55. Hofer Filmtage
Über die Liebe zu Objekten
Zum Abschluss des Festivals: Wann holt einen die Erdenschwere auf den Boden der Tatsachen herunter? Ein junges Filmemacher-Duo verfolgt eine Mittdreißigerin, die „schwerelos“ durch ihr Singleleben trudelt und dabei den Halt an den Mitmenschen verliert.
Von Michael Thumser
Hof, 2. November – Im Jahr 2007 lächelte die Republik gerührt über einen Schwan aus Münster, der sein Herz an ein Tretboot verloren hatte. Dergleichen kommt, kein Witz, auch unter Menschen vor. Es gab sogar mal jemanden, der die Berliner Mauer heiratete: In den Siebzigern entbrannte jene letztlich tragische Liebe in einer Schwedin; 1978 gab sie dem Bollwerk das Jawort und fiel naturgemäß in eine tiefe Depression, als der „Antifaschistische Schutzwall“ 1989 fiel.
Die Geschichte ist belegt. Folglich darf man, so schwer es fällt, auch glauben, wovon Pascale Egli und Aurelio Ghirardelli in ihrer Kurz-Doku „Ding“ erzählen – von der Liebe zu Dingen statt zu Menschen. Objektophilie nennt die Psychologie das wunderliche Phänomen. 22 Minuten lang offenbaren zwei Frauen den beiden Zürcher Kunststudenten ihre Herzensbindungen zum Notenpult eines Bechstein-Flügels, zum Terrassendach in Nachbars Garten. Ganz empfindungsvoll sprechen sie darüber, ganz ernsthaft hören die Regisseure zu. Gefühle, über die man staunen darf; sie zu unter- oder gar geringzuschätzen, unterstehen sich die Filmemacher nicht. Eine Moderatorin der Hofer Filmtage (die am Sonntagabend zu Ende gingen) gibt verständnisvoll die Devise aus: „Wo die Liebe hinfällt …“
Manchmal trifft die Liebe knapp daneben. Wie Objekte benutzt Maria die Männer in ihrem Bett und erschrickt, als sie feststellt, dass es so manchem Zufalls- und Durchgangslover seinerseits genügt, sich bei ihr wie bei einem Ding Befriedigung zu holen. Brave Bürger könnten meinen, Maria wolle nicht erwachsen werden. Sie selbst beansprucht einfach, als Single ganz sie selbst zu sein und allein sich selbst zu leben. Mit Mitte dreißig ist sie sich ihrer Erfahrung und strengen Strahlkraft wohlbewusst, lange Clubnächte liebt sie und ist, ohne ein „Druffi“ zu sein, bei rauschhaften Raves auch schon mal gern auf Droge.
Ihre Freundinnen, früher, waren ungefähr wie sie. Heute sind sie anders: In einigermaßen festen Bindungen leben sie, durch Pflichten geerdet, denn sie haben oder erwarten Kinder und akzeptieren, dass eine Familie ein geordneter Zustand sein sollte. Maria hat ihre Vogelfreiheit – und hat irgendwann nichts und niemanden mehr. „Verpiss dich“, befiehlt ihr Juno (Julia Hartmann), die einst engste, nun schwangere Vertraute, nachdem Marias erotische Hemmungslosigkeit sie vor den Kopf gestoßen hat. „Du bist wie ein Virus. Du steckst andere Menschen mit deinem Scheißleben an.“ Und ein Großmaul, nach einem heftigen Dreier, schickt sie auf die Straße zurück, als wär sie eine „Hure“. Schwerelos, wie ein Schwan durchs Wasser gleitet, möchte Maria durchs Leben treiben, während allerdings ihre Anziehungskraft allmählich versagt: Man will sie nicht lang bei sich haben.
Eine kühle, absichtsvoll unbequeme Studie in Einsamkeit entrollen Regisseur Eike Weinreich und sein Ko-Autor und Kameramann Alexej Hermann in knappen Worten und sachlichem Schwarz-Weiß. „Schwerelos“ ist kein schwieriger Film, vielmehr eine locker verknüpfte, fast beiläufig sich fortsetzende und schließende Reihe von Situationen und kleinen, mitunter wie improvisierten Interaktionen, eine untergründig sich anspannende Kette von Porträts einer Frau, die nicht unbedingt zur Sympathieheldin taugt. Gleichwohl zwingend schlägt ihr Hedonismus in Traurigkeit um. Als Vakuum erweist sich Marias scheinbar pralles Leben, ihr Panzer erschlafft und wird durchlässig für unvermuteten Schmerz. Erdenschwer geht sie zu Boden.
Ganz auf sie und auf wenige Menschen um sie fokussierten die Filmemacher ihr Interesse. Schauplätze, ob Club, Schlaf- oder Wohnzimmer, bleiben eng und werden nur angedeutet kenntlich. Maria treibt nicht, sie trudelt durchs Leben, nicht als schwereloses, sondern richtungslos schwebendes Wesen ohne sichernde Bodenhaftung und nährendes Substrat. Aber auch von einer Wende wird erzählt: Als die Busenfreundin, die sie hart von sich stieß, ihr ungeborenes Kind verliert, kehrt Maria zu ihr zurück, in der Einsicht, dass es nun an ihr ist, für jemand anderen da zu sein. Eine zeitweilige Notlandung? Vielleicht der Aufstieg auf eine neue Lebensstufe. Das Schlussbild, weit und gelöst, ist farbig.
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55. Hofer Filmtage
Das Mittel zur Macht
Ein nettes Mädchen geht zur Polizei und erliegt dort dem Grauen vor der Gewalt wie deren Faszinationskraft. Kann man ein guter Polizist sein und ein guter Mensch bleiben? Auch Nina Vukovics tiefgehender Cop-Thriller „Am Ende der Worte“ beantwortet die Frage nicht; umso dringlicher aber stellt er sie.
Von Michael Thumser
Hof, 1. November – Polizei und Gewalt stehen fatal in einem doppelten Verhältnis zueinander, einem legitimen und einem verhängnisvollen; und sie bewegen sich im Teufelskreis. Polizisten üben das staatliche Gewaltmonopol aus und werden selbst Opfer von Gewalt; je häufiger und brutaler dies geschieht, desto stärker wächst ihre eigene Gewaltbereitschaft.
„Die Gefahrengemeinschaft der Polizei ist immer auch eine Schicksalsgemeinschaft“, schreibt Rafael Behr von der Akademie der Polizei in Hamburg. Der Kriminologe hat in den öffentlichen Diskurs auch hierzulande den Begriff der cop culture eingebracht: Damit meint er eine auf Abgrenzung bedachte, stark Männlichkeits- und Körper-betonte Subkultur der Beamten. „Frauen haben darin einen Platz und können sich in ihr bewegen“, schreibt Behr in einem Essay, „aber sie gestalten sie nicht aktiv mit oder um.“ Davon erzählt Nina Vukovics fesselnd unbehagliches Thrillerdrama „Am Ende der Worte“.
Während der Stoffentwicklung und des Drehs stand das Team um die Regisseurin, die Drehbuchautorin Lena Fakler und den Produzenten Linus Günther mit Rafael Behr in dauerndem Kontakt, wie Vukovic dem Hofer Festivalpublikum mitteilt. Die Produktion, ein Schwergewicht im deutschsprachigen Programm der am Sonntag zu Ende gegangenen 55. Filmtage, will, wie man ihr ansieht, so genau und gerecht wie möglich, zugleich so kritisch und unverhohlen wie nötig über Gewalt durch die Polizei und gegen sie berichten.
Die Protagonistin Laura, abgebrochene Jurastudentin, tritt, gläubig von idealistischen Phrasen beseelt, in eine Hamburger Einheit der Bereitschaftspolizei ein. Behütet aufgewachsen, jung und ein bisschen naiv gerät sie von einem Tag auf den anderen in eine nervenaufreibende Mischatmosphäre, die Experte Rafael Behr als „bipolar“ beschreibt und Neels Feils Kamera wie für einen Dokumentarfilm einfängt: Phasen enervierender Tatenlosigkeit werden plötzlich von Alarmfahrten unterbrochen. Die führen die unerfahrene Laura und ihre zynisch abgebrühte, nicht mehr lang fackelnde Truppe zu grausigen oder bedrohlichen Abseiten des bürgerlichen Lebens, zu einem Selbstmörder und in eine „Drogenhöhle“, zu einer wüsten Demo, in die sie gepanzert wie in die Schlacht eines Bürgerkriegs ziehen, zu einer Massenprügelei unter Migranten. „Die Leute“, tobt Kollege Lupus (Ludwig Trepte, doppelgesichtig) nach einer besonders krassen Intervention, „müssen begreifen, dass Handeln Konsequenzen hat.“
Manchmal, sagt der Einsatzleiter (André Hennicke), „helfen Wörter“ im Umgang mit Gesetzesbrechern, aber „manchmal hilft keine Dienstanordnung“. Dann taugt den Polizisten nur Gewalt. Haargenau gleicht sich ihr Jargon dem herausgebrüllten Vulgärslang der Dealer und Schläger an, denen sie hinterherhetzen. Ein Beamter redet von „Mitleid“, nur dürfe man „es nicht so nah an sich ranlassen“: „Es ist halt der Job.“ Doch auch der Dienst, sobald legitimes Handeln zum brachialen Übergriff, zur tödlichen Voreiligkeit missrät, zeitigt „Konsequenzen“: Laura schießt auf einen Afghanen – die Truppe vertuscht den Vorfall, deckt sie zunächst im eigenen Interesse und stellt sich rabiat gegen sie, als sie dem Druck von Selbstvorwürfen und Panikattacken nachzugeben und die Wahrheit zu bekennen droht.
„Die größte Gang in Deutschland ist die Polizei“, sagt in Hof einer aus dem Ensemble des Films, in dem die Dienstwaffe als zentrales Symbol eines gesellschaftlichen und seelischen Dilemmas fungiert. Ohne die Aussicht auf eine unvoreingenommene Antwort verhandelt die Geschichte die – fürs Gewaltmonopol des Staates unausweichliche – Frage, ob ein „guter Polizist“ ein „guter Mensch“ sein und bleiben könne. Laura, von Lisa Vicari mit einem Höchstmaß an Sensibilität, äußerer Belastung und innerer Zerrissenheit gespielt, ist im Kern eine Sanfte, Liebe; und doch lässt sie sich anfixen von dem Machogehabe und den Mackerwerten in ihrer von robusten Männern dominierten Einheit. „Hilfe“ brauche sie nicht, sagt sie schneidig, frauliche Unterstützung lehnt sie ab.
Sie will zum Team gehören und lässt schon deswegen keinen der Alkoholexzesse aus, bei denen die Beamten runterkommen, indem sie sich aufputschen, bis Übel, Angst und Schuldgefühle im Nebel des Vollsuffs abtauchen. Mit schüchternem Stolz nimmt Laura Zuspruch entgegen, wenn ihre Tapferkeit gelobt wird. „Das Erste“, was sie für den Job hat „lernen müssen, war Gewaltfähigkeit“, und die Pistole, das gewaltsame Mittel zur Macht, begeistert auch sie, ruht doch in ihr verborgen die rechtsfreie Option, gefährlich und überlegen zu sein und den eigenen Willen auch jenseits der Legitimität durchzusetzen.
Aber Laura weiß auch – und erfährt es grausam an sich –, dass, wer sich dem Korpsgeist der „Gefahren-“ und „Schicksalsgemeinschaft“ widersetzt, die „Kosequenzen“ tragen muss: auf einmal allein ist und zum Nichts und Niemand wird. Am stummen Ende, als alle Wörter gesagt sind, zeigt die Schlusseinstellung, wie sie davongeht, die Waffe kraftlos in der schlaffen Hand: entmachtet, machtlos, ohnmächtig.
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55. Hofer Filmtage
Doppelt in der Klemme
Allen Autisten, ungeachtet vieler Unterschiede, ist eins gemein: „Sie gehören nicht ‚dazu‘ “, sagt Regisseur Max Fey. In seinem Drama „Zwischen uns“ kämpft eine Mutter tapfer und geduldig für die Liebe zu ihrem krankhaft selbstbezogenen Kind.
