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Aus einer anderen Zeit
5. Juli 2025 Hermann Hesse gedenkt seines toten Bruders – Der Novellist Hartmut Lange überrascht mit einem Dramolett, als wärs von Tschechow – Der Bamberger Lyriker Gerhard Kraus belauscht den Klang der Sprach-Bilder – Wasser: ein Element in der Natur und der Kultur.
Von Michael Thumser
■ Hermann Hesse: Erinnerung an Hans. Mit einem Nachwort von Volker Michels. – Insel-Verlag (Insel-Bücherei Nr. 1533), 86 Seiten, gebunden, 15 Euro.
So manchem altem Mensch fallen ganze Jahre und Jahrzehnte seines Lebens aus dem Gedächtnis, doch die Bilder, Erlebnisse und Empfindungen seiner frühsten Jahre stehen dann umso plastischer in und vor ihm wieder auf. Kindheit ist unauslöschlich und ihre Arglosigkeit das verlorene Paradies. Eine heile Welt indes ist sie darum nicht. Zwei Mal, so erzählt Hermann Hesse in seinem ausführlichen „Gedenkblatt“ für den Bruder Hans, habe er sich jugendlich als älterer Bruder am jüngsten Familienspross schuldig gemacht: zunächst, als er in eingebildeter Überlegenheit den Glücksblick verachtete, mit dem der kleine Hans die kindlichen Geschenke auf dem weihnachtlichen Gabentisch betrachtete; dann wenig später, als er den Unterlegenen schlug und dafür dessen „leidenden“, „wehrlosen“ Blick empfing.
Unterlegen war Hans, solang er lebte, und die beiden Rückblenden Hermann Hesses sind nicht die einzigen schmerzlichen, aber die zeitlich ersten. Als der innerlich dauerhaft kraft- und farblose Bruder sich 1935 das dünnblütige Leben nahm, war er 53 Jahre alt, aber nie ganz erwachsen geworden. Ein unveränderliches Genie des Spiels, Kinderspiels schildert Hesse in ihm, zugleich einen von Schulversagen und schwarzer Pädagogik traumatisierten, lebensängstlich dem Alltag auch eines unauffällig subalternen Daseins nicht gewachsenen Absteiger. Dass der schüchterne Hans eine Familie gründet, geschieht wider alles Erwarten, loyal steht sie zu ihm, trotzdem kann auch ihr Rückhalt ihm den Widerwillen an seiner Stelle als Büroschreibkraft und die gleichzeitige paranoide Furcht vor Kündigung nicht nehmen.
In dieser Lebens- und Todesgeschichte erkennt Hermann Hesse eine mögliche, zum Glück vermiedene Variante der eigenen Biografie: Mehrfach drohte auch ihm eine vergleichbare Tragödie. Aus „Erlebnissen und Erschütterungen“ an die eigene Kindheit und die des Bruders gingen verbrämte Details wiederholt in Werke des Schriftstellers ein, namentlich in den frühen, noch heute ergreifenden Schülerroman „Unterm Rad“ von 1906, dessen untergehender Protagonist denn auch absichtsvoll Hans (Giebenrath) heißt. Vier bewegende Abschiedsgedichte auf den echten Hans bietet der heuer 82-jährige Volker Michels, der wohl kompetenteste Hesse-Experte überhaupt, in seinem Nachwort.
Nicht lyrisch zwar, doch sanft poetisch auch die Prosa des Erinnerungsbuchs, gehalten in jenem unprätentiös präzisen, unaufgeregt eindringlichen Tonfall geräuschloser, gleichwohl wahrnehmbarer Melancholie, der den ‚Hesse-Sound‘ seiner besten Reifewerke unverkennbar ausmacht. Hans sei, schreibt der Nobelpreisträger, „in seinem inneren Leben immer nach rückwärts gewendet“ gewesen, „zur Kindheit hin, zu jener unschuldigen, seelenhaften, aber kampflosen Welt der Träume und Spiele, des Singens, des Lachens um Nichts, des Wanderns ohne Ziel“. Dorthin, ins Richtungslose, folgt ihm der um fünf Jahre ältere Hermann nicht, während er beflissen, über abgründige Tiefpunkte und eigene Suizidversuche hinweg, die Mühsal seines „Stufen“-reichen Wegs unter die Füße nimmt. Mithin entfernen sich die Brüder voneinander, aber sie entzweien sich nicht. Mehr und mehr offenbaren die gelegentlichen Kontakte der beiden, wie verloren Hans sich durch seine enge Daseinssphäre bewegt – und wie ähnlich Hermann ihm im Grund des eigenen Wesens ist. Unmittelbar vor der Todesnacht wird ihm klar, was er stets ahnte: „Ich wusste ihn seinem alten Feind verfallen, dem Zweifel an sich selber, der ratlosen Furcht vor der Kompliziertheit und Grausamkeit der Welt.“
Dass der Ältere, Resilientere den Jüngeren, Trübseligen nicht als Schwächling und Duckmäuser abtat, sondern als unglückseligen, raren Mitmenschen ernst nahm, rührt nicht allein vom naturgemäßen Bewusstsein der Blutsverwandtschaft her, sondern ebenso von der Achtung und Rücksicht, mit denen Hermann Hesse auf Kinder sah. Auch in dieser noblen Prosaarbeit, die in seinem Schaffen keineswegs nur als Gelegenheitswerk und Nebensache gelten muss, entfalten die Reminiszenzen ans eindrucksreiche Knabenleben im pietistisch-strengen, aber liebevoll-förderlichen Elternhaus nicht idyllisch überzuckert, sondern sympathisch und empathisch ihren heilsam intimen Reiz, wenn auch, anheimelnd spürbar, einen aus einer anderen Zeit.
■ Hartmut Lange: Der etwa vierzigjährige Mann. – Diogenes-Verlag, 114 Seiten, gebunden, 24 Euro.
Während junge Autorinnen und Autoren den Durchbruch meist mit Romanen zu erringen trachten, versteift sich der heute 88-jährige Hartmut Lange seit über vierzig Jahren auf die kürzere bis kleine Form der Novelle und Erzählung. Diesem und jener mag er damit vorkommen wie „jemand aus einer anderen Zeit“, so wie der die Epochen und ihre Kleider wechselnde Protagonist des ersten Texts in seinem neuen Buch. Jener „etwa vierzigjährige Mann“ reist, jeweils von einer magischen Reisekutsche abgeholt und weiterbefördert, von einem Schauplatz der europäischen Geschichte zum anderen: aus dem gegenwärtigen Berlin ins antike Rom und ins Kolosseum mit seinen Tierhatzen und Gladiatorenkämpfen im Blutsand, ins Florenz der Renaissance am Tag dee Pazzi-Verschwörung gegen die Medici, die grausam Rache üben, ins revolutionäre Paris unterm Wahrzeichen der Guillotine, bis nach Auschwitz zu seinem Eingangstor ohne Wiederkehr. Immer ist er „auf der Suche nach Schönheit“, „nach Kunst, nicht nach der Wirklichkeit“, aber er findet jedes Mal Letztere, „nur Mord und Totschlag“ nämlich, die alles Schöne zur Lüge verhunzt, zahlt doch seit jeher jedes „Regime von Belang“ seine „Spesen“ mit Menschenleben. Leider entfaltet sich Langes sammelbildchenhaftes Roadmovie durch die Jahrtausende mehr wirr als irritierend, hart am Rand einer Banalität verlaufend, die sich im saftlosen Schlusssatz vollends als solche bekennt.
Dagegen reicht dem Autor kaum die Hälfte vom Umfang jener Novelle, um einen St. Petersburger Russen „Auf der Durchreise“ mit einem weltweisen Icherzähler über den Selbstmord philosophieren zu lassen. Intellektuell hochgespannt, rhetorisch zugespitzt bis spitzfindig und schlagfertig flink wie ein Degenduell geht die Verbalmensur vonstatten, um in ein zwiespältiges Urteil über den gesunden Menschenverstand zu münden: Zwar „kultiviert die Vernunft zwanghafte Handlungen“, scheitert aber, wie der Rest vom Menschen, am Tod.
