7. Dezember 2024 Jedes neue Jahr hat seine neuen Botschafter. Unlängst schreckte uns die Deutsche Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde mit ihrer Entscheidung auf, sie habe zum „Lurch des Jahres“ 2025 den Moorfrosch, eine bedrohte Art, deren Männchen während der Paarung über die Gabe verfügen, blau anzulaufen. Wenig später zogen die Entomologen nach: Sie riefen als „Insekt des Jahres“ die Holzwespen-Schlupfwespe aus, die mit ihrem rahmensprengenden Doppelnamen ebenso gut in die Zeit passt. Vor so viel Natur darf sich die Kultur nicht geschlagen geben - und wartete nun mit einer Überraschung auf: Zum „Instrument des Jahres“ wählten die deutschen Landesmusikräte die menschliche Stimme. Aber ist sie das denn: ein Instrument? Durchaus, und sogar für ein besonders universales und natürliches dürfen wir sie halten. In puncto Tongebung ist sie irgendwo zwischen Bläsern und Streichern angesiedelt. Noch bevor unsere Vorvorfahren das Rad ersannen, hatten sie gelernt, ihre Stimmbänder mit Hilfe der Atemluft kontrolliert wie Saiten vibrieren zu lassen, um lebenswichtige Botschaften zu übermitteln, zu streiten, zu tratschen ... um zu singen. Bis heute bleiben wir ungeachtet aller technischer Fortschritte - vom ersten, noch kaum aufnahmefähigen Mikrofon bis hin zur unüberhörbaren Megafonie unserer Sozialen Medien - sklavisch den Verführungskräften der live vernommenen Menschenstimme instinktiv erlegen. Zwar regiert, manipuliert und imitiert uns das Virtuelle, Nicht-Wirkliche der digitalen Welt längst so gründlich, dass die Maschinen jeden beliebigen Sprach- und Sangesklang bis zur Unverwechselbarkeit nachzuahmen vermögen. Darum aber wächst erst recht unsere Sehnsucht nach der Echtheit und Intimität des eigenen wie eines fremden Organs. Hinter jener Authentizität verschanzen wir uns, mal willentlich, mal reflexartig: hinter einem der letzten Bollwerke unserer Einzigartigkeit. Mithin spricht einiges dafür, die Stimme zum „Instrument des Jahres“ zu küren, allein schon ihre Allgegenwärtigkeit in unseren zwischenmenschlichen Kontakten, den unmittelbaren sowohl wie den elektronischen. Mit ihrem unüberhörbaren Breitenspektrum zwischen geflüsterter Zärtlichkeit und ohrenbetäubendem Gebrüll entfaltet sie einen Überfluss, den kein Musikinstrument so je erreicht. Mag sein, dass sie, weil nicht auf Saiten, Tasten und Ventile angewiesen, aus jeder Logik klassischer instrumentaler Tonerzeugung herausfällt. Doch ihrer Eignung wegen, alles uns Wichtige zu vermitteln – Gefühle auszudrücken, Informationen mitzuteilen, Geschichten zum Leben zu erwecken –, hat sie seit jeher zu einem starken Kandidaten für das adelnde Prädikat getaugt, das sie von Januar an tragen darf. Überdies lädt uns solcher Ritterschlag mit Nachdruck dazu ein, auch unseren oft strapazierenden Umgang mit ihr zu überdenken. Wenn die Stimme den Ehrentitel verdient, dann wohl insgeheim auch darum, weil zu ihr unlösbar das Schweigen gehört. Einfach mal die Klappe halten: Wer weiß, wie das geht, versteht auch mal ganz für sich allein zu sein und, nicht minder nützlich, anderen stumm zuzuhören. Die Mute-Funktion, wie sie sich an Radios und Fernsehern, Navis, Konferenzsystemen und sonstigen zeitgemäßen Audiogeräten per Knopfdruck einschalten lässt, beweist uns hinlänglich: Um preis- und prädikatwürdig zu sein, muss etwas, das kunstreich Schall erzeugt, auch Ruhe geben können. Paradoxerweise sollen wir in diesen Advents- und Weihnachtswochen auf Märkten und in Kirchen singen, bis wir blau anlaufen. Man könnte schier zum Lurch werden. ■
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Rückblick
3. Dezember, Kino
108 erlauchte Herren jenseits der besten Jahre treffen sich, um ihren Anführer zu wählen: Was ein Club alter, weißer Männer sein könnte, ist, uniform in Schwarz und Rot gekleidet, das mächtige Kardinalskollegium, das im Vatikan Einen aus seinen Reihen zum Papst erheben soll. Konklave von Oscar-Preisträger Edward Berger schildert einen „Krieg“ an heiliger Stätte, in dem es weniger um Ideale als um Herrschaft geht.
30. November, Bayreuth, Studiobühne
Ein kontrafaktisches Gedankenexperiment: Was wäre, wenn jeder Mensch den Tag seines Todes kennte und darum nicht mehr in Ungewissheit leben müsste? Man kann Elias Canettis Stück Die Befristeten für unaufführbar halten - Regisseurin Marieluise Müller aber und ihr Ensemble gehen mutig daran, das vermeintliche Glücksversprechen als Ursprung endlos-unausweichlicher Furcht zu entlarven.
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