Von Michael Thumser
Hof, 31. Oktober – Schon lange vor dem Dreh hat sich der Regisseur eingehend mit dem Thema seines Films beschäftigt. Es gebe, sagt Max Fey, ganz unterschiedliche Arten von Autisten, „ihnen allen aber ist gemein: Sie gehören nicht ‚dazu‘.“ Als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ durch eine „lebenslange Störung des zentralen Nervensystems“ klassifiziert die Medizin die Krankheit offiziell, nicht freilich als Geistesschwäche. An Herz mag es den Betroffenen mangeln, an Köpfchen keineswegs.
Felix, das jugendliche Problemkind des Films, ist blitzgescheit und weiß weit mehr als viele andere im selben Alter. Aber er weiß beim Mienen-Spiel mit seiner Mutter vor dem Spiegel deren Gesichtsausdrücke nicht zu unterscheiden: „Was bedeutet das?“, fragt Eva ihn fröhlich und grinst. „Traurig“, rät der 13-Jährige. Starr bleibt sein eigenes Gesicht. Nur wenn er, schockierend plötzlich, in einem Tobsuchtsanfall explodiert, verzerren sich seine Züge. Vor Hass? Wahrscheinlich vor Verzweiflung.
In sparsam entwickelten Episoden erzählt Max Fey eine verzweifelte Liebesgeschichte. Eva, alleinerziehend, sieht sich dauernd ge- und mehr und mehr überfordert von dem heranwachsenden, immer ungebärdigeren, kaum noch zu kontrollierenden Sohn; trotzdem will sie ihn bei sich, in ihrer nestwarmen Nähe behalten. Tiere mag Felix, verletzte, tote und lebendige, gegen Menschen aber schottet er sich ab. Im Gymnasium stößt er Mitschülerinnen und -schüler durch seine Absonderlichkeit ab und ängstigt sie durch seine Aggressivität, bis sie ihm die „Blaue Karte“ zeigen; sie besagt: Er darf „nicht dazugehören“. Zu Pelle aus Jütland (Thure Lindhardt) will er gehören: Indem der Fisch kochende Gemütsmensch den Jungen nicht als Sonderling verdächtigt, sondern wie selbstverständlich halb brüderlich, halb väterlich mit ihm umgeht, findet er einen Draht zu ihm. Zu Eva auch: Erst kameradschaftlich, dann unaufdringlich zugetan nähert er sich ihr.
Aller Sorge, Beschwernis, Unkalkulierbarkeit zum Trotz weist der Regisseur dem Dreierbündnis wenigstens die Richtung; wenn er auch offen lässt, ob es den Partnern gelingen kann, sie einzuschlagen. Mit „Zwischen uns“ glückte Max Fey ein gewichtiges Beziehungsdrama mit schwerwiegender Problematik – doch entrollt es sich im ungewöhnlich leichten Spiel eines fabelhaften Ensembles. Behutsam und genau, mit spürbarer Sympathie, dabei nicht vorbehaltlos zeichnete Fey die Figuren, ohne den ‚Kranken‘ oder die ‚Gesunden‘ zu denunzieren und ohne den Ernst der immer brisanteren Lage zu beschönigen.
Fest verschließt sich der imponierende – und tatsächlich erst 13-jährige – Jona Eisenblätter als Felix in einer unzugänglich eigenen Welt, aus der er nur mit größter Vorsicht herauszutreten wagt, stets abwehrbereit. Und in der er auch schon mal die Mutter als Feind identifiziert: Bewundernswert natürlich begibt sich die zart, gleichwohl stabil gebaute Liv Lisa Fries in die doppelte Klemme, in der Eva steckt. Zum einen setzt der Druck im Beruf dem dünnen Eis ihres harmonischen Heims zu; zum andern sieht sie sich tagtäglich als verlässliche Bezugsperson ihres lenkungsbedürftigen, weil wetterwendischen Jungen in der Pflicht und muss doch als Opfer seines Jähzorns den blutenden Kopf hinhalten. Die beweglichen Züge ihres selbst noch jugendlichen Gesichts bekunden die Mühe einer Liebe, von der grenzenlose Geduld, Leidens- und Belastungsbereitschaft verlangt sind.
In einer Atmosphäre der Melancholie lassen Regisseur Max Fey und Michael Gutmann, sein Co-Autor, Mutter und Kind aneinander scheitern. Gleichzeitig indes bekräftigen sie das Recht der Mutter als Frau: Eva und Pelle dürfen – und werden vielleicht – nicht einfach nur „dazu“ gehören, sondern zueinander.
■ Weitere Vorstellung: Sonntag, 18 Uhr, Casino.
■ Der Kinostart ist für das zweite Quartal 2022 vorgesehen.
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55. Hofer Filmtage
Paare im Stresstest
Die Regisseurin Isabel Kleefeld und ihr Kollege Kida Ramadan führen Menschen in emotionale Ausnahmesituationen: In „Sugarlove“ gerät eine lange, gute Ehe durch junge Liebe in Gefahr; in „Égalité“ lernt ein verzweifelter Vater, dass keine Unterschiede machen darf, wer Gleichbehandlung fordert.
Von Michael Thumser
Hof, 30. Oktober. - Ein Mädchen wird an den Mandeln operiert; eigentlich eine Bagatelle. Doch als die 14-jährige Leila aus der Narkose erwacht, kann sie nicht mehr sehen. Die Ärzte rätseln. Es könnte dafür, spekuliert einer, zwei Gründe geben: „neurologische, dann spielen die Nerven verrückt; oder psychosomatische, dann spielt die Seele verrückt“. Bei Attila, dem Vater, gerät beides, Nerven und Seele, außer Kontrolle. Ihn und seine Familie platziert Regisseur Kida Ramadan in einer forciert ‚heilen‘ Welt, unter der indes von einem Tag auf den andern der Boden schwankt. Oder tat ers schon längst?
„Égalité“ hat der – seit der Serie „4 Blocks“ kultartig gefeierte – Schauspieler seinen dritten eigenen Film genannt, warum auch immer mit dem französischen Wort für Gleichheit, denn von der will er erzählen; genauer: von Menschen, denen Gleichheit verwehrt wird. Bis sich unversehens die leidende Leila in den Vordergrund drängt, war ihr jüngerer Bruder Nuri, als künftig starker Mann, Attilas Held. Die Chirurgen klagt der Vater (Burak Yiğit) an, sie behandelten ihn und die blinde Tochter aus rassistischen Gründen schlecht. Umgekehrt scheut er sich nicht, die Ärzte, vor Verzweiflung tobend, wie gewissenlose Gauner anzuschreien.
Indem Kida Ramadan den überforderten Attila einer plötzlichen Extremsituation aussetzt, deckt er auf, dass seine Stärke als Mann und die Unzerbrechlichkeit seiner Familie nur auf Behauptungen gründen, nicht auf der „Augenhöhe“, die Attila für sich im Umgang mit anderen fordert. „Du machst alles kaputt“, warnt ihn Aya (Susana Abdul-Majid), seine fügsame Frau, und stellt sich ihm beherrscht entgegen als Beispiel für Geduld, Vernunft, Ergebenheit ins vielleicht Unabänderliche. Nicht strahlend als Erlöserin, doch als krisenfeste Trösterin setzt sie heilsam seine fast zerbrochene Welt instand. So endet der Film anders, als er begonnen hat: Ramadans Augenmerk gilt Attila, seine Hingabe indes gehört Aya - ihre Stärke ist die des Felsens, der in der Brandung ruht.
*
Diesmal will es im Bett nicht so recht klappen; eigentlich eine Bagatelle. Aber die Gründe liegen tiefer. Julia und Patrick, wohlhabend und erfolgreich in ihren Berufen, geben ein ansehnliches mittelalterliches Ehe- und Liebespaar ab; nur leider ist Julia nach dreißig Ehejahren „die Lust weg“, und er, der viel Sex braucht, hat Angst, „dass sie sich verlieren“. Darum rät ihm seine Frau zu, sich ab und an mit einem Sugarbabe zu treffen. Unter „klar definierten Bedingungen“, versteht sich, datet er eine besonders interessante jener jungen Frauen, die, ohne Prostituierte im eigentlichen Sinn zu sein, auf Sugardaddys stehen und sich auf ihre Art für „Geschenke“ bedanken. Anfangs zögernd, bald immer beflügelter verabredet sich Patrick mit der hübschen, freien und freizügigen Claire. Sie mache nur, sagt sie, was sie „am liebsten macht: andere Menschen glücklich“. Doch das Unglück, das in „offenen“ Beziehungen naturgemäß lauert, trifft zuerst sie selbst.
Ein bisschen von Adrian Lynes „Verhängnisvoller Affäre“ und ein wenig von Barbet Schroeders „Weiblich, ledig, jung sucht …“ steckt im Plot, den die Drehbuchautorin Silke Zertz für „Sugarlove“ ersonnen hat. Allerdings haben sie und Isabel Kleefeld als Fernsehfilm-erfahrene Regisseurin den Grundstoff dann doch durchaus eigenständig in den erzählerischen Rahmen einer polizeilichen Ermittlung eingepasst undfür „Das Erste“ zu einem Krimi der unkontrollierbaren Gefühle ausgearbeitet. Mit Barbara Auer und Fritz Karl als Eheleuten sowie Cosima Henman als mädchenhaft-magnetischer Claire, die mehr sein will als nur ein „outgesourcter“ Unterleib, agiert ein sowohl betont gut aussehendes als auch exquisit nuancenreiches Ensemble.
Konventionell, gleichwohl souverän für beste TV-Sendezeiten inszeniert, ergründet die SWR-Produktion lebensklug die Verführbarkeit gerade derer, die sich beieinander unumstößlich sicher und ihr Zusammenleben felsenfest in ihren Händen wähnen. Folglich nimmt die Geschichte, als sie absehbar auf ein thrillergemäßes Ende zuzulaufen scheint, überraschend eine zwischenmenschlich weitaus interessantere Wendung. Unter gut getroffenem Alltagsrealismus zeigt sie als dreieckige Versuchsanordnung, dass Sex ohne Liebe schwierig wird, sobald sich jemand dabei Besseres erhofft als nur Genugtuung durch tadellose Körperfunktionen. Liebe ohne Sex hingegen kommt gar nicht mal so selten vor.
■ Weitere Vorstellungen: „Égalité“: Samstag, 12 Uhr, Scala 2; „Sugarlove“: Sonntag, 20.45 Uhr, Classic.
■ Kinostart von Kida Ramadans „Égalité“ am 13. Januar. – Der Film im Internet: hier lang.
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55. Hofer Filmtage
Stiller Alarm im Kopf
Staunenswert sicher fühlt sich ein junger Regisseur in ein Hauptschrecknis des Alterns ein: Micon Gerthold schildert in „Lethe“ die Geschichte und das Schicksal eines dementen Familienpatriarchen so schonungslos wie respektvoll.
Von Michael Thumser
Hof, 29. Oktober – Über „hektische Drehtage im Forsthaus Edelburg“ informierte vor einem Jahr die Iserlohner Kreiszeitung und brachte dazu ein buntes Foto vom Set. Der Film, dem die Reportage galt, ist indes das krasse Gegenteil dazu: In Schwarz-Weiß hat Micon Gerthold ihn inszeniert, und von Hochdruck oder Aufgeregtheit kann keine Rede sein. „Lethe“, die imponierend ungewöhnliche Diplomarbeit des 31-jährigen, an der Ruhrakademie ausgebildeten Regisseurs, nimmt sich eines harten Stoffs an, jedoch in aller Stille.
Den Titel mag man für prätentiös halten. Lethe heißt ein Fluss durch die Unterwelt der griechischen Mythologie: Wer von seinem Wasser trinkt, sinkt in tiefes Vergessen, worin Segen oder Fluch liegen kann. Wofür steht das sanfte Titelwort in Gertholds Film? Egon, ein alter Herr, hat sich offenkundig sattgetrunken. In Unterhemd und -hose tappt er durchs Haus und versteht die Welt nicht mehr, weil er sie nicht wiedererkennt. Vor dem Fernseher winkt er einer Frau auf dem Bildschirm zu. Auf der Couch spricht er mit Personen, die nicht da sind. Wenn der Rentner von früher erzählt – von makabren Zwischenfällen bei der Arbeit, die er noch immer herrlich komisch findet –, so gelingt ihm das bündig und ausführlich, bis er über ein Wort stolpert, das ihm nicht einfallen will, oder die Namen der Beteiligten durcheinanderbringt. „Fritz“ oder „Franz“? Wer auch immer, „es gab immer was zu lachen“. Inzwischen ist ihm und seiner Familie das Lachen vergangen. Egon ist dement, und „es wird immer schwieriger“ mit ihm.
