Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Wie würdig ist der Mensch?

Schatzgräbereien im Nachlass toter Autorinnen und Autoren sind ein riskantes Geschäft. Beim vor zehn Jahren gestorbenen Siegfried Lenz allerdings gelang 2016 mit dem „Überläufer“ ein verlegerischer Coup. Jetzt traten 34 bislang unveröffentlichte oder verstreut publizierte Kurzgeschichten ans Licht.

Von Michael Thumser

2. November 2024 – Manchmal rückt einem Schriftsteller die Wirklichkeit unbemerkt näher auf den Leib, als ihm wahrscheinlich lieb wäre. Am 16. Oktober 1977 hielt sich Siegfried Lenz zusammen mit Heinrich Böll und Max Frisch sowie dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld als Gast Helmut Schmidts im Bonner Kanzlerbungalow auf; immer wieder verließ Schmidt die debattierende Runde, ohne mitzuteilen warum. Der Grund: In einem Nebenraum wurde er im Geheimen darüber informiert, wie in Mogadishu die Vorbereitungen zur Erstürmung der von RAF-Terroristen entführten Lufthansa-Maschine Landshut gediehen.

Mit einem informativen Nachwort von Maren Ermisch. 190 Seiten, gebunden, 25 Euro.

     Siegfried Lenz war nicht der Autor, aus dem Ereignis den Stoff für einen literarischen Politthriller zu gewinnen, so wenig wie seine genannten Kollegen. Für ihn fand das aktuelle Politische gleichsam in einem Nebenraum statt, ohne sich darum seiner Wahrnehmung und skeptischen Beurteilung zu entziehen. So findet sich in dem Band „Dringende Durchsage“ eine Geschichte, die der Autor einer Festschrift zu Schmidts siebzigstem Geburtstag beisteuerte und die – ausgehend von einer turbulenten Fernsehdiskussion zum Thema Naturschutz und fortgesetzt auf einem eskalierenden Demonstrationszug – davon berichtet, wie ursprünglich wohlmeinende Umweltaktivisten sich radikalisieren, wie also, um einen berühmten Untertitel Heinrich Bölls zu zitieren, Gewalt entsteht und wohin sie führen kann.

     Einer der interessantesten Texte in dem Band, den Lenz’ Hausverlag Hoffmann und Campe zum zehnten Todestag des Schriftstellers am 7. Oktober herausgab; vor allem, wenn auch nicht ausschließlich stammen sie aus dem unveröffentlichten Nachlass. Zwischen dem „menschenunwürdig“ entbehrungsreichen Nachkriegsjahr 1948 und 1957, mithin unterm Zeichen des sogenannten Wirtschaftswunders, entstand das Gros der 34 Stücke (von denen 23 zuvor ungedruckt blieben). Ersichtlich wird in ihnen, wie ein unzweifelhaft – und bekennend – bürgerlicher Zeitzeuge Zugang sucht und findet in einen Literaturbetrieb, der sich nach zwölf Jahren völkisch-brauner Dichtung wieder in die freie Welt und an ihr orientiert.

Fingerübungen und Kleinodien

Aus dem verborgenen Erbe ‚großer‘, aber toter Autorinnen und Autoren zu schöpfen, ist immer mit dem Risiko verbunden, der anerkannten ‚Größe‘ der Ausgebeuteten post mortem durch Kleinmeistereien Abbruch zu tun. Als der Verlag 2016 Lenz’ (zweiten) Roman „Der Überläufer“ 65 Jahre nach der Entstehung publizierte, trat allerdings nicht einfach ein unbekanntes Frühwerk, sondern eine seiner besten Arbeiten überhaupt ans Licht. Jetzt indes, in den Erzählungen, bekommen es die Lesenden meistenteils tatsächlich mit Talentproben und Gesellenstücken eines Erzählers zu tun, der sich erst anschickte, zu einem der bedeutendsten in Deutschland nach 1945 aufzusteigen. Mancher Text geht als Warm-up, Stilübung, Selbstversuch durch. Nicht wenig überraschen Parabeln in der Kafka-Nachfolge. Hingegen befremden manche Tiergeschichten durch ihre Nichtigkeit. Und die drei Jahre vor Lenz’ Tod für seine Frau Lilo geschriebene „Flöte“, am Ende des Bandes, wäre ihrer läppisch-idyllisierenden Süßlichkeit wegen wohl besser weggeblieben.