Ein neues Buch? Auch wieder nicht. Hartmut Langes bestes Stück in diesem Spätwerk ist die szenische Fassung eines Stoffs, den er bereits vor einem halben Jahrhundert in ein Filmszenario, dann in ein Bühnenstück und ein Hörspiel verwandelt hat. Von Arthur Schnitzlers letzter Novelle „Der Sekundant“ leiht er sich die Ausgangssituation für „Die Unberührbare“: Titelfigur ist die steinkühl mondäne, erotisch undurchsichtige Baronin von Bebenburg, die einem jungen Offizier redegewandt immer dann das Wort abschneidet, sobald er anhebt, sie vom Duelltod ihres Gatten zu unterrichten. Für eine „übermächtige, ganz und gar unnahbare Schönheit“ wird die aristokratische „Marmorstatue“ allseits gehalten, was der Wahrheit nur zum Teil entspricht; immerhin räumt die Dame ein, sie habe „noch keinen Mann umarmt, den ich nicht verachtet hätte“. Pointiert und willentlich ein wenig nebulös liest sich das Dramolett, als wärs von Tschechow: wie eine „Komödie“, die partout keine sein will.
■ Gerhard Kraus: Republik der Morgendämmerung (und Paradiesdetails). Gedichte. – Athena-Verlag/Edition Exemplum, 143 Seiten, broschiert, 17,90 Euro.
Ein Buch gegen den Zug der Zeit? Statt der Götterdämmerung der freiheitlichen Demokratie zieht bei Gerhard Kraus eine „Morgendämmerung der Republik“ auf, und statt der fake news eines ins Autoritäre entartenden Weltmachtführers lässt er gleich im ersten Teil seines neuen Gedichtbands „Fakten“ sprechen. Freilich, mit handfesten Tatsächlichkeiten bekommen es die Lesenden auch diesmal nicht zu tun, so wenig wie in „Minimale Seelen“ und „Fake oder absolut Forellen“, seinen 2022 und 2023 an dieser Stelle vorgestellten Sammlungen.
Neuerlich entspinnt der Autor die Verse als frei assoziierte Gedankenfäden und Imaginationsgespinste von spürbar subjektiver Herkunft. Kaum je zu ahnen, welche konkreten Erlebnisse als Auslöser hinter den Gedichten stehen mögen; aber der 75-jährige Bambergers lässt auch nicht im Verborgenen, dass es sich um Augenblicksfragmente seiner aufs Abwarten und Beobachten fokussierten späten Autobiografie handelt. Auf ein traditionsbewusstes und aktuelles Riesenrepertoire reifen Sprachreichtums kann Kraus zurückgreifen, desgleichen auf eine lebhafte Fantasie, um die vermeintlichen Absurditäten seiner Gegenwelt plausibel zu machen. Seinen Texten erlaubt das, sich ungreifbar und unbegreifbar zu geben, ohne völlig ins Hermetische abzutauchen oder karg einzutrocknen.
„Adam“ und „Eva“ treten auf, der Garten „Eden“ ist Schauplatz – fraglich, ob ein „paradiesisch schöner“ (jedenfalls einer aus einer anderen Zeit) –, Bemerkungen zur Lage der Nation werden tiefstapelnd laut („Zwischenstopp D“), erotische Schaumträume glitzern. Dabei entfaltet der Dichter eine eigene, seine ‚andere‘ Art von Anschaulichkeit: Verlockende Wörter feilt er, dass sie glänzen – „Atemarithmetik“, „Zwischenlippen“ und „Lippenwölkchen“, „Aquatinta-Nymphen“, „Windhalm“ oder „Luftzertrümmerung“ … –, und bei seinem Spiel mit ihnen und gelegentlichen Fundstücken aus dem hippen Zeitgeist-Argot interessiert er sich mindestens so sehr für ihre Klänge und ihre unbegrenzte Kombinierbarkeit wie für das, was sie bezeichnen. In Zeilen, in denen Kraus sich weniger ummantelnd und bemäntelnd mitzuteilen scheint, nimmt die ächzend in die Jahre gekommene Welt das Aussehen von Blättern an, die „gelbverfallen“ unter herbstlichen Bäumen liegen: eine „Zufallsgegend“ und „eigentlich Schrott“.
■ Veronica Strang: Wasser. Eine Kultur- und Naturgeschichte. Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow. – Haupt-Verlag, 205 Seiten, Klappenbroschur, 28 Euro.
Wasser ist das Substrat des Lebens und birgt den Tod. Hekatomben von Matrosen gaben bei Fahrten auf See und Seen den Geist auf wie die scheiternden Jäger des weißen Wals in Herman Melvilles „Moby Dick“; immer häufiger löschen, im Zug menschengemachter Erderwärmung, Sturm-, Sturzfluten und Überschwemmungen Land- und Küstenstriche aus; und wer in den derzeit brütend heißen Tagen unabgekühlt in den Badesee springt, riskiert den plötzlichen Herzstillstand. Zugleich rinnt das Wasser durch Flüsse und Bäche als den Lebensadern der Natur, und über den Meeresspiegeln des Globus schwärmen die Menschen zu Handel, Wandel und Erkundungen aus oder in den Krieg wie der sagenhafte Seeheld Odysseus.
Unter den vielerlei Geistern, die sich - gleichsam über dem Wasser schwebend - wissenschaftlich, künstlerisch oder esoterisch mit ihm zu schaffen machen, zählt die britische Kultur- und Umweltanthropologin Veronica Strang sicherlich zu den seriösen und kundigen. Über das besondere Objekt ihres Interesses hat sie bereits drei Bücher vorgelegt, nun ist ihre „Kultur- und Naturgeschichte“ von 2015, mit zehnjähriger Verspätung, das erste, das auch auf Deutsch erscheint. Zu Recht „biokulturell“ nennt Strang das Verhältnis des Menschen zum feuchten Element: „In vielen Teilen der industrialisierten Welt ist es üblich geworden, über ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ zu sprechen, als wären es zwei getrennte Gebiete. Aber was für uns ‚Natur‘ ist, sehen, verstehen und erfahren wir durch eine kulturelle Brille. Und die ‚Kultur‘ ist in den materiellen Eigenschaften der Welt verwurzelt, die wir bewohnen.“ Wie wahr: zwar kein neuer Hinweis, aber einer, den man nicht oft genug geben kann.
Wasser sei, schreibt Veronica Strang, „buchstäblich für jeden Aspekt des Lebens lebenswichtig“, schon allein für alles, was fließt, auch im pflanzlichen und tierischen Organismus. Es lässt das Blut durch seine Gefäße strömen; „versorgt Fleisch und Knochen mit Flüssigkeit; leitet elektrische Ladungen als Gedanken durchs Gehirn; spült Abfallstoffe aus dem Körper; macht die Haut weich …“ – ein „Meer in uns“. Und so, fährt die Autorin fort, „war das schon immer“. Allerdings mag ihre „Kultur- und Naturgeschichte“ nicht einfach chronologisch historischen Abläufen folgen. Lieber ordnete Strang den zwangsläufig knapp, aber souverän überschauten, anschaulich und verständlich präsentierten Stoff nach Themen.
Um zum „Wasser auf der Erde“ zu gelangen, erzählt sie gleich anfangs vom „Wasser im All“, etwa auf dem Mars. In Mythen aus einer anderen Zeit, in Metaphern und Religionen wird sie fündig, indem sie auf mehr als nur das Tauf- und Weihwasser christlicher Provenienz stößt. Den Heilquellen in Badeorten redet sie ebenso das Wort wie dem Wasser als Energieträger, der seine Potenziale in Mühlen und Kraftwerken weitergibt. Dem Einfallsreichtum von Architekten, Stadt- und Landschaftsgestaltern ebenso wie von Ingenieuren und Baumeistern spürt sie nach an Springbrunnen und Wasserspielen mit ihrem zweckfreien „Freizeitwert“, desgleichen an Wasserstraßen und Kanälen, Brücken und Aquädukten. Sowohl als Medium des Waschens und der Reinigung erscheint das Wasser wie auch als behandlungsbedürftiger Rückstand, als Ab- und Schmutzwasser. Den Reichtum unter Wasser, so in bedrohten Korallenriffen, bewundert die Autorin und beobachtet das Gegenteil: abschmelzende Gletscher und Dürren, denen einst blühende Lebensräume zum Opfer fallen.