Worüber aktuell das große Kino in Florian Zellers Drama „Father“ mit dem überwältigenden Hauptdarsteller Anthony Hopkins berichtet, nämlich vom geistigen Untergang eines unheilbar hilflosen Menschen, darüber berichtet Micon Gerthold auch, kaum minder illusionslos, eindringlich und eindrucksvoll – hingegen ganz unabhängig und ganz anders. Mit akribisch abgemessenen Mitteln eines sparsam dokumentierenden Minimalismus bescheidet er sich: Seinen Protagonisten porträtiert er nicht in sich entwickelnden Szenen, sondern – bei Totalverzicht auf Musik – in mal kurzen, mal langen, fast unbewegten Einstellungen im beengenden TV-Format vier zu drei. Für nüchterne, ernüchternde Schatten und Schattierungen statt für komponierte Kolorationen entschieden sich der Regisseur und sein Kameramann Simon Federlein. Den gedrungen-massigen Hauptdarsteller Gerhard Fehn lässt Gerthold unbeholfen durch monochrom helle, karge, akustisch wie ausgeräumte Zimmer und Flure irren, wo sich jeder Grauton zur befremdlichen Struktur, jedes Geräusch zum unheimlichen „Alarm im Kopf“ verwandelt. Manchmal sitzt Egon stumm und starr da, als grüble er, wer oder was er ist.
Seiner Familie ist er eine unangenehme Last. Das wäre menschlich immerhin verständlich, beobachtete man die Ehefrau und die erwachsenen Söhne nicht dabei, wie sie seine Krankheit unnachsichtig ignorieren, als wäre sie bockbeiniger Eigensinn. Als störendes Inbild eines Tattergreises drängen sie ihn aus ihrem Gesichtsfeld heraus. Will Egon nicht spuren, ohrfeigt ihn seine Frau oder sperrt ihn in den Keller. Zunehmend empört sich die Zuschauerin, der Zuschauer über solche Unbarmherzigkeit – zugleich aber werden Signale immer deutlicher, dass alte, hohe Rechnungen offenstehen: Während Egon einst Kollegen von seiner „perfekten Familie“ vorschwärmte, machte er zu Hause als Gewaltherrscher den Seinen „das Leben zur Hölle“. Nun fällt die Lieblosigkeit auf ihn, den Wehrlosen, zurück.
Zu bestaunen ist in „Lethe“, wie furchtlos und sensibel, rücksichtsvoll und qualifiziert sich ein noch junger Regie-Anfänger in ein Hauptschrecknis des Alterns und Alters einfühlt und wie genau, wie eigenwillig, wie unbedingt schlüssig er es darzustellen vermag. Ohne aufdringlichen Mitleidsappell oder sentimentale Dramatik hat er fünf Viertelstunden Ödnis unentrinnbar mit innerer Spannung aufgeladen. Manche Episode wirkt skurril und ist zum Lachen, jede aber verstört und macht Angst. Von einem grundsätzlichen Respekt noch bei peinlichen Episoden erfüllt, beschreibt Micon Gerthold eine zu Persönlichkeitsresten zerfallene Existenz im entleerten Zwischenraum einer Einsamkeit, die alles andere als ein Segen ist. Einer, der lang die Schuld der Lebenslüge auf sich lud, erhält durch den Schluck aus dem Lethe-Fluss der Totenwelt am bitteren Ende eine zweifelhafte Absolution: den Fluch des Vergessens.
■ Weitere Vorstellungen (zusammen mit Franziska Pflaums 38-minütigem, sehenswert ungewöhnlichem Kurzfilm „Im Universum geht keiner verloren“): Freitag, 12.15 Uhr, Scala 3, und Samstag, 23 Uhr, Central.
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55. Hofer Filmtage
Nautischer Nonsens
Der Premierenreigen beginnt mit „Das Schwarze Quadrat“. Regisseur und Autor Peter Meister: „Ich hatte mir vorgenommen, einen Film zu machen, der einfach extrem unterhaltsam ist.“ Reicht das für einen Eröffnungsfilm?
Von Michael Thumser
Hof, 28. Oktober – Ein Mann mit viel Geld erwirbt ein ungewöhnliches Stück moderner Kunst: Weiße Streifen zeigt es - auf weißem Grund. Ein Freund lacht ihn aus: Er habe „Scheiße“ gekauft. Ein anderer widerspricht: Es sei „Scheiße, aber mit einem Gedanken dahinter“. So ereignet sich das in Yasmina Rezas Bühnen-Welthit„Kunst“ von 1994. Ein solches Bild gibt es wirklich: das „Weiße Quadrat auf weißem Grund“. 1917 hat der Russe Kasimir Malewitsch es gemalt, zwei Jahre nach jenem die Kunst revolutionierenden „Schwarzen Quadrat“, das in der gleichnamigen Filmkomödie zum blutig umkämpften Streitobjekt wird.
Als mit Peter Meisters Langfilmdebüt, vor stark amüsiertem Publikum, am Dienstag im Saal eins des Central-Kinos die 55. Internationalen Hofer Filmtage eröffnet wurden, bedauerten Regisseur und Filmtage-Chef Thorsten Schaumann, dass Komödien auf deutschen Festivals seit Langem ein Außenseiterdasein führten. Nun solls anders werden: „Es ist“, sagt Meister nach der Uraufführung, „Gott sei Dank nicht passiert, dass ich was Ernstes machen wollte, und es ist versehentlich was Lustiges daraus geworden.“
Nein, dem belangvollen Arthouse-Kino hat er nicht zugearbeitet. 1987 kam der sympathische Künstler zur Welt, zwei Jahre nachdem Doris Dörrie mit „Männer“ in Hof die Welle der „Neuen deutschen Komödie“ entfesselt hatte; dennoch scheint er nahtlos an den Boom von damals anschließen zu wollen. Von überforderten Männern – und von Frauen, die mal so, mal so ihre Netze nach ihnen auswerfen – erzählt auch Meister, indem er ein kurioses Kunstdiebe-Duo krachend scheitern und wieder ehrlich werden lässt.
Vincent und Nils, prachtvoll gespielt von Bernhard Schütz und Jacob Matschenz, haben Malewitschs berühmtes Bild „Das Schwarze Quadrat“ geraubt und auf einem Kreuzfahrtschiff versteckt. Um nicht aufzufallen, tauchen sie als Doubles von David Bowie und Elvis Presley in einer freudlosen Entertainer-Truppe unter. Während der Ältere, Vincent, vor fassungslosem Publikum piepsend versagt, entdeckt sein junger Komplize unverhoffte Talente des Singens und der Sinnlichkeit an sich. Alsbald ihrerseits bestohlen, aber schnell mit Kopien des Sechzig-Millionen-Gemäldes bei der Hand, müssen sich die beiden einer mordgierigen Konkurrentin (Sandra Hüller) erwehren. Eine Verfolgungsjagd wie im Hamsterrad, gilt doch an Bord auf hoher See: „Du kommst hier nicht weg.“
Dystopischer Irrgarten
Einen „dystopischen Irrgarten“ nennt der Regisseur in Hof den klug gewählten Schauplatz, auf dem sich ein Verwechslungsspiel zwischen Originalen und Fälschungen unüberschaubar verwirrt. Einfach nur „extrem unterhaltsam“, sagt Meister, wollte er seine Kreuz- und Querfahrerkomödie, und so ufern stürmische, auch schon mal wässrige Gags, absurde Kurskorrekturen und burleske Beinahe-Schiffbrüche kreuz und quer aus. Vincent entpuppt sich als zeitlebens missachteter Maler, der den Kunstbetrieb hasst, sich aber mit gesäuseltem Kunstsprech verführen lässt („Wir brauchen Werke, die stark sind, präzise und für immer unverständlich“). Während er sich als hartgesottener Profiganove aufspielt, bescheidet sich Nils mit der menschlich und erotisch anziehenden Rolle des „süßen“ Trottels mit Samt in der Stimme und – bei hartnäckig mäßigem bis saumäßigem Wetter – Sonne in der Seele.
Um keinen Lacher liegenzulassen, durchzog Meister den Trubel mit Dialogen von pikanter Zweideutigkeit, mutigen Kruditäten und ein paar Unappetitlichkeiten. Bedrängt fühlt man sich von den Gesichtern: Die zeigt Felix Novo de Oliveiras Kamera so hartnäckig in Nahaufnahmen, dass sich für den widersprüchlich voluminösen und doch einengenden (Schiffs-)Raum wenig Gelegenheit ergibt, sich zu öffnen und zu schließen. Hier und da holpert das Vergnügen oder tritt unschlüssig auf der Stelle, fehlt es doch an souveräner Spannungsdramaturgie. Schließlich läuft, während einer schwerkriminellen Zaubershow im Bordtheater, der nautische Nonsens vollends auf der Sandbank der Klamotte auf.
Alles für die „Unterhaltsamkeit“: Ihr zuliebe versenkt Peter Meister fast jede Andeutung eines ein wenig tieferen Sinns, womit Doris Dörrie, damals, deutscher Lustigkeit aus den Untiefen half: Man kann ihre „Männer“ für einen schönen Scheiß halten, aber doch ists einer „mit einem Gedanken dahinter“. Folglich geht es dem Betrachter mit Meisters kenterndem Klamauk – wohlgemerkt dem Eröffnungsfilm des Festivals –, wie es manchen mit Malewitschs „Weißem Quadrat auf weißem Grund“ gehen mag: Vielleicht ist ja doch zu wenig Kunst darin.
■ Weitere Vorstellungen: Donnerstag, 12.45 Uhr, Scala; Sonntag, 20.30 Uhr, Cinema.
■ Kinostart am 25. November.
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Im Kino: „James Bond 007 – Keine Zeit zu sterben“ (England/USA 2021, Regie: Cary Joji Fukunaga, 163 Minuten)
Von Michael Thumser
5. September – Noch hat man keine fünf von den sage und schreibe 163 Minuten gesehen, da ahnt man schon: Es wird sehr anders; es wird sehr spannend; und es wird, soweit sich das über einen „007“-Film sagen lässt, sehr schön.
Denn noch bevor es richtig losgeht, verheißen bereits die kunstvoll komponierten und choreografierten Bilder der ungewöhnlichen Vorgeschichte, welche visuellen Überwältigungen Linus Sandgrens Kamera während der kommenden zweidreiviertel Stunden bereithalten wird. So viel Zeit nimmt sich Regisseur und Koautor Cary Joji Fukunaga für die seit April 2020 überfällige Fortsetzung der erfolgreichsten Kinoserie aller Zeiten. „Keine Zeit zu sterben“ dauert noch einmal fünfzehn Minuten länger als „Spectre“, der von Sam Mendes inszenierte Vorläufer aus dem Jahr 2015. Schon damals riss die Spannung keinen Augenblick lang ab. Nun teilt sie sich überdies nach zwei Seiten tragfähig auf: in reihenspezifisch bleihaltigen Thrill und feuerspeiende Action einerseits; und andererseits in eine höchst problematische, aussichtslose Herzensaffäre und ein sattes Quantum Trostlosigkeit. Wer hätte das für möglich gehalten?
Zwar kehren sie wieder, die verwegenen Verfolgungsjagden und stupenden Stunts, zertrümmernden Zweikämpfe und grundstürzenden Stahlgewitter. Einem Kugelhagel nach dem andern entgeht der Unverwundbare fast schrammenlos, während er mit jedem Einzelschuss mindestens einen Gegner niederstreckt. Doch ungeachtet des üblichen Krawalls ist der Desperado während der sechs Jahre seit dem letzten Einsatz mutiert: „Die Welt hat sich verändert“, schrieb die taz schon vor Jahren, „also kann Bond nicht der Alte bleiben.“ Vor allem muss er unterm Eindruck der Me too-Bewegung auch seine Libido zügeln: Bei aller Witzigkeit haben die Autoren den Dialogen die sexistische Sprücheklopferei und ölige Anmache ausgetrieben und dem Helden den one-night oder one-hour stand madig gemacht. An die Stelle der virtuosen schnellen Nummer tritt nun eines Mannes langsame „Lösung von der Vergangenheit“ und das lange Gesicht des unglücklich Liebenden.
