Sprachgebrauch durch Direktheit, unverfrorene Schläue und geistblitzende Schlagfertigkeit zu unterlaufen.
Ihre Narrenfreiheit war die Freiheit des ungegängelten Geistes. Sie waren die Satiriker der höheren und hohen Aristokratie, geduldet, oft genug verabscheut, belacht sowohl als auch gefürchtet. Mag sein, dass der eine oder andere von ihnen bloß Kinkerlitzchen machte und sich auslachen ließ. Mag sein, dass dieser oder jener einem sadistischen Auditorium nur als leicht quälbares Opfer galt – so wie der „Hopp-Frosch“ geheißene, misshandelte Faxenmacher in der Novelle aus Edgar Allan Poes Todesjahr 1849, der eine Gelegenheit ausbaldowert und ausnutzt, um während einer seiner Possen flammende Rache an seinen entmenschten Peinigern zu üben. Von etlichen Kollegen ist indes bekannt, dass sie als geschätzte Ratgeber, allemal als Wahr-Sager ihrer Herrinnen und Herren dienten. Unverblümt durften sie Skandalöses, Bitteres, Empörendes benennen, von dem andere nur hinter vorgehaltener Hand zu klatschen wagten. Im Hofnarren verbanden sich der opportunistische Schmarotzer am Tisch des Millionärs, der undurchsichtige Gaukler des Jahrmarkts und der behände Witzbold; seine Artistik war die des Einfalls, des Scharfsinns und der Kombination.
Gleichsam als Hofnarr ohne Hof soll der sagenhafte Till Eulenspiegel seinen Nächsten den Kopf gewaschen haben. Eine Figur der volkstümlichen Überlieferung, gleichwohl bis heute allseits beliebt spätestens seit dem frühen sechzehnten Jahrhundert: Damals, 1510 in Straßburg, erschienen Proben seines Schabernacks, auf Deutsch aufgeschrieben, erstmals in einem Volksbuch. Ausdrücklich aus dem bäuerlichen Bodensatz der Gesellschaft entstammt Eulenspiegel. Planlos verzettelt er sein Leben, weil er zwar hurtig denken kann, jedoch kein Handwerk zu Ende lernen will. Ein Verstoßener? Wirklich bleibt er unbehaust, aus freien Stücken allerdings, und ist immer unterwegs, ein Wanderer zwischen den Welten der Landleute und kleinen Lichter in den Städten, der besseren Herrschaften, stolzen Ämterinhaber und sakrosankten Kleriker. Vielleicht hat es einen wie ihn, als Original zur überlieferten Figur, im Schleswig-Holstein des vierzehnten Jahrhunderts wirklich gegeben: In Mölln weist ein angeblicher Grabstein das Jahr 1350 als Zeitpunkt seines Todes aus.
Tölpel übertölpeln
Eulenspiegels Gabe war, Tölpel aller Gattungen und Schichten zu übertölpeln. An seinem Namen dürfen wir ihn erkennen: Die Eule galt und gilt als Allegorie der Klugheit; den Spiegel hält der unzähmbare Schelm uns vor, damit wir sehen, dass uns nicht immer ein gescheites Gesicht, auch schon mal eine fiese Fratze daraus entgegenschaut. Für einen Kindskopf könnten wir ihn halten, dann wäre freilich auch Karl Valentin, der ihm als Typus deutlich nahestand, nicht mehr als das gewesen. Den Kindern empfahl ihn, den verschrienen Querkopf, erst die Nachwelt; vergnüglich geistreich hat Erich Kästner seine Streiche für sie nacherzählt. Für reife Leser erfand, 2017 erst, Daniel Kehlmann im Roman „Tyll“ Eulenspiegels Leben neu, mit erbaulich schönem Ernst.
Im Spiegel des schlauen Scherzkekses zeigt sich, dass, wie die Bibel lehrt, „alles eitel“ ist, in doppelter Hinsicht. Zum einen lehrt der Spiegel uns, die Selbstverliebtheit und den Geltungstrieb, Anmaßung und Putzsucht der Menschen zu durchschauen; zum anderen die Nichtig- und Lachhaftigkeit der Welt einzusehen. Mit Eulenspiegel, ungeachtet seiner umtriebigen Vitalität, steht der Narr, als Allegorie, der Figur des Todes nah und fällt in manchen Bilddarstellungen sogar mit ihm in eins. Als Horrorclown vom Fach erteilt er klugen Rat: Memento mori, vergiss niemals, auch du musst sterben, und das letzte Hemd hat keine Taschen.
Verordneter Frohsinn
Wie die Narren früherer Zeiten sich verkleideten, so tuns die Karnevalisten unserer Tage in den deutschen „Hochburgen“ auch, ob sie nun in Aachen und Düsseldorf, Köln oder Mainz in quietschbunter und krachlauter Menge am Straßenrand die Umzüge verfolgen oder in unterschiedlichen Kleinbürgerrollen die Bütt besteigen, als Tanzmariechen in schillernden Alte-Fritz-Waffenröcken die Beine schmeißen oder in Smoking oder Robe und mit unförmiger Kopfbedeckung einem Elferrat angehören.
Zum „Jecken“ wird hier der Narr und die Weisheit der vermeintlich Einfältigen zum profitträchtigen, mit Bierernst organisierten, möglichst multimedial vermarkteten Spaßspektakel des verordneten Frohsinns und der durchchoreografierten Ausgelassenheit. Der Nonkonformismus, auf dem der waschechte Narr besteht, weicht der Uniform der Prinzengarden und der Uniformität von Kostümierungen, die das Internet oder der Drogeriemarkt vorgefertigt feilbietet. Der anzügliche Angriff auf die öffentliche Ordnung, die sonst übers Jahr gilt, erstarrt selbst in Reglements. Über deren Einhaltung wachen argusäugig Funktionäre, die bei Verstößen und Versagen keinen Spaß verstehen. Der Exzess, mit dem der Narr einst die Stoßdämpfer rund um die Konventionen unverschämt in Stücke brach, findet statt als pflichtgemäßes Leistungssaufen, pünktliche Lustigkeit und promiskuitive Lust der Leiber. Immerhin, auf den Rosenmontagswagen mit ihren aufwendigen und nicht selten originellen Aufbauten kommt Satire, oft in aller Schärfe, vor.
Ob Karneval oder Fasching, Fastnacht oder Fasnet: Ein ausdrücklich ‚unheiliges‘ Treiben darf sich temporär austoben – und wirklich macht es sich Jahr für Jahr, wie zum Trotz, nicht zuletzt im katholischen Süden und Westen der Republik breit. Im Gegensatz dazu tritt die Gestalt des „heiligen Narren“ – der vielleicht besser der närrische Heilige hieße – umso loyaler und tugendhafter mit dem Himmel in Kontakt. Im „Abenteuerlichen Simplicissimus“, Christoffel von Grimmelshausens wegweisendem Barock-Roman von 1668, brechen sich die Schwarzschatten des auch nach zwei Jahrzehnten noch unverwundenen Dreißigjährigen Kriegs in der Attitüde des wie in Wagners Oper arg- und ahnungslosen Titelhelden: Simplicius, ein „reiner Tor“ wie Parsifal. Vom tumben Hütejungen bringt ers zum gewitzten Offizier, um rechtzeitig vor seinem Ende als Eremit seine odysseischen Lebensfahrten aufzuzeichnen und gottgefällig seine Sünden abzubüßen. Aus dem „simplen“ Narren ist ein heiliger Narr geworden, ein Narr „in Christo“.
Als prominentestes Vorbild dieser Variante verehrt die römische Kirche einen Italiener aus dem dreizehnten Jahrhundert. Jener Giovanni – alias Francesco – di Bernandone kam als Sohn eines reichen Textilkaufmanns in Assisi zu Welt, genoss eine brauchbare Erziehung, erlangte bruchstückhafte Bildung, trat zunächst ins Geschäft des Vaters ein und zog später zu Felde. Aus ungeklärten Gründen aber – die Heiligenlegenden führen den Schritt auf einen gottgegebenen Traum zurück – zog er sich dann von Kommerz und Kriegshandwerk zurück, um fortan fromm das Dasein eines Besitzlosen zu fristen. Seiner Weltentsagung soll er anschaulichen Ausdruck verliehen haben, indem er sich in aller Öffentlichkeit nackt auszog und seine Kleider dem verblüfften Vater übergab. Einen idiota nannte er sich selbst - womit er sich freilich nicht bezichtigte, ein „Idiot“ zu sein, sondern auf seine angebliche Unbildung verwies. Mit einem gefügigen Gefährtenkreis, den „Minderen Brüdern“, lebte er keusch in Armut und gründete mehrere Orden. Der Tod des etwa 45-Jährigen, 1226, lag kaum zwei Jahre zurück, da erhob ihn Papst Gregor IX. als heiligen Franz von Assisi zur Ehre der Altäre.
Die Welt ist ein Tollhaus
Einen „Narren in Christo“, namens Emanuel Quint, beschrieb auch Gerhart Hauptmann. In seinem 1910 erschienenen Roman verfolgt er einen mittellosen Bußprediger auf seiner Wanderschaft von Niederschlesien durch Deutschland in die Schweiz. Wo er auftaucht, tröstet und stärkt er Arme und Kranke, sieht sich allerdings von Kirche und Behörden verdächtigt und verfolgt, sogar als geisteskrank diskreditiert. In den Schweizer Alpen geht er schließlich in die Irre und auf dem St. Gotthard im Schnee zugrunde. Mit Fjodor Dostojewskis berühmter Erzählung vom „Großinquisitor“ berührt sich die Geschichte insofern, als in beiden Fällen die personifizierte Bergpredigt Jesu Christi, einmal als der Messias aus Fleisch und Blut, einmal als sein Wiedergänger, auf die Erde zurückkehrt und neuerlich einem schmählichen Tod in die Augen sieht. Der Narr ist der Weise. Die Welt ist ein Tollhaus.
So gesehen sind die wahren Narren die anderen: die Sünder und Ungläubigen, die Banausen und Diesseitsverliebten. Sie übervölkern und zertrampeln Gottes Schöpfung und machen eine verkehrte Welt aus ihr, in der nichts ist, wie es, ginge es recht zu, sein sollte. Im „Narrenschiff“, das der gebürtige Straßburger Sebastian Brant 1494 in Basel vom literarischen Stapel ließ (illustriert mit vielen Holzschnitten wahrscheinlich aus Albrecht Dürers Frühwerk), tummeln sich schräge Vögel aller Sorten und Couleurs, aus allen Ständen und Klassen: Säufer, Schlemmer, Modegecken, Wüstlinge und Streithammel, Gierschlünde, Geizhälse und Prasser, Lügner und Parasiten, Aufschneider und Klugschwätzer … 112 Kapitel für ebenso viele Verrücktheiten, für 112 Laster.
Das sind Narren, die keine Freude machen: Schänder des von Gott geschenkten Lebens, Verächter des himmlischen Heilsplans. Dabei steht das Ende der Welt vor der Tür. Das Elend der Welt verhängt der Allmächtige nicht aus Niedertracht über seine halsstarrige Menschheit: Sie selbst verschuldet all die Kriege, Krankheiten, Entbehrungen. Gedankenlos stechen die Dummköpfe mit ihrem Schiff in See, Kurs nehmen sie auf „Narragonien“, das Land der Unbelehrbaren, Törichten und Hohlen, und weil die Reise über einen Ozean, folglich entlang an mancherlei Gefahren führt, so ist nicht sicher, ob und wo die stupide Mannschaft am Ende ankommt. Wohl dem, der sich selbst in einem der Passagiere – oder gleich in mehreren – erkennt; er mag noch kurz vor knapp zu rettender Einsicht kommen. Weil Brants Bußpredigt mit Derbheit und Finesse, mit Anspruch sowohl wie mit Amüsement daherkam, mochten die Leser sie gern. Der erste Bestseller in deutscher Zunge: Bevor der „Werther“ des jungen Johann Wolfgang Goethe alle Rekorde brach, war Brants satirisches Bestiarium das erfolgreichste Buch in deutscher Sprache.
Dem Unwissenden schlägt keine Stunde
Mit dem entgegengesetzten Mittel, dem der Ironie und des Spiels mit dem Uneigentlichen, sang Erasmus von Rotterdam das „Lob der Torheit“. Der bedeutendste Humanist der Niederlande lässt sie höchstpersönlich sprechen, die Göttin Narretei, und sie bekennt, dass sie große Stücke auf sich hält. Überall hilft sie den Menschen auf die Sprünge des Unverstands: Je weniger jemand weiß, desto freier und glücklicher darf er sich fühlen. Dem Unwissenden schlägt keine Stunde des Unglücks.
Über die Verwerfungen im Zusammenleben, zumal dem der Geschlechter, helfen wir uns mit Liebedienerei und lobhudelnder Unehrlichkeit hinweg, an Kindern ergötzt sich unser Gemüt, weil sie noch närrischer als wir selber sind, Freunden schließen wir uns an, weil wir blind für ihre Schwächen sind, und uns selber mögen wir ja auch. Alberne Sehnsüchte, absurde Hoffnungen helfen uns über die Allgegenwart von Ärger, Kummer und Enttäuschungen hinweg. Lieber Narr sein als Intellektueller: lieber zufrieden im Tal der Ahnungslosen hocken als sorgenvoll und zukunftsängstlich auf dem Gipfel der Erkenntnis hocken. Auch dem Christenglauben fehlt es nicht an Hirnverbranntheit, wobei Erasmus’ alter ego zum Exempel die katholische Lehre vom Fegefeuer und die Verehrung von Heiligen aufzählt. Am närrischsten findet die Göttin Torheit die Gelehrten, die Gottgelehrten an erster Stelle und die Inquisitoren: Ihren Verfügungen zufolge hat eine Predigt weit weniger der Wahrheit des Herrn und des Herzens zu genügen als formalen Schemata und Mustern zu folgen, durch die sie sich aufgeplustert wie ein prahlerischer Text für ein Theaterstück. Zugleich muss jeder, der kirchlicher Lehre zu widersprechen wagt, gewärtigen, als Ketzer abgestraft zu werden. Erasmus selbst war alles andere als ein Narr: Mit seiner Satire ätzte er auch wider sich selbst; und dass er sich Feinde gerade unter Theologen machen würde, war ihm wohlbewusst. Eben darum sprach er sich in seinem Pamphlet nicht selber aus, sondern formulierte es, zum Schein zumindest, als Rollenprosa der Torheit in Person.