Der trotz der gebotenen Kürze gründliche Text und die opulente Bebilderung führen von der Elbe, Konstanz, Karlovy Vary über das alte Ägypten und das moderne China bis zu den Philippinen, fassen also das globale Ganze ins Auge. So wird die Autorin dem Umstand gerecht, dass Wasser stolze 71 Prozent der Erdoberfläche bedeckt, während nur etwa 29 Prozent aus festem Land bestehen. Und überhaupt scheinen dem Verlag die vier klassischen Elemente am Herzen zu liegen: Eine ähnliche Monografie wird er im September der „Luft“ widmen, der er im vergangenen Jahr mit dem Band „Wind“ schon mal Bewegung verschaffte. Fehlt nur noch ein Kompendium über das Feuer. Denn von der Erde – sowohl vom Nährboden vegetativer Fruchtbarkeit als auch und erst recht vom Blauen Planeten insgesamt – handeln ohnehin alle naturkundlichen Bücher auf ihre je eigene Art.
Dazwischen Existenzangst
Halb Bühnentexte, halb Plauderprosa: Roland Spranger, renommierter Autor aus Hof, breitet in seinem neuen Buch unterhaltsam und sarkastisch die Schieflagen im Künstlerleben zweier bekenntnisfreudiger Schauspieler aus. Zugleich denkt er mit existenzialistischem Tiefsinn über das Scheitern nach.
Von Michael Thumser
Hof, 5. April 2025 – Sollte Roland Spranger unter die Existenzialisten gegangen sein? In den ersten beiden Teilen seines neuen Buchs stellt der renommierte Hofer Autor zwei Figuren vor, die mal mehr, mal weniger dem Menschenbild entsprechen, wie es etwa Jean-Paul Sartre oder Albert Camus einst entwarfen: Sehr allein sind sie mit sich, ganz auf ihre persönliche Verantwortlichkeit und subjektive Sinnsuche geworfen, und arbeiten sich dabei an der Ahnung ab, all ihr Leben und Treiben könnte vergeblich und Beispiel sein für die Absurdität des Daseins überhaupt. Vor allem aber, und dezidiert im dritten und letzten Teil, geht Spranger mit dem eigenen Tun ins Gericht: Ist Scheitern womöglich unvermeidlich? Wäre es dann, statt zu klagen, nicht klüger, es zu akzeptieren und zu adeln als geglückte „Kunst der Bauchlandung“? (So heißt das Buch.) Aus Versagen und Niederlagen das Beste zu machen, empfahl im neunzehnten Jahrhundert schon Søren Kierkegaard, dänischer Vor-Denker Sartres und Camus’. Erst recht dachte Samuel Beckett, den Spranger auf der letzten Seite zitiert, nicht daran, aufzugeben: „Fail … Fail again … Fail better“ – scheitere und scheitere wieder, aber scheitere besser.
Zwei Schauspieler agieren als Protagonisten der ersten Teile, die im Grunde Schauspiele sind: Einpersonenstücke. Mit dem ersten, „Danner“, stand der 57-jährige Thorsten Danner als Titelfigur oft auf der Bühne, vor drei Jahren auch in Hof. Da äußert sich einer, der vom Theater und also von der „Hochkultur“ kommt und dort auch hingehört, einer, der sich selbst als „oldschool“ einschätzt und „nostalgisch, konservativ und romantisch“ nennt.
Darum zieht er die Bühne, weil sie „authentisch“ ist, dem Filmset vor, fühlt sich allerdings zunehmend „genervt“ von den abstrakten „Metaebenen“, wie Regisseure sie allzu gern in ihre Inszenierungen einziehen. Aber Danner kam zurecht – bis Corona den Kulturbetrieb und damit ihn selbst als „nicht systemrelevant“ lahmlegte. Nun saß er Tag für Tag „im Schlafanzug“ auf der Couch, lag „stundenlang in der Badewanne“ oder irrte als Spaziergänger verloren durch die Stadt. „Dazwischen Existenzangst.“
Das letzte Wort
Ein Monolog, mithin Theater für einen allein: In einer kunstvoll unverhüllten Lapidar- und Alltagssprache von proletarischer Poesie, geladen mit verqueren Aphorismen und satirischen Überraschungsgags, lässt Spranger seinen heroismus- und beschäftigungslosen Helden („Der Borkenkäfer ist aufgetreten, Danner nicht“) scheinbar frei assoziieren: ein Themen-Hopping. Aber der hohe Sarkasmusgehalt in und zwischen den Zeilen hält den Stoff zusammen. Er erweist, wie ein Alleingelassener sich mit seinem ausweglosen „Geworfensein“ abplagt (um es auf einen weiteren existenzialistischen Begriff, diesmal von Martin Heidegger, zu bringen). „Der Monolog“, sagt Spranger, sei in der Pandemie „das Format der Stunde“, und obendrein, sagt Danner, hat man „in einem Monolog immer das letzte Wort“. Das allerdings mag ihm der Autor nicht lassen: An den Sprechtext fügt er ein „Making of“ an …
… so wie an den folgenden „Schadt-Komplex“; Untertitel: „Ein B-Promi packt ein“. Soll heißen: Andreas Leopold Schadt packt aus. Den Stab bricht der aus Hof gebürtige Bühnen- und TV-Darsteller über seine Fernsehkarriere als unterbeschäftigter, aber mundartlich hundertprozentig „authentischer“ Kommissar im Franken-„Tatort“. Da war er von 2014 bis 2021 „für Fotokopien und fränkische Dialekteinsprengsel zuständig. Also für die Atmo.“ Dass er sich nur für „fränkisch-buddhistische Filmrollen“ – und, schon seiner langen Haare wegen, keinesfalls für Sexszenen – eigne, hat er lernen müssen. ‚Geworfen‘, wie Danner, also den blinden Zufällen der Absurdität ausgeliefert, ist auch Schadt: ein „seltsamer“ Schauspieler mit „Punk im Herzen, Verzweiflung im Kopf, aber immer eine Pointe auf den Lippen“. Galgenhumor: Denn das bittere Gefühl, auf das er in Sprangers Spiel- und Lesestück wiederholt zu sprechen kommt, ist, mit ausdrücklicherer Wortwörtlichkeit als bei Danner, die Frustration, die „Enttäuschung vom Leben“ – wenngleich sie „das Ende einer Täuschung“ birgt –, auch die „Erniedrigung“ und „Demütigung“. Dünner, aber nicht dümmer, redselig, aber nicht geschwätzig sammelt sich die Substanz dieses schlitzohrigen, abermals zerstreuten Textes („Ich komm schon wieder vom Thema ab“). Seine Offenheit und Lebensnähe verhindern, dass er mit seinem Un- und Missmut zum Lamento missrät.
Spiele im Als-ob
Im Theater spiegelt sich das Leben, denn das ist selbst ein Spielen, ein Durchspielen von Möglichkeiten, oft genug ein Sich-Einrichten in einem Als-ob. So unterhaltsam wie beispielhaft stehen Danner und Schadt, von Spranger literarisch gedeutet und verwandelt, vor der Aufgabe, sich inmitten von Unbegreifbarem und Unberechenbarem ihre Werte, und zuallererst den Selbstwert, selbst zu schaffen. Misslingen eingeschlossen: Dem Sisyphos des Existenzialisten Albert Camus gleitet der gerollte Felsblock Mal um Mal kurz vorm Gipfel aus den Händen.