     Zugleich wurden andererseits Kleinodien gehoben: neben „Wie Radikalität entsteht“ etwa die „Abschiedsrede“, die nach einer Schwindelei aus Sympathie und einem zwischenmenschlichen Verrat gehalten wird. Geradezu frühreif brillant stellt die doppelbödige, temporeich hingeworfene, dennoch elaboriert lakonische Skizze „Bei Godickes und Gieses“ zwei Kriegsheimkehrer nebeneinander, die jeder auf seine Weise Tritt fassen im sich wieder aufbauenden, wieder restaurierenden Neu-Deutschland: „Das ‚menschenunwürdige‘ Dasein hatte ein Ende. Ja? Wie würdig ist denn der Mensch?“ Diese frühe Frage sollte sich durch das Schaffen des Autors bis in die letzten Werke ziehen.

     Das Buch eines ‚großen‘ Autors, freilich kein ‚großes Buch‘. Ein notwendiges? „Was unter Notwendigkeit zu verstehen sei“, fragt in der behaglichen Humoreske „Für andere hoffen“ ein Verleger einen Schriftsteller beim Feierabend-Wein. „Er fragte: Erscheint nicht das, was einigen als notwendig vorkommt, anderen als ganz und gar entbehrlich?“ Und er gibt, auf seine Bücherwände weisend, selbst die Antwort: „Hier sehen Sie die gesammelten Versuche für ein deutlicheres Leben: Literatur. Was es verdient, in ihr geehrt zu werden, das sind Mut und Mühsal, Scharfsinn und Geduld, die zu ihrer Hervorbringung nötig waren.“ An nichts davon hat es Sigfried Lenz, in frühen wie in spätern Jahren, jemals fehlen lassen.



Goethe, Gott und Gomringer
Die prominente Lyrikerin und Performerin, in Wurlitz aufgewachsen, in Bamberg in Amt und Würden und viel auf Reisen durch die Welt, trägt in Hof Texte vor allem aus ihrem jüngsten Gedichtband vor. Mit dem Himmel in gutem Einvernehmen, erlaubt sie sich doch manchen Spaß mit ihm.

Nora Gomringer: Sie gibt sich Gott nicht hin, aber sie bietet sich ihm an. (Foto: PR/Judith Kinitz 2023)


Von Michael Thumser

Hof, 18. Oktober 2024 – Ihre literarische Initiation, sagt sie, verdanke sie ihrer Mutter. Schaumgekrönt in der Badewanne liegend, in einer Hand die Zigarette elegant in langer Spitze, in der anderen ein Buch, las die Mama dem Töchterchen Geschichten von Dorothy Parker oder, wahlweise, Heiligenlegenden vor. Letztere haben Nora Gomringer nicht zur Frömmlerin gemacht und, im konventionellen Wortsinn, vielleicht nicht einmal fromm. Aber zu einer sehr persönlichen Art von Spiritualität bekennt sich die prominente Lyrikerin und Performerin durchaus, nicht zuletzt im Gedichtband „Gottesanbieterin“ und also auch in Hof, wo sie im Saalbau der Münch-Ferber-Villa aus ihm und anderen Werken vortrug. Zu dem famosen Abend eingeladen hatten sie der Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing und die Katholische Erwachsenenbildung – eine „ökumenische“ Veranstaltung, scherzte Gomringer, die sich wohl irgendwo neben oder bestenfalls zwischen den Konfessionen verortet.

     Oder neigt sie doch eher einer der zwei Kirchen zu? Zwar, in Wurlitz bei Rehau hat die leutselige Dichterin und Poesie-Performerin ein Gutteil ihrer Jugend verbracht, als Tochter des demnächst hundertjährigen Eugen Gomringer, der als „Vater der Konkreten Poesie“ in den Literaturlehrbüchern steht. Den anderen Teil aber verlebte die heute 44-Jährige im erzbischöflichen Bamberg (wo sie seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia leitet), eng verbunden mit der nicht nur römisch-, sondern ausdrücklich „rheinisch-katholischen Mutter“ und stark beeinflusst von ihr. Eine „Gottesanbieterin“: Sie gibt sich Gott nicht hin, aber sie bietet sich ihm an.