Das Innere nach außen
Bevor Daniel Craig als sechster Darsteller des Einzelkämpfers 007 endgültig seinen Abschied nimmt, verkehrt er Bonds vertrautes Psychogramm beinah ins Gegenteil, indem er das Innere des stahlhäutigen Haudegens nach außen kehrt. Dem Dauerbösewicht Blofeld (Christoph Waltz, neuerlich sardonisch lächelnd und gespenstisch sanft) dürfen die Betrachtenden glauben, wenn er den Agenten mit der weidlich ausgeschöpften „Lizenz zu töten“ wissen lässt, er, Bond, sei „schon immer besonders empfindsam gewesen“. Auf diese Diagnose wären Psychologen bei Connery und Moore, Brosnan und Konsorten nie gekommen. Nun aber, während Craigs letzter Vorstellung, ist zu erleben, wie der Hitzkopf abkühlt, um Feuer und Flamme für eine Frau (Léa Seydoux, wieder als Madeleine Swann) zu sein; es ist zu hören, wie der Höllenhund ihr mit tränenerstickt brechender Stimme seine vergebliche Liebe gesteht; sichtbar wird, wie seine raue Schale durchweicht bei der Begegnung mit einem Kind, das wohl seines ist. Immerhin treiben der Regisseur und das ausgefuchste Drehbuchteam Neal Purvis, Robert Wade und Phoebe Waller-Bridge den Rollenbruch nicht so weit, dass Papa James Windeln wechselt und Fläschchen wärmt.
Nein, der Alte ist er nicht mehr. Aber alt, irgendwie, ist er schon. Ruheständler gar: Vom Arbeitgeber, dem britischen Auslandsgeheimdienst MI6 fallen gelassen, entspannt er zurückgezogen in einem komfortablen Exil. Bis er erfährt, dass wieder mal ein extraschlimmer Finger daran geht, die Zivilisation zu beherrschen, indem er sie vernichtet: Diesmal hat sich der luziferische Lyutsifer Safin (Rami Malek) einen winzigen Krankheitskeim verschafft, mit dessen Einsatz er als selbst ernannter „unsichtbarer Gott“ die eine Hälfte der Menschheit in den Todfeind der anderen verwandeln will. Bekämpfung und Ausmerzung des Unholds folgen den bewährten Mustern – „es wird wie in alten Zeiten“, freut sich Bonds US-amerikanischer Kollege Felix Leiter von der CIA. Zugleich aber „wird es immer schwieriger, Schurken von Helden zu unterscheiden“, stammt doch der endzeitliche Erreger aus britischen Militärlabors, die ihn als Biowaffe heranzüchten, wohlgemerkt mit Billigung der Regierung.
Miss 007
Was den alten 007 auf den Plan ruft, ist nicht zuletzt der Umstand, dass es einen neuen gibt: eine neue. Das Unvorstellbare trat ein: Eine Agentin (Lashana Lynch) trägt inzwischen nicht nur seine markenzeichenhafte Nummer, sie hat obendrein das Zeug, ihn vollgültig zu ersetzen. Das kann er nicht auf sich sitzen lassen. Erst in Konkurrenz, alsbald im Bund mit ihr jagt er den satanischen Menschheitsschädling Safin um den halben Globus bis zu seinem Höllenort, einer ozeanischen Insel, dem Epizentrum seines irrwitzigen Angriffsplans. Kalt-gigantomane Architektur, wie erfahrene Fans der Reihe sie von den set designs des unvergessenen Ken Adam kennen und schätzen, beherbergt toxische Technik futuristischster Art und gesichtslose Sklaven, die ihr dienen müssen. Im Zentrum symbolisiert ein „vergifteter Garten“ die andere, spannendere Seite der Schönheit: die Unwiderruflichkeit des Todes, die Vollendung des Bösen.
Natürlich gräbt Bond den Garten um, auf seine Weise: mit Feuer und Flamme. Auch 2021 arbeitet er bedenkenlos mit den Mitteln des Massenmords. Doch sichtbarer als je soll er sich jetzt als im Kern gute Haut offenbaren, als Wolf, den die Wahrheitssehnsucht und ein angeborenes Rechtsgefühl einsam gemacht haben. In den Schafspelz schlüpft er nicht, doch über Bauchgefühl und Killerinstinkt obsiegen Kopf und Herz. Wird sich in ein paar Jahren ein derart revidierter James Bond abermals in ein 007-Himmelfahrtskommando stürzen können, um „nur das Übliche“ zu tun: die Welt zu retten? Oder müsste Craig eigentlich nicht bloß seinen, sondern überhaupt den letzten Bond gespielt haben? Das lodernde Finale wirft nicht allein die Frage auf, mit wem – ob Mann oder Frau – es weitergehen wird, sondern eine viel grundsätzlichere: Wenn ja, wie, wenn nicht durch ein Wunder? Connery und Lazenby, Moore, Dalton und Brosnan – sie alle kehrten der Reihe den Rücken, ohne sie infrage zu stellen. Craig tritt ab, als wärs der Jame- oder Bonxit.
Im Kino: „Dune“ (USA 2021, Regie: Denis Villeneuve, 155 Minuten)
Von Michael Thumser
Hof, 23. September – Erst nach zweieinhalb Stunden ist der Film zu Ende und war doch wohl nur ein Anfang. „Part One“ steht nach dem Titel (klein) auf der Leinwand, und wenn 155 Minuten später die Handlung mitten in einer Wüste abbricht, so fehlt zwar der Hinweis „Will be continued“ (Fortsetzung folgt); fest steht aber, dass es in absehbarer Zeit mit mindestens einem zweiten Teil weitergeht.
Von den „vielen Weltraumsagas“ soll „Dune“ sich trotzdem unterscheiden. „Was Ästhetik und Design betrifft, sollte der Film ganz eigenständig sein, ein leeres Blatt in der Geschichte“ der Science-Fiction, sagte Regisseur Denis Villeneuve in einem Interview mit der Zeit. „Und natürlich wollten wir uns von ‚Star Wars‘ lösen.“ Als Sand, nicht Öl im Getriebe des Genres inszenierte er das Wüstenepos; mit einiger Fortune, was selbst bei einem Könner wie Villeneuve („Arrival“, „Sicario“) nicht selbstverständlich war. Immerhin ist ein anderer Meister, David Lynch, 1984 mit seinem „Wüstenplaneten “ an dem Stoff in Ehren, aber krachend gescheitert.
Der Stoff: Der US-Schriftsteller Frank Herbert ersann ihn von 1963 an in einem Romanzyklus. Der Stoff, um den sich darin alles dreht, heißt Spice, und allerdings steckt weitaus mehr in ihm, als die deutsche Bedeutung des englischen Worts, Gewürz, vermuten lässt. Als Droge befähigt Spice das Bewusstsein, schier unbegrenzt interstellare Raumfahrt zu betreiben. Nur an einem einzigen Ort im Universum ist die Substanz zu finden und zu fördern, auf dem Planeten Arrakis – auch Dune, Düne, genannt –, dessen gesamte Oberfläche in brodelnder Hitze aus Wüste besteht. Wer den Wandelstern kontrolliert, hält folglich Wohl und Wehe des Universums in den Händen; eine übermenschliche Verantwortung. Übermenschen tragen denn auch den genreüblichen Konflikt des Guten gegen das Böse aus: Ein namenloser, ferner Imperator hat den braven Herzog Leto Atreides zum Kommandanten über den Planeten ernannt; die sinistren Harkonnen soll er ablösen, was denen nicht gefallen kann. Mutig bricht Leto von seiner Heimat Caladan auf, im Schlepp den Sohn Paul (Timothée Chalamet), einen von wahr werdenden Traumfetzen aus der Zukunft verwirrten, schönen Jüngling, und dessen Mutter Lady Jessica vom uralten Bene-Gesserit-Orden auserwählter Frauen. Auf Arrakis erweist sich, dass der Imperator die Parteien gegeneinander ausspielt und es dabei doch mit den Harkonnen hält. Hilfe kommt den guten Mächten von den Fremen, einem Volk Araber-ähnlicher Wüstensöhne und -töchter, die wissen, wie man in Sand und Hitze und trotz vierhundert Meter langer Wüstenwürmer überlebt.
Kenner klassischer Kino-Science-fiction-Sagas erkennen rasch, dass „Dune“ weniger Abstand zu „Star Wars“ hält, als der kanadische Regisseur vorgibt. Mehr freilich zählen die Abweichungen: Von der Comic-Buntheit, der aufgedrehten Abenteurerei, der testosterongesättigten Kampffliegerherrlichkeit der (womöglich gleichfalls von Herberts Romanen inspirierten) George-Lucas-Produktionen wollte Villeneuve nichts wissen. An ihre Stelle setzt er mondgroße Raumfahrzeuge in ungeschauten Formen, Maschinen, ausgedehnt wie Berge, kolossale Architekturen wie aus mythischer Frühgeschichte, Innenräume, aus Licht und Schatten beklemmend komponiert und mit scheinbar endlos viel Platz für Luft und Leere, dramaturgische Ruheflächen und mit mystischen Off-Kommentaren unterlegte Besinnungsinseln. Nicht Ideen, Intentionen und Gefühle zählen, sondern monumentale Schaueffekte von überwältigender Wucht, in denen sich die Akteure, zumal, wenn sie in Heerscharen auftreten, wie Geziefer verlieren. Dazwischen Details, die extravagant provozieren: Dolche und Schwerter, Schmuck-, Uniform- und überhaupt Kostümdesigns, die es entwicklungslos ins Jahr 10191 geschafft haben, Lücken in Naturgesetzen wie jenen der Gravitation, die auf der armen Erde des 21. Jahrhunderts noch für unverrückbar gelten – oder ein schottischer Dudelsackpfeifer.
Über die Figuren, die kaum zu Gestalten, nie zu Charakteren wachsen, verrät der Film so wenig wie David Lynchs Versuch, der vor bald vierzig Jahren zumindest durch gewagtes Stil-Recycling interessieren konnte: Gleichsam im Kleinen setzte sich seine Bildwelt aus Elementen des viktorianischen neunzehnten Jahrhunderts und des retrofuturistischen Steampunks zusammen. Ins umso Größere hat Villeneuve seinen Kosmos projiziert - und veräußerlicht: Außer einer freudlosen Frühstücksszene mit Mutter Jessica und Paul gibt es keinen intimen Moment; statt sich regender Seelen äußern sich herrisch starre Blicke. Viel wird nicht gesprochen, und wenn, dann so wohlerwogen, bedeutungsvoll, gedankenschwer, als ob es gälte, eine Magna Charta zu verlesen. Als klar wird, dass Paul zum „Mahdi“ der Fremen berufen ist, scharen sich die Sandkrieger wie Jüngerinnen und Apostel um ihn.
Die Heilsbotschaft, aus fiktiv-ferner Zukunft in die Gegenwart gerufen: Nicht Männer, sondern weise Frauen sind ausersehen, den Kosmos zu lenken; ein edles Volk darf gegen brutale Kolonisatoren in den „Heiligen Krieg“ ziehen; die misshandelte Natur wehrt sich gegen rücksichtslose Ausbeutung … Damit hat Villeneuve seinen weniger spannenden als kurzweiligen Genrebeitrag an der Schnittstelle zwischen Mainstream und Arthouse platziert. Vielleicht vermag er ja den Stoff in der Fortsetzung – den Fortsetzungen? – noch zu vertiefen, verfügt er doch über eine unerschöpfliche Bildfantasie und den Mut, auf popkornkinematografische Dauerstahlgewitter zu verzichten. Sollte indes auch er scheitern, dann nicht zuletzt wegen des vollständigen Mangels an Humor. So heiß der Wüstensand auf Arrakis kocht, so kalt sind die Menschen: steif wie Gefallene, trocken wie Skelette, ernst wie der Tod.