Groß im Irrtum
Steht also uns, den Geisteszwergen und Einfaltspinseln, Stroh- und Schafsköpfen, schlechterdings kein Weg mehr offen, auf dem wir unser Leben mit einiger Würde abschreiten und das Haupt, trotz des kümmerlichen Hirns darin, achtbar aufrecht tragen könnten? Sind wir in unserm Stolz nur Ritter von trauriger Gestalt, Nachfahren jenes Don Quijote, den Miguel de Cervantes 1605 und 1615 in den zwei Teilen seines weltliterarischen Romans lächerliche Âventiuren ausfechten lässt?
Andererseits, Heldenreisen sind die Waffengänge jenes Spinners gegen Windmühlen und andere Objekte voller Tücken schon, Mutproben einer edlen Seele: Groß ist Quijote, der Narr, in seinen Irrtümern und darum unserer Achtung wert. Auch der Till Eulenspiegel unseres Volksbuchs, heimlich sein Bruder im Geiste, hat das Zeug, mehr zu sein: mehr als ein schlitzohriger Quälgeist und gewiefter Bürgerschreck. In der dickleibigen „Legende und den heldenhaften, fröhlichen und ruhmreichen Abenteuern von Ulenspiegel und Lamme Goedzak“ von 1867 verwandelte der belgische Erzähler Charles de Coster ihn zum flandrischen Streiter gegen die Spanier: Auf nicht eben ritterliche, aber tapfere Art bewährt sich Ulenspiegel in dem Krieg, durch den die sieben Provinzen der „Vereinigten Niederlande“ von 1568 an die Vorherrschaft des Hauses Habsburg abschüttelten. So wurde, dreihundert Jahre nach dem Volksbuch, durch einen bekennenden Flamen in französischer Sprache ein literarischer Freiheitskämpfer geboren: aus dem befreienden Lachen eines Narren aus Deutschland.
Teil 1
Eigentlich ist Fasching. Coronahalber aber fällt er weitgehend ins Wasser. Zu Umzügen und in Prunksitzungen strömen weder Närrinnen noch Narren. Die aber gabs schon immer, ganz unabhängig von der Jahreszeit.
Von Michael Thumser
13. Februar – Der junge Mann ist kein Idiot. Er hat nur, zugegeben, keine Ahnung. Seinen Vater kennt er nicht, wie er uns mitteilt, und kann noch nicht einmal den eigenen Namen nennen. Einen schönen weißen Schwan schoss er am „heiligsten Karfreitag“ tot – warum, vermag er nicht zu sagen. Gemeinsam mit uns sieht er endlos dabei zu, wie ein unlustiger König, von den Schmerzen einer unheilbaren Wunde ausgezehrt, ein Zaubergefäß, den Gral, aufdeckt und beschwört. So zelebriert er mit einer Runde kaum minder grimmer Ritter eine Art alleinseligmachender Eucharistie. Nach der Zeremonie soll Parsifal, besagter junge Mann, über das Erlebte Auskunft geben: „Weißt du, was du sahst?“ Natürlich weiß ers nicht. Durch „Mitleid“ mit dem blutenden König hätte er „wissend“ werden sollen und ward es nicht. Folgerichtig jagt man ihn, unsanft, davon: „Du bist doch eben noch ein Tor.“ Erst ein paar Theaterstunden später darf er in Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“, das seinen Namen trägt, endlich den „Erlöser“ geben und selbst den Gral enthüllen.
Ist Parsifal, bis es dazu kommt, ein Gimpel, Dummerjan – ein Narr? Oder sollen wir eher den 37-jährigen Friedrich Hölderlin für einen halten? Nach der ersten Hälfte seines Lebens, von 1807 an bis zu seinem Tod 1843, brachte er die zweite Hälfte im Tübinger Turmzimmer eines treusorgenden Schreiners zu, an Seele und Verstand, so schien es, unabänderlich zerrüttet. Vielleicht jedoch war er gar nicht geisteskrank; diese These – ziemlich steil und stets umstritten, doch nie völlig widerlegt – stellte 1976 der französische Germanist Pierre Bertaux auf: Der Dichter, eines Sinnes mit den Revolutionären im aufgewühlten Frankreich, habe endlich schmerzlich eingesehen, dass ein vergleichbarer Umsturz in deutschen Landen undenkbar bleibe; darum, so Bertaux, zog er sich wie ein Simulant, aus Selbstschutz, unter den Deckmantel vorgeblichen Irreseins zurück. Hölderlin: ein Weiser unter der Maske des Narren?
Vier Spielarten des Narren - mindestens
Es zeigt sich: Ein Narr kann vieles sein und vielerlei. Jetzt, in der „närrischen Zeit“ des (heuer weitgehend abgeblasenen) Karnevals, können wir ihn ruhig einmal genauer observieren – und finden mindestens vier Spielarten von ihm vor: den Arg- und Ahnungslosen parsifalscher Prägung; den Ignoranten; den Patienten der Psychiatrie; und den Spaßmacher.
In jedem Fall bekommen wirs mit jemandem zu tun, der uns vermuten lässt, es sei um seinen Verstand oder seine Vernunft oder um beides geschehen. Das mag in seiner Natur und seinem Schicksal begründet liegen, er mag aus freier Entscheidung oder unter äußerem Einfluss zu seiner extravaganten Haltung gefunden haben – allemal steht der Narr, die Närrin dem entgegen, was die Mehrheit von uns Anderen, die sogenannten Normalen nämlich, als Komment für ihr Zusammensein verbindlich anerkennen. Ob aus fröhlichem Mutwillen, Streitlust oder leidvollem Erleben, ob er nun nicht anders kann oder nur nicht anders will – der Narr ist Störenfried im Wortsinn: jemand, der die gewohnte Ordnung, das ruhige Gleichmaß des Verlässlichen verletzt, weil er es von sich abschüttelt. Dass die Majorität ihn darum ins Abseits stellt, indem sie ihn, wie man so sagt, für verrückt erklärt, folgt daraus unvermeidlich.
Der Ahnungslose kommt beileibe nicht bloß in weihevollen Opern vor. Als geistig Gesunde leisten wir uns gern das Wohlgefühl, etwa einen zerebral Behinderten, der uns freundlich entgegentritt, für unbedarft zu halten, für unmündig und possierlich, hilf- und belanglos wie ein fremdes Baby oder Kleinkind, mag er auch schon an die zwanzig Jahre zählen. Eine Art von Kindchenschema macht sich in uns geltend. Erweist das Gegenüber sich als fügsam und lenkbar, reizt es die pädagogischen Triebe. Von Findlingen fühlten sich Erzieher einst besonders herausgefordert, von Kindern also, die ausgesetzt wurden oder verloren gingen und irgendwo und irgendwie verwildernd sich am Leben halten konnten, bis die Zivilisation sie wieder übernahm.
Einfach nicht zu zähmen
Aus Aveyron, einem Département im Südfranzösischen, wird ein erstaunlicher Fall aus der Zeit um 1800 berichtet, den der Filmregisseur François Truffaut 1970 in seinem Meisterwerk „Der Wolfsjunge“ fast dokumentarisch wiedergab. 1797 tauchte der Knabe erstmals auf, wohl noch keine zehn Jahre alt, ließ sich kaum fangen, entwich Mal um Mal; bis er, extremer Winterkälte wegen, selbst die Nähe zu den Menschen suchte. Nackt, scheu und keiner Sprache mächtig, ging er auf nichts als Nahrung aus. Ein Wesen der Natur, nicht der Kultur, ohne Geistigkeit und Reflexion, ohne erzählbare Erinnerung: Unverfälscht, unverdorben und -verbogen, ein leeres Blatt im Sinn John Lockes und Jean Jacques Rousseaus, schien er das Material zu sein, das ein wohlmeinender Mentor verantwortungsvoll zu einem Muster des aufgeklärten Menschen modellieren könnte. Als renommierter Trainer von Taubstummen fühlte sich der Arzt Dr. Jean Itard berufen, in die Rolle jenes Instrukteurs zu treten – und musste sich nach fünf Jahren geschlagen geben: Victor (so nannte Itard den heranwachsenden, doch kindlich bleibenden Fremden) erwies sich in jeder Hinsicht als nicht beschulbar und ausbildungsresistent.
Sein deutsches Pendant hieß Kaspar Hauser. Mit etwa sechzehn Jahren trat er am Pfingstmontag des Jahres 1828 mutterseelenallein in Nürnberg auf; niemand erfuhr je, woher er kam und wer ihn in der Altstadt abgesetzt hatte. Eng eingesperrt, zwar mit Nahrung und Kleidung versorgt, aber ohne zwischenmenschlichen Kontakt, erst recht ohne eine wärmende Spur von Zuneigung hatte man ihn in einem kerkerartigen Versteck gehalten, wo ihm zur Beschäftigung nichts in die Hand gegeben war als ein hölzernes Pferdchen. Mit keinem als sich selbst hatte er sich ausgetauscht. Dann wurde er urplötzlich, ganz so, wie die Existenzialisten sagen, in die Welt geworfen. Auch Kaspars nahm man sich treusorgend an. Fünfeinhalb Jahre nach seinem unverhofften Auftauchen starb er, inzwischen als Schreiber beim Ansbacher Gericht in Lohn und Brot, an einem Messerstich. Seriöse Forscher nicht anders als sensationslüsterne Fantasten gingen lang Vermutungen nach, Angehörige des großherzoglichen Hauses Baden hätten Hauser, als dynastisch im Weg stehenden Nachkömmling, erst entsorgt und endlich von bezahlter Mörderhand eliminieren lassen. Aus heutiger Sicht ist nichts davon wahrscheinlich, geschweige denn belegbar. Glaubhafte Vermutungen legen nah, dass Hauser sich, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, mit Vorsatz, aber wenig Vorsicht selbst verletzte. Wie auch immer: Für Romane (etwa von Jakob Wassermann) und Filme (beispielsweise von Peter Sehr) bot die Tragödie einen geheimnisvollen Plot.
Victor, Kaspar und Konsorten: Bevor sie ihre vorgeschichtliche Lebensweise verließen und in die entwickelte Gesellschaft traten, hatte kein souveräner Wille von außen sie gelenkt oder gehemmt, keine Anstandsvorschrift, kein Kanon gefälliger Manieren hatte ihr angeborenes oder im Überlebenskampf erworbenes Verhalten manipuliert. Mit ihnen trat nicht der ungezogene, sondern der unerzogene Mensch vor die Bürger, nicht das ungebildete, sondern das unverbildete Individuum in trauriger Idealgestalt.
Unterwegs von der Blase in den Echoraum
Von Bildungsinhalten und Wissensgütern, wie sie uns im Allgemeinen aus guten Gründen für verbrieft gelten, hält indes der Ignorant sich fern. Das ist einer, der nicht weiß, weil er nicht wissen will; der, anders als die meisten von uns anderen, über seinen Erkenntnishorizont und Erfahrungsschatz nicht hinausgelangt, weil Einsprüche gegen seine starren Meinungen ihm unwillkommen sind. Vor jeder Anfechtung von außen zieht er sich in seine „Blase“ Gleichgesinnter zurück; schalldicht abgeschottet hat er seinen „Echoraum“, von wo aus seine verqueren Fantasien sich in ein paralleles Universum unbegrenzter Möglichkeiten aufmachen. Aus derart absurder Ver- und Geborgenheit erheben sich, gerade unterm Eindruck der Corona-Pandemie, die Köpfe mit den echten oder den imaginierten Aluhüten, die Verschwörungserzähler und ihre blindgläubigen Gefolgschaften, die Seuchenleugner und schönfärbenden Verharmloser; schon viel länger krakeelen ähnlich die Pegida-Plärrer, selbst ernannten Weltretter und Rassetheoretiker mit ihrem Stolz, arisch und weiß, Deutsche oder Amerikaner zu sein.
Ihr Narrentum wurzelt in der Borniertheit jedes Fundamentalismus: Wer, statt zu wissen, sich im Vollbesitz der Wahrheit glaubt, verschließt sich der Dialektik eines ergebnisoffenen Meinungsaustauschs, dem allein wir Wachstum und Wandel von Kenntnis und Verständnis danken. Den Debattengegner erklärt der Orthodoxe engstirnig für uninformiert naiv oder für uneinsichtig aufgrund geistiger Beschränktheit; oder er bezichtigt ihn, selbst leibeigener Teil des undurchdringlichen Steuerungs- und Machtapparats zu sein, in dem der fundamentalistische Narr seine Todfeinde vermutet. Mit ihnen meint er nicht allein die „Eliten“ des etablierten demokratischen Systems, sondern ebenso die Wissenschaft. Ihr spricht er Objektivität ab, indem er unterstellt, sie arbeite dienstwillig dem globalen Komplott von ein paar Handvoll Super- und Einflussreichen zu.
Das Tollhaus als Folterkerker
Gegen die blinde Wut der Eiferer ist kaum ein Kraut gewachsen. Unter solche Toren und Stümper, Vernunftverweigerer und Besserwisser freilich dürfen wir die geistig Kranken nicht rechnen, jene, die man früher verrückt nannte, weil sich ihnen die Welt ver–rückt hat. In ihrem Verstand erleiden sie, was andere an Herz und Kreislauf, Magen oder Darm, Knochen oder Bändern erleiden – kein moralisches Manko, sondern einen Schaden ihrer Unversehrtheit.
Zu Victors und Kaspar Hausers Zeiten war es gern und rasch geübter Brauch, Manische und Depressive, Epileptiker, posttraumatisch Belastete oder schlicht Unliebsame in gefängniskarge Verließe wegzusperren. Als Besessene gab man sie aus, namentlich die Kirche, die lange behauptete, Satan, Dämonen, Höllengeister vollbrächten ihr schlimmes Werk an den armen Schluckern. Irregeleitete Exorzisten probierten grausige Teufelsaustreibungen an ihnen aus. Im Tollhaus oder Irrenhaus vegetierten viele von ihnen, zusammengepfercht mit Landstreichern und Bettlern, Ganoven und zwielichtigem Gelichter, rechtlos, mangelernährt, ausgebeutet, immer heimgesucht von Ungeziefer und oft von Therapieversuchen, die Foltern glichen. Ein unbefristetes Exil in Hoffnungslosigkeit, Erniedrigung und Schmutz: Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein hatte im Narrenturm keiner was zu lachen.
