Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)
Aktuell

5. Dezember, Hof, St.-Lorenz-Kirche
Gerade mal zweieinhalb Monate ist es her, dass Wolfgang Wesers hochmögende Truppe die Reichen vor dem Zorn des Himmels warnte. Nun lud er mit dem Kammerchor Hof zum Adventskonzert. Freilich gab sich das Ensemble nicht damit ab, das Publikum mit vorweihnachtlichen Gefälligkeiten einzulullen. Nicht zwar als Mahnruf, doch als Weckruf wollte das tiefsinnige Programm verstanden sein.



Eckpunkt

Klappe halten

Von Curiander

7. Dezember 2024   Jedes neue Jahr hat seine neuen Botschafter. Unlängst schreckte uns die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde mit ihrer Entscheidung auf, sie habe zum „Lurch des Jahres“ 2025 den Moorfrosch, eine bedrohte Art, deren Männchen während der Paarung über die Gabe verfügen, blau anzulaufen. Wenig später zogen die Entomologen nach: Sie riefen als „Insekt des Jahres“ die Holzwespen-Schlupfwespe aus, die mit ihrem rahmensprengenden Doppelnamen ebenso gut in die Zeit passt. Vor so viel Natur darf sich die Kultur nicht geschlagen geben - und wartete nun mit einer Überraschung auf: Zum „Instrument des Jahres“ wählten die deutschen Landesmusikräte die menschliche Stimme. Aber ist sie das denn: ein Instrument? Durchaus, und sogar für ein besonders universales und natürliches dürfen wir sie halten. In puncto Tongebung ist sie irgendwo zwischen Bläsern und Streichern angesiedelt. Noch bevor unsere Vorvorfahren das Rad ersannen, hatten sie gelernt, ihre Stimmbänder mit Hilfe der Atemluft kontrolliert wie Saiten vibrieren zu lassen, um lebenswichtige Botschaften zu übermitteln, zu streiten, zu tratschen ... um zu singen. Bis heute bleiben wir ungeachtet aller technischer Fortschritte - vom ersten, noch kaum aufnahmefähigen Mikrofon bis hin zur unüberhörbaren Megafonie unserer Sozialen Medien - sklavisch den Verführungskräften der live vernommenen Menschenstimme instinktiv erlegen. Zwar regiert, manipuliert und imitiert uns das Virtuelle, Nicht-Wirkliche der digitalen Welt längst so gründlich, dass die Maschinen jeden beliebigen Sprach- und Sangesklang bis zur Unverwechselbarkeit nachzuahmen vermögen. Darum aber wächst erst recht unsere Sehnsucht nach der Echtheit und Intimität des eigenen wie eines fremden Organs. Hinter jener Authentizität verschanzen wir uns, mal willentlich, mal reflexartig: hinter einem der letzten Bollwerke unserer Einzigartigkeit. Mithin spricht einiges dafür, die Stimme zum „Instrument des Jahres“ zu küren, allein schon ihre Allgegenwärtigkeit in unseren zwischenmenschlichen Kontakten, den unmittelbaren sowohl wie den elektronischen. Mit ihrem unüberhörbaren Breitenspektrum zwischen geflüsterter Zärtlichkeit und ohrenbetäubendem Gebrüll entfaltet sie einen Überfluss, den kein Musikinstrument so je erreicht. Mag sein, dass sie, weil nicht auf Saiten, Tasten und Ventile angewiesen, aus jeder Logik klassischer instrumentaler Tonerzeugung herausfällt. Doch ihrer Eignung wegen, alles uns Wichtige zu vermitteln – Gefühle auszudrücken, Informationen mitzuteilen, Geschichten zum Leben zu erwecken –, hat sie seit jeher zu einem starken Kandidaten für das adelnde Prädikat getaugt, das sie von Januar an tragen darf. Überdies lädt uns solcher Ritterschlag mit Nachdruck dazu ein, auch unseren oft strapazierenden Umgang mit ihr zu überdenken. Wenn die Stimme den Ehrentitel verdient, dann wohl insgeheim auch darum, weil zu ihr unlösbar das Schweigen gehört. Einfach mal die Klappe halten: Wer weiß, wie das geht, versteht auch mal ganz für sich allein zu sein und, nicht minder nützlich, anderen stumm zuzuhören. Die Mute-Funktion, wie sie sich an Radios und Fernsehern, Navis, Konferenzsystemen und sonstigen zeitgemäßen Audiogeräten per Knopfdruck einschalten lässt, beweist uns hinlänglich: Um preis- und prädikatwürdig zu sein, muss etwas, das kunstreich Schall erzeugt, auch Ruhe geben können. Paradoxerweise sollen wir in diesen Advents- und Weihnachtswochen auf Märkten und in Kirchen singen, bis wir blau anlaufen. Man könnte schier zum Lurch werden. ■

Alle früheren Kolumnen im Eckpunkte-Archiv.