Im dritten Teil des Buches landet der 63-jährige Roland Spranger selber auf dem Bauch. Offensichtlich fürchtet auch er als Schriftsteller, vor den Trümmern seiner Kunst zu stehen („Ich habe von meinen Flops mehr gelernt als von meinen Erfolgen“). Man meint zu spüren, wie auf jeder in Angriff genommenen Seite „Existenzangst“ auch auf ihn lauert, die Furcht vor der Schreibblockade und überhaupt vor der Sinnlosigkeit des ‚Textes an sich‘. Warum nur tut die Künstliche Intelligenz von ChatGPT sich so ärgerlich und beneidenswert leicht mit dem Formulieren, noch dazu in Windeseile? Frappierend weise weist die KI dem Autor nach, dass sie niemals scheitern kann: „Ich habe keinen Stolz, keine Angst und keinen Wunsch nach Anerkennung.“ Und sie stärkt ihm obendrein wohlmeinend den Rücken: „Dein Blick auf die Welt, dein Humor, deine Kämpfe“, so spricht sie ihm zu, „all das kann KI nicht fühlen, nicht echt erleben. Das Authentische, das Unperfekte, das, was zwischen den Zeilen lebt – das ist die Magie, die nur du einbringen kannst.“ Sie spricht von: Kunst. Auch mühevolle Autoren von Sprangers Schlag können sich ein Beispiel an Sisyphos nehmen, der in Camus’ Parabel den Stein unverdrossen bergan rollt: Wer das vermag, darf hoffen, ein einigermaßen „glücklicher Mensch“ zu sein, immer auf dem steilen Weg das Wörtergebirge hinauf.
Bücher & Musik
14. Dezember 2024 Sonne, Mond und Sterne – Bachs „Goldberg-Variationen“ für Orchester – Auf der Suche nach dem Stein der Weisen – Abschiedswerke mit dem Gropius-Quartett – Bayern als „Geschichtsraum“ – Harald Gröhler, „verwundernswert“ – Klaviermusik zu zweit von Liszts Musterschülerin.
Von Michael Thumser
■ Karen Masters: Die Geschichte der Astronomie. – Übersetzt von Dörte Fuchs und Jutta Orth. Haupt-Verlag, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen, gebunden, 38 Euro.
Eine Revolution bedeutet selten Gutes. Dabei ist das lateinische Ursprungswort von Grund auf wertfrei: revolutio, für Umlauf, Um- oder Zurückwälzung. „De revolutionibus orbium coelestium“ hieß die 1543 in Nürnberg gedruckte Schrift des Nikolaus Kopernikus – „Sechs Bücher über die Umlaufbahnen der Himmelskörper“. Weil das Buch den bis dahin geltenden Geozentrismus widerlegte, den der römische Alexandriner Claudius Ptolemaeus anderthalb Jahrtausende zuvor in seinem „Almagest“ festgelegt hatte, trägt die von dem ostpreußischen Domherrn eingeleitete Revolution als „Kopernikanische Wende“ bis heute seinen Namen: Die Sonne, statt der Erde, stellte sie ins Zentrum des Planetensystems.
Zwei kosmische Konzepte – zwei von 115 grundlegenden Werken der Himmelskunde, denen die Autorin ihre bibliophile Aufmerksamkeit widmet, um an ihnen beispielhaft die Geschichte ihrer Wissenschaft zu erzählen. Eine gut sortierte imaginäre Bibliothek durchquert sie, von „Peri uranú“ (oder „De caelo“), einem der Hauptwerke des Aristoteles, bis zu Stephen Hawkings „Kurzer Geschichte der Zeit“. Zugleich lässt sich ihr Buch wie ein verständlicher Grundkurs ins Fach lesen und betrachten.
An europäischen Kapazitäten wie den Herren Brahe und Kepler, Galilei oder Herschel kommt die 45-jährige US-amerikanische Hochschul-Astronomin vorüber, blickt jedoch auch zu den genialen Imaginationen der Araber und noch weiter zu den Kosmologien etwa des frühen Fernen Ostens oder des präkolumbischen Lateinamerikas. Überdies darf Masters es sich als Verdienst anrechnen, neben einer überwiegenden Mehrheit von Männern auch ein paar einflussreiche Sternguckerinnen namhaft zu machen: so die drei Marien Lalande, Somerville und Ward.
Seit Anbeginn wurde Astronomie zur Nutzanwendung betrieben, etwa um Zeitpunkte für Saat und Ernte zu ermitteln oder sich über Glück und Schicksal klar zu werden. Denn Astrologie war sie die längste Zeit auch. Stets aber hielten die seriösen unter den Koryphäen aller Epochen und Weltgegenden sie als möglichst exakte Wissenschaft hoch. Frappierend veranschaulichen die zahllosen Illustrationen des gut lesbaren Bandes, mit welcher Genauigkeit die Gelehrten den Himmel über sich auf Plänen, Globen und in Atlanten kartografierten; und mit welch geistvoller Fantasie sie die verstreuten Lichtpunkte zu Bildern zusammenschauten: zu Bär oder Tiger, zum Wassermann, „Wintermacher“ oder Elch. Später versicherten sie sich mit Fernrohren, Teleskopen und von Observatorien aus allmählich, dass es sich beim Firmament nicht um ein festes Gewölbe oder ein Konstrukt konzentrischer, klingender Kristallschalen handelt.
Indem die Experten von der Erde aus ‚nach draußen‘ blicken, forschen sie auch ‚nach innen‘, blicken längst immer tiefer hinein in die Galaxis und zum Schwarzen Loch als deren Kern. Unterm Aspekt kosmischer Unendlichkeit betrachtet, liegt die Erkenntnis weniger als einen Wimpernschlag zurück, dass es in der Milchstraße mehrere hundert Milliarden Sterne und im Weltall wohl hundert Milliarden Galaxien gibt. So porträtiert Karen Masters die Astronomie nicht nur als exakte Naturwissenschaft, sondern auch als interpretierende, reflexive, kontextuelle Geisteswissenschaft: Ihre Bilder-Geschichte handelt vom Anschauen des Himmels und den Anschauungen über ihn, von seiner kreativen Darstellung, vom Mutmaßen über Sonne, Mond und Sterne und vom spekulierenden Denken über Raum und Zeit im denkbar größten Maßstab.
■ Felix Mendelssohn Bartholdy, George Alexander Albrecht, Antonín Dvořák: Streichquartette. – Gropius-Quartett, 1 CD, Hänssler Classic, Nr. HC23076, etwa 17 Euro.
Kommt da Schlimmes auf die vier zu? Bang und bebend stürzt sich das Gropius-Quartett in den Kopfsatz des f-Moll-Werks opus 80, mit dem Mendelssohn schmerzzerrissen ein Epitaph für seine betrauerte Schwester Fanny aufrichtete; nur wenige Wochen danach starb er selbst, ihr hinterher. In Antonín Dvořáks (leider viel zu oft eingespieltem) „amerikanischem“ F-Dur-Quartett opus 96 brechen durch eine scheinbar nicht zu trübende Naturfrische die Traurigkeit des Lentos und, mehr noch, die gespenstischen Unheimlichkeiten im Scherzo. Insgesamt vier Werke, drei große und eine Zugabe (von Pablo Casals), stellte das Ensemble zusammen und setzte sich dabei vor allem mit bedeutenden Namen und prominenten Partituren auseinander.
Zu (mindestens) drei Städten unterhält das Ensemble mehr oder weniger enge Beziehungen. Einmal zu den Lebensmittelpunkten seines Namenspatrons Walter Gropius, zu Berlin und Weimar: Dem visionären Begründer des Bauhauses und seinen Haupttugenden „Klarheit und Kühnheit“ folgend, ist es der Gruppe – in der Indira Koch und Friedemann Eichhorn die Geigen spielen – darum zu tun, „die Struktur eines Werkes freizulegen und durch leidenschaftliche Interpretation lebendig zu machen“. Dies gelingt durchweg vortrefflich. Zum andern liegt auch Hof im Einflussgebiet: Dort, bei den Symphonikern, hat Gropius-Bratschistin Alexia Eichhorn jahrelang als Konzertmeisterin mit der Violine amtiert, und Cellist Wolfgang Emanuel Schmidt, wiederholt Gast des Orchesters, wird es am 6. Juni dirigieren und zugleich den Solopart in Aulis Sallinens „Nächtlichen Tänzen des Don Juanquixote” übernehmen.