Beim Spaßmacher ists anders: genau andersherum. Aus Jux und Tollerei narrt er die Zeitgenossen – das heißt: er ermuntert, zerstreut, erheitert, täuscht sie, ihnen Streiche spielend. Der Clown oder Comedian, Hanswurst oder Harlekin ist Narr auf Zeit und aus eigenem Willen. Wo ihm mehr gelingt als platte Pointen, Kalauer und Zoten, modelt er seinen Geist mit dem Mittel des Humors um in Esprit. Zynismus und Sarkasmus, eine gewisse Bösartigkeit mithin, schließt das nicht aus. Übertreibung gehört dazu, karikierende Verzerrung, grenzüberschreitende Parodie. Und stets ist Ironie im Spiel, die Gabe, von einem Ding so zu sprechen, dass sich ahnen lässt: Es ist das Gegenteil gemeint. Im Kabarett, zum Beispiel, vollendet sich heute diese Kunst, seit jeher schon in allen Formen der Satire, die immer, wenn sie auf sich hält, mit einem Sakrileg beginnt. Diese Narren, die mit dem zeitgemäßen Schalk im Nacken, lockern das scheinbar Festgefügte auf, indem sie es infrage stellen, und indem sie die Ordnung hohnlachend mit gebrochenen Tabus traktieren, nehmen sie den Druck aus ihr. Womöglich ist, was die so lang schon rund und straff erhält, ja doch nur heiße Luft.
(Teil zwei und Schluss folgen in der nächsten ho-f-Ausgabe am Faschingsdienstag.)
Teil 2 und Schluss
Der Bart ist eine natürliche Vermummung des Mannes. Mit den FFP-2-Masken, die uns vor dem Corona-Virus schützen sollen, verträgt er sich schlecht. Ein paar Blicke auf das Haar zwischen Stirn und Hals heute und gestern.
Von Michael Thumser
6. Februar – Auf landläufigen Andachtsbildern trägt Jesus von Nazareth zu wallendem Haupthaar eine mehr oder weniger ausgeprägte Barttracht. Andererseits ist er auf ganz alten Darstellungen aus frühchristlicher Zeit noch als engelsgleicher Jüngling mit glatten Wangen zu sehen, soll heißen: im Stande himmlischer Reinheit; was indirekt darauf verweist, dass die irdische Geschichte des Bartes immer auch die Geschichte der Rasur ist.
Die Moden wechselten von Kultur zu Kultur und im Verlauf der Epochen. In den frühen sumerischen und babylonischen Zivilisationen des Zweistromlands verwendeten die Männer auf Wachstum, Pflege und Ausschmückung ihrer Bärte gehörig Zeit, Mühe und Geschmack. Ihre minoischen Geschlechtsgenossen hingegen, die vor über 4500 Jahren auf Kreta begannen, ein elegantes Leben zu führen, beseitigten gründlich die Stoppeln auf ihren Gesichtern. Später ließen die Griechen sowie, auf der Apennin-Halbinsel, die Etrusker und frühen Römer den Bart mal mehr, mal weniger ins Kraut schießen, bis die Expansion der hellenistischen Kultur ihn wieder verdrängte. Um die Zeitenwende warb Kaiser Octavian, genannt Augustus oder der Erhabene, auf seinen vielen Standbildern für gründliche Rasur, während zweihundert Jahre später Hadrian den kurzen Bart an Wangen, Kinn und Oberlippe propagierte.
Eine Entwicklung, die Kaiser Konstantin I. – wieder einer von den „Großen“ – neuerlich umkehrte. Indem er vom Jahr 325 an mit großer historischer Weitsicht die Siedlung Byzantion am Bosporus mit angemessener Pracht und Herrlichkeit als neue Hauptstadt des Römerreichs auszubauen begann, führte er die Bartlosigkeit auch in jene europäisch-asiatische Grenzregion, die nach dem Untergang des weströmischen Imperiums für tausend Jahre das oströmische, Byzanz genannt, beherbergte.
Ge- und Verbote
Bart-Gebote – wie heute unter Hipstern – haben Tradition: Die Priester der orthodoxen Kirchen halten oder hielten sich daran, auch Eremiten und manche Klosterleute im Westen; nicht aber, um mit der Manneszier zu protzen, sondern weil sie das Rasieren als Akt verbotener Putzsucht verwarfen. In den Vereinigten Staaten verweigern sich die Amischen oder Amish people vielen Errungenschaften der modernen Technik und, sobald die Männer unter der Haube sind, den Rasiergeräten.
Gleichzeitig drängen Bart-Verbote zum gehorsamen Beschnitt. Kaum ein römisch-katholischer Geistlicher erlaubt sich Gesichtsbehaarung, wo doch in früheren Jahrhunderten viele Päpste Rauschebärte trugen. In Russland, an der Wende des siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert, verbot Zar Peter I. (auch er: der „Große“) den Bojaren, niederadeligen Grundbesitzern, ihre Bärte, weil er sie für Zeichen der von ihm bekämpften russischen Rückständigkeit ansah; denen, die sich widersetzten, ließ er sie zwangsweise abschneiden – es sei denn, sie dispensierten sich durch Zahlung einer Extrasteuer. Im zwanzigsten Jahrhundert fand solches Gebaren Nachahmer, wenn auch etwas zurückhaltendere: So ließ Walt Disney, dem selbst ein schmaler Schnauzer kokett im Gesicht stand, in seinen Freizeitparks keine Bartträger zu. Knapp fünfzig Jahre lang blieb es dabei, bis im Jahr 2000 immerhin gepflegte Oberlippenbärte durchgingen und die gängelnde Verfügung 2012 vollends auslief; fast vollends: Länger als dreizehn Millimeter darf das Barthaar nicht keimen. Streit gab es und gibt es gelegentlich noch um unterschiedlich ausgelegte Haar- und Barterlasse der deutschen Polizei und der Bundeswehr. Da ist gegebenenfalls haargenaues Schnippeln nötig.
Für den Hipster, wie unbestimmbar sein Charakterbild in der Gegenwart auch schwankt, gilt das mindestens genauso. „Die einzige Regel, die du nicht brechen darfst, ist: ohne Hipster-Bart kein Hipster-Look“, dekretiert bündig eine Website des Amsterdamer Elektrokonzerns Phillips und gibt Empfehlungen für Aufzucht, Hege und Styling, fürs Trimmen „streunender Haare“ und die überzeugende Individualisierung durch „Ränder an Hals und Wangen", „Aussparungen unter dem Mund oder andere Details“. Vor allem soll der stilbewusste Mann nichts übereilen: „Ein Hipster-Vollbart ist ein gemütlicher Zeitgenosse.“ Erlaubt ist ihm alles, „nur gut gepflegt sollte er sein“.
Stein, Schere, Messer
Denn wie für die Vergangenheit gilt für alle Zeiten: Über Bärte lässt sich nicht reden, ohne über Rasur zu reden. Und das heißt: in erster Linie über Klingen jeder Art. Spätestens als unsere fernen, Höhlen oder Erdhäuser bewohnenden Vorvorfahren lernten, sich vor klumpigem Schmutz an ihrer Haut zu ekeln und vor Ungeziefer und Parasiten in Acht zu nehmen, fingen sie an, überflüssiger Behaarung zu Leibe zu rücken. Das ließ sich mit Feuer verrichten, was aber oft schmerzhafte Nebenwirkungen zeitigte. Geringere Risiken ging Mann mit der Schärfe von Objekten ein. Zunächst standen ihm Steine zu Gebot, später haltbareres Metall: Für Jahrtausende blieben Schere und Messer, meist mit professioneller Geschicklichkeit von bewährten Barbieren geführt, die Mittel der Wahl. Selbst die Wiedererfindung der einklappbaren, dadurch weniger verletzungsgefährlichen Rasiermesser 1680 im englischen Sheffield – vergleichbare Geräte gab es bereits dreitausend Jahre vorher – änderte nichts am Verfahrensschema.
Bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Brüder Frederick, Richard und Otto Kampfe im US-amerikanischen Brooklyn eine Epochenwende einleiteten. Die sächsischen Einwanderer verfielen darauf, eine kurze, im Querschnitt keilförmige, an der Schneide ungewöhnlich scharfe Klinge in einen Rahmen mit Griff einzuspannen. 1901 glückte dem Erfinder King Camp Gillette der nächste, nun entscheidende Coup: Er brachte, obwohl Freunde und Kollege abrieten, eine hauchdünne, zweiseitig extrem geschliffene Einwegklinge auf den Markt, die, in die Halterung des zugehörigen „Rasierhobels“ geschraubt, die Nassrasur zur (meist) unblutigen Nebensache machte.
Wer den Bartschnitt lieber trocken bewerkstelligte, kam erst 1931 auf seine Kosten, durch die brillante Idee Jacob Schicks, der in Alaska nach Gold grub. Seit 1910 in den frostigen Weiten des nördlichsten US- Bundesstaats unterwegs, verging ihm eines Winters die Lust, sich den Seifenschaum für die Nassrasur täglich mit Wasser aus umständlich geschmolzenem Eis zu schlagen. Stattdessen kam er auf die Idee, eine Vielzahl kleiner Stahlklingen auf einer Platte zu befestigen, die er mittels eines Elektromotors in vibrierende Schwingungen versetzte; über den Klingen wölbte sich als „Scherblatt“ eine metallene Gitterhaube, durch deren feine Öffnungen nur die Bartstoppeln drangen. Das erlaubte ihm, mit dem Kopf des laufenden Geräts über die Haut zu fahren, ohne sie aufzukratzen oder aufzuschneiden. Mit dem 1923 erteilten Patent in der Tasche gründete er eine Firma, optimierte seine Erfindung bis zur Serienreife und beglückte die Männerwelt 1931 endlich mit dem ersten elektrischen Rasierapparat.
Affe im Gesicht
Auch geneinsam treten Bart und Rasiergerät in den Dienst ausgefallenen Gesichtsdesigns, und zwar dort, wo die Klingen oder Scherköpfe aparte Linien oder Muster, augenfällige Zeichen, wenn nicht gar Zeichnungen ins Haar fräsen. Einen „neuen Trend“ stellte vor anderthalb Wochen Leif Lasse Andersson in der Bild-Zeitung vor: den „Affenschwanzbart“. Im Selbstversuch vollbringt der (unter Pseudonym schreibende) Kolumnist „das schmale Kunstwerk“ wie folgt: Eine seiner Wangen rasiert er glatt; auf der anderen beginnt der Bart „auf Koteletten-Höhe, läuft in zwei Zentimetern Breite nach unten, umrundet mein Kinn und endet als Schnauzer. Als hätte ich einen Affen auf der Schulter sitzen, welcher mir sein Schwänzchen durchs Gesicht schlenkert.“ Etwas für Tierfreunde? Etwas für den Zoo.
Etwas für Enthusiasten. Jedenfalls nichts für Menschen, die unter Pogonophobie – von griechisch pógon, Bart, und phóbos, Furcht – leiden, der krankhaften Angst vor Körper-, namentlich Gesichtsbehaarung. Und auch nichts für den spanische Maler Salvador Dalí seligen Angedenkens: Die Enden seines langen Schnurrbarts zwirbelte der demonstrativ exzentrische Surrealist in einer säbelkrummen Kurve oder steil-senkrecht nach oben, sozusagen himmelwärts, denn mit ihnen als „Antennen“ behauptete er in der Lage zu sein, von Gott persönlich „Informationen“ und „Momentaufnahmen der Wahrheit“ zu empfangen. Auch über den Tod hinaus? Als 2017, 28 Jahre nach seinem letzten Atemzug, die einbalsamierte sterbliche Hülle des 84-jährig verblichenen Künstlers für einen Vaterschaftstest exhumiert wurde, signalisierten die unversehrten Schnurbarthälften wie die Zeiger auf einer Uhren-Werbung „zehn nach Zehn“; so hatte Dalí sichs gewünscht.
Sich von seiner transzendenten Empfangsanlage zu trennen, hätte er wohl ebenso entschieden abgelehnt, wie es der populäre Fernsehkoch Horst Lichter tat. Ihn wollte, wie er einer Zeitschrift erzählte, am Beginn seiner TV-Karriere ein Sender für sein Frühprogramm verpflichten, verlangte aber, dass er sich dafür den „nicht mehr zeitgemäßen“ Schnurrbart abschneide. Das kam nicht infrage. Auf volle Zustimmung dürfte Lichter damit bei Jürgen Burkhardt aus Leinfelden-Echterdingen nahe Stuttgart stoßen, der vier Mal die Bartweltmeisterschaft gewann und den „Bart- und Kulturclub Belle Moustache“ gründete. Weil seine je fünf Haarspiralen links und rechts unter keine handelsübliche FFP-2-Maske passen, ließ sich der 63-jährige Vize-Präsident des Weltbart-Verbands von einer Schneiderin eine Spezialmaske fertigen. Leichter nimmt die Pandemie der dreißig Jahre jüngere Christian Feicht, der als Präsident dem Ostbayerischen Bart- und Schnauzerclub 1996 vorsitzt: Als süddeutscher Meister und italienischer Vizemeister – Kategorie „Freistil“ – hält er seinen Bart für die „Eintrittskarte zur Welt“ und unlösbar mit seiner Persönlichkeit verbunden. Auf ihn verzichten würde er nur, „wenn es aus gesundheitlichen Gründen unbedingt notwendig wäre“, wie er dem Magazin Der Spiegel sagte, „also für eine Operation am Hals vielleicht. Ansonsten fällt mir kein Grund dafür ein.“ Auch Corona ist für ihn augenscheinlich keiner.
Der Bart des Propheten
Mag sein, dass man in islamistischen communities ähnlich denkt. Für Osama bin Laden, den Urheber des New Yorker Flugzeugterrors vom 11. September 2001, für die Kämpfer der Taliban und die Schergen des IS, für die follower des fundamentalistischen Salafismus war und ist ein geziemender Bart obligater Ausweis weniger für ihre Männlichkeit als für ihre religiöse Überzeugung. Auch fernab fanatischer Gewalt tun sich mit Blick auf den Bereich der Spiritualität vor uns kaum beantwortbare Fragen auf: Schworen Moslems einst wirklich „beim Barte des Propheten“ – von dem die Stadt Srinagar im indischen Teil Kaschmirs übrigens ein Haar als kostbare Reliquie verwahrt –, oder behauptet dies, reichlich respektlos, nur eine deutsche Redensart? Und trifft es zu, dass der Gott der Juden und der Christen Bart trägt? Das machen uns zahllose Bilder glauben, so in Rom die Szene aus Michelangelos Deckenfresken der Sixtinischen Kapelle, in der ein vollbärtiger Schöpfervater den soeben erschaffenen, körperhaarlosen Adam von Fingerspitze zu Fingerspitze mit Leben beseelt. Können wir uns, wenn wirs überhaupt tun, Gott anders vorstellen denn als gütig-strengen Opa mit wuchernder Matte um Wangen, Kinn und Hals? Etwa so wie das berühmte Greisen- (und angebliche Selbst-) Porträt, das Leonardo da Vinci als Sechzigjähriger 1512 mit Rötel auf Karton zeichnete? Oder wie den Weihnachtsmann?