Im Kino: „The Father“ (Großbritannien 2020, Regie: Florian Zeller, 98 Minuten)
Von Michael Thumser
Hof, 2. September – Über Anthony, ihren alten Vater, sagt Anne, die Tochter, er sei „charmant, aber nicht immer“. Rüstig durchstreift der Witwer seine große, kultivierte Londoner Wohnung, ein gepflegter Grandseigneur, gutaussehend, wortgewandt, sehr selbstbewusst und altersgemäß eigenwillig. Anne lässt es zu, dass er sie herablassend, ja demütigend behandelt, erwartungsvoll ersehnt er den zärtlichen Besuch ihrer jüngeren Schwester Lucy, einer Malerin, für die er weitaus mehr empfindet. Lachhaft findet er Annes Behauptung, er habe eine Pflegerin nötig, mehr als eine hat er schon vergrault, die letzte, weil sie, wie Anthony zetert, ihm die Armbanduhr gestohlen hat und überhaupt ein „kleines Miststück“ war. Als die Uhr sich findet, könnte man meinen, dass in dem doppelgesichtigen Gentleman auch ein großer Kotzbrocken steckt. Dass er womöglich nichts dafür kann und wirklich nicht mehr allein zurechtkommt, lässt sich ahnen, als er Paul, den Schwiegersohn, nicht erkennt und wie einen Fremden aus seiner Wohnung weisen will. Die Wohnung aber ist gar nicht seine, sondern gehört Anne und ihrem Mann. Lucy, die entbehrte jüngere Tochter, wird Anthony nie wieder besuchen. Und wenn er auch behauptet, früher Tänzer gewesen zu sein, so war er in Wahrheit doch Ingenieur.
Anthony ist dement. Dem unübertrefflichen, für seine Darstellung Oscar-prämiierten Anthony Hopkins in „The Father“ dabei zuzusehen, wie er buchstäblich „den Verstand verliert“, die Orientierung in der wirklichen Welt und ebenso den roten Faden in ihren verwirrenden Spiegelbildern in seinem überforderten Kopf einbüßt, das geht mächtig an die Nieren, wenn es einem nicht das Herz zerreißt. Im letzten Bild, bevor die Kamera aus dem Fenster eines Pflegeheims in die windgeschüttelten Kronen laubstrotzender Bäume schwenkt, weint er wie ein kleines Kind hilflos an der Schulter einer milden Krankenschwester. Seinen mentalen Untergang inszeniert Regisseur und Autor Florian Zeller fast ausschließlich in Annes und Pauls Londoner Wohnung, und indem Ben Smithards Kamera den Figuren, allen voran Anthony, oft eng auf den Pelz rückt, wird die Zimmerflucht bei aller Weitläufigkeit zu seinem quälend klaustrophobischen Gefängnis, zugleich freilich zu seiner letzten sicheren Freistatt. Durch jene kaum gebrochene Einheit des Orts, auch durch die langen Einstellungen ereignet sich das filmische Kammerspiel des gefeierten französischen Autors fast wie auf dem Theater, was nicht verwundert: geht das Drehbuch doch auf ein vor neun Jahren in Paris uraufgeführtes Bühnenstück des vielgespielten Dramatikers zurück. Sein Kinodebüt beeindruckt tief sowohl durch mitfühlende Menschlichkeit wie durch die kunstvoll konsequente Destabilisierung der Wirklichkeit eines alten Menschen. Und durch die Courage, das Alter beklemmend, ja grauenerregend zu schildern.
Die Zeit – Kreise, Schleifen und Spiralen
„Es geschehen seltsame Dinge um uns herum“, konstatiert Anthony beunruhigt. Sie geschehen in seinem Kopf, aber auf der Leinwand desgleichen. Denn fast so schwer wie er tut sich die Zuschauerin, der Zuschauer, durch die sich überkreuzenden Wahrnehmungsebenen hindurchzufinden. Wie der um Halt und Würde ringende Greis sieht sich der Betrachter von vertauschten Identitäten und offenkundigen Widersprüchen im Gang der Ereignisse überrascht. Die wiederholen sich wie in Kreisen, Schleifen und Spiralen oder fügen sich neu zusammen. Obwohl die Zeit dramaturgisch in immer größeren Schritten fortschreitet, scheint sie stillzustehen, weil jedes Danach auch ein Davor sein kann und umgekehrt. Hinter dem ratlosen Gesicht des – gerade physiognomisch ungeheuer präsenten – Anthony Hopkins ist die Anstrengung eines „sehr intelligenten“ Menschen zu spüren, an der ihm zustehenden gewohnten Welt festzuhalten, während sie doch unbegreiflich in eine Reihe von simultanen Variationen ihrer selbst zerbricht.
Gleichwohl lässt Florian Zeller als hochempathischer Regisseur die reale Umwelt nie aus den Augen. Ohne einen einzigen Moment der Larmoyanz teilt Olivia Colman die Pein der geduldig sanftmütigen, zunehmend entmutigten Anne mit: den Wunsch der verantwortungsbewussten Tochter, am geliebten Vater ihre Pflicht zu erfüllen, die nagende Einsicht, nicht helfen zu können, ihre Not, wenn sie immer mehr der eigenen Lebensenergien in die verlöschenden Kräfte des alten Herrn investiert, der Überdruss, die uneingestandene Sehnsucht, von all dem endlich erlöst zu sein. Elend vor schlechtem Gewissen verlässt Anne die nüchterne Pflege-„Einrichtung“, in der sie den Vater schließlich wie an einer Endstation abgegeben hat. Drinnen spricht die Kargheit seines Zimmers der Noblesse der komfortablen Wohnung Hohn, die er für sein Zuhause hielt. Er fühle sich, wehklagt Anthony, „als ob er seine Blätter und Äste verliert“, wie ein Baum im Spätherbst. Draußen, vor dem Fester, wiegen sich die lebendigen Wipfel sommergrün im Wind und spotten seiner Verzweiflung.
Im Kino: „Nomadland“ (USA 2020, Regie: Chloé Zhao, 108 Minuten)
Von Michael Thumser
26. August – Die Frau heißt Fern, und zumindest in der deutschsprachigen Fassung des Films passt der Name perfekt, weil Fern sozusagen keine Nähe kennt. Die von Menschen zwar schon; aber ein vertrautes Umland für ihr Leben hat sie nicht, keine überschaubare Umwelt der geringen Entfernungen, kein Heim unter den Wohnstätten anderer, keine Heimat. Fern ist unterwegs, immer: in die Ferne.
Der einzige Raum, der ihr und zu ihr gehört, sind die paar Kubikmeter ihres Vans, und weil der nur einer einzigen Bewohnerin Platz bietet, quetscht sich die – meist freihändig geführte – Kamera immer irgendwie zwischen Fern und ihr Bett und die Schränkchen und Ablageplatten, den Wasserkocher und das Chemieklo, für deren Einbau sie, wie sie erzählt, viel Zeit und Mühe aufgewendet hat. Fern kommt aus Empire im US-Bundesstaat Nevada; genauer: Sie kam von dort. Denn das Städtchen gibts nicht mehr, seit die Gipsfabrik dort die Tore schloss. Empire, das Reich oder Weltreich, wurde liquidiert und sogar die Postleitzahl gelöscht. Ferns Mann Bo lebt nicht mehr, ihre Schwester bewohnt saturiert als gepflegte Gattin eines Immobilienmaklers ein schmuckes Haus. Dort könnte die weit gröber gestrickte Fern unterkommen; ebenso bei der Familie von Dave (David Strathairn), einem Freund, der gern ihr Freund wäre. Aber es hält sie nicht lang bei den Sesshaften. Sie gehört nicht unter Dach.
Sie reist durch alle erdenklichen Landschaften der Vereinigten Staaten zwischen Wüste und Küste, kreuzt fruchtbares Grün, pausiert zwischen den scharfen Steinspitzen einer karstigen Einöde. Sie durchquert das Land und die Jahreszeiten, als ob beides ein und dasselbe wäre, Hauptsache, sie hat Weite um sich. Die wenigen nötigen Dollars verdient sie sich als Saisonsarbeiterin bei einem Versandzentrum von Amazon, auf dessen Betriebsparkplatz sie eine Zeit lang vor Anker geht, oder in einem Schnellrestaurant, oder sie malocht bei der Zuckerrübenernte. Sie steuert Zusammenkünfte mit anderen Nomaden auf freien Flächen im Nirgendwo an, tauscht sich aus mit ihnen und tauscht einen Topflappen gegen einen Büchsenöffner, genießt Gemeinschaft, Hilfsbereitschaft und Solidarität, knüpft neue Bekanntschaften und belebt alte wieder, nimmt Abschied auf ein Jahr oder, wenn der Tod es so will, für immer. Und wie all die Zugvögel ihresgleichen beharrt sie darauf, keine Landstreicherin zu sein: Sie ist nicht „obdachlos“, nur „hauslos“.
Einfach nur da sein
Ein nach Inhalt und Form ungewöhnlicher, einzigartiger Film: Als „bester Film“ ging „Nomadland“ aus der jüngsten Oscar-Verleihung hervor, bei der zugleich Regisseurin Chloé Zhao als Regisseurin und Frances McDormand als Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurden. Wer sie hier sieht, kommt kaum auf den Gedanken, Fern für die Protagonistin zu halten, nicht für eine im wörtlichen Sinn von „erster Schauspielerin“. Denn McDormand spielt nicht, sie ist nur einfach vorhanden, in bewundernswerter Natürlichkeit, tiefsinnig, undurchsichtig, freundlich, still, geduldig, genügsam. Viel Zeit nimmt sich die Kamera von Joshua James Richard, um sich von der 64-jährigen, sensationell befähigten Künstlerin durch eingehende Porträtstudien und kleine Anekdoten ein Bild zu machen: McDormands unumstößlich standfesten Körper zeigt sie bei der Knochenarbeit und, ein Mal, nackt und wundersam rein und jugendlich in einem Bach; an ihrem ungemein ausdrucksvollen Charakterschädel forscht sie nach den Spuren von Erinnerungen und Zeichen des Alterns, von „Unpässlichkeiten“ und unumgänglichen Risiken. So entsteht das Bildnis eines nicht harten, aber knorrigen und gegerbten Menschen – kein schmeichelhaftes, aber einnehmendes und, bei aller Ruhe, in jedem Moment lebendiges Bildnis: Denn aus hundert nuanciert verwandelten Gesichtern und sekundenkurzen Augen-Blicken, durch Minimalgebärden ihres Körpers teilt sich die Schauspielerin mit, ohne einen Moment der Unehrlichkeit oder gar der Prätention.
Monatelang, so liest man, hätten sie und ihre Regisseurin sich vertraut gemacht mit dem besonderen Milieu der Wohnsitzlosen und seiner Mischatmosphäre aus Unabhängig- und Armseligkeit. Ihr entstammen viele der Episoden-Figuren, sie treten unter ihren wahren Namen auf und sprechen authentisch von sich. Geradezu schwebend changiert die (auf einer Buchreportage von Jessica Bruder basierende) Produktion zwischen einer kargen, nur angedeuteten Spielhandlung und den Mitteln des auf Überraschungen, Zufälle, Momentaufnahmen gefassten Dokumentarfilms.
Das höchste aller Güter
Die freilich vermählen sich, wie puristisch auch immer, mit der Ästhetik des inszenierten Arthouse-Kinos. Sehr bewusst breitet Regisseurin Zhao einen nüchternen, auch ernüchternden Gegenentwurf zu den „unbegrenzten Möglichkeiten“ des „amerikanischen Traums“ aus, nicht als Albtraum allerdings. Denn auf Mitleid ist keine und keiner aus der Schar der Nomaden angewiesen, die selbstbestimmt das Leben wählten, das sie führen, und ihre mit Entbehrungen erkaufte Freiheit in der Natur als höchstes ihrer wenigen Güter schätzen. Auf gut Amerikanisch nimmt Fern für sich in Anspruch, „die Tradition der Pioniere“ fortzusetzen. Ihre melancholische Zufriedenheit verdankt sie einem Dasein, das nicht unbehaust, aber ohne feste Orte ist. Wenn sie den Motor ihres Vans startet, bricht sie nicht auf, sie setzt ihre Fahrt fort. Die Bestimmung ihrer Reise ist kein Ziel, sondern der Weg unter den Reifen. Wenn sie parkt, kommt sie nicht an. Sie muss nur nicht gleich weiter.