Das kann kein Zufall sein

Vor vier Jahren starb die Mutter; vor vier Jahren begann der Seuchenzug des Corona-Virus; vor vier Jahren, genau zur selben Zeit, erschien die „Gottesanbieterin“ als Gomringers bisher letztes Buch. An Zufall wird man da kaum glauben. Mag auch die Bachmann- und Lasker-Schüler-Preisträgerin ihrem „packbaren“ und lang applaudierenden Publikum im vollbesetzten Saal mit Amüsantem, Verschmitztem, artistisch Wortwitzigem durchaus gehörig Freude machen – den Schwerpunkt legt sie, wenn nicht auf Schwermut und Schwersinn, auf Nachdenklichkeit, Tiefen- und Innensicht. Im silbern eingefassten Lyrikband, der „glänzt wie das Tabernakel in Rehau“, gedenkt sie voll sanfter Melancholie ihres Freundes Tim, der sie, weil schwerkrank, davor gewarnt hatte, sich in ihn zu verlieben, und nach zwei Jahren Partnerschaft schon starb. Keine sentimental triefende Träne weint Gomringer ihm nach, sondern spiegelt ihren Abschiedsschmerz im stummen Werkeln von Tims Vater, der die Wohnung des Sohnes räumt, um sie „besenrein und blutesleer“ zu hinterlassen. Oder die Erinnerungen an Hanna, Gefährtin aus Jugendtagen: Die empfing mit vierzehn ein transplantiertes Herz, das ihr zehn Lebensjahre schenkte, mit einem „Fremdkörper“ in der Brust, „zärtlich Maschine genannt“.

     2008 wurde dieser Text Thema einer Abiturprüfung: „Neben meinem Gedicht stand eines von Goethe zur Auswahl“, plaudert Gomringer mit gespieltem Stolz – denn auch das gehört zu ihrem Auftritt: das Parlieren, Plauschen und Palavern, die geistreiche Ironie, mit der sie spielerisch die vorgetragenen Texte so verbindet, dass sich mitunter kaum ermitteln lässt, an welcher Stelle die Konversation mit dem Auditorium endet und die Wort- und Sprechkunst der Poesie beginnt. Einmal singt sie sogar, unverhofft gut und schön. In ihrer prosaischen Lyrik und lyrischen Prosa gehen Umgangssprache und Zeitgeistjargon eine musikalisch von Rhythmus und Klang intakt gehaltene Ehe ein mit einem höheren Ton gebundener Rede – wobei der ganz hohe Ton erfreulich ausbleibt: Statt um „große Worte“, heißt es einmal, sei es ihr um „besondere Sorgfalt“ zu tun, in „der Liebe und in den Gedichten“. Die eine wie die anderen können sich flott, lustvoll, konvulsivisch äußern; oder vertrackt, unvollständig, indirekt. Mit beachtlichem Mut verleiht Gomringer der Lebensfreude nicht anders als ihrer Traurigkeit Stimmung und Stimme: gute Unterhaltung, tragikomisch.

Unwiderstehliche Präsenz

Tragisch sind auch zwei nur ein paar Minuten lange „Textfilme“, die sie in Hof zeigt – erschreckend abgründige Texte, eigenwillig begleitet von Bildschnipsel-Collagen, per Legetrick animiert von der Künstlerin Cindy Schmid. Der eine („Vielmals“) fängt das trostlose Schicksal der von aller Welt verlassenen, ausgebeuteten, missbrauchten Verdingkinder in der Schweiz ein; der andere, „Trias“, konfrontiert als Triptychon die Deportationen von Jüdinnen und Juden in Viehwaggons nach „Ausch–wit–z“ mit den faulen Ausreden der Nachgeborenen: „Wir hätten nicht mitgemacht.“

     Eine vielgestaltige Performerin, auch wenn sie ‚nur‘ sitzt und liest: unwiderstehlich ihre Präsenz, gedankenscharf ihr Einfallsreichtum, launig der Esprit. Zwischen Ernst und Scherz modelt sie sich fortwährend um durch Haltungen und Gesten und Mal um Mal die vollen Haare raufend. Gomringer inszeniert sich nicht prätentiös divenhaft, aber sie spielt immer etwas vor und dabei im Wechsel stets sich selbst. Als „Gottesanbieterin“ biedert sie sich Gott nicht an, sondern nähert sich ihm auf dem Weg der Skepsis und des Sarkasmus, des gewagten Geistesblitzes und der Blasphemie sogar. „Konzentriert katholisch“ karikiert die Verwandlungskünstlerin die „Wandlung“ während einer Messe „in der vierzigsten Minute“ oder den gekreuzigten Christus mit der Seitenwunde „wie ein Briefkastenschlitz“. Lächelnd mit eingezogenem Kopf gesteht sie: „An der Stelle hab ich jedes Mal Angst, dass der Blitz einschlägt.“ Zumindest an diesem Abend bleibt der Himmel klar und friedlich. Er hält das aus. Hätte Gott nicht viel Humor, gäbs diese Welt schon längst nicht mehr.

■ Nora Gomringer im Internet: hier lang.
■ Textfilm „Vielmals“ im Internet: hier lang.
■ Textfilm „Trias“ im Internet: hier lang.
■ Das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia im Internet: hier lang.