Vielleicht mag sich der Herr im Himmel lieber bartlos, so wie auf Erden über sechzig Prozent der deutschen Männer. Wenn nur Morgen für Morgen das leidige Rasieren nicht wär. Wem das zum Hals heraushängt, aber auch kein Bart gefällt, dem bleibt zu guter Letzt als Lösung nur, sich enthaupten zu lassen.
Teil 1
Der Bart ist eine natürliche Vermummung des Mannes. Mit den FFP-2-Masken, die uns vor dem Corona-Virus schützen sollen, verträgt er sich schlecht. Ein paar Blicke auf das Haar zwischen Stirn und Hals heute und gestern.
Von Michael Thumser
2. Februar – Hipster sehen anders aus. Jetzt hat sich, dem Covid-19-Virus die Suppe versalzend, auch Florian Janik seinen Kinn- und Oberlippenbart abgenommen, auf dass die FFP-2-Maske Mund und Nase passgenau umschließe. In Zeiten, da jeder von uns unversehens zum influencer mutieren und eine community von followern um sich scharen kann, machte der vierzigjährige Oberbürgermeister der Stadt Erlangen mit seiner Entscheidung Schule. Denn bald folgte ihm der Oppositionsführer im Stadtrat. Wenn auch schweren Herzens, waren die zwei mit gutem Beispiel vorangegangen: Inzwischen haben etliche weitere kommunalpolitische Kollegen an der „Bart Challange“ teilgenommen.
Waren die Apostel Hipster? Kaum ein sakrales Bild, das uns diese zwölf entschlossensten follower aus der wachsenden community Jesu Christi nicht von üppigen Bärten umweht vorstellt. Weniger menschliche Einzelwesen als ein heiliges Kollektiv erkennen wir in den Gestalten: Der Bart vermummt sie nicht unkenntlich und gleicht doch wie eine Maske den einen an den andern an. In Oberammergau hingegen, wo die Passionsspiele seit 387 Jahren Tradition haben, nehmen die Akteure des gottgefälligen Spektakels coronakrisengerecht Abstand vom Urbild: Bart ab!, heißts auch hier; zumindest hat die Spielleitung vor wenigen Tagen für alle Bühnen-Jünger, die beim Infektionsschutz lieber auf Nummer sicher gehen, den seit Langem geltenden Barterlass aufgehoben. Der legt eigentlich fest, dass das Gros der männlichen Mitwirkenden, zumal das Dutzend der engsten Gefolgsleute (außer dem noch knabenhaften Johannes) ab dem Aschermittwoch des Jahres vor der nächsten Aufführungsserie sich weder Haupt- noch Gesichtshaar scheren soll: Es walle Wolle in den Gesichtern. Für gewöhnlich betreten allein die Römer, als die gewaltbereiten Besatzer Judäas, mit glatter Haut an Kinnen und Backen die Bühne. Das nächste Mal, voraussichtlich vom 14. Mai bis zum 2. Oktober 2022, wirds anders sein: Auch Hebräer, die dies wünschen, dürfen zum Friseur und sich weiterhin rasieren.
Ohne Bart kein Hipster
Weil Bartpracht, je voluminöser, die FFP-2-Masken desto mehr von der Haut abhebt, bereitet sie beim Atmen den von Viren geschwängerten Aerosolen in der Luft den Weg. Darum durchleben nicht zuletzt die Hipster unter uns schwere Zeiten. Zur Erinnerung: Das ist jene nicht mehr ganz hippe, noch nie genau definierte Gruppe unter unsern Zeitgenossen, die einst als lose community von Anpassungsverweigerern den modischen mainstream unterlief, indem sie einen eigenen, nonkonformistischen bis kauzigen lifestyle kreierte; der freilich blähte sich, weil immer mehr vor allem junge follower zügig an dem hervorgekehrten Individualismus Gefallen fanden, alsbald seinerseits zum mainstream auf. Für den, der dazugehören will, gehört der Bart dazu, gern voll und dicht. So reiht sich der Hipster nun, epidemiologisch gesehen, in die Corona-Hochrisikogruppe ein.
Ein junger Mann, zu dem der Bart auch unbedingt gehört, beschäftigte vor fast genau fünf Jahren ein Gericht in Kairo, nicht als Beschuldigter indes – als Opfer. Ihm war, wie bei einer allzu groben kosmetischen Behandlung, der Bart abhandengekommen. Abgebrochen war, bei Räumarbeiten im Ägyptischen Museum, der lange, graue Kinnzopf von der ikonischen Goldmaske Tutanchamuns, weswegen Ende Januar 2016 acht teils hochrangigen Beteiligten an der unbeholfenen Aktion der Prozess gemacht wurde. Nach dem Missgeschick hatten sie aufs Dilettantischste versucht, dem Pharao das Bruchstück mit Kunstharz wieder anzukleben, wobei sie ihm den schimmernd-makellosen Teint zerkratzten.
Die Herrscher des Nilreichs, meist glattrasiert, trugen solcherart Zeremonialbärte schon zu Lebzeiten, sie konnten sie nach den Feierlichkeiten wieder abnehmen; denn sie wurden den Gesichtern nur umgebunden. Aber warum überhaupt Bart? Die Antwort bleiben uns Biologen und Anthropologen bislang schuldig. Ebenso wenig vermögen sie zu begründen, warum den männlichen Bewohnern mancher Weltgegenden so gut wie keiner zu wachsen pflegt, jenen in anderen dafür umso mehr. Unter den mancherlei Theorien vermutet eine, er habe sich als Atavismus aus den halbtierischen Vorzeiten unserer Spezies erhalten: Dem Steinzeitmann sei bei klammem Klima das Gesicht mit den klappernden Zähnen nicht gar so schnell kalt geworden. Sollte dem so sein (was die meisten Experten für wenig wahrscheinlich halten), befänden sich die Frauen evolutionsbiologisch in einem schwer nachvollziehbaren Nachteil: Sie müssten frieren, weil sie an Leib und Gliedern weit weniger zum Haarwuchs neigen.
Was bei nicht wenigen von ihnen wiederum dazu führt, dass sie gerade den Bart als Ausweis von Männlichkeit schätzen. Umfragen ergaben, dass sich die Frauen in bartstarken Regionen zwar nicht auffallend zu bärtigen Männern hingezogen fühlen. Umgekehrt aber gilt in unseren nicht allzu haarsprießenden Breiten die Manneszier bei den Damen als besonders verlockend, sofern sie nicht überhandnimmt. Im vergangenen Sommer machte der Online-Partnervermittler Parship das Ergebnis einer Erhebung bekannt: „Bloß nicht zu viel Haar im Gesicht, und bitte keine Experimente bei der Rasur!“, stand als Fazit in der Zeitschrift Men’s Health zu lesen. „Ein Dreitagebart macht Männer sexy. Keine andere Gesichtsbehaarung hat beim Attraktivitätscheck so gut abgeschnitten.“
Die Vollreife des Alphatiers
Attraktivität – und Aggressivität: Im Lauf der Kulturgeschichte standen Bärte vielfach für virile Vollreife und die Dominanzbegabung des geborenen Alphatiers. Auch soziologische Studien aus jüngster Zeit erweisen, dass gerade Jugendliche und junge Männer zwischen sechzehn und 29 Jahren vom Grad ihres Bartwuchs den Grad ihrer Maskulinität ablesen wollen; vice versa nehmen sie seine Spärlichkeit oder sein gänzliches Fehlen als peinliches Manko wahr, zumal viele Jungen der irrigen Meinung anhängen, an der Ausprägung ihrer Gesichts- und Körperbehaarung könnten Generationsgenossinnen ihre sexuelle Leistungsfähigkeit ermessen. Bart oder (noch) kein Bart: für Pubertierende ein Riesenproblem.
Da muss es uns nicht wundern, dass der Bart unter Gottheiten, Herrschern, Helden als Accessoire lang unverzichtbar war. Tatkraft und Tapferkeit zeigte er bei ihnen an, Erhabenheit, Allmacht. Derart geprägt, suchte auch der weit weniger erlauchte, aber selbstbewusste Normalsterbliche mit Ausmaß und Stärke seines Barts einen besonderen Status mitzuteilen. Wenn in unseren Breiten Männer einst „bei ihrem Barte“ schworen, setzten sie für den Fall, als Lügner entlarvt zu werden, ihre Ehre aufs Spiel. Wer allerdings in einer haarigen Angelegenheit „um des Kaisers Bart streitet“, tut dies unter falschen Voraussetzungen: Gleichsam durch einen Hörfehler als Hintertür schlich sich das gekrönte Haupt in die Redewendung ein; ursprünglich stritt man sich wohl „um den Geißenbart“, bis der weitere Gebrauch der deutschen Floskel das zugrundeliegende lateinische Zitat verballhornte; de lana caprina rixari heißt es bei Horaz, um die Wolle von Ziegen streiten, weil im alten Rom offenbar die Meinungen darüber auseinandergingen, ob das schnöde Haar des Ziegenbarts denn auch als kostbare Wolle durchgehe – für den römischen Dichter ein läppischer Streit, über den er bissige Verse verlor. Korrekter als wir Deutschen folgt dem lateinischen Wortlaut das Englische: Dort heißt die Phrase to contend about a goat’s wool, um die Wolle einer Ziege streiten.
Dass besonders kleingewachsene Herren gern streiten und zu auffallendem Dominanzverhalten neigen, ist weniger Klischee als anthropologische Konstante; davon, wie der Versuch misslingt, die vermeintliche physische Dürftigkeit mit einem exorbitanten Bart zu kompensieren, berichtet das Märchen von „Schneeweißchen und Rosenrot“. Darin erzählen (neben anderen) die Brüder Grimm von zwei unschuldslammfrommen Schwestern, die bei drei Gelegenheiten einem Zwerg beistehen, seiner Unverschämtheit ungeachtet. Beim Baumfällen klemmt der Wicht seinen überlangem Bart in einen Holzspalt ein, später verwickelt er ihn in eine Angelschnur, schließlich krallt sich ein Vogel darin fest. Ein ums andere Mal befreien ihn die titelgebenden Mädchen, indem sie ihm mit der Schere ein Stück des Barts abschneiden – und werden dafür von ihm schroff gescholten. Denn solche Läsion kommt seiner Entmachtung, psychoanalytisch gedeutet: seiner Entmannung gleich. Folgerichtig sieht er sich am Ende der tödlichen Tatze eines Bären wehrlos gegenüber. Eine Allegorese – sie besagt: Wer den Bart einbüßt, verliert die Kraft und muss sich unterwerfen, wenn nicht unterliegen.
Die "heilige Kümmernis" und andere Frauen mit Bart
Daran gemessen, ist dem Goldjungen Tutanchamun fast dreieinhalb Jahrtausende post mortem eine tatsächlich schimpfliche Entwürdigung widerfahren. Gut hundert Jahre älter als seine Maske ist eine Darstellung der altägyptischen Königin Hatschepsut aus dem fünfzehnten vorchristlichen Jahrhundert, die der Bedeutung des Bartes als Herrschaftssymbol paradox Nachdruck verleiht: Denn sie belegt, dass auch Herrscherinnen sich eine solche Attrappe umhängten. Viel später tingelten barttragende Frauen als Attraktion durch die Jahrmärkte unserer Städte. Auf erbliche Veranlagung, eine Tumorerkrankung oder hormonelle Anomalie kann der nur selten vorkommende Hirsutismus zurückgehen, der dafür sorgt, dass sich ein weiblicher Körper mit männlicher Langbehaarung bedeckt; nicht erst heutzutage für die Betroffenen eine äußerst unliebsame Entstellung.
Gleichwohl konnte sie zur Ehre der Altäre führen, zumindest der Legende nach. Ums Jahr 130 soll in Portugal die junge, liebliche Wilgefortis – zu Deutsch etwa: die Willensstarke –, Tochter eines heidnischen Königs, drei qualvolle Tage lang den Marter- und Märtyrertod am Kreuz erlitten haben: Als unbescholtene Christin hatte sie die Hand eines ebenfalls ungläubigen Prinzen tapfer ausgeschlagen und, um vor seiner Begierde sicher zu sein, den Himmel angefleht, er möge ihr blühendes Aussehen vertilgen. Wunschgemäß entspross ein stattlicher, für den Brautwerber unakzeptabler Bart ihrem hübschen Gesicht. Als „heilige Kümmernis“ ging die Gestalt während der frühen Neuzeit in die Volksfrömmigkeit ein. Die Frau als Bartträgerin – Dulderin eines schrecklichen Schicksals. Der Bartträger als Frau hat es da leichter und wird unter günstigen Bedingungen womöglich als Star gefeiert: Conchita Wurst alias Thomas Neuwirth entschied 2014 den European Song Contest umjubelt für sich.
Und allerdings: Keineswegs zu jedem Mann „gehört“ ein Bart. Heutzutage verzichten in unseren Breiten viele Politiker und Unternehmer (von Hipster-artigen Start-up-Gründern abgesehen), ebenso die meisten Medienleute und Intellektuellen auf ihn. Schon in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden hielt ihn so mancher Mächtige, Reiche und Einflussreiche für entbehrlich, darauf bauend, auch ohne ihn ausreichend Geltung und Prestige auszustrahlen. Der kampfeslüsterne Makedonenkönig und Großreichsgründer Alexander, den bereits die Zeitgenossen den „Großen“ nannten, der römische Diktator und Eroberer Caesar, Napoleon Bonaparte, Europa mit Kriegen überziehend – sie alle präferierten eine ordentliche Rasur.
Barbarossa alias Rotbart
Zugleich listet die Weltgeschichte bekanntermaßen Potentaten und Rebellen, Denker und Künstler reihenweise auf, die ohne Bart unerkennbar blieben. Zu ihnen zählen viele Weisheitslehrer und erleuchtete Köpfe des alten Griechenlands, zum Beispiel Sokrates und Platon, soweit antike Porträtbüsten uns ihr Aussehen glaubhaft vermitteln. Ebenso eindrücklich behauptet der deutsche Kaiser Friedrich I., genannt „Barbarossa“, unter ihnen seine Position, von dem die Sage sagt, es hätten ihn – nachdem er 1190 auf dem Dritten Kreuzzug im südtürkischen Fluss Saleph, dem heutigen Göksu, ertrunken war – übernatürliche Mächte nach Thüringen und dort tief ins Berginnere des Kyffhäusers versetzt; hier schläft er auf einem elfenbeinernen Thron, während sein singulärer „Rotbart“ durch die Marmorplatte eines Tisches und darum herum wächst.