Rückblick

3. Dezember, Kino
108 erlauchte Herren jenseits der besten Jahre treffen sich, um ihren Anführer zu wählen: Was ein Club alter, weißer Männer sein könnte, ist, uniform in Schwarz und Rot gekleidet, das mächtige Kardinalskollegium, das im Vatikan Einen aus seinen Reihen zum Papst erheben soll. Konklave von Oscar-Preisträger Edward Berger schildert einen „Krieg“ an heiliger Stätte, in dem es weniger um Ideale als um Herrschaft geht.

30. November, Bayreuth, Studiobühne
Ein kontrafaktisches Gedankenexperiment: Was wäre, wenn jeder Mensch den Tag seines Todes kennte und darum nicht mehr in Ungewissheit leben müsste? Man kann Elias Canettis Stück Die Befristeten für unaufführbar halten - Regisseurin Marieluise Müller aber und ihr Ensemble gehen mutig daran, das vermeintliche Glücksversprechen als Ursprung endlos-unausweichlicher Furcht zu entlarven.

 


Theater Hof

Schauspiel
zuletzt
Thea von Tauperlitz
Die Mausefalle
Das Wunder von Hof
Plutos oder Wie der Reichtum sehend wurde


Musiktheater
zuletzt
Dornröschen
Der Duftmacher
Die Krönung der Poppea
Dante


Theater andernorts
zuletzt
Die Befristeten auf Bayreuths Studiobühne
Tristan und Isolde
auf dem Grünen Hügel
The Rake’s Progress
in Plauen
Jelisaweta Bam
im Vogtlandtheater


Konzert
zuletzt
Machet die Tore weit: Feinsinniges Adventskonzert des Kammerchors Hof
Teufelsgeigereien:
Die 24-jährige Anna Luise Kramb glänzt im Rosenthel-Theater
Der Process: Die Kafka-Band vertont den berühmtesten Roman ihres Namenspatrons
Concierto de Aranjuez: Ricardo Gallén brilliert mit Joaquin Rodrigos Meisterwerk



Film und Fernsehen
zuletzt
Konklave
The Apprentice
58. Internationale Hofer Filmtage
To the Moon


Kleinkunst, Kabarett, Comedy
zuletzt
Olaf Schubert bewertet die Schöpfung
Philipp Scharrenberg verwirrt Bad Steben
Birgit Süß:
Das Graue vom Himmel
Definitiv vielleicht:
Günter Grünwald in Hof


Anderes
zuletzt
Aus dem Nachlass: Unbekannte frühe Erzählungen von Siegfried Lenz
Gottesanbieterin: Die Lyrikerin Nora Gomringer und ihre Kontake zum Jenseits
Musik & Buch:
Franz Schmidt, Schubert/Webern/Mahler, Puccini, Holocaust
Aus dem Leben alter Häuser: Begleitbuch zur Hofer Stadtbrand-Ausstellung


Essay  
zuletzt
Das Findelkind Europas: Kaspar Hauser war nachweislich kein Fürstenspross
Das Kleinmaleins des Lebens

Erich Kästner, doppelt und dreifach
Schwebende Verfahren
Zum 100. Todestag Franz Kafkas
Ein Quantum Brecht muss bleiben
Zum 125. Geburtstag des Stückeschreibers


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Die Bücher
Erhältlich über den Buchhandel und online

KAISERS BART - (2022) Dreizehn Essays von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 344 Seiten, gebunden 25, als Paperback 18, als E-Book 9,99 Euro.
Auch Kaisers Bart kommt vor in diesem Buch, zum Beispiel der des mittelalterlichen Staufers Barbarossa. Wenn wir uns indes heute „um des Kaisers Bart streiten“, dann geraten wir nicht wegen einer royalen Haupt- und Staatsaktion, sondern um einer Bagatelle willen aneinander. Dem Gewicht nach irgendwo dazwischen halten sich die Themen der dreizehn Essays auf, die alle dem weiten Feld der Kulturgeschichte entsprossen sind. Umfassend recherchiert und elegant formuliert, erzählen sie über Bücher und Bärte, Genies und Scheusale, über selbstbestimmte Frauen, wegweisende Männer und Narren in mancherlei Gestalt, über Stern- wie Schmerzensstunden der Wort- und Tonkunst. Worüber berichtet wird, scheint teils schon reichlich lang vergangen – „sooo einen Bart“ hat aber nichts davon.



