Lehrjahre eines Teufelsschülers
Von Michael Thumser
Hof, 31. Oktober 2024 – „Was ist Wahrheit?“: Im Evangelium der Bibel geht Pontius Pilatus einer Antwort auf die Frage aller Fragen aus dem Weg. Als in Ali Abbasis Biopic Donald Trump Mitte der Achtzigerjahre dieselbe – rhetorische – Frage an Tony Schwartz richtet, den Ghostwriter seines Buchs „The Art of the Deal“, steht die Antwort für ihn seit vielen Jahren fest, und nicht der Tycoon selbst, sondern sein Mentor Roy Cohn hat sie ihm eingebläut: „Es gibt keine Wahrheit. Es gibt keine Moral. Alles was zählt, ist, zu gewinnen.“
Einen Ratgeber wie den furchtbaren Juristen Cohn kann der junge Trump während seiner frühen Jahre gut brauchen. Denn da ist er gerade mal der regelmäßig gedemütigte Sohn seines Vaters, eines Immobilienmagnaten, in dessen schäbigen Wohnsilos der durch Manhattan streunende Filius die Mieten eintreibt. In einem elitären East-Side-Luxusclub fällt er unliebsam als einer auf, der den bewunderten Geldsäcken, die sich dort feiern, durch seine Aufdringlichkeit „den Abend ruiniert“. Zum Loser scheint er geboren – bis er von Roy Cohn lernt, dass man, „um zu gewinnen, gewillt sein muss, jedem alles anzutun“. So lautet das Grundgesetz des enthemmten US-Kapitalismus, und nur zu gern nimmt Lehrling Donald es sich zu Herzen. Dem „Pakt“ mit seinem teuflischen, zu jeder Drohung, Diffamierung und Erpressung rücksichtslos bereiten Meister folgend, nimmt er mit wachsendem „Killerinstinkt“ Kurs auf ausufernde Megaprojekte: gigantische Hotels, Casinos, den Trump Tower … „Alles, was ich anfasse, wird zu Gold“, macht er die Öffentlichkeit und seine Geschäftspartner glauben, auch wenn die Finanzierung gerade gefährlich stockt. „Schon mal daran gedacht, Präsident zu werden?“, wird er sogar gefragt, aber da weist er, binnen eines Jahrzehnts zum unumgänglichen Riesengroßmaul, -blender und -heuchler emporgewuchert, den Gedanken noch zögernd zurück. Bis auf Weiteres.
Ein Besessener
„The Apprentice“, der Lehrling, hieß von 2004 bis 2017 Trumps Reality-Show im US-Fernsehen. Jetzt hat Ali Abbasi seinen Film über die Lehrjahre des von sich und vom Mammon „besessenen“ Selbstdarstellers, Demagogen und Finanzjongleurs genauso überschrieben. Zu gesalzener Satire und entstellenden Hasstiraden musste der Regisseur seine Zuflucht nicht erst nehmen, um den Kernsatz aus dem Drehbuch aufrichtig zu beglaubigen: „Donald hat keine Ehre.“ Auch braucht sein Protagonist Sebastian Stan die goldblonde Zementfrisur des geldgeilen Karrieremachers, das abstoßend hochmütige Spiel seiner geschürzten Lippen nicht verhöhnend übertreibend zur Schau zu stellen. Sogar mit einigem Knabencharme gibt er den spätpubertären Einfaltspinsel und unreinen Toren, der Augen und Ohren aufsperrt, um den Erwachsenen abzuschauen, wie man groß und stark wird. Bald zwingt er ohne Selbstbeherrschung, Scham und Anstand jeden zu Boden, der ihn reizt: Dass er auf dem Fußboden seines vergoldeten Barock-Appartements im Trump-Tower der allzu selbstbewussten und ehrgeizigen Ehefrau Ivana (Marija Bakalowa) hasserfüllt Gewalt antut, ereignet sich mit der Beiläufigkeit eines ärgerlichen häuslichen Zwischenfalls.