Nicht zu vergessen: zum Beispiel Charles Darwin oder Abraham Lincoln; Otto von Bismarck und Friedrich Nietzsche; der Kaiser der deutschen Reichsgründung von 1871, Wilhelm I., und sein unseliger Enkel Wilhelm II., der aus Zufriedenheit mit seinen sorgsam aufgezogenen, steilen Schnurrbartspitzen das stolze Diktum prägte: „Es ist erreicht!“; oder Albert Einstein, unvergesslich abgelichtet mit der lang herausgestreckten Zunge unterm Schnauzer; oder aus dem sozialistischen Lager Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Wissarionowitsch Dschughaschwili alias Stalin, die Revolutionäre Ernesto „Che“ Guevara und Fidel Castro … In grauen Vorzeiten könnten wir die Prominentenliste beginnen lassen und würden so bald nicht fertig mit ihr. Dabei dürften wir keinesfalls Charlie Chaplin und Adolf Hitler als Diadochen übergehen: Der britische Schauspieler und Regisseur behauptete, der nazideutsche Tyrann habe ihm sein Zahnbürstenbärtchen plagiierend abgeschaut; nach dem Kinoklassiker „Der große Diktator“, seiner satirischen Abrechnung mit der braunen und überhaupt aller Despotie, nahm er, um ein Zeichen zu setzen, das Bürstchen für immer ab.
(Teil zwei und Schluss folgen in der nächsten ho-f-Ausgabe.)
Bevor der Mensch für den komfortablen Genuss das Restaurant erfand, verköstigte er sich beim Schnellimbiss mit Speisen zum Gleichessen oder Mitnehmen. Darauf deutet auch ein Fast-Food-Lokal, das Archäologen unlängst aus den Ruinen des antiken Pompeji ausgruben.
Von Michael Thumser
26. Januar – Eine halbe Autostunde von Neapel entfernt macht seit vier Wochen ein Restaurant von sich reden. Genau genommen ist es nur ein Schnell- und (wahrscheinlich) Stehimbiss, gleichwohl zog er kurz vor Weihnachten internationales Interesse auf sich. Und das, obwohl sich hier gar keine Gäste tummeln. Ausnahmsweise liegt dies nicht am Corona-Lockdown, der zurzeit auch die Gastronomie in die Knie zwingt. Vielmehr schloss das Lokal bereits vor 1942 Jahren, gleichfalls zwangsweise: Als im Jahr 79 der Vesuv ausbrach, verbarg die verkrustende Asche aus seinem explodierenden Krater die blühende Römerstadt 25 Meter tief unter einem bewahrenden Deckel. Seit etwa 150 Jahren graben Archäologen die vielfach faszinierend konservierten Reste zunftgemäß wieder aus. Kurz vor Jahresende gingen die Bilder eines thermopoliums um die Welt, eines vollständig freigelegten Fast-Food-Restaurants, das dem heutigen Betrachter den authentischen Eindruck einer antiken Garküche vermittelt, ohne das Vorstellungsvermögen dabei über Gebühr zu strapazieren.
Drei Mal im rechten Winkel durchquert die Theke den Raum. In ihre Oberfläche sind Löcher unterschiedlicher Größe eingelassen; offenbar wurden in die einen Amphoren eingestellt, die anderen dienten allem Anschein nach zur Aufnahme von Behältnissen für verschiedene Speisen. Auch Gegenstände fanden sich: neben etlichen Amphoren zwei kleine Flaschen aus Glas, eine Trinkschale aus Bronze, ein tönernes Kochgefäß. Vollends überwältigend stechen, wie in frischen Farben prangend, die Malereien auf den äußeren Ziegelwänden des Tresens ins Auge. Auf zitronengelbem Grund scheint gleichsam die Speisekarte der Snackbar abgebildet zu sein: Demnach konnte der Kunde mindestens zwischen Schafs- und Ziegenfleisch, Hähnchen und Ente wählen. Sogar auf weggeworfene Knochen und Essensreste stießen die Ausgräber. Indes war der gemalte Hund, der angekettet die Auslage bewacht, wohl nicht für den Verzehr vorgesehen.
Ein thermopolium: dem buchstäblichen Wortsinn des (altgriechischen) Begriffs zufolge ein Ort, an dem Warmes verkauft wird. Hundert oder mehr solcher Schnellimbisse, die für ihre Laufkundschaft Essen auf die Hand feilboten, stehen auf den sich immer mehr ausweitenden Plänen Pompejis verzeichnet; um einen Einzelfall handelt es sich bei dem aktuellen Fund mithin nicht. Einzigartig macht ihn sein außergewöhnlicher Erhaltungszustand. Natürlich handelt es sich um eine postapokalyptische Trümmerstätte; doch hier siehts aus, als hätte sich die Katastrophe erst vor einer Woche, nicht vor knapp zweitausend Jahren zugetragen.
Man aß mit den Fingern
So weit und weiter noch reicht in Europa die Geschichte des Restaurants zurück; genau genommen die des Schnellimbisses. Denn lange bevor Erstere zu kultiviertem Schmausen einluden, machten sich Letztere in den Städten und an den Landstraßen dadurch verdient, dass sie Passanten, die keine Zeit oder keine Gelegenheit zum Kochen hatten, mit Nahrung versorgten. Statt mit Messer und Gabel nahm man die Mahlzeiten mit den Fingern, bestenfalls mit Kellen und Löffeln zu sich. Zweifel an der Güte und Verträglichkeit besonders der Fleisch- und Wurstwaren waren allerdings angebracht, wenn man den alten Quellen glaubt. Die Menschen damals nahmen das wohl oder übel hin. Denn viele, die unter teils erbärmlichen Verhältnissen scharenweise die gewaltigen Mietshäuser Roms und anderer altrömischer Städte bewohnten, verfügten in ihren winzigen Gelassen über keine Herdstelle. Sie kauften sich, was sie erschwingen konnten, im nahen thermopolium oder in einer popina, einer eher schäbigen Gaststätte, wie sie in vielen Erdgeschossen rauchten und dampften.
Noch bedrängender stellte sich die Ernährungsfrage Kaufleuten, Meldegängern und Konsorten, die über Land unterwegs waren. Sie setzten sich nicht nur den Kapriolen und Unbilden des unzuverlässigen Wetters und der Gefahr aus, von Räuberbanden oder anderen Dunkelmännern an Leib und Leben bedroht zu werden. Nicht weniger mussten sie befürchten, mit ihrem mitgeführten Proviant am Ende zu sein, bevor sie, wer weiß nach wie langer Zeit, an einer menschlichen Behausung vorüberkamen, wo ihrem Hunger und Durst mit Speis und Trank abgeholfen werden konnte. Weil die wenigen Städte weit auseinanderlagen und die Reisenden zu Fuß und selbst mit Pferd oder Wagen nur langsam vorankamen, wendeten sie Tage, Wochen, Monate auf, um an ihr Ziel zu gelangen. Namentlich an Hauptrouten des Handels, an Wegkreuzungen, Pässen und Furten, Stapel- und Fährplätzen boten Herbergen gegen Geld zeitweilig Unterschlupf. Meist musste der Reisende mit dem einen Tagesgericht vorliebnehmen, das die Wirtsleute gerade auf dem Ofen hatten. Auch für Schlafplatz war gesorgt, den sich die Übernachtungsgäste freilich mit Ungeziefer von vielerlei Art teilten. Nicht selten wurde ihnen der Zugang zu Kammern offeriert, worin ebenso wenig reinliche Damen amouröse Dienstleistungen anboten.
Ohne tiefgreifende Veränder- oder gar Verbesserungen blieb die gastronomische Infrastruktur im Mittelalter und in der frühen Neuzeit vielerorts gleich. Als die Zahl und Größe der Städte wuchs, nahm auch die Zahl der Märkte und Stadtfeste zu, wo fliegende Händler Snacks zum Mitnehmen verkauften. Die nur sehr allmählich sich vermehrenden Verkehrs- und Transportwege in den deutschen Ländern und bei ihren europäischen Nachbarn und auch das Pilgerwesen hätten ohne ein expandierendes Netz der Versorgungsmöglichkeiten weit weniger stark anschwellen können.
Das Essen war Nebensache
Erst nach Jahrhunderten einer meist minderen Schnell-, Bedarfs- und To go-Gastronomie formte sich in Europa die Idee des Restaurants heraus, jenes (im Fernen Osten längst omnipräsenten) Speise-Etablissements, dessen scheinbares Hauptangebot, eben die Speisen, in Wahrheit gar nicht so ins Gewicht fielen – zumindest wenn man den Recherchen Christoph Ribbats folgt. Der Amerikanist und Kulturhistoriker von der Universität Paderborn (der auch originelle Monografien etwa über Neonlicht oder Basketball publizierte) meint in seinem 2016 erschienenen Buch „Im Restaurant“, die Erfindung solch feineren Speiselokals verdanke sich weniger dem Hunger als dem neurasthenischen Schonungs- und Kommunikationsbedürfnis der vornehm und empfindlich gewordenen Bürgerinnen und Bürger im französischen achtzehnten Jahrhundert. Sie suchten jene Gaststätten auf, um sich und ihr Befinden mitzuteilen und dabei leicht genießbare und verdauliche restaurants einzunehmen: So hießen ursprünglich kräftigende Brühen und bekömmliche Suppen, von denen der Name später auf die Einrichtungen überging, in denen sie gereicht wurden.
Wenngleich von Historikern bislang nicht verifiziert, scheint eine – auch vom Larousse Gastronomique, dem Hauptbuch für französische Küchenchefs, zitierte – Überlieferung aus dem Paris der 1760er-Jahre nicht ganz unglaubhaft: Ihr zufolge warb ein Unternehmer namens A. Boulanger im Jahr 1865 für seine Gerichte öffentlich mit den Slogan: „Boulanger débite des restaurants divins“; sinngemäß übersetzt, vertrieb er also geradezu göttliche Mittel zur Wiederherstellung oder Auffrischung des Wohlbefindens. Für das erste regelrechte Restaurant in modernem Sinn darf man wohl die Grande Taverne de Londres halten, die 1782 in der Hauptstadt des ancien régime die Tore öffnete.
À la carte
Die Französische Revolution, die sieben Jahre später in Paris losbrach, führte dazu, dass viele Köche, die bislang die missliebig gewordenen, vertriebenen oder guillotinierten Aristokraten luxuriös mit Leckereien versorgt hatten, ihre Künste fortan in öffentlichen Speisesälen einem wohlhabenden mittelständischen Publikum anboten. Und das blieb gern unter sich: Die bis dato von einer zufällig zusammengewürfelten Esserschar besetzte lange Einheitstafel mit dem Einheitsmahl wich separaten Tischchen und Tischen für Alleinspeisende, Paare oder einverständige Grüppchen. Die wählten, wonach ihnen der Sinn stand, auf einer Speisekarte aus und konnten sich, wo vorhanden, in ein Separee zurückziehen, wenn ihnen das Treiben im Saal zu bunt wurde. Dergestalt mal mehr, mal weniger im Blickfeld der Öffentlichkeit, gewöhnten sie sich stubenreine Tischmanieren an.
In dem seit 1665 und also seit elf Generationen im Familienbesitz gehaltenen Gasthaus in Eilsbrunn bei Regensburg nehmen heute die Wirtsleute Röhrl in Anspruch, nicht bloß die älteste ohne Unterbrechung tätige Gaststätte Bayerns oder Deutschlands, sondern der Welt zu betreiben. Den Ehrentitel beurkundet nicht nur das „Guinessbuch der Rekorde“ seit 2010; erst recht beglaubigt ihn die über dem Haupteingang in römischen Ziffern vermerkte Jahreszahl MDCLXV. Viel, viel älter, nämlich unüberschaubare 45 500 Jahre alt ist die Tierdarstellung, über die vor zwei Wochen das Wissenschaftsmagazin Science Advance berichtete: Das Wildschwein, das die Bewohner einer Höhle auf Sulawesi mit rostbraunen Erdfarben lebensgroß auf eine Wand ihres Felsendomizils auftrugen, gilt von nun an als die älteste bekannte Höhlenmalerei überhaupt. Kaum denkbar, dass die Zeichnung – wie die antiken Kneipenbilder in Pompeji – darbende Wandersleute einladen sollte, sich an Ort und Stelle mit einer preiswerten Fleischmahlzeit zu stärken. Überhaupt steht dahin, wie gastfrei sich auf der indonesischen Insel die steinzeitlichen Sippen gegenüber Fremden betrugen. Höchstwahrscheinlich aber hat das Graffito mit der Jagd und wiederum doch mit dem Essen zu tun, mit behaglichem Feuer, stimulierendem Kochen und traulicher Geselligkeit.
Alle Jahre wieder verwandelt sich Charles Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“ aus dem viktorianischen London in Filme oder Serien, Comics, Hörbücher oder -spiele mit und ohne Musik. Unter den einschlägigen Dichtungen der Weltliteratur ist wohl nur die Erzählung von der Geburt Jesu aus dem Lukas-Evangelium populärer.
Von Michael Thumser
24. Dezember – Jedes Medium, jede Zeit und ihr Stil hat sich diese Geschichte passend hingebogen. So ist sie mehr als nur ein Stück Literatur aus dem viktorianischen neunzehnten Jahrhundert. Zum Mythos taugt sie, also gemäß der Definition zu einer Ur-Geschichte, die sich frei macht von der Zeit und den Bedingungen ihrer Entstehung und ihrer Rezeption und Grundsätzliches berichtet vom Menschen: von seiner Erschaffung und Natur, vom Feuer in ihm oder seinen Dämonen, auch davon, was aus ihm wird, wenn er sich bewährt, siegt oder untergeht. Wenig wahrscheinlich, dass Charles Dickens jene epochenübergreifende und globale Wirkung absah, als er in den 1840er-Jahren die berühmteste seiner Weihnachtsgeschichten (denn er verfasste mehrere) ersann. Die vielleicht berühmteste überhaupt.
Als „A Christmas Carol in Prose”, als Weihnachtslied in Prosa hat der Dichter sie komponiert und sie, trotz ungebundener Sprache, wie einen frommen Gesang in fünf „Strophen“ unterteilt. In ihnen breitet sich bei nächtlicher Kälte und Dunkelheit eine Parabel um Geiz und Geister aus, und doch intonieren die Strophen ein warmes und helles Preislied auf Gemeinsinn und Barmherzigkeit - ein Geburtstagslied aufs Christkind, das an Heiligabend mit dem Mythos um seine Geburt für den guten Glauben an das Gute im Menschen steht. Im biblischen Bericht singen himmlische Heerscharen, Hirten beten an, weise Könige machen sich auf den Weg zur Krippe nach Bethlehem: Die Welt ist heil. Ist sie natürlich nicht: Oft genug sieht sie sehr anders aus als im Evangelium und bei Charles Dickens. Gleichwohl wird, hier wie dort, nicht einfach nur ein Märchen erzählt.