96 Beiträge aus fast vierzig Ländern – die Grenzland-Filmtage trotzen Corona mit Rekorden: Die 44. Auflage präsentiert das bislang größte Angebot, dauert vierzehn statt vier Tage und lädt mehr Besucher ein als je zuvor – als Online-Festival.
Von Michael Thumser
Selb, 8. April – Die Festivalchefin ist vom Fach, nicht als Filmemacherin, aber als Psychologin. Beruflich forscht Dr. Kerstin Fröber als postdoc an der Regensburger Universität, privat geht sie gern ins Kino. Natürlich entging ihr nicht, dass immer mehr Anbieter immer mehr Filme via Internet in Fernseh- und die Endgeräte der sozialen Medien einspeisen und dass Produktionen boomen, die Netflix und Co. von vornherein fürs Streaming herstellen. Manche unken vom Tod des Kinos – was freilich nicht zum ersten Mal geschieht: Pessimisten hielten schon das Fernsehen, die Videokassette, die DVD für Totengräber des öffentlichen Lichtspiels, das gleichwohl überlebte.
Als Cineastin erlebte Kerstin Fröber, dass für sie, abgeschottet in der „schwarzen Kiste“ des Kinosaals, Filme ganz anders aussehen und ganz anders auf sie wirken als im heimischen Klein- und portablen Kleinstformat. Als Mitarbeiterin am Regensburger Lehrstuhl für Allgemeine und Angewandte Psychologie reizte es sie, jene Wahrnehmung wissenschaftlich zu untermauern. Gemeinsam mit dem Kollegen Roland Thomaschke ging sie, für eine Studie über „die Bewertung und die ästhetische Erfahrung beim Filmeschauen“, per Umfrage 21 einschlägigen Gefühlen nach. „Bei fünfzehn“, berichtete sie dem Deutschlandfunk und der Welt, „kam heraus, dass sie im Kino stärker erlebt wurden“, wobei sich „Faszination und Traurigkeit“ am intensivsten bemerkbar machten. Anders der Faktor Langeweile: „Die wurde zu Hause stärker erlebt.“ Die Studie, so hofft die Psychologin, belege womöglich, dass Film erst auf der Leinwand richtig schön wird.
Also nix wie ab ins Kino? Können vor Lachen. Auch die Grenzland-Filmtage – deren Team Kerstin Fröber, als Nachfolgerin der verdienten Dagmar Franke, heuer zum ersten Mal leitet – müssen draußen bleiben. Im vergangenen Jahr fiel die 43. Auflage wegen des Coronavirus ganz aus; die 44., jetzt, findet ausschließlich als Online-Festival, mithin ohne Präsenzvorführungen, statt. Schafft also die Pandemie, was Fernsehen, Videokassette und DVD nicht schafften und was, wenns gut geht, nicht mal der Streamerei gelingt? Die Corona-Krise ist auch und nicht zuletzt eine Kulturkrise: Wie und wie viele Kinos sie überleben, steht dahin. Aber beim Selber Filmfest denkt man nicht ans Aufgeben: Für 2022 nehmen sich die Organisatoren mutig vor, ins ehemalige Kino-Center zurückzukehren, das dann – wie Oberbürgermeister Ulrich Pötzsch in einem Grußwort versichert – renoviert sein und unterm Namen Spektrum kommunal getragen werden soll.
Kooperation mit dem „Europaeum“
Aber was jetzt? Gibts was? Durchaus, sogar „so viel Grenzland-Filmtage wie nie“, sagt Kerstin Fröber im Video, das die offizielle Eröffnung ersetzt. Seit Donnerstagnachmittag sind sie am Start, dauern so lang wie in noch keinem Jahr – vierzehn statt der üblichen vier Tage – und fühlen sich praller an denn je. Als Nummer 43 zählt die 2020er-Ausgabe mit, weil sich die hierfür getroffene Filmauswahl nicht völlig in Luft auflöste, sondern etliche geplante Beiträge sich ins diesjährige Festival, das 44., retten konnten. Das Ergebnis: Nicht weniger als 96 lange, „mittellange“ und kurze Filme umfasst die Auswahl, aus fast vierzig Ländern kommen sie, allein fünfzehn aus Osteuropa, dem das Interesse in Selb seit den Anfängen besonders gehört. Die Folge: Noch nie konnten so viele Menschen beim Festival dabei sein.
Hingegen ruht die Partnerschaft mit der tschechischen Nachbarstadt Aš ein weiteres Mal. Dafür hat Fröber eine neue Kooperation mit dem „Europaeum“ etabliert; das Ost-West-Zentrum der Uni Regensburg kümmert sich um den bilateralen Austausch und Dialog von Forschenden und Studierenden. Geschäftsführerin Lisa Unger-Fischer bestätigt im Begrüßungsvideo: „Ein Eindruck von der Lebenswirklichkeit der Menschen in den osteuropäischen Ländern ist gerade über Filme zu gewinnen.“ Also tatsächlich: Indem sich „Selb“ aufs Internet beschränkt, büßt es zwar ein, gewinnt aber auch hinzu – auch Grußbotschaften von Filmschaffenden, Filmgespräche, Preisverleihungen. Sogar in eine virtuelle Filmtagekneipe lädt Fröber ein.
Unverhofft aktuell
Dort lässt sich dann – mit hoffentlich reichlich eingeloggten Gesprächspartnern und jedenfalls in gebotenem Abstand – über das Geschaute plaudern. Etliche der Stoffe zeigen hohe Aktualität, wenn nicht gar nächste Nähe zur Gegenwart, so wie unverhofft das Drama „Blindfold“ (Die Augenbinde): Der ukrainische Regisseur Taras Dron drehte es 2020 vor dem Hintergrund des Krieges im Osten seiner Heimat, der gerade dieser Tage wieder durch Säbelgerassel in die Nachrichten drängt. In „Five Minutes too late“ erzählt der Rumäne Dan Chisu von den Folgen einer homophoben Aktion, mit der die Kinovorführung eines Films über ein lesbisches Liebespaar unterbrochen wurde. Eine wahre Begebenheit greift der Weißrusse Vladimir Zinkewitsch in „Spice Boys“ auf: Nachdem Jungs eine neue halluzinogene Droge probiert haben, explodiert ihre Aggressivität in einem Massaker.
Doch auch deutlich ruhiger können sich der Filmtage-Besucher und die -Besucherin im geschützten Raum ihrer guten Stube eine Ahnung von der inhaltlichen, emotionalen und dramaturgischen Bandbreite des Festivalsortiments verschaffen. Zum Beispiel, wenn sie den „Block #2“ der „Mittellangen Filme“ anklicken: Er enthält Halbstünder, die sich anregend widersprechen. Aus äußerst sparsamen Situationen, Dialogen und Charakterfacetten entwickelt Ferdinand Arthuber eine grandiose Variation des archaisch schlichten Urthemas When a man loves a woman; entsprechend schlicht „Girl meets Boy“ heißt seine tragikomische – oder, richtiger, komikotragische – Liebesgeschichte: Franziska Weisz als vom Gatten geprügelte, endlich von ihm befreite Blumenhändlerin gerät in Versuchung, an eine neue Liebe, eine auf den zweiten Blick, zu glauben; Carlo Ljubek als einsamer DJ hat gute Gründe, „jetzt besser nicht allein“ zu sein; als sich die beiden begegnen, erleben sie eine unmögliche Liebe, die sie gleichwohl erfüllt.
Viel Krise, Lebenskrise, tönt verhalten durch das kurze, umso länger nachklingende Spiel. Aber auch einen (umso heitereren) Film zur Krise gibt es, den Film zur Krise, zur Corona-Krise nämlich – und also den Film zum Festival: „#abstandhalten“. Ausschließlich durch Gespräche via Skype spulen Regisseur Roman Gonther und Drehbuchautor Thomas Bartling, der auch eine der Hauptrollen spielt, ein amüsantes Kammerspiel für drei junge Leute ab: Liebeskümmerling Ben, unbehaust, wird von seinem weltmännischen, in Dubai festsitzenden Busenfreund Timmo in dessen deutschem Zuhause einquartiert, wo er sich verwirrt als Mitbewohner von Timmos Gefährtin Sara wiederfindet. Erwartungsgemäß „knistert“ es bald gehörig zwischen beiden und „knirscht“ sogar – dabei tut der in Glut geratende Ben alles, um den grenzenlos großzügigen Intimus nicht zu hintergehen. Der finale Twist verwandelt die kleine, aber grundsympathische Anekdote vollends in einen Seelenwärmer. Viel Witz verdankt sie zum einen den wackligen oder verfinsterten Videoanruf-Bildern; zum anderen der unwiderstehlichen Farina Violetta Giesmann: eine Sara mit großem, einladendem Herzen.
So wie Sara, ungefähr so, machens die Grenzland-Filmtage auch: Sie stellen sich aus der Distanz im kleinen Bildformat zur Schau, aber sie sehen verheißungsvoll aus.
■ Das Festival im Internet: hier lang.
■ Komplettes Programm (Filmbeschreibungen und Filme zum Anklicken): hier lang.
■ Tickets, Preisverleihungen, Support-Hotline, häufig gestellte Fragen, Partnerfestivals: hier lang.
■ Programmheft (auch zum Ausdrucken): hier lang.
■ Virtueller Treffpunkt: hier lang.
Gegen die „Altersdiktatur“ verordnet ein totalitäres „Jungbrunnen“-Regime den deutschen Senioren einen Abgang von Amts wegen: Willi Kubica wählte für seine gesellschaftliche Dystopie „Endjährig“ die Form eines verstörenden Kammerspiels.
Von Michael Thumser
Hof, 24. Oktober – Schöne junge Welt: Soll das die nahe Zukunft sein? Genau genommen, sieht Deutschland hier sogar irgendwie so aus wie das der Gegenwart – zumindest wie ein Deutschland der jüngsten Vergangenheit: auf den Hund gekommen wie einst die DDR, verlottert, desolat, „endjährig“. Am Ende angekommen aber ist im Film, der so heißt, nicht die reale Republik, sondern eine erfundene, eine, die keine mehr ist. Ein totalitäres Deutschland wehrt sich gegen die angebliche „Altersdiktatur“: Für endjährig erklärt das regierende „Bündnis Jungbrunnen“ alle Einwohnerinnen und Einwohner über achtzig. Sofern sie nicht vorher freiwillig Schluss mit sich machen, fallen sie zwangsweise unter ein staatliches Euthanasieprogramm.
Zur Diskussion um die Sterbehilfe beitragen will Willi Kubica augenscheinlich nicht. Schon gar nicht wollte er Science-Fiction inszenieren. Im Hier und Jetzt platzierte er seine Diplomarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg: In einem Vorspann macht er ausdrücklich klar, dass seine Dystopie in den 2020ern spielt. Auch entwarf er kein breites Gesellschaftspanorama, hätte er doch dafür riskieren müssen, die Handlung durch allzu viel Unwahrscheinlichkeit um ihre unmittelbare Wirkkraft zu bringen. Kubica bescheidet sich mit einem irritierend glaubhaften Kammerspiel, das sich knappe fünf Viertelstunden lang fast ausschließlich in zwei unterschiedlichen Innenräumen abspielt.
Der eine: die winzige, abgeranzte und düstere, aber vieler Bücher wegen gerade noch wohnliche Wohnung des Einzelgängers Karl (Matthias Lier: verschlossen, wortkarg, resigniert). Überraschend muss er seinen alten und kranken Vater (Peter Meinhardt, vor allem durch seine grandiose Stimme dominierend) bei sich aufnehmen. Ihn, als widerborstiges altes Eisen, hat der „Jungbrunnen“ seiner Bleibe verwiesen und von jeder Grundversorgung abgeschnitten. Der andere Schauplatz: eine lichtdurchflutet-antiseptische, informationstechnisch hochgerüstete Behörde; von ihr bezieht Karl als Berater in Fruchtbarkeits- und Euthanasie-Angelegenheiten ein schmales Gehalt. Die Alten, so wird Karl von der Amtsleiterin (Mina Özlem Sagdic) sanft belehrt, müssen „gehen, damit die Jungen atmen können“. Kein Land, kein Job, kein Leben also, in dem man es aushalten wollte: Über alle Gräben hinweg, die eine unbewältigte Familiengeschichte zwischen Vater und Sohn aufgerissen hat, denken die beiden an Flucht.