Das chef-d’œuvre ihres – auch aufnahmetechnisch – herausragenden CD-Debüts schuf ein Tonkünstler, der als Komponist weit weniger bekannt wurde denn als Dirigent: George Alexander Albrecht, 2021 mit 86 Jahren gestorben, schrieb drei Jahre zuvor dem Ensemble ein Quartett auf die Leiber ihrer Instrumente. „So und nicht anders geht mein Stück“, rief er kurz vor seinem Tod den Gropius-Musikerinnen und -Musikern zu, nachdem er ihre Interpretation gehört hatte. Ein Lebens- und Weltabschiedswerk, mit dessen Titel sein Schöpfer bekennt, er fühle sich endlich „Von Angst und Trauer erlöst durch die Liebe“. Die Interpreten musizieren es mit der höchst beredten Poesie, mit der es, im Ton einer gemäßigten, der Spätromantik etwa des frühen Arnold Schönberg verhafteten Moderne, komponiert ist. Poesie auch liegt den fünf ineinander übergehenden Teilen zugrunde: Zwei von Verzweiflung sprechende Gedichte Else Lasker-Schülers („Chaos“, „Mein Tanzslied“) geben den bitteren Ton der ersten Sätze an; bis die Seele, in ihrer „Urangst“, nach einem „Teufelstanz“ sich auf das berühmte Gebet Franz von Assisis besinnt - „O Herr, mach mich zum Werkzeug deiner Gnade“ - und „still“ und „feierlich“ in die unumstößliche Überzeugung letzter, höherer, ewiger „Liebe“ findet.
■ David Brafman: Die Kunst der Alchemie. – Übersetzt von Susanne Schmidt-Wussow. Haupt-Verlag, 176 Seiten, zahlreiche Abbildungen, gebunden, 36 Euro.
Noch ein Bilder-Buch (wie Karen Masters’ Astronomiegeschichte, siehe oben) – und diesmal kann es gar nichts anderes sein. Denn indem der Autor im Untertitel des so wunderreichen wie wunderlichen Bandes die „Weltgeschichte“ der Alchemie buchstäblich nachzeichnet, versenkt er sich vor allem in eine Welt der Bilder.
Der lesende Betrachter mag den esoterischen Ursprüngen und Absichten, Schlussfolgerungen und Erfolgswegen jener keineswegs exakten Wissenschaft von ehedem kaum folgen können und wollen. Dafür eröffnet sich ihm von Seite zu Seite mehr die Einsicht, dass es sich bei ihr um eine ungemein ausgedehnte, ungeheuer komplexe Architektur aus Spiritualität, Spekulation und strengem Denken in Symbolen handelte.
Im alten Ägypten, in China und Indien, im Orient und namentlich in Europa spürt Brafman – am Getty Research Institute in Los Angeles „Kurator für seltene Bücher“ – Zusammenhänge auf, die sich von der Antike bis ans Ende des achtzehnten Jahrhunderts den Mystizisten offenbarten: ein Netz aus Kosmogonie und „Naturphilosophie“, Materialwissenschaft und dem Prinzip des chemischen und physikalischen Experiments samt seiner detaillierten Dokumentation. In ihren Schriften transformierte sich die ars magna, die „große Kunst“, zur darstellenden Kunst entweder skizzenhafter oder fleißig elaborierter Illustrationen, auch zu Sonderformen der Kalligrafie. Das Buch – oder die Schriftrolle –: eine Instanz höchster Autorität.
Überhaupt war Umformung, „Transmutation“, das innere Prinzip der Alchemie. Dem „Stein der Weisen“ galt letztlich das Streben der Adepten, dem nie entdeckten, „geheimnisvollen Mineral“ und Universalmittel des solve et coagula, des Auflösens und neuerlichen Zusammenfügens. Unter seiner Einwirkung sollte sich alles Unedle in Makelosestes, wie Gold, verwandeln und alles Verwesliche, wie der Mensch, Anteil am Unvergänglichen erhalten. Ziel war die vollendete „Nachahmung der Natur“ im Labor, ein Imitat der Schöpfung, manipulierbar von Eingeweihten, die ihrerseits deren Geschöpfe waren.
Der mittelalterlichen Kirche musste dergleichen widerstreben, fürchtete sie doch dämonische Versündigungen an den heiligen Plänen, die Gott mit Welt und Menschheit hatte. Die Aufklärung, erst recht der Entwicklungseifer des neunzehnten Jahrhunderts verwiesen die Alchemie hohnlächelnd in die Winkel der Scharlatanerie, Trickser- und Quacksalberei. Wenn David Brafman sie dennoch gleich im Vorwort als die „vielleicht wichtigste Erfindung nach dem Rad und der Beherrschung des Feuers“ apostrophiert, lässt er sich wohl von seiner Begeisterung hinreißen. Unbestreitbar aber „durchdringt ihr Geist – der Drang, die Natur umzuwandeln und sie nach dem Willen der emsigen menschlichen Fantasie zu beugen – noch heute die Welt, die wir erschaffen“: so bei der Erzeugung pharmazeutischer Präparate, der Metallurgie, der Herstellung von Sprengmitteln und, für die nach sibyllinischer Anschaulichkeit drängende Alchemie ganz wichtig, von Farben … Deren „Theorie“ wollte der französische Grundlagenforscher Michel Eugène Chevreul zu fassen kriegen, der kein Alchemist, sondern Chemiker war, aber mit unvergänglichem Leben gesegnet schien, bis er 1889 dann doch starb – mit 102 Jahren. Ihn würdigt Brafman in seinem Buch mit der Reproduktion einer Chromolithografie: „Das vollkommene Schwarz“.
■ Bernhard Löffler: Das Land der Bayern. – Verlag C. H. Beck, gebunden, 400 Seiten, 35 Euro.
Wer – zum Beispiel – in Flensburg, Saarbrücken oder Brandenburg Menschen nach unveränderlichen Kennzeichen Bayerns fragt, trifft für gewöhnlich auf Idealvorstellungen von naturbelassenen Sonnenidyllen und beeindruckenden Gipfelpanoramen, ländlich-sittlicher Lebensbehaglichkeit und dem „Kini“, der einsam an einem Fenster von Neuschwanstein sitzt. Aus solchen Abziehbildern schaut ein Bayern heraus, das mehr die Atmosphäre der Bauernromane von Ludwig Thoma atmet als die gegenwartsgemäß feinstaubbelastete Luft des „Laptop und Lederhosen“-Freistaats.
„Jeder kennt Neuschwanstein“: Mit diesem Satz eröffnet Bernhard Löffler sein Buch, um freilich auf den folgenden 329 Seiten (vor dem ausführlichen Anmerkungsapparat und dem Register) klarzustellen, dass, wer nur vom Traumschloss weiß, von Bayern noch lange keine Ahnung hat. Die Sache liegt weit komplizierter, das lassen schon die zehn Jahre ahnen, die der Autor – Professor für Landesgeschichte an der Regensburger Universität und, unter anderem, Mitglied der Bayerischen sowie der Europäischen Akademie der Wissenschaften – in das komplexe Thema investierte. Freundlich, aber bestimmt sagt er allen „selektiven Klischees“ und zusammenhanglosen, „bewussten Konstruktionen“ den Kampf an.