Erzählt wird bei Dickens vom empörend knickrigen Kaufmann Ebenezer Scrooge. Seit vor Jahren sein charakterverwandter Geschäftspartner Marley gestorben ist, duldet der Nimmersatt nur noch das arme Faktotum Cratchit um sich, dem er im winterlich frostigen Kontor das Leben schwer macht. Gute Wünsche weist Scrooge mit demselben Hohn zurück, mit dem er Bettler und Spendensammler abblitzen lässt. Da sucht ihn an einem Heiligen Abend Marleys Geist, mit Ketten behangen, heim und warnt: Scrooge werde es nach seinem Tod nicht anders als ihm ergehen, wenn er nicht der Gier abschwöre und auf seine Nächsten zugehe.
Geschichte einer Läuterung
Nacheinander führen ihn sodann drei „Geister der Weihnacht“ durch seine bittere Kindheit und sein nüchternes Leben, durch das weihnachtliche London und zum kargen, aber nestwarmen Christfest seines unterbezahlten Angestellten Cratchit, zu kaltschnäuzigen, hartherzigen Kapitalisten – und schließlich an sein eigenes künftiges Grab. In dem wird er liegen, ohne dass jemand ihn betrauert oder vermisst. Aber natürlich ist Dickens’ „Weihnachtslied“ die Geschichte einer Läuterung: Derart schockiert, kommt Scrooge zur Vernunft. Und mehr noch: Die Heilige Nacht, deren Feier er bislang für bloßen „Humbug“ hielt, hat ihn zum freundlichen Wohltäter um- und umgedreht.
An milden und wilden, heiteren und horriblen, pathetischen und parodistischen Adaptionen des Stoffs herrscht kein Mangel. In etlichen Comic-Versionen gibt es ihn, speziell heuer als „aufwendig produziertes und hochkarätig besetztes Hörspiel“ des Hessischen Rundfunks („Ein Geschenk für die ganze Familie“) und als Orchesterhörspiel des Norddeutschen. Wie Meterware reiht der einschlägige Artikel des Online-Lexikons Wikipedia erst recht Dramatisierungen und Verhohnepipelungen auf, vor allem aber die schier zahllosen Kino- und Fernsehverfilmungen. Der jüngsten, über den Bezahlsender Sky empfangbaren Serien-Fassung der BBC sagt die Wochenzeitung Die Zeit nach, sie sei „ein mit Fantasy-Elementen durchsetzter und mit Schockmomenten aufgeladener Albtraum, der die kapitalistische Gier als Horror der Gegenwart inszeniert“. Wäre das für den Autor zu viel des Guten gewesen: zu viel des Bösen? Oder könnte er darin, sähe ers, doch die eigene sozialkritische Haltung wiedererkennen?
Immerhin kannte Charles Dickens das Leben als Habenichts, wie es sein Märchen in den Familienszenen um Bob Cratchit verklärend ausbreitet, aus eigener leidvoller Vergangenheit. Zum Märchen könnte sein Leben selbst taugen: Während es in den Vereinigten Staaten Glückspilze sprichwörtlich vom Tellerwäscher zum Millionär brachten, gelang ihm der Weg vom halben Analphabeten zum Bestsellerautor. Doch an der Wiege war ihm dies nicht gesungen. 1812 kam er in der Nähe von Portsmouth zur Welt, wuchs aber hauptsächlich in London auf, nicht in proletarischen, sondern durchaus anheimelnden, allerdings brüchigen bürgerlichen Verhältnissen. Die Eltern gaben mehr Geld aus, als sie besaßen, wodurch sie sich und Teile der Familie ins Schuldgefängnis brachten. Der Knabe Charles schuftete, während die Seinen einsaßen, in einer Fabrik im Akkord. Die Legende besagt, er habe sich das Schreiben weitgehend selbst beigebracht, nachdem er zwölfjährig die Schule habe verlassen müssen, um als Hilfsarbeiter ein paar Pennys zu verdienen. In Wahrheit durfte er die Schulbank drücken, bis er fünfzehn war, und lernte das Schreiben immerhin so gut, dass er später einen Beruf daraus machen konnte.
In der Schule des Lebens
Die Schule des Lebens, hart und grausam, unterrichtete ihn darüber, wie die englische Metropole abseits der Nobelfassaden, im Schmutz der Elendsviertel, in den Knochenmühlen der Ausbeuterbetriebe, in der Fuselatmosphäre der Kellerkneipen aussah. Immer wieder sollte der arrivierte, schließlich glänzend verdienende Schriftsteller in seinen oft dickleibigen Romanen zurückkehren in jene Kummerquartiere der Ärmsten, die seine Fantasie gern zu höllischen Mördergruben und Räuberhöhlen ausstaffierte.
Dass er, wie in seinen populärsten Büchern „David Copperfield“ und „Oliver Twist“, die Geschicke wehrloser, von Verwahrlosung bedrohter Kinder aufrollte, liegt in besonders schlimmen Erinnerungen an die eigene Kindheit begründet. Nie verzieh er seiner Mutter den „Verrat“, den sie an ihm beging, als sie nach der Freilassung des Vaters den begabten Filius am liebsten weiter hätte rackern lassen, für einen Hungerlohn, weil Kleinvieh ja auch Mist mache. Der lieblosen Dame scheint eine Seele von Scrooge’scher Abgründigkeit innegewohnt zu haben. Die neue BBC-Verfilmung nimmt diese Seelenwunde ernst: „Ebenezer Scrooge“, schreibt Die Zeit, erscheine darin „als ein traumatisierter Mensch, der sich gegen die Erinnerung an die Verletzungen seiner Kindheit einen Panzer aus Empathielosigkeit zugelegt hat.“ Das Trauma also teilte Dickens mit seiner Figur; nicht freilich die Konsequenz daraus.
Dergestalt geprägt, half er, eine realistische, gesellschaftskritische Erzählkunst in Europa, zumal in England, erblühen zu lassen. Dabei blieb ihm der bierernste Naturalismus etwa eines Thomas Hardy („Tess von den d’Urbervilles“) fremd. Anders als jener jüngere – nicht minder grandiose – Kollege und Landsmann trieb er seine Geschichten mit dem Zündstoff des Humors voran und ließ sie meist in achtbare Liebe, geordnetes Glück und integren Wohlstand versöhnlich einmünden. Sein Gefühl kennt die Zähren der Zerknirschung oder der Verzweiflung ebenso wie die gezuckerten Tränen der Freude und des Friedens, wenn sich die Helden den Weg durch alle Prüfungen hindurch und über letzte Hindernisse hinweg gebahnt haben. Der Glaube an das Gute im Menschen regt sich stark, auch mal feierlich und salbungsvoll. Den edleren Teil des dickensschen Personals führt unzerstörbarer Idealismus zum Sieg.
Der rechte Weg zur Nächstenliebe
Zur Dialektik der ‚realistischen‘ Epoche, die sich zur Wirklichkeit bekennt, gehört das Vergnügen ihrer Repräsentanten am Umgang mit dem Irrationalen und Übersinnlichen. Nicht dass sie selbst an Geister und Erscheinungen geglaubt hätten; aber sie ließen sie gern auftreten und teils maßgeblich mitwirken – so wie Dickens in seinen Prosastrophen den kettenrasselnden Wiedergänger Marley und die drei „Geister der Weihnacht“. Sie machen nun freilich keine Schauernovelle aus dem Text, sondern treten bei der Rettung des von allen guten Geistern verlassenen Scrooge an den Platz, den in anderer Erbauungsliteratur erleuchtete Einsiedler oder Engel einnehmen. Den Sinn des Pfennigfuchsers lotsen die Traumwesen während der christnächtlichen Vision durchs großstädtische Kleinbürgertum auf die rechte Bahn der Nächstenliebe und der Liebenswürdigkeit, wobei sie dem Geschäftemacher lehrreich und ironisch die artige Zufriedenheit der Mittellosen als Spiegel vorhalten.
„Ich habe mich bemüht“ – so rechtfertigte der Autor sein am 19. Dezember 1843 erschienenes „kleines Geisterbuch“ - „den Geist einer Idee heraufzubeschwören. Möge dieser Geist freundlich walten und niemand den Wunsch hegen, ihn auszutreiben.“ Unter den turmhohen Stapeln von Weihnachtsgeschichten der Kinder- und Gebrauchs-, Unterhaltungs- und Weltliteratur blieb es der dickensschen vorbehalten, weltweit beinah so bekannt zu werden wie die fast zweitausend Jahre alte im Lukas-Evangelium des Neuen Testaments. Von Erlösung handeln beide. Unter diesem Ziel führt Charles Dickens in seiner unverwüstlichen, weil mythischen Mär sie alle zusammen: den geheilten Geizhals Scrooge, Jesus in seiner strohgepolsterten und doch christfestlichen Krippe und jeden Leser, jede Leserin, der oder die glaubt, durch jenen biblischen Unschuldsknaben befreit, verwandelt, selig zu werden - jeder von ihnen ein Mensch wie neugeboren.
In der Geschichte fehlt es nicht an symbolstarken Gesten bedeutender Persönlichkeiten. Doch sehen die wenigsten so schlicht und ergreifend aus wie Willy Brandts Kniefall in Warschau vor fünfzig Jahren: ein Inbild deutscher Demut und west-östlicher Versöhnungsbereitschaft.
Von Michael Thumser
5. Dezember – An den Kriegsführer Alexander, den man den „Großen“ nennt, reicht so leicht keiner heran: Hochmütig durchschlug der Makedonenkönig den unlösbaren Gordischen Knoten kurzerhand mit dem Schwert und illustrierte so seinen Anspruch, als Beherrscher der Welt unsterblich zu werden. Eine Tat von unerreichbarer Symbolkraft. Etliche welthistorische Epochen später, am Montag vor fünfzig Jahren, sank während eines Staatsbesuchs in Polen Bundeskanzler Willy Brandt auf den regennassen Boden vor dem Denkmal für die Naziopfer des Aufstands in Warschaus jüdischem Ghetto 1943 auf die Knie – auch die Strahlkraft dieses Schuldbekenntnisses bewegte die Welt.
An großen Gesten der Geschichte herrscht kein Mangel. Jede Krönung eines mittelalterlichen deutschen Kaisers durch den Papst war eine, zum Ritual erhoben, um das Abhängigkeitsverhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Macht zu demonstrieren. Wer sich als Monarch später nicht geschickt genug dagegen auflehnte, musste sich am Ende doch dem Stuhl Petri unterwerfen, so wie es 1077 der gebannte Heinrich IV. durch seinen seither sprichwörtlichen Bußgang nach Canossa tat, wo er tagelang, frierend im Schnee vor dem Burgtor, Verzeihung von Gregor VII. erheischte. Am 16. Januar 1969 brannte sich der freiwillig in Flammen stehende tschechische Student Jan Palach als lebende Fackel der Freiheit ins Bildgedächtnis der Völker ein. Küsse einer bis dato ungekannten deutsch-französischen Freundschaft tauschten fast auf den Tag zwei Jahre später Konrad Adenauer und Charles de Gaulle in Paris. Ein Zeichen, an das sich Helmut Kohl und François Mitterand am 22. September 1984 auf dem Soldatenfriedhof von Verdun anschlossen: Sichtbar in Trauer vereint, hielten sie sich an den Händen.
Signale für die Öffentlichkeit
Solch große Gesten sind Bilder: Narrative, die ikonisch werden. Große Gesten der Geschichten sind augenfällige Aktionen, von bedeutenden Persönlichkeiten unternommen, um der Öffentlichkeit ein Signal zu geben. Sogar Gesten, die unterbleiben, vermögen das: Im März dieses Jahres frisch zum thüringischen Ministerpräsidenten gewählt, verweigerte Bodo Ramelow von der Linken dem zur Gratulation angetretenen AfD-Politiker Björn Höcke den Handschlag; damit drückte er mehr aus als in seiner Parlamentsrede danach.
Einprägen sollen sich die Signale; lange müssen sie darum nicht dauern, schon gar nicht, seit Pressefotografen immer und überall bereitstehen und nur darauf warten, sie abzulichten. Manchmal, selten, verdanken sich derlei zeitgeschichtliche Ikonen dem Zufall oder einem Augenblicksentschluss – wie der berühmte „Sprung in die Freiheit“ des NVA-Unteroffiziers Conrad Schumann am 15. August 1961 über eine der Stacheldraht-Rollen hinweg, die Berlin für den Mauerbau in zwei Teile zerschnitt. Meist indes steht gründliche Überlegung, wenn nicht wohlerwogene Inszenierung hinter den bildkräftigen Großmomenten. Wie verhielt es sich am 7. Dezember 1970 in Warschau? Zwar nahm der kniende Kanzler nicht namens der Bundesdeutschen die Schuld an den Nazi-Verbrechen auf sich, bekannte sich aber eindeutig zu ihrer Verantwortung dafür, dass jene Schuld umfassend aufgedeckt werde. Hatte Willy Brandt das schon lang so geplant? Oder entschloss er sich spontan dazu? Die Überraschung war jedenfalls allgemein, auch wenn sie, auf den berühmten Fotos, den Gesichtern der Umstehenden nicht abzulesen ist (eine Dame, mit strengen Gesicht, scheint sich gar pikiert abzuwenden.) Manche fragten verständnislos und bang: „Ist der Kanzler gestürzt?“
Zuvor hatte er sich als Staatsmann doppelt bewährt: als kompromissloser Verächter des Nationalsozialismus ebenso wie als Gegner eines autoritären, imperialistischen Sozialismus sowjetischer Prägung; doppelt zugleich durch pragmatische Tatkraft wie durch den Mut zur Vision. Mit seinem Warschauer Kniefall bewies er der Weltöffentlichkeit, dass (West-)Deutschland bereit war, sich mit den vom „Dritten Reich“ heimgesuchten und unterdrückten Nachbarn auszusöhnen und dessen böse Geschichte erschöpfend aufzuarbeiten.
Günter Grass, als stets politisch denkender Schriftsteller Gefolgsmann, auch Parteimitglied der SPD, obendrein eine Zeit lang Verfasser brandtscher Ansprachen, würdigte die Taten des Staatsmanns als epochemachende Schritte einer Neuorientierung deutscher Europa- und Weltpolitik. „Bewundernswert ist“, staunte Grass noch 2013, zwei Jahre vor seinem Tod, in einem Interview „dass Brandt den Mut hatte, ‚mehr Demokratie zu wagen‘ “, und dass er „uns Deutschen einen Weg wies, wie man aus einer verfahrenen Situation wie dem Mauerbau mit einer ‚Politik der kleinen Schritte‘ Fortschritte machen kann“, nicht durch einen Ad-hoc-Coup, sondern durch das „dauernde Gespräch mit der kommunistischen Seite“.