Kein Spektakel überbordender Schreckensfantasien: Nicht mit Schauwerten der Unmenschlichkeit will der dreißigjährige Autorenfilmer großtun; aber auch nicht mit Versatzstücken der Verlorenheit ‚kafkaeske‘ Kargheit imitieren. Er komponierte aus langen Einstellungen und leitmotivischen Atmosphären ein kleines Stück Schauspielertheater, das durch seine spartanische Sparsamkeit umso bedrückender unter die Haut geht. Indem es ebenso viel Schweigen und Verschwiegenes wie Gesprochenes aufbietet, entwickelt sich in den markant umrissenen Szenen eine tödliche Ruhe, so bezwingend, dass laute Anschnauzereien berechtigter Empörung, fordernde Appelle zur Auflehnung dem Betrachter fast ungelegen kommen und die freundlichen Abscheulichkeiten des Propagandajargons ihn beinah einlullen.
Der schlimme Ausgang, den die Flucht der ungleichen Männer nimmt: Ist er wirklich Verrat und Unglück oder doch Schickung ins Unvermeidliche, Wendung zum Besseren, wenn schon nicht zum Guten? Werden Karl und seine Chefin aus Liebe ein Paar oder vereinbaren sie ihr Bündnis lediglich als Gewinngemeinschaft? Die entscheidenden Fragen lässt Willi Kubica wohlweislich ohne Antwort. Eine weitere, nämlich wieweit die plakative Jugendlichkeit der realen 2020er noch marktschreierischer Hype ist oder schon eine Entbehrlichkeitserklärung an die Älteren, die nimmt der Betrachter mit heim.
Die Produktion entstand für die ZDF-Reihe „Das kleine Fernsehspiel“; ein Sendetermin steht noch nicht fest.
Im Home of Films werden zwei wichtige Auszeichnungen verliehen: Axel Ranisch jubelt kindlich über den Filmpreis der Stadt Hof; abgeklärter bedankt sich Marcus Lenz für den Förderpreis Neues deutsches Kino.
Von Michael Thumser
Hof, 22. Oktober – Sie macht es wie im Kino. Dort pflegt Eva Döhla, so wie alle Besucherinnen und Besucher, vom Sitzplatz aus die Augen geradeaus zu richten, direkt dorthin, wo der Film läuft. Jetzt laufen die Filmtage, und mit denen verfährt die Hofer Oberbürgermeisterin genauso: „Wir schauen gemeinsam nach vorn“, rief sie am Donnerstag dem Publikum im Festsaal der Freiheitshalle aufmunternd zu, bevor dort zwei wichtige Preise verliehen wurden. Das Festival, bekräftigte Döhla, gehöre unauslösbar zur „DNA“ der Stadt, die Filmtage unverzichtbar zur Filmbranche in der Republik und die Kultur ganz grundsätzlich ins Zentrum der Gesellschaft. Kinos und Filmfeste bräuchten breite Unterstützung, fügte Landtagspräsidentin Ilse Aigner per Videobotschaft hinzu, gerade jetzt, in Pandemiezeiten. Die verliert auch die Stadtmutter nicht aus dem Blick – schon gar nicht an diesem Nachmittag, an dem die „Fieberkurve“ des städtischen Inzidenzwerts auf 37,1 steigt; freilich sagt Döhla auch: „Corona muss uns jeden Tag beschäftigen, aber nicht den ganzen Tag.“
An diesem Tag beschäftigt sich Eva Döhla hochoffiziell mit den Filmtagen, zu deren Organisations- und Helferteam sie gehörte, seit sie vierzehn war. Den Filmpreis der Stadt verleiht sie an Axel Ranisch. Quirlig betritt er die Bühne wie ein Clown die Trubelrunde eines Kindergeburtstags: schwarz das Hemd, die Hose, rot Hosenträger und Schuhe, im Gesicht ein Grinsen von einem Ohr zum andern. Mit seinem Langfilmdebüt „Dicke Mädchen“ – Produktionskosten: weniger als sechshundert Euro – hat er 2011 das Filmtagepublikum verzückt, die Branche gerockt und etliche Auszeichnungen eingeheimst. Zu rechnen war damit nicht unbedingt: Fast als Quatsch entstand der Streifen, sogar Ranischs Oma Ruth wirkte mit. Seither zeigte er noch weitere fünf Arbeiten im Home of Films.
In einer Laudatio – wiederum per Video – rühmt Knut Elstermann, namhafter Filmkritiker, dem lustigen Vogel eine „Kunst ohne Attitüde“ nach und lobt sowohl seine „direkte Hinwendung zu den Menschen“ wie seine „ungeheure Produktivität“. Immer arbeite Ranisch „subversiv“, auch in seinen beiden Improvisations-Krimis aus der TV-„Tatort“-Reihe, auch als gefragter Opernregisseur. Stets begegne er Kunstkollegen und anderen Zeitgenossen mit einer „unzeitgemäßen Menschlichkeit, die alles Niederträchtige unterläuft“. Axel Ranisch: Das ist ein draller Körper, prallvoll mit Lebensfreude und bunten Ideen – für Elstermann „der barockeste Mensch, den man sich denken kann“, und dabei „noch so jung“.
Nämlich erst 38. Gleichsam als Frischling kann er kaum glauben, fortan in einem Atemzug mit altehrwürdigen Filmpreisträgern wie Wenders und Herzog, dem verewigten Schlingensief oder Tom Tykwer genannt zu werden. Ausgelassen wie ein Comedian gerät er in sprudelndes Erzählen: über den nicht enden wollenden Applaus in Hof nach der Weltpremiere der „Dicken Mädchen“ („Sowas hab ich vorher und nachher nie wieder erlebt“), über die unglaubliche Oma Ruth, die bald hundert wird und der er den Preis darum jetzt schon mal „widmet“ ... Alles in allem: Das Hofer Festival ist für ihn „das warmherzigste und liebste“ und dieser Donnerstag „einer der schönsten Tage meines Lebens“.
„Ein souveränes Verständnis von Kino“
Auch im Leben von Marcus Lenz? Ihm haben der Filmexperte (und Hofer Filmpreisträger) Alfred Holighaus, der Schauspieler Max von der Groeben und dessen Kollegin Katharina Wackernagel als Jury den Förderpreis Neues deutsches Kino zuerkannt. Mit 51 Jahren reagiert der Regisseur abgeklärter, aber gleichfalls dankbar auf die Ehre. Zuteil wird sie ihm, wie die Jurorin und die Juroren urteilten, für sein „souveränes Verständnis von Kino“ und speziell für die „erstaunlichen, überraschenden und hochemotional aufgeladenen Bilder“ ebenso wie für die „unwiderstehlich emotionale Geschichte“, die Lenz in „Rivale“, seinem Hof-Debüt, entfaltet.
Darin gerät ein Kind in Kontakt mit lauter Gegenteilen von dem, was Leben bedeutet: mit Krankheit und Tod, abgründiger Verlassenheit. Roman heißt der Junge, illegal wird er aus seinem ukrainischen Dorf nach Deutschland gebracht. Gleichfalls illegal hat seine Mutter Oksana (Maria Bruni) hier eine Sterbende gepflegt. Jetzt will Gert, der Witwer (Udo Samel), sie heiraten und Roman zu sich nehmen. Doch der Neunjährige mag die Mutter nicht mit dem Rivalen teilen. Als sie in einer Klinik operiert werden muss, taucht Gert mit Roman in einem Jagdhaus unter. Bald jedoch wartet der Knabe im tiefen Wald ganz allein darauf, dass Oksana und das Leben zu ihm zurückkehren.
Fast nur in Bildern, kaum mit Worten, fügt sich die Geschichte über Mutter- und Kindesliebe, Abhängigkeit und Verlorensein zusammen. Am liebsten wohl hätte die Jury die Hälfte des Nachwuchspreises dem zehnjährigen Yelizar Nazarenko zugesprochen: Zu Recht erkennt sie ein „erstaunlich präsentes und authentisches Naturtalent“ in ihm. In der Rolle des Roman sieht er sich im bundesrepublikanischen Irgendwo umgeben von einer unnahbaren Fremde, Deutsch bleibt Fremd-Sprache für ihn. Wie im Eröffnungsfilm des Festivals, „Und morgen die ganze Welt“, rückt die Kamera – hier geführt von Frank Amann – der „mitreißenden Hauptfigur“ kaum einen Augenblick lang von der Pelle; in einem archaischen Wechsel aus milchigen Tageslichtern, abendlichem Blau und dem Fast-Schwarz der Nacht lässt sie das Kind vagabundieren. Dazu komponierte Regisseur Lenz einen beklemmenden Rhythmus der Zeit: Mal springt sie wie der Zeiger einer Uhr um einen Schritt voran, dann wieder stagniert sie. Schließlich scheint sie um Roman und das öde Waldhaus vollends stillzustehen. Mit den letzten Szenen des Films blickt das Kino nicht voraus, sondern zurück: Wie vor jetzt fünfzig Jahren François Truffauts Wolfsjunge hetzt Roman preisgegeben und orientierungslos zwischen den himmelhohen, kahlen Bäumen eines urweltlichen Gehölzes hin und her, nur noch Knurren und Gebrüll in Mund und Kehle – ein vorgeschichtliches Stück Leben, ungebärdig, ungebändigt, unartikuliert.
Das Fernsehmagazin „Kino Kino“ zieht am Sonntag in einem „Extra“ ein Resümee der 54. Hofer Filmtage: im Bayerischen Fernsehen um 23.35 Uhr.
Emily Atef erhält den Hans-Vogt-Preis für die Originalität ihrer Filme. Ihr neues Fernsehspiel „Jackpot“ kann damit nicht gemeint sein. Immerhin spielt darin eine exzellente Hauptdarstellerin einen alten Plot mit neuen Nuancen fesselnd durch.
Von Michael Thumser
Hof, 21. Oktober – Im richtigen Leben ist es manchmal so und im Kino recht oft: Schlimmes geschieht, aber alles aus Liebe. In Emily Atefs neuem Film ist beides, absolut Böses und unbedingte Hingabe, immer präsent.
Ohne Wenn und Aber hält Maren zu ihrem Dennis, erst recht, seit er auf dem Bau „betrunken vom Dach gefallen“ ist, im Rollstuhl sitzt, sich bei Bewegungstherapien schindet und kaum noch hoffen darf, dass die widerständige Versicherung zahlt. Maren ist stabil, seelisch und körperlich: Bei einem Abschleppdienst arbeitet sie und zurrt falsch parkende Autos auf ihrem Transporter mit kräftigen Händen fest; auch den gelähmten Dennis schleppt sie, auf dem Rücken, in die Wohnung, drei Stockwerke hoch. Aber Maren ist auch labil: Eine Vergangenheit als verurteilte Diebin oder Schlimmeres verheimlicht sie zur Hälfte, und eine Tasche, die sie in einem abtransportierten Auto gefunden hat, behält sie kurzerhand. Der Inhalt: 620 000 Euro – die freilich irgendjemandem gehören, der so viel Bares sicher nicht legal besitzt. Eingebüßt hat den Schatz Henning Karoske, als Geldeintreiber nicht zimperlich, als Mörder eiskalt –als Familienvater zärtlich und fürsorglich; mit den vergötterten Seinen will er ein neues Leben bginnen. Eine Freundin beschwört Maren: „Wenn du ein Problem mit Karoske hast, brauchst du ne Waffe.“ Als Maren eine hat, nimmt ihr Traum vom Glück fast zwangsläufig die schlimmstmögliche Wendung.
Fürs Fernsehen entstand der Thriller der Berlinerin Emily Atef, so wie viele andere deutsche Produktionen auch. Das wäre nichts Schlimmes, machte sich der Verwendungszweck nicht so überdeutlich kenntlich wie in „Jackpot“. So wie das Zuviel schier pausenloser Filmmusik den Zuschauer belästigt, so sehr befremdet ihn heute, wo fast jeder „Tatort“-Krimi zumindest optisch Kinoqualität erreicht, die Bildsprache. Ihre überholte Einfachheit sollte eigentlich spätestens seit Mitte der Neunziger als überwunden gelten. „Jackpot“ – nicht einmal der Titel ist neu: Mindestens je ein deutscher, ein norwegischer und ein indischer sowie zwei US-amerikanische Streifen hießen schon so.