VERPESTETE BÜCHER - (2021) Elf literarische Epidemien und ein Epilog. Von Michael Thumser. Mit Buchschmuck von Stephan Klenner-Otto. Verlag Tredition, Hamburg, 172 Seiten, gebunden 16,99, als Paperback 8,99, als E-Book 2,99 Euro.
Dieses Buch ist nicht das Buch zur Krise. Freilich ist es ein Buch zur Zeit. Es will einem traditionsreichen, aber noch unbenannten Genre der Weltliteratur einen passenden Namen geben: dem Seuchenbuch. Erstmals erschienen die literaturkundlichen Essays während der Corona-Pandemie auf dieser Website. Vermehrt um ein Kapitel über Mary Shelleys Roman „Der letzte Mensch“, wurden sie sämtlich überarbeitet. Den ausgewählten Werken der deutschsprachigen und internationalen Erzählkunst ist gemeinsam, dass in ihnen Epi- und Pandemien eine Hauptrolle spielen. So belegen die Werkporträts, dass die Furcht vor Seuchen und die Hilflosigkeit gegen deren raumgreifendes Wüten die Geschichte der Menschheit als Konstanten durchziehen. Die Beispielhaftigkeit der vorgestellten Seuchenbücher verleiht ihnen über ihre Epochen hinaus Wirkung und Gewicht.

 

WIR SIND WIE STUNDEN - (2020) Neunzehn Essays von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 340 Seiten, gebunden 21,99, als Paperback 12,99, als E-Book 2,99 Euro.
Mehr oder weniger handeln alle hier versammelten Texte von Zeit und Geschichte, Fortschritt und Vergänglichkeit, von Werten und Werden, Sein und Bleiben, von Wandel und Vanitas. Zwischen 2010 und 2020 entstanden, wollen sie als Essays gelesen werden, folglich weniger als Beiträge zu den Fachwissenschaften, mit denen sie sich berühren, denn als schriftstellerische Versuche. Formal handelt es sich um sprachschöpferische Arbeiten eines klassischen Feuilletonisten, inhaltlich um Produkte von Zusammenschau, Kompilation und Kombination, wobei der Verfasser Ergebnisse eingehender Recherchen mit eigenen Einsichten und Hypothesen verwob, um Grundsätzliches mitzuteilen und nachvollziehbar darüber nachzudenken.


DER HUNGERTURM - (2011/2020) Dreizehn Erzählungen von Michael Thumser. Verlag Tredition, Hamburg, 288 Seiten, gebunden 19,99, als Paperback 10,99, als E-Book 2,99 Euro.
Von Paaren handeln etliche der dreizehn Geschichten in diesem Band: von solchen, die auseinandergehen, von anderen, die „trotz allem“ beieinanderbleiben, von wieder anderen, die gar nicht erst zusammenfinden. Dass die Liebe auch bitter schmecken kann, ahnen oder erfahren sie. Sich selbst und der Welt abhanden zu kommen, müssen manche der Figuren fürchten, den Kontakt zu verlieren, allein zu sein oder zu bleiben und nichts anfangen zu können, nur mit sich. Manche haben ihren Platz ziemlich weit fort von den anderen, zum Beispiel hoch über ihnen wie der namenlose Protagonist der Titelerzählung "Der Hungerturm". Irgendwann freilich werden sie aufgestört von der halb heimlichen Sehnsucht, mit jemandem zu zweit zu sein. Bei anderen genügt ein unerwarteter Zwischenfall, dass der Boden unter ihren Füßen ins Schwanken gerät und brüchig wird. Und es gibt auch welche, denen die Wirklichkeit in die Quere kommt, weil sie ein Bild von sich und Ziele haben, die nicht recht zu ihnen passen. Knapp und zielstrebig, bisweilen in filmartig geschnittenen Szenen und Dialogen berichten die zeitlosen Erzählungen davon, wie aus Unspektakulärem etwas Liebes- und Lebensbestimmendes, mitunter Tödliches erwächst.