Unter Trumps Opfern findet sich schließlich auch Roy Cohn wieder: der Kotzbrocken, der ihm beibrachte, ein Kotzbrocken zu sein. Als zweite Hauptfigur stellen Ali Abbasi und Drehbuchautor Gabriel Sherman ihn neben den grotesk-grausigen Goldjungen ins Zentrum des Films. Der fabelhafte Jeremy Strong verleiht ihm die saure Miene einer dauerbeleidigten Leberwurst und die Bösartigkeit eines luziferischen Hänflings im Zweitausend-Dollar-Anzug. Sobald Trumps erste Triumphe feststehen, wird Cohn entbehrlich und ist bald fällig für den Untergang. Während einer bestechend surrealen Sequenz des Films, im Zynismus eines Geburtstags- und Lebensabschiedsfestes, zu Unehren des abgedankten, an Aids erkrankten Erziehers veranstaltet, kulminiert und zerfällt das Abhängigkeitsverhältnis, das beide, jeder der Parasit am Körper des anderen, aneinanderfesselte.
„Erstens: Angreifen. Zweitens: Nie etwas zugeben. Drittens: Egal was geschieht – du beanspruchst trotzdem den Sieg“: Roy Cohns eiserne Regeln. Wer weiß, wohin sie Trump noch bringen werden. „Schon mal daran gedacht, Präsident zu werden?“ In wenigen Tagen könnte jenes worst case scenario wahr werden, zum zweiten Mal nach 2017; und die Wahl von 2021 habe ja in Wirklichkeit auch er gewonnen, behauptet der notorische Falschmelder bis heute. Wenn er und seinesgleichen, ob im Kino oder im echten Leben, von „Wahrheit“ sprechen – und von Demokratie, Freundschaft, Loyalität –, dann ist es, als machten sie aus etwas Unappetitlichem einen ordinären Witz.
58. Internationale Hofer Filmtage - eine Nachlese
Was bedeutet das alles?
Beiträge von Moritz Krämer, Timo Jacobs, Jurijs Saule: Gib drei Regisseuren jeweils etwa hundert Minuten Zeit für die Handlung eines Films – und staune Bauklötze, wie weit die Produktionen in ihrer Machart, Aufrichtigkeit und Brisanz auseinanderstreben.
Von Michael Thumser
Hof, 29. Oktober 2024 – Wer erfindet eigentlich die Titel für all die Filme bei den Filmtagen? Und wer unter den Zuschauenden denkt ernsthaft über sie nach? Was bedeutet das alles? Warum, zum Beispiel, heißt Moritz Krämers Hof-Debüt „Die feige Schönheit“ so, wie es heißt? Um einen schönen Menschen, zugegeben, handelt es sich beim Protagonisten, der zugleich eine Protagonistin ist. Der/die nonbinäre Kesse aus Amsterdam hat sich in Berlin einer Truppe halberwachsener Skater angeschlossen. In May verliebt, aber von deren bekifftem Brüderchen drangsaliert, führt er/sie versehentlich den Tod des Jungen herbei. Darf man Kesse, seit jeher wortkarg und nun erst recht verstummend, für „feige“ halten, nur weil er/sie es nicht über sich bringt, die Mutter des verunglückten Kindes um Verzeihung zu bitten? Immerhin fehlt es nicht an Versuchen, tapfer Anschluss an die Clique zu halten, aus der ihm/ihr freilich Vorwürfe und Verachtung entgegenschlagen. Ein diffiziler Mensch, „unschuldig schuldig“ geworden, droht in Desozialisation und Einsamkeit kaputt zu gehen – der Stoff würde für eine archaische Tragödie taugen. Doch der Regisseur verlangsamt und zerdehnt das Geschehen, bis so gut wie nichts mehr geschieht: Greta Isabella Contes Handkamera kristallisiert es zu einer Reihe fast unbewegter Beinahe-Standbilder. Junge Leute am Rand der Ereignislosigkeit: ein Film, der hundert Minuten lang den Nerven viel abverlangt.