Mehr Bewegungsfreiheit zwischen Ost und West
Aus dieser Perspektive lässt sich Brandts Kniefall kaum mehr als kniefällige Bittstellerei deuten. Gleichwohl warfen ihm in Deutschland revisionistische Oppositions- und Vertriebenenpolitiker, dazu ein notorisch rückwärtsgewandter Teil der Medien vor, die Würde der Nation verraten zu haben. Weit stärker wuchs freilich die Zahl derer, die sein Auftreten in Polen so wie Grass als Signal des Aufbruchs verstanden. Und wirklich mündete die „Politik der kleinen Schritte“ Richtung Osten in große Ergebnisse: Den Anschluss an den Westen hatte die damals neue Bundesrepublik Konrad Adenauer zu verdanken; auf dieser Grundlage erprobte Willy Brandt mit der Gegenseite in der anderen Himmelsrichtung eine Ostpolitik der Entspannung und Normalisierung. Auf dem Kontinent, den der Kalte Krieg zusammen mit weiten Teilen der übrigen Welt zerrissen hatte, entstand Bewegungsfreiheit. 1971 erhielt Brandt für die im Vorjahr abgeschlossenen (ersten) Ostverträge den Friedensnobelpreis – und war damit nach Gustav Stresemann 1926, (dem oft vergessenen) Ludwig Quidde 1927 und Carl von Ossietzky 1936 seit Langem der erste Deutsche, dem diese höchste politische Ehrung auf Erden zuteilwurde. Als noch größere Belohnung empfand er womöglich, dass er erleben durfte, wie „zusammenwächst, was zusammengehört“: Mit dem Fall der Berliner Mauer, deren Errichtung er als Regierender Bürgermeister hatte hilflos dulden müssen, und der Wiedervereinigung der beiden Deutschländer vollendeten die Jahre 1989 und 1990 sein Werk.
Auch zu literarischen Ehren gelangte Brandts Warschauer Bekenntnis-Akt – in einem Buch von Günter Grass; von wem auch sonst? Der Literaturnobelpreisträger ließ, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, „Mein Jahrhundert“ Revue passieren, indem er jedem Jahr zwischen 1900 und 1999 eine kleine Skizze widmete. Unter der Jahreszahl „1970“ kommt ein (fiktiver) Schreiberling zu Wort, vielleicht ein Reporter der Springer-Presse, jedenfalls einer mit borniert reaktionären Einstellungen. Schnoddrig berichtet er, wie er zusammen mit etlichen anderen Medienleuten den Bundeskanzler nach Polen begleitet, sich am 7. Dezember am Warschauer Ehrenmal einfindet und dort, bei „Sauwetter“, eine unerhörte „Extratour“ verfolgt: Der Kanzler „kniete für Deutschland! Direkt auf den nassen Granit, aus den Kniekehlen raus, geht er runter, macht ein Karfreitagsgesicht, wartet das Klicken der Fotografenmeute ab und kommt dann mit einem Ruck hoch, als hätt er das trainiert.“ Für einen ausgebufften Journalisten, keine Frage, „als Aufmacher ein Knüller“. Zwar sieht der Federfuchser bedenkliche Folgen kommen: „Na, der wird sich wundern, wenn er nach Hause kommt. Zerfetzen werden sie ihn [für den] schmählichen Verzicht auf urdeutsches Land.“ Immerhin: „Gekonnt war das schon, einfach so auf die Knie.“ Und, ja: „Fein ausgeklügelt war das“ von dem Kniefälligen, das muss ihm der Zeitungsfritze zugestehen: „Von wegen plötzlich.“ Immerhin ging es darum, einen der Gordischen Knoten des Ostwest-Konflikts zu lösen.
„Unter der Last der jüngsten deutschen Geschichte“
Brandt selbst trat allen Vermutungen entgegen, er habe die historische Tragweite der Geste zuvor austüftelnd berechnet. Vielmehr sei er einer inneren Notwendigkeit gefolgt, die der Moment ihm auferlegt habe: „Unter der Last der jüngsten deutschen Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen. So gedachte ich der Millionen Ermordeten.“ Dass die Bilder aus den Apparaten der „Fotografenmeute“ sogleich um den Globus rauschen würden, muss er abgesehen haben.
Sie wurden, ungezählt, zu Kopien der europapolitischen Vision des Willy Brandt. Jedes der Fotos widerlegt das kaltschnäuzige Diktum seines nicht minder pragmatischen Amtsnachfolgers und Parteigefährten Helmut Schmidt, dass, „wer Visionen hat, zum Arzt gehen“ solle. Eine halbe Minute lang reglos, stumm, gesenkten Hauptes kniend, wuchs der Regierungschef zu einem buchstäblich schlichten und ergreifenden Sinnbild von unüberbietbarer Beredsamkeit auf: nicht durch Worte – sondern durch eine Geste; nicht durch Gebärden – sondern durch eine Haltung. Oder eigentlich: durch den Verzicht auf Haltung. Indem er sich den aufrechten Gang versagte, erwies sich seine Aufrichtigkeit ganz.
Vier Rösser und ein Wagen – mehr braucht es nicht für einen Mythos und ein Nationaldenkmal. Eine Quadriga gibt es zum Beispiel, aber keineswegs nur in Berlin, dort sogar bald doppelt.
Von Michael Thumser
14. November– Die berühmteste Verfolgungsjagd der Kinogeschichte kommt, natürlich, in einem amerikanischen Film vor. Nicht aber in „French Connection“ oder einem Streifen der „Fast & Furious“-Reihe; auch führt sie nicht Karosserien zerscheppernd durch die City einer US-Metropole. Vielmehr reißt sie im ersten Jahrhundert nach Christus 200 000 Schaulustige in Roms Circus maximus von den Sitzen und lässt, als spektakulärer Höhepunkt in William Wylers „Ben Hur“-Verfilmung, seit 61 Jahren scharenweise die Freunde von Sandalenfilmen fiebern. Mit einem nicht nur für 1959 ungeheueren Aufwand gipfelt in dem sagenhaften Rennen die Todfeindschaft zwischen dem judäischer Aristokratie entstammenden Titelhelden aus Jerusalem und seinem einstigen Intimus, dem römischen Tribun Messala. Der Endkampf wird in Wagen ausgetragen, die jeweils von vier nebeneinander laufenden, siegesdurstigen Pferden gezogen werden. Zwar bedient sich Messala unlauterer Hilfsmittel – an den Rädern seines Gefährts „griechischer“ Bauart sind lange Fräseisen befestigt, mit denen er beim absichtlichen Kontakt mit anderen Fahrzeugen deren Räder zerspreißelt –; aber gegen Ben Hur, der mit der Tugend, dem Menschenrecht und seinem Gott im Bund steht, hat der Trickser keine Chance. Aufs Furchtbarste verunglückt der perfide Römer: Im Sand des sechshundert Meter langen, 140 Meter breiten Rundparcours von den nachfolgenden Pferden und Vehikeln krachend zerstampft und überrollt, gibt er den Geist als bluttriefender Fleischklumpen auf. Kein schöner Anblick.
Aber die Gespanne mit den prachtvollen Tieren davor, die sind einer. Quadriga heißt solch motorloses Kraftfahrzeug mit vier Pferdestärken: Stehend auf dem Wagen posiert der kühne Lenker – oder die Lenkerin – und gebietet souverän über die Galopper wie der griechische Gott Helios oder dessen römischer Cousin, der sportlich-schöne, licht- und geistvolle Apoll, über die feurigen Rösser des rasenden Sonnenwagens. So wenig hat jenes mythische Himmelsfahrzeug und mit ihm sein irdischer Abkömmling, das breite Viergespann, an ästhetischem Reiz und wuchtigem Effekt verloren, dass Ben Hur, sein Wagenrennen und Triumph 2009 in London in einer monumentalen Liveshow Auferstehung feierten; die Hamburger Premiere bejubelten später 8000 Neugierige.
Freilich ist die Quadriga schlechthin, zumindest die der Deutschen, nicht an der Elbe, sondern an der Spree zu finden; und es soll sie demnächst sogar doppelt geben. Die eine krönt in Berlin, als Skulpturengruppe aus Kupferblech, das Brandenburger Tor am Pariser Platz – weltbekanntes Wahrzeichen der Kapitale. Der anderen Ausfertigung können Besucher des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses im Regierungsviertel hoffentlich bald wieder bei ihrer Entstehung zusehen: In einer für zwei Jahre geöffneten Schauwerkstatt fügen Restauratoren das Abbild zusammen, wozu sie Gipsformen aus dem Jahr 1942 benutzen. Die waren, als Bombardements die Hauptstadt Hitlerdeutschlands immer heftiger bedrohten, sicherheitshalber vom Original abgenommen worden und dienten bereits 1957 dazu, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zerstörte Gruppe zu rekonstruieren. Zuletzt lagerte, was von den Modeln intakt oder beschädigt überdauert hat, im Landeskriminalamt. Die Rekonstruktion vor der Rekonstruktion – die Sichtung, Ordnung und Ergänzung jenes Fundus – ist denn auch eine Arbeit wie für Detektive.
Friedensbotin mit „Nachtlaterne“
Als das metallene Viergespann 1794 auf dem als „Friedenstor“ errichteten Bauwerk montiert wurde, war sie das erste seiner Art, das seit der Antike von Künstlerhand geschaffen worden war: Über den sechs Säulenpaaren und ihrem Kranzgesims, aus denen Carl Gotthard Langhans von 1788 bis 1791 das Portal komponierte, zieht das Pferde-Quartett den Streitwagen der Victoria. Nicht allerdings als Siegesgöttin, sondern als Eirene, als Friedensbringerin, kehrt sie in die Stadt ein – so wars gemeint, als Johann Gottfried Schadow, mit 29 Jahren ein Vorreiter des damals aufblühenden deutschen Klassizismus, die Großplastik konzipierte und Emanuel Jury sie aus Kupferblech trieb. Dass die siegreiche Rosselenkerin ihren Kampf bestanden hatte, demonstrierte sie für kurze Zeit mit Trophäen an der Spitze ihres Speers: gegnerische Schilde, Harnisch, Helm. Ein Jahr später wurden die Attribute – von den maulfertigen Berlinern lang genug als „Nachtlaterne“ bespöttelt – durch Lorbeerkranz und Adler ersetzt.
Zur Allegorie der Niederlage, nämlich jener der Preußen gegen die Armee Napoleon Bonapartes, taugte die Quadriga auch, wenngleich unfreiwillig. 1806 hatte der Kaiser der Franzosen, nach seiner Selbstkrönung auf hohem Ross sitzend, die Entscheidungsschlacht bei Jena und Auerstedt gewonnen; nachdem er sich die Schlüssel des von Regent und Hof fluchtartig verlassenen Berlins hatte übergeben lassen, zog er dort durchs Brandenburger Tor ein – das er „magnifique“ fand – und befahl, die Quadriga herunterzuholen, um sie, zu welchem unbekannten Zweck auch immer, wohlverpackt an die Seine schaffen zu lassen. Fortan ragte acht Jahre lang nur mehr die Eisenstange steil und hässlich in den Himmel, die das Bildnis im Innern gehalten hatte – ein Mahnmal des Verlustes. 1814 aber hatte eine große Kriegskoalition, aufs richtige, nämlich das antifranzösische Pferd setzend, das Blatt endlich gewendet: Nun stand Paris seinerseits unter Besatzung, und Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. fand nichts Eiligeres zu tun, als die Quadriga in seine und ihre Heimat zurückzuholen.
Mit beträchtlichem Pomp geschah dies, hatte ihr doch gerade das Verschwinden und Nichtmehrvorhandensein den Rang eines Nationaldenkmals verliehen. Unter Teppichen aus Blumen ließen Patrioten die Transportwagen verschwinden; in den Städten, die der Konvoi passierte, feierten die Menschen auf Straßen und Plätzen. In Berlin angekommen, bekam die Victoria von Karl Friedrich Schinkel, einem der Vollender des klassizistischen Stils, ein neues, dem Zeitgeist gemäßes Feldzeichen in die Rechte gedrückt: das von ihm entworfene Eiserne Kreuz, umringt von einem Kranz aus Eichenlaub, den wiederum ein Adler, gekrönt und mit gespreitetem Flügelpaar, in seinen Klauen hält. So ausgerüstet, repräsentierte die Quadriga zwar einerseits den Erfolg eines Militarismus preußischer Prägung, schloss andererseits aber auch symbolisch zur aufkeimenden deutschen Einigungsbewegung auf.
Noch heute steht das Sieges- oder Friedenszeichen so da. Es steht – und macht vergessen, dass das Fahrzeug der Göttin in alten Zeiten als Rennwagen galt. Aus Griechenland, wo Wagenrennen seit dem Jahr 680 vor Christus als Wettkampfdisziplin auf den Sportstätten Olympias nachgewiesen sind, gelangte der noble, doch gewagte Sport auf den italischen Stiefel und ins Imperium Romanum. Um einen der nach Farben unterschiedenen Rennställe zu unterhalten, waren gewaltige Zahlungskräfte nötig: Unsummen verschlangen Zucht und Erwerb, Unterbringung und Verpflegung der Pferde, Konstruktion und Bau der zweirädrigen Wagen, der Lohn für die bei jeder Konkurrenz Leib und Leben riskierenden Lenker. Eine Sache nur für wahre Pferdenaturen: Sieben Runden in Form langgezogener Ellipsen drehten die Ben Hurs der antiken Wirklichkeit im Circus maximus, 4,2 Kilometer legten sie folglich pro Rennen zurück. Zusammenstöße bedeuteten für die möglichst leicht gebauten Fahrzeuge meist ein fatales Ende und für die Athleten, die sich die langen Enden des Zügelgewirrs um den Körper zu winden pflegten, desgleichen. Als Unfallschwerpunkte erwiesen sich naturgemäß die Spitzkehren an den Enden der Bahn, zwei Haarnadelkurven, die fast mit Höchstgeschwindigkeit durchmessenen wurden. Nur allzu oft ging das nicht gut.