Denn „Raum, Ort oder Landschaft erschöpfen sich keineswegs in ihren topografischen Realitäten“. Indem Löffler „räumliche Zusammenhänge“ in der bayerischen Geschichte der vergangenen gut zweihundert Jahre ermittelt, will er „strukturelle Entwicklungsstränge“ zu fassen kriegen. Mithin schreibt er eine „Raumgeschichte“, die „Fragen nach der Erfassung, Gliederung und Ordnung wie nach den Wahrnehmungen, Wirkungen und Verflechtungen“ jenes Raumes in den Mittelpunkt stellt. Dabei scheut er sich nicht, das „höchst umstrittene und begründungspflichtige“ Konzept der „Raumgeschichte“ selbst zur Debatte zu stellen. Mit weitreichenden Kenntnissen, auch zunftgemäßem Fachjargon geht Löffler in seinen vielseitigen und umfassenden Ausführungen zu Werke, die nach hellköpfigen, aufmerksamen Lesenden verlangen.
Darum könnte, wer dem achtbaren Verlag übelwollte, Aufmachung und Untertitel des Buchs für versuchte Täuschung halten. Immerhin zeigt das witzige Umschlagbild bäuerliche Matronen und Mannsbilder, die in Kittelschürzen und Krachledernen dem Betrachter dralle Rückseiten entgegenstrecken, während sie durch Spalten in einem Bretterzaun Ungeheuerliches, wenn nicht Anstößiges zu beobachten scheinen. Auch bedient sich der Autor nicht eben oft der ‚anekdotischen Methode‘, der zufolge Bayerns Geschichte in pointierten „Geschichten“ zu erzählen wäre, wie der Untertitel glauben macht. Verstärkten Anstoß dazu hätte ihm der 1986 gestorbene, von ihm im Vorwort zitierte Wiener Kabarettist Helmut Qualtinger geben können: „Die Ungerechtigkeit der Welt beginnt bereits mit der ungleichen Höhe und Verteilung der Berge.“
■ Johann Sebastian Bach: Goldberg-Variationen. Arrangiert von Robin O’Neill. – Philharmonia Orchestra, Dirigent: Robin O’Neill, 1 SACD, BIS, Nr. BIS_2658. Etwa 20 Euro.
Schlüsselwerke der klassischen Musik schreien nach Legenden, und die halten sich, egal ob mehr oder weniger Wahrheit in ihnen steckt. Von den dreißig „Goldberg-Variationen“ wird erzählt, Bach habe sie ersonnen, damit sein fähigster, erst vierzehnjähriger, doch weit über sein Alter hinaus talentierter Schüler Johann Gottlieb Goldberg sie dem Grafen Hermann Carl von Keyserlingk nächtens vorspiele; der in Dresden Dienst tuende russische Diplomat nämlich soll darin ein Mittel gegen seine quälende Schlaflosigkeit erhofft haben. Zum Ausspannen, Einnicken gar eignet sich die Komposition – vielleicht die berühmteste, sicher eine der brillantesten Variationenreihen der Musikgeschichte – allerdings nicht. Ihren im Wortsinn legendären Ruf und Rang verdankt sie Bachs singulären polyphonen Künsten, dank derer seine Einfallskraft aus einer gleichbleibenden Basslinie eine Blüte nach der andern in unüberschaubarer expressiver, rhythmischer, harmonischer Vielfalt sprießen lässt – für alle Cembalisten und Pianistinnen eine Herausforderung ihrer technischen Meisterschaft und gestischen Gestaltungskraft.
Zahllos und aufs Unterschiedlichste wurde das Werk komplett oder in Teilen für Vokal- und Kammerensembles, auch für kuriose oder experimentelle Besetzungen arrangiert. Robert O’Neill entschied sich für ein Streichercorps, in das sich nach barocker Manier Flöte, Oboe und Englischhorn einfügen – sowie zwei Fagotte, denn wenn der Dirigent nicht dirigiert, musiziert er im Philharmonia Orchestra selbst als Fagottist. Auf diese Weise nähern sich Intonation und formale Vielfalt der Teile klanglich den „Brandenburgischen Konzerten“ Bachs oder seinen Orchestersuiten („Ouvertüren“) an: im Tutti oder konzertierend, als Triosonate, als zweistimmige Charakterminiatur. Von vornherein entging der Arrangeur der Versuchung, den Ensembleklang irgendwie in jener spätestromantischen Weise aufzufächern, in der es die Meister der Neuen Wiener Schule mit Partituren Bachs taten. Der hätte an O’Neills Transformation und ihrer hohen emotionalen Bildkraft womöglich selbst Geschmack gefunden: Sie klingt, als stammte sie vom Meister selbst.
■ Harald Gröhler: Das Land, aus dem ich herausmusste. – Zweisprachig deutsch und englisch (übertragen von Mitch Cohen), Palm-Art-Press, 150 Seiten, gebunden, 24.80 Euro.
Er hat sich weidlich umgetan in der Welt, in der richtigen und jener der Fantasie. 1938 im niederschlesischen, heute polnischen Jelenia Góra (Hirschberg) geboren, wuchs Harald Gröhler im fichtelgebirgigen Schönwald auf und ging in Hof zur Schule, wo er 1959 am Jean-Paul-Gymnasium das Abitur machte (das in seinem Wikipedia-Artikel seltsamerweise noch immer Albertinum heißt). Schon als Schüler reiste er viel, weit und „riskant“; zwei Mal lehrte er als Gastprofessor in den USA; ins Internationale griffen und greifen noch seine Verbindungen aus, nicht zuletzt nach Polen. Und sie reichen weit durch die Zeiten: Den alten Goethe hat er bei „Ausfahrten mit der Chaise“ begleitet, „Klaus Störtebeker, Volksheld und Pirat“, nahm ihn auf Kaperfahrt mit, in „Inside Intelligence“ wählte sich der Autor den „BND und das Netz der großen westlichen Geheimdienste“ zum Stoff eines investigativen Sachbuchs.
Sein Alter von heuer 86 Jahren kann ihn offenkundig nicht ermüden. Mindestens drei Bücher verließen oder verlassen 2024 seine Schreibwerkstatt: „Nothammer“, ein Roman, der sich mit dem Thema Migration auseinandersetzt; die Gedichte der Sammlung „Tagfallen“; und „lyrische Miniaturen“ über „Das Land, aus dem ich herausmusste“, oft sehr knappe, aber auch schon mal zweiseitige Gedichte in Prosa (warum auch immer auf Deutsch und Englisch in einem Band gedruckt). Mit ihnen kehrt Gröhler – auch wenn der Verlagsmitteilung zufolge Flucht „ein häufiges Thema“ ist und „die Geschlechtervielfalt nicht außer Acht gelassen wird“ – vor allem in den eigenen subjektiven Kreis des Beobachtbaren zurück.
Dafür scheint ihm der arglose, auch das Unglaubliche und Märchenhafte als wirklich akzeptierende Weltdeuterblick von Kindern geeignet. Ihre Sprache, unverstellt gesättigt von der wahrgenommenen, aber oft unverstandenen Umgebung, entfalte mit jedem Lebensjahr mehr eine eigene, die Erwachsenen erleuchtende oder überraschende Wortkunst, äußerte Gröhler wiederholt. Unter diesem Eindruck entstanden bereits Teile seiner ersten eigenständigen Buchveröffentlichung, der 1981 auch in Hof öffentlich vorgestellten „Geschichten mit Kindern und ohne“. Gröhlers „zarte Kraft“, urteilte der große Peter Rühmkorf, liege in seinem „sanften Spiel mit dem Nichtgeheuren“ und besonders dort, „wo es etwas Verwunschenes und Verwundernswertes teils zu entblättern, teils zuzudecken gibt“.
■ Piano à 4 mains (Werke für Klavier zu vier Händen von Marie Jaëll, Franz Liszt und Camille Saint-Saëns). – Claudine Orloff, Burkard Spinnler, Klavier. Cypres, 1 CD, Nr. CYP2628, etwa 20 Euro.
Marie Jaëll – nie gehört? Immerhin, als im vergangenen Jahr die achtteilige CD-Edition „Compositrices“ des Labels Blue Zane/Palazetto unter Klassikfreunden verdient Furore machte, war die Dame auch dabei – eine der viel zu lang unentdeckten Tonsetzerinnen Frankreichs aus dem Jahrhundert etwa zwischen 1850 und 1950. Franz Liszt, dessen Spiel „alle Sinne“ der angehenden Pianistin „verwandelte“ und der ihr Lehrer wurde, hielt sie für eine der besten Klaviervirtuosinnen seiner Zeit, wusste aber ebenso die Komponistin in ihr zu schätzen. „Stünde über Ihrer Musik ein Männername“, da war er sich sicher, „erklänge sie auf allen Klavieren“.