Und doch nahm Emily Atef am Mittwoch in Hof den Hans-Vogt-Preis entgegen. Seit 2012 wird er jährlich ausgelobt für „Filmschaffende, die mit Innovation und Sorgfalt ihren Filmen besondere Qualität und Wertigkeit mit auf den Weg gegeben haben und besonders auf ihre Filmmusik achten“. Innovation zeigt in „Jackpot“ immerhin das Drehbuch, das nicht von Atef, sondern von Frédéric Hambalek stammt. Zwar basiert es auf einem hinlänglich bekannten Plot – unbedarfter Zufallsfinder einer Riesenbeute hat bald gewissenlose Verfolger an den Fersen –, fesselnd aber unterlegt der Autor ihm einen ungeahnten Grundton: Gefühl, Güte, Herzenswärme - aus Liebe geschieht alles, das Grausamste noch. Qualität und Wertigkeit der Produktion verdanken sich nicht zuletzt den Schauspielern. Unter der düsteren Verkleidung, der unerbittlichen Maske des Killers Karoske enthüllt Thomas Loibl ein Gemüt voll Sehnsucht nach Geborgenheit, Innigkeit, Vertrauen. Und Rosalie Thomass, mild, aber mächtig der Motor der Handlung, schüttelt die sympathische Herzigkeit des aufopferungsvollen Dummchens zusehends ab, um ausgekocht durch Unausgesprochenes zu irritieren, durch Rätsel und Geheimnis, Janusköpfgkeit. Eine leise und kaum merkliche, darum umso spektakulärere Verwandlung: So, schlicht, aber ergreifend, gelingt es der famosen Schauspielerin, dass sie im Moment der schlimmstmöglichen Wendung die Höhe und Tiefe einer tragischen Antiheldin erreicht.
So brisant sind das Kino und das Festival nicht oft: In Julia von Heinz’ Eröffnungsfilm „Und morgen die ganze Welt“ gerät ein Bürgermädchen zwischen die Fronten von Antifa und Neuer Rechter. Es steht vor der Frage: Hilft nur noch Gewalt?
Von Michael Thumser
Hof, 20. Oktober – „Laut gegen Nazis“ heißt ein Verein in Hamburg, der mit seinem Namen unmissverständlich sagt, was er sein will. In seinem Podcast kam dieser Tage Smudo von den „Fantastischen Vier“ zu Wort. „Wenn man gegen Spaltung und für Zusammenhalt ist, gegen das Herabsetzen ganzer Menschengruppen, ist man automatisch Antifaschist. Das ist nichts Schlechtes.“ So, unmissverständlich „laut“, bekannte sich der Rapper in der Gesprächsrunde, an der auch die Regisseurin Julia von Heinz teilnahm. Ihr neuer Film illustriert Smudos These mit beträchtlicher Bilderwucht und spielt sie in einer authentisch erfundenen Geschichte höchst spannend durch. „Und morgen die ganze Welt“ heißt er, die berüchtigte Refrain-Zeile aus Hans Baumanns Nazi-Kampfgesang von 1932 zitierend; nach der Weltpremiere bei der 77. Mostra in Venedig markierte er am Dienstag den Start der 54. Internationalen Hofer Filmtage. Viel aktueller können Kino und das Festival nicht sein.
Ein Film, der ausschaut wie das richtige Leben: das Leben einer scheinbar unauffälligen Studienanfängerin. An ihr, Luisa, hängt Daniela Knapps zappelige Handkamera so fest wie das lässig geknotete Haar. Mit der in Venedig prämiierten Mala Emde hat die Regisseurin die in jeder Szene tragende Hauptrolle passgenau besetzt: Noch mädchenhaft, gleichwohl wach und robust tritt die 24-jährige Aktrice auf als hübsche, aber nicht ‚höhere‘ Tochter eines älteren Elternpaars aus dem gehobenen Mannheimer Mittelstand, wohlbehütet, nicht verzärtelt, schon gar nicht eitel. Daheim ists eigentlich am schönsten, doch Luisa will raus und etwas gegen den grassierenden rechten Ungeist tun.
Die Uni reicht da nicht: In den Vorlesungen dämmert ihr, dass etwas faul ist im Lande. Die Wirklichkeit spricht allem Hohn, was ihr Dozent in hermetischem Juristendeutsch über Rechtsstaat und Verfassung dahersalbadert. Auf den Straßen schwingen Glatz- und Wirrköpfe als Schutztruppe einer angeblich bürgerlichen, in Wahrheit demokratie- und fremdenfeindlichen Rechtsaußen-Partei die Fäuste. Laut gegen Nazis, ob braune oder hellblaue, so will Luisa Stellung nehmen und schließt sich einer autonomen Antifa-Gruppe an. Allerdings teilen sich deren Mitglieder gerade hitzköpfig in zwei Lager: Reicht es, die Autos des Gesindels nur „plattzumachen“, oder soll man ihm endlich „auf die Fresse hauen“? Luisa sitzt zwischen zwei Stühlen: Sie muss sich entscheiden, auch für oder gegen ihre Busenfreundin Batte. Obendrein fühlt sie sich zwischen zwei, sogar drei Männern gefühlvoll hin- und hergezogen. Und in ihrer Ratlosigkeit erkennt sie, letztlich allein zu sein: Sie „steht auf keiner Liste“, gehört im Grund zu niemandem und nicht dazu. Also sagt sie sich von ihrer privilegierten Abkunft los und macht sich auf den Weg, mit einem Gewehr im Anschlag. Das Ganze ist „kein Spiel mehr“.
Explosive Stoßtrupp-Unternehmen
Impertinent neugierig verfolgt die Kamera aus Luises Blickwinkeln die Clique bei der theoretischen Schulung, bei Kampfsportübungen und den akribischen logistischen Vorbereitungen auf den gewaltsamen Kampf, beim Tarnen und Täuschen im Angesicht der Polizei, bei blutigen Schlägereien und explosiven Stoßtrupp-Unternehmen. Luisas Freundin und die übrigen Gefährten – die der Film mit ihren unterschiedlichen sozialen Wurzeln und Zukunftserwartungen knapp, doch plastisch charakterisiert – werden von der Polizei schließlich wie eine „terroristische Vereinigung“ ausgehoben. Zuvor war noch vereinzelt von der Hoffnung die Rede, dass Menschen „sich ändern können“. Indes schaut Luisa desillusioniert sich selber dabei zu, wie sie sich zusehends von Mamas Liebling in eine Kriegerin verwandelt. Dokumentarisch untersucht Julia von Heinz in ihr einen jungen Menschen beim Prozess des Erwachsenwerdens und beobachtet sie dafür an einem Ort, der unumgänglich dazugehört: am Scheideweg.
Politisierung und Radikalisierung als coming of age: So menschlich intensiv ist deutsches Kino nicht oft; und selten ein Festival so aktuell wie HoF am Dienstag. Ausführlich ist im Film ein Hass-Liedermacher zu sehen und zu hören, wie er vor enthemmten Gefolgsleuten ein rassistisches Kampflied anstimmt, von keiner Staatsgewalt behelligt. Kurz danach schreitet ein Aufgebot hochgerüsteter Ordnungshüter gegen jugendliche Antifaschisten ein, die „laut gegen Nazis“, aber harmlos bei einem Hinterhoffest abtanzen. Aus Heinz’ unverhohlen parteiischer Inszenierung ragt dieser Kontrast absichtsvoll am plakativsten heraus. Unüberhörbar „laut“ fragt er: Sind Polizei und Rechtswesen der Repubkik auf dem rechten Auge blind? Den Glauben an die Demokratie, bekräftigte die Regisseurin, einst selbst Antifa-Aktivistin, am Dienstag in einem Interview des Vorwärts, habe sie nicht verloren. Aber sie möchte „darauf vertrauen, dass das Gewaltmonopol in den richtigen Händen liegt“, nämlich „beim Staat“. Der steht (so siehts hier aus) bedenklich auf der Kippe: Nicht nur wo Obrigkeiten, auch wo Bürger wutschäumend zur Gewalttat schreiten, ist für ihn Gefahr im Verzug.
Kinostart am 29. Oktober.
Christopher Nolans neuer Film „Tenet“ spielt virtuos mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, bis beim Zuschauen der Kopf raucht. 150 Minuten lang reißt die Spannung nicht ab.
Von Michael Thumser
Hof, 1. Oktober – Darf angesichts eines Films, in dem zweieinhalb Stunden lang die Zeit simultan vorwärts und rückwärts läuft, nach Logik gefragt werden? Besser, man lässt es, wenn man, was anzuraten ist, sich entschließt, in Christopher Nolans jüngstes Kino-Experiment einzutauchen. Der Regisseur, spätestens seit dem Geniestreich „Memento“ von 2000 als virtuoser Spieler mit Vergangenheit und Gegenwart ausgewiesen, nimmt für „Tenet“ obendrein die Zukunft in seine Jongleurskunst auf.
In einer Geschichte geschieht das, die mit der Lichtgeschwindigkeit des Kinos ohne Zäsuren rund um den Erdball saust, weil, mal wieder, das Überleben der gesamten Menschheit auf dem Spiel steht. Wie in der Science-Fiction üblich, hebelt der britisch-amerikanische Filmemacher – zugleich Autor des Drehbuchs – ein paar wichtige Gesetze der Physik aus; wie im James-Bond-Abenteuer tritt ein souveräner Einzelkämpfer im teuren Maßanzug gegen das universale Böse an; wie im Action-Thriller fliegen unter Freisetzung ungekannter Schauwunder die Fetzen: In puncto visueller Fantasie reicht „Tenet“ beinah an die Augenöffner von „Inception“ heran, wobei spektakuläre Zweikämpfe zwischen Angehörigen unterschiedlicher Zeitebenen dem Vernehmen nach live, ohne Computertricks durchgefochten wurden. Aus dem vermeintlichen Chaos zügelloser Bewegung ergibt sich eine Choreografie, die alle krachenden Versatzstücke männlich-kerniger Kino-Prügelei in sich verkehrt. Die Rolle rückwärts der Kombattanten spiegelt die Rolle rückwärts von Ursache und Wirkung, Start und Ziel.
Kinder haften für ihre Eltern
Bilderkino, kein Schauspieler-, schon gar kein Thesendrama; intelligent unterhält es gleichwohl. Widersinnig mag der Plot der 150 Minuten lang grandios fesselnden Ruhestörung erscheinen, wollte man ihn in nur wenigen kargen Sätzen zusammenfassen, etwa so: Ein CIA-Agent, namenlos als „Protagonist“ unterwegs (John David Washington), muss seine Zeitgenossen der Gegenwart vor einem „Weltkrieg“ bewahren, den ihre Nachkommen in der Zukunft anzetteln; die nämlich haben die Nase voll vom Raubbau ihrer Eltern und Großeltern an der Schöpfung, den sie, als Kinder und Kindeskinder, ausbaden müssen. Darum gehen sie daran, die umweltzerstörende Spezies ihrer Vorfahren gleichsam nachträglich auszurotten – ganz gleich, was dann mit ihnen selbst geschieht. Zum diabolischen Vollender der Schrecken wirft sich, als Wanderer zwischen den Zeiten, ein Oligarch (Kenneth Branagh) auf, der todkrank ist, aber nicht gern alleine sterben will.
Beim Showdown geraten der „Protagonist“ und seine Gefährten in eine „temporale Zange“. In die sieht sich der Zuschauer da schon längst genommen: eingesponnen in zwei oder mehr parallele und doch einander zuwiderlaufende Aktionen, Schauplätze, Gesprächsfragmente, die sich durchdringen und überlappen wie die Finger gefalteter Hände. Und dennoch: „Die Zeit ist nicht das Problem“. Wer sich mit diesem laxen Satz aus Kriegermund zufrieden gibt, rauscht fasziniert in einer Traum-Achterbahn durch mehrere erfindungsreich bediente Filmgenres, die der Regisseur erweitert, unterläuft, geradezu lustvoll ad absurdum führt. „Versuchen Sie nicht, es zu verstehen“, empfiehlt einmal eine Forscherin. Ein guter Rat: Wer Nolans Hütchenspiel mit Ursachen und Wirkungen ganz durchschaut, vermag wohl auch endlich das Menschheitsrätsel zu lösen, was wohl zuerst da war, das Huhn oder das Ei.