Mit dem Mann kann man Pferde stehlen
Arg lang ist das schon her. Trotzdem hat ein Viergespann des Altertums, als Einziges, die Zeiten überdauert, wiederum eins aus Kupfer und obendrein mit Gold verbrämt. Eine Quadriga indes ohne Wagen: Heute als „Die Pferde von San Marco“ namhaft, entstand sie wohl im zweiten oder dritten nachchristlichen Jahrhundert und also in einer Hochzeit des römischen Kaisertums. Später verschlug es die Gruppe nach Konstantinopel, ins Zentrum der östlichen Reichshälfte, wo sie, den Vermutungen von Archäologen zufolge, womöglich als übergroßer Nippes die Pferderennbahn schmückte. Nachdem die byzantinische Weltstadt am Bosporus, sagenhaft reich und für unbezwinglich gehalten, während des vierten Kreuzzugs 1204 gefallen und zur Plünderung freigegeben worden war, ließ der venezianische Doge Enrico Dandolo die Pferde an den Lido verschiffen; von hier datiert ihre erste gesicherte urkundliche Erwähnung. Einen Ehrenplatz erhielten sie über dem Hauptportal des Markusdoms; seit 1977 ersetzen dort Kopien die Archetypen, die, von Umweltgiften bedrohlich angegriffen, durch eine veritable Rosskur restauriert und unter Dach verpflanzt wurden.
Napoleon übrigens, offenbar ein Liebhaber des bildhauerischen Sujets und zweifellos ein Mann, mit dem man Pferde stehlen konnte, widerstand 1798 der Versuchung nicht, auch diese Quadriga zu deportieren: Bereits acht Jahre vor der Entführung der Berliner Rösser verschleppte er die byzantinisch-venezianischen nach Paris, wo sie ihm auf dem kleinen Triumphbogen im Südosten des Jardin des Tuileries besser gefielen; bis zu seinem Untergang. 1815, nach Waterloo, kehrten sie nach Italien zurück. Auch den Arc de Triomphe du Carrousel, unweit des Louvre, schmücken wie San Marco heute Nachbildungen des Urbilds.
Überhaupt: ein gern aufgegriffenes Thema für vielerlei Variationen. Weniger prominente Quadrigen schnaubten oder schnauben mehr oder weniger kriegslüstern auf der Kuppel der Bayreuther Eremitage – wo einem seltsam gleichgültigen Apoll die Gäule in alle Richtungen durchzugehen scheinen – und in Braunschweig, sowohl in Rom wie in Wien, in Moskau und Dresden, New York oder Kopenhagen … Seit zehn Jahren reihen sich am Berliner Kurfürstendamm vier brave Bären goldfarben nebeneinander auf, von einem im Wagen stehenden „Buddy Bär“ mit segnend erhobenen Tatzen dirigiert statt gezügelt. Und die Bavaria auf Münchens Siegestor lässt sich, gleichfalls eher geruhsam, von vier Löwen ziehen, die keine Pferde scheu machen; eher tapsen die Raubkatzen als verkaterte Kater einher, wie Personifikationen von bairischer „Gmiatlichkeit“ und deren Folgen.
Umso gründlicher räumt ein weit wilderes Reiterensemble mit aller Seelenruhe auf: Im Bild der vier „Apokalyptischen Reiter“ erweist sich die symbolische Doppelgesichtigkeit des Pferds, das ja nicht nur für göttliche Herrlichkeit und irdische Herrschaft stehen kann, sondern gleicherweise für den Tod. Am Schluss der Bibel, im Buch der Offenbarung und dort im sechsten Kapitel, glänzt Christus als Triumphator auf einem Schimmel; der Reiter des zweiten, roten Pferds bringt den Krieg über die Menschheit, der des dritten, schwarzen Pferds Teuerung und Hunger; der letzte, auf einer „fahlen“ Mähre, ist der Sensenmann, „und die Hölle folgt ihm nach“. Schlimme Aussichten? Häufig nahmen sich Künstler des unheilvollen Vorwurfs an, als berühmtester Albrecht Dürer auf einem grausigen Holzschnitt 1511. Fast genau fünfhundert Jahre später kam das Ende für den Münchner Produzenten Franz Abraham und seine „Ben Hur Live“-Show: Zwanzig Millionen Euro hatte das Spektakel gekostet; krachend machte es 2010 Bankrott.
Vor hundert Jahren beschloss Max Bruch sein gefeiertes Komponistenleben. Inzwischen könnte er ganz vergessen sein – wären da nicht ein one-hit wonder und ein, zwei andere beständige Sachen.
Von Michael Thumser
2. Oktober – Nicht, dass der Tonsetzer zu Lebzeiten als Mauerblümchen im schalldichten Winkel vegetiert hätte. Er war nur einfach arg spät dran. Noch aus heutiger Sicht will Max Bruchs musikalischer Charakter als der eines deutschen Vollblut-Romantikers nicht recht passen zum Zeitpunkt seines Todes: Heute vor hundert Jahren starb der traditionsverbundene, schaffensstarke Komponist und Dirigent in Berlin-Friedenau, letztlich enttäuscht. 82 war er da und hatte im Alter erlebt, wie Impressionismus und Expressionismus seiner scheinbar aus der Zeit fallenden Klang- und Gefühlswelt höhnisch absagten. Um jenes Jahr 1920 war die schon lange aufdämmernde Atonalität gerade auf dem Weg zu einem Gipfel, den sie mit der Zwölftonmusik der Neuen Wiener Schule um Arnold Schönberg strengen Sinns erklomm. Da wollte Bruch nicht mit.
Gleichwohl spielte damals - wie heute - jeder Geiger, der auf sich hielt, Bruchs Violinkonzert, und das erwartungsgemäß mit üppigstem Publikumserfolg. Bruchs erstes Violinkonzert, muss es korrekt heißen, aber dieser Gassenhauer der gehobenen Geigenliteratur wuchs zu solcher Popularität heran, dass er die zwei bis drei Schwesterwerke vergessen machte, die der Meister inzwischen danebengestellt hatte. Es heißt, er habe das g-Moll-Werk, das dem dreißigjährigen gebürtigen Kölner nach der Bremer Uraufführung 1868 lebenslang anhaltenden Ruhm bescherte, mit den Jahren mehr und mehr verabscheut, weil er kommen sah, was wirklich kam: Von jenem Geniestreich abgesehen, macht sich sein umfangreiches Œuvre in den Konzertsälen – wenn auch nicht so sehr auf dem Tonträgermarkt – weitgehend rar.
Ein veritables one-hit wonder also. Hauptsächlich aus der Popmusik kennt man Vergleichbares: „In the Summertime“ von Ray Dorset oder „Kung Fu Fighting“ von Carl Douglas oder „Macarena“ von „Los del Rio“ … Und nicht minder aus der Literatur: Margaret Mitchels „Vom Winde verweht“ oder Harper Lees „Wer die Nachtigall stört“, den „Doktor Schiwago“ von Boris Pasternak oder Jaroslav Hašeks „Braven Soldaten Schweijk“ …
Hilfe von außen
Während der Arbeit an dem Konzert war Max Bruchs in jeder Bedeutung des Wortes einzigartiger Totalerfolg keineswegs absehbar. So wird berichtet, er habe es Johannes Brahms aus der Klavierpartitur hingebungsvoll vorgespielt; danach habe der um fünf Jahre ältere Kollege geäußert: „Erstklassig!“, damit aber das Notenpapier gemeint, dessen Qualität er neidisch mit den Fingerspitzen prüfte: „Wo kaufen Sie es?“
Und stammt das Gold-Stück überhaupt von Bruch – von ihm allein? Unbestritten zeigte er sich in der technischen Behandlung der Geige, seines Lieblingsinstruments, als Soloinstrument nicht sattelfest. Während der vierjährigen Entstehungszeit konsultierte er darum mehr als einen Violin-Athleten, allen voran den damals berühmtesten, Joseph Joachim, dem Bruch sein Opus 26 denn auch widmete und der es in Bremen aus der Taufe hob. Überdies beriet Joachim ihn bei einem späteren, verwandten Werk, der „Schottischen Fantasie“, die der leidenschaftliche Walter-Scott-Leser Bruch 1880 vollendete. Einem weiteren Starvirtuosen seiner Zeit, dem Spanier Pablo de Sarasate, eignete er es zu. Auch damit ist Bruch bis heute zu hören – gelegentlich. Seine regulär gezählten Violinkonzerte zwei und drei hingegen könnten als verschollen gelten, nähmen sich nicht hin und wieder seitenwegverliebte Interpreten mit CD-Einspielungen ihrer an.
Hat ers verdient, so abgetan zu sein? Als er starb, konnte er auf reichlich Wertschätzung und gewichtige Ehrungen zurückblicken. Zur Welt kam er am Dreikönigstag 1838, wenn nicht als Wunderkind, so doch mit früh erkennbarer musikalischer Hochbegabung. Dass sie entdeckt wurde, ist der Mutter zu danken, die sich eines bedeutenden Gesangstalents erfreute; die Fähigkeiten des 14-jährigen Frankfurter Mozart-Stipendiaten strukturiert zu entfalten, besorgten so namhafte Lehrer wie Ferdinand Hiller, Carl Reinecke und Vincenz Lachner. Nach dem in Köln uraufgeführten Opernerstling des 20-Jährigen brachte Bruch noch vor Abschluss seines Studiums in Mannheim ein zweites Bühnenwerk, „Die Loreley“, heraus; beide sind, wie ein, zwei weitere, längst aus den Musiktheatern verschwunden. In Sondershausen erklang, von ihm selbst dirigiert, im Geburtsjahr des Violinkonzerts erstmals auch seine dem mäkelnden Brahms dedizierte erste Symphonie; mit den beiden gleichfalls attraktiven Folgewerken, auch mit so mancher stilvoller Kammermusik hat sie heute gemein, schön zu klingen und unbekannt zu sein. In Liverpool, später in Breslau, diente Bruch als Orchesterleiter, zwischendurch reiste er 1883 zwei Monate lang durch die Kulturmetropolen der Vereinigten Staaten. In Berlin (wo er 1881 die Sängerin Clara Tuczek geheiratet hatte) lehrte er ab 1891 an der Akademie der Künste, als deren Vizepräsident er von 1907 an amtierte, obwohl ihn im selben Jahr ein Schlaganfall ereilte. Auch danach legte er den Stift nicht aus der Hand.
Wagner war seine Sache nicht
Geachtet war er zu seiner Zeit nicht zuletzt für seine Vokalmusik. Bruch, enthusiastischer Verehrer Felix Mendelssohn Bartholdys und Verächter der von Franz Liszt im Geiste Richard Wagners angeführten Neudeutschen Schule, eignete sich die Gattungen Lied, Chormusik und Oratorium besonders gern an; denn gerade sie boten ihm reichlich Gelegenheit, seine Vorliebe für volkstümliche Melodien, Inhalte, Stimmungen zu pflegen. Eine Volksweise hielt er für mehr wert als zweihundert Kunstlieder. Folgerichtig mit einer Kantate, „Frithjof“, gelang es ihm 1864, sich endgültig als Komponist durchzusetzen. Auch diese Sparte seines Schaffens verschwand aus den Repertoires einschlägiger Ensembles.
Es sei denn, eines von ihnen besinnt sich darauf, wie dies in Bayreuth der dort ansässige Philharmonische Chor und die Hofer Symphoniker unter Arn Goerke, dem langjährigen Musikchef des Theaters Hof, vor gut acht Jahren taten. Damals sorgten sie fesselnd für ein abendfüllendes Comeback des „Lieds von der Glocke“, eines der sieben Oratorien, die Bruch – von einem „Moses“ abgesehen – sämtlich über weltliche Sujets schuf. Textlich gründet es auf Friedrich Schillers Langgedicht desselben Titels von 1799; es wird, der vielen darin geprägten geflügelten Worte wegen nach wie vor dauernd zitiert, wenn auch kaum mehr gelesen oder gar gelernt. Hingegen war es im neunzehnten Jahrhundert und in etlichen Jahrzehnten des zwanzigsten in aller Munde, zumal in aller Gymnasiastenmunde, sofern die armen Oberschüler der patriotischen Pflicht nachkamen, die sage und schreibe 425 Verse bis zum Ende zu memorieren.
Ungeachtet allen Pathos und der unzähligen geschraubten Sentenzen sprechen Schillers lehrreicher Hymnus und Bruchs dramatische Vertonung für vier Solisten, Chor und großes Instrumentarium angenehm und anschaulich von „ewigen und ernsten Dingen“: Irgendwo zwischen Mendelssohns „Elias“, Wagners „Meistersingern“ und Gustav Mahlers Achter, der „Symphonie der Tausend“, siedelte Bruch Gehalt und Gestus des Oratoriums an. Zum Tönen bringt es die Glocke – sowohl Schillers neunzehn Strophen als auch das schallende Metallgefäß als solches – als sonore „Nachbarin des Donners“ wie als erlösende „Stimme von oben“. Affirmative Adaption eines fragwürdig gewordenen Poems: Den Guss einer Kirchenglocke verfolgend, sinnt das Werk bilder- und gedankenreich über das Auf und Ab des menschlichen Lebens zwischen Wiege und Grab nach, ruft zu „holdem Frieden, süßer Eintracht“ auf – und vertritt gesellschaftlich in teils heileweltlicher, teils himmelsseliger Diktion eine biederbürgerliche, wenn nicht reaktionäre Haltung. Dem Ausdrucks-, Farben-, Melodienreichtum der Musik tuts keinen Abbruch. Wenn nur „rein und voll die Stimme[n] schalle[n]“, so „schwelgt das Herz in Seligkeit“.
Ein sanftes Lied
Ein Beispiel für Bruchs Volksliedbegeisterung gibt auch die erwähnte „Schottische Fantasie“, ebenso ein von ihm als „kleines Pendant“ dazu konzipiertes Konzertstück für Cello und Orchester, „Kol Nidrei“ betitelt, das gleichfalls hilft, den Namen dieses Allerspätestromantikers lebendig zu halten. Indes lag hier wiederum die Frage nahe: Stammt es überhaupt von Bruch? Zumindest schien dies dem seinerzeit gefeierten Cellisten Heinrich Grünfeld zweifelhaft. Als der Komponist Einwände gegen Grünfelds Interpretation erhob, fertigte der ihn hochmütig mit den Worten ab: „Ich habe das ‚Kol Nidrei‘ schon gespielt, lange bevor sie es komponierten.“ Denkbar wäre das nur, falls der Künstler seinem Instrument bei irgendeiner früheren Gelegenheit die zwei originalen hebräischen Melodien entlockt hätte, die Bruch dem getragenen Adagio zugrunde legte. Der damals 42-Jährige – später gerade dieses Stückes wegen, eigener antisemitischer Anwandlungen zum Trotz, von den Nazis für einen Juden namens Baruch ausgegeben – hat die überlieferten Tonfolgen in ein sanftes Lied verwandelt, so beschwörend schwermütig wie befreiend. 1880 war das – da stand solcher Liebreiz und Wohllaut mit der Musikwelt durchaus noch in Einklang.