Nun erklingt sie auf einem Flügel der Bayreuther Firma Steingraeber: Dort, im hauseigenen Kammermusiksaal, haben Claudine Orloff und Burkard Spinnler im November vergangenen Jahres Jaëlls „Douze Valses et final aufgenommen“. Auf dem „Grand Piano“ klingen die zwölf Charaktertänze spielerisch mal leichtherzig, mal schwermütig, durchweg getragen von der naiven Lyrik, die den Miniaturen von der Komponistin in Versen unterlegt wurde. Die hat sie selbst auf Deutsch geschmiedet, im Beiheft sind sie mit- und nachzulesen. Mithin erzählen Ton und Wort von „toller“ Freude und „köstlichem Traum“, von „bösen“ sowohl wie „niedlichen Kindern“, von Philosophen und Elfen, auch vom „verblühten Glück“. Im achten Walzer, in dem ein Mädchen um die Liebe eines „Hirtenknaben“ bangt, klingt sogar eigentümlich der „Leiermann“ aus Franz Schuberts „Winterreise“ an – wenn auch gleich danach „der Jüngling und sein Mägdelein“ sich beim Tanz drehen.
‚Erwachsener‘ im Ton, wenngleich nicht minder luzid die „Stimmen des Frühlings“ („Voix de printemps“), die Jaëll und die Interpreten sodann anstimmen: In den sechs kleinen Stücken nehmen sie den Hörer auf eine „große Straße“ und eine optimistische Reise mit, die zwar geräusch- und effektvoll in einem Sturm („L’orage“) ihren tobenden Höhepunkt findet, doch gleich danach in eine „Idylle“ mündet. Auch den Mentoren der Komponistin erweist das Duo die Reverenz: Gleichsam als Zugaben fügen sie zwei Piècen von Camille Saint-Saëns und fünf Bagatellen aus Liszts „Weihnachtsbaum“ an. Die allerletzte spielen sie auf dem „Liszt-Flügel“, den das Haus Steingraeber dem (1886 in Bayreuth gestorbenen) Tastenhengst zwischen 1878 und 1882 zur Verfügung stellte. „Ehemals“ ist das Werkchen überschrieben: Noch authentischer kann „Originalklang“ in der „historischen Aufführungspraxis“ nicht ausfallen.
Wie würdig ist der Mensch?
Schatzgräbereien im Nachlass toter Autorinnen und Autoren sind ein riskantes Geschäft. Beim vor zehn Jahren gestorbenen Siegfried Lenz allerdings gelang 2016 mit dem „Überläufer“ ein verlegerischer Coup. Jetzt traten 34 bislang unveröffentlichte oder verstreut publizierte Kurzgeschichten ans Licht.
Von Michael Thumser
2. November 2024 – Manchmal rückt einem Schriftsteller die Wirklichkeit unbemerkt näher auf den Leib, als ihm wahrscheinlich lieb wäre. Am 16. Oktober 1977 hielt sich Siegfried Lenz zusammen mit Heinrich Böll und Max Frisch sowie dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld als Gast Helmut Schmidts im Bonner Kanzlerbungalow auf; immer wieder verließ Schmidt die debattierende Runde, ohne mitzuteilen warum. Der Grund: In einem Nebenraum wurde er im Geheimen darüber informiert, wie in Mogadishu die Vorbereitungen zur Erstürmung der von RAF-Terroristen entführten Lufthansa-Maschine Landshut gediehen.
Siegfried Lenz war nicht der Autor, aus dem Ereignis den Stoff für einen literarischen Politthriller zu gewinnen, so wenig wie seine genannten Kollegen. Für ihn fand das aktuelle Politische gleichsam in einem Nebenraum statt, ohne sich darum seiner Wahrnehmung und skeptischen Beurteilung zu entziehen. So findet sich in dem Band „Dringende Durchsage“ eine Geschichte, die der Autor einer Festschrift zu Schmidts siebzigstem Geburtstag beisteuerte und die – ausgehend von einer turbulenten Fernsehdiskussion zum Thema Naturschutz und fortgesetzt auf einem eskalierenden Demonstrationszug – davon berichtet, wie ursprünglich wohlmeinende Umweltaktivisten sich radikalisieren, wie also, um einen berühmten Untertitel Heinrich Bölls zu zitieren, Gewalt entsteht und wohin sie führen kann.
Einer der interessantesten Texte in dem Band, den Lenz’ Hausverlag Hoffmann und Campe zum zehnten Todestag des Schriftstellers am 7. Oktober herausgab; vor allem, wenn auch nicht ausschließlich stammen sie aus dem unveröffentlichten Nachlass. Zwischen dem „menschenunwürdig“ entbehrungsreichen Nachkriegsjahr 1948 und 1957, mithin unterm Zeichen des sogenannten Wirtschaftswunders, entstand das Gros der 34 Stücke (von denen 23 zuvor ungedruckt blieben). Ersichtlich wird in ihnen, wie ein unzweifelhaft – und bekennend – bürgerlicher Zeitzeuge Zugang sucht und findet in einen Literaturbetrieb, der sich nach zwölf Jahren völkisch-brauner Dichtung wieder in die freie Welt und an ihr orientiert.
Fingerübungen und Kleinodien
Aus dem verborgenen Erbe ‚großer‘, aber toter Autorinnen und Autoren zu schöpfen, ist immer mit dem Risiko verbunden, der anerkannten ‚Größe‘ der Ausgebeuteten post mortem durch Kleinmeistereien Abbruch zu tun. Als der Verlag 2016 Lenz’ (zweiten) Roman „Der Überläufer“ 65 Jahre nach der Entstehung publizierte, trat allerdings nicht einfach ein unbekanntes Frühwerk, sondern eine seiner besten Arbeiten überhaupt ans Licht. Jetzt indes, in den Erzählungen, bekommen es die Lesenden meistenteils tatsächlich mit Talentproben und Gesellenstücken eines Erzählers zu tun, der sich erst anschickte, zu einem der bedeutendsten in Deutschland nach 1945 aufzusteigen. Mancher Text geht als Warm-up, Stilübung, Selbstversuch durch. Nicht wenig überraschen Parabeln in der Kafka-Nachfolge. Hingegen befremden manche Tiergeschichten durch ihre Nichtigkeit. Und die drei Jahre vor Lenz’ Tod für seine Frau Lilo geschriebene „Flöte“, am Ende des Bandes, wäre ihrer läppisch-idyllisierenden Süßlichkeit wegen wohl besser weggeblieben.
Zugleich wurden andererseits Kleinodien gehoben: neben „Wie Radikalität entsteht“ etwa die „Abschiedsrede“, die nach einer Schwindelei aus Sympathie und einem zwischenmenschlichen Verrat gehalten wird. Geradezu frühreif brillant stellt die doppelbödige, temporeich hingeworfene, dennoch elaboriert lakonische Skizze „Bei Godickes und Gieses“ zwei Kriegsheimkehrer nebeneinander, die jeder auf seine Weise Tritt fassen im sich wieder aufbauenden, wieder restaurierenden Neu-Deutschland: „Das ‚menschenunwürdige‘ Dasein hatte ein Ende. Ja? Wie würdig ist denn der Mensch?“ Diese frühe Frage sollte sich durch das Schaffen des Autors bis in die letzten Werke ziehen.
Das Buch eines ‚großen‘ Autors, freilich kein ‚großes Buch‘. Ein notwendiges? „Was unter Notwendigkeit zu verstehen sei“, fragt in der behaglichen Humoreske „Für andere hoffen“ ein Verleger einen Schriftsteller beim Feierabend-Wein. „Er fragte: Erscheint nicht das, was einigen als notwendig vorkommt, anderen als ganz und gar entbehrlich?“ Und er gibt, auf seine Bücherwände weisend, selbst die Antwort: „Hier sehen Sie die gesammelten Versuche für ein deutlicheres Leben: Literatur. Was es verdient, in ihr geehrt zu werden, das sind Mut und Mühsal, Scharfsinn und Geduld, die zu ihrer Hervorbringung nötig waren.“ An nichts davon hat es Sigfried Lenz, in frühen wie in spätern Jahren, jemals fehlen lassen.
Goethe, Gott und Gomringer
Die prominente Lyrikerin und Performerin, in Wurlitz aufgewachsen, in Bamberg in Amt und Würden und viel auf Reisen durch die Welt, trägt in Hof Texte vor allem aus ihrem jüngsten Gedichtband vor. Mit dem Himmel in gutem Einvernehmen, erlaubt sie sich doch manchen Spaß mit ihm.
Von Michael Thumser
Hof, 18. Oktober 2024 – Ihre literarische Initiation, sagt sie, verdanke sie ihrer Mutter. Schaumgekrönt in der Badewanne liegend, in einer Hand die Zigarette elegant in langer Spitze, in der anderen ein Buch, las die Mama dem Töchterchen Geschichten von Dorothy Parker oder, wahlweise, Heiligenlegenden vor. Letztere haben Nora Gomringer nicht zur Frömmlerin gemacht und, im konventionellen Wortsinn, vielleicht nicht einmal fromm. Aber zu einer sehr persönlichen Art von Spiritualität bekennt sich die prominente Lyrikerin und Performerin durchaus, nicht zuletzt im Gedichtband „Gottesanbieterin“ und also auch in Hof, wo sie im Saalbau der Münch-Ferber-Villa aus ihm und anderen Werken vortrug. Zu dem famosen Abend eingeladen hatten sie der Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing und die Katholische Erwachsenenbildung – eine „ökumenische“ Veranstaltung, scherzte Gomringer, die sich wohl irgendwo neben oder bestenfalls zwischen den Konfessionen verortet.
Oder neigt sie doch eher einer der zwei Kirchen zu? Zwar, in Wurlitz bei Rehau hat die leutselige Dichterin und Poesie-Performerin ein Gutteil ihrer Jugend verbracht, als Tochter des demnächst hundertjährigen Eugen Gomringer, der als „Vater der Konkreten Poesie“ in den Literaturlehrbüchern steht. Den anderen Teil aber verlebte die heute 44-Jährige im erzbischöflichen Bamberg (wo sie seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia leitet), eng verbunden mit der nicht nur römisch-, sondern ausdrücklich „rheinisch-katholischen Mutter“ und stark beeinflusst von ihr. Eine „Gottesanbieterin“: Sie gibt sich Gott nicht hin, aber sie bietet sich ihm an.
Das kann kein Zufall sein
Vor vier Jahren starb die Mutter; vor vier Jahren begann der Seuchenzug des Corona-Virus; vor vier Jahren, genau zur selben Zeit, erschien die „Gottesanbieterin“ als Gomringers bisher letztes Buch. An Zufall wird man da kaum glauben. Mag auch die Bachmann- und Lasker-Schüler-Preisträgerin ihrem „packbaren“ und lang applaudierenden Publikum im vollbesetzten Saal mit Amüsantem, Verschmitztem, artistisch Wortwitzigem durchaus gehörig Freude machen – den Schwerpunkt legt sie, wenn nicht auf Schwermut und Schwersinn, auf Nachdenklichkeit, Tiefen- und Innensicht. Im silbern eingefassten Lyrikband, der „glänzt wie das Tabernakel in Rehau“, gedenkt sie voll sanfter Melancholie ihres Freundes Tim, der sie, weil schwerkrank, davor gewarnt hatte, sich in ihn zu verlieben, und nach zwei Jahren Partnerschaft schon starb. Keine sentimental triefende Träne weint Gomringer ihm nach, sondern spiegelt ihren Abschiedsschmerz im stummen Werkeln von Tims Vater, der die Wohnung des Sohnes räumt, um sie „besenrein und blutesleer“ zu hinterlassen. Oder die Erinnerungen an Hanna, Gefährtin aus Jugendtagen: Die empfing mit vierzehn ein transplantiertes Herz, das ihr zehn Lebensjahre schenkte, mit einem „Fremdkörper“ in der Brust, „zärtlich Maschine genannt“.
2008 wurde dieser Text Thema einer Abiturprüfung: „Neben meinem Gedicht stand eines von Goethe zur Auswahl“, plaudert Gomringer mit gespieltem Stolz – denn auch das gehört zu ihrem Auftritt: das Parlieren, Plauschen und Palavern, die geistreiche Ironie, mit der sie spielerisch die vorgetragenen Texte so verbindet, dass sich mitunter kaum ermitteln lässt, an welcher Stelle die Konversation mit dem Auditorium endet und die Wort- und Sprechkunst der Poesie beginnt. Einmal singt sie sogar, unverhofft gut und schön. In ihrer prosaischen Lyrik und lyrischen Prosa gehen Umgangssprache und Zeitgeistjargon eine musikalisch von Rhythmus und Klang intakt gehaltene Ehe ein mit einem höheren Ton gebundener Rede – wobei der ganz hohe Ton erfreulich ausbleibt: Statt um „große Worte“, heißt es einmal, sei es ihr um „besondere Sorgfalt“ zu tun, in „der Liebe und in den Gedichten“. Die eine wie die anderen können sich flott, lustvoll, konvulsivisch äußern; oder vertrackt, unvollständig, indirekt. Mit beachtlichem Mut verleiht Gomringer der Lebensfreude nicht anders als ihrer Traurigkeit Stimmung und Stimme: gute Unterhaltung, tragikomisch.
Unwiderstehliche Präsenz
Tragisch sind auch zwei nur ein paar Minuten lange „Textfilme“, die sie in Hof zeigt – erschreckend abgründige Texte, eigenwillig begleitet von Bildschnipsel-Collagen, per Legetrick animiert von der Künstlerin Cindy Schmid. Der eine („Vielmals“) fängt das trostlose Schicksal der von aller Welt verlassenen, ausgebeuteten, missbrauchten Verdingkinder in der Schweiz ein; der andere, „Trias“, konfrontiert als Triptychon die Deportationen von Jüdinnen und Juden in Viehwaggons nach „Ausch–wit–z“ mit den faulen Ausreden der Nachgeborenen: „Wir hätten nicht mitgemacht.“
Eine vielgestaltige Performerin, auch wenn sie ‚nur‘ sitzt und liest: unwiderstehlich ihre Präsenz, gedankenscharf ihr Einfallsreichtum, launig der Esprit. Zwischen Ernst und Scherz modelt sie sich fortwährend um durch Haltungen und Gesten und Mal um Mal die vollen Haare raufend. Gomringer inszeniert sich nicht prätentiös divenhaft, aber sie spielt immer etwas vor und dabei im Wechsel stets sich selbst. Als „Gottesanbieterin“ biedert sie sich Gott nicht an, sondern nähert sich ihm auf dem Weg der Skepsis und des Sarkasmus, des gewagten Geistesblitzes und der Blasphemie sogar. „Konzentriert katholisch“ karikiert die Verwandlungskünstlerin die „Wandlung“ während einer Messe „in der vierzigsten Minute“ oder den gekreuzigten Christus mit der Seitenwunde „wie ein Briefkastenschlitz“. Lächelnd mit eingezogenem Kopf gesteht sie: „An der Stelle hab ich jedes Mal Angst, dass der Blitz einschlägt.“ Zumindest an diesem Abend bleibt der Himmel klar und friedlich. Er hält das aus. Hätte Gott nicht viel Humor, gäbs diese Welt schon längst nicht mehr.
■ Nora Gomringer im Internet: hier lang.
■ Textfilm „Vielmals“ im Internet: hier lang.
■ Textfilm „Trias“ im Internet: hier lang.
■ Das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia im Internet: hier lang.