Von „Hochstapler und Ponys“ lässt sich Ähnliches sagen und noch Schlimmeres: In gleicher Länge mutet Timo Jacobs dem Betrachter einen Langweiler erster Güte zu. Als Drehbuchschreiber Casper inszeniert sich der populäre Schauspieler und jettet um die halbe Welt – nach Reykjavik, dann nach „L.A.“ –, um sein Urheberrecht an einem Skript zu sichern; aus dem hat seine Ex als Regisseurin einen erfolgreichen Film gemacht, sich dabei aber selbst als dessen Autorin ausgegeben. Durch den zunehmend an den Haaren herbeigezogenen, wie schlecht improvisierten Kokolores wuchert Geplapper, das von Sequenz zu Sequenz die Einfalls- und Belanglosigkeit der Produktion immer zermürbender bewusst macht. Um einen Hochstapler – einen Blender also und Falschspieler – könnte es sich auch bei Timo Jacobs selber handeln: Im Festival-Katalog und vor dem Hofer Publikum gibt er prätentiös den weltläufig inspirierten Independent-Filmer und bindet damit dem Publikum kein kleines Pferd, sonern einen ausgewachsenen Bären auf.
Was bedeutet das alles? So fragt, wenngleich mit anderen Worten, ein traumatisierter Familienvater in „Martin liest den Koran“, dem vielleicht am kompliziertesten erdachten und intellektuell bedrängendsten Film der 58. Filmtage. Ein Echtzeitdrama, wiederum etwa hundert Minuten lang: Martin, ein deutscher Muslim mit iranischen Wurzeln, seit einem islamistischen Bombenanschlag in seinen Grundfesten erschüttert, studiert den Koran und sucht am Jahrestag des grausigen Anschlags den Orientalistik-Professor Neuweiser in der Universität auf. Der soll ihm allfällige Widersprüche in der Heiligen Schrift des Islams „deuten“. Verlangt Allah tatsächlich in einer Sure die „Ausmerzung“ der Juden und Christen, in einer anderen die ungeteilte Liebe zu allen Menschen? Darf ein Muslim im Namen des Glaubens „Ungläubige“ töten? Auf der Dienstkleidung Martins, der in der Werkstatt eines Handyladens arbeitet, prangt das Wort „Reparatur“; aber er sinnt aufs Gegenteil: auf Zerstörung. Im Kofferraum seines Autos tickt die Bombe für das nächste Blutbad. Soll sie seine kaputte Welt in Ordnung bringen?
Zwischen Zejhun Demirov als Martin und dem so altersweisen wie schlagkräftigen Geist Ulrich Tukurs in der Professoren-, „Propheten“-, sogar Gottes-Rolle entspinnen sich argumentationsscharfe Diskussionen über Gut und Böse, Schuld und Sühne, Glaube und Gottlosigkeit. Währenddessen verwandelt der lettische Regisseur Jurijs Saule die öden Gänge, die Kathedrale des Audimax, die grenzenlos leere Mensa der Hochschule zu einem irrealen, mythischen Ort. Der kreist, taumelt und steht kopf zwischen Unten und Oben, Diesseits und Jenseits, zwischen der entmutigten Welt und Gott, der das Unheil auf Erden entweder selbst anrichtet oder ungerührt zulässt oder schlicht nicht abzustellen vermag. Warum sonst gäbe es so viel davon?
Eine gefährliche, schier unlösbare Frage; selbst den Glauben grundfest gläubiger Menschen droht sie bisweilen aufzulösen, und so löst sie auch die Optik des Films auf. Durch waghalsige Kamerafahrten (Arsenij Gusjev), rätselhaft subjektive Bildführung, Handlungsschleifen öffnet sich die Universität, eine Stätte der Lehre, Logik und Erkenntnis, unkalkulierbar weit aufs Feld des Irrtums, der Spekulation und lebensbedrohlichen Unvernunft. An die großen Fragen des Daseins fügen sich die speziellen: War Martin beim Anschlag selbst dabei? Allein? Als Täter? Oder Opfer? Geschieht, was geschieht, womöglich gar nicht wirklich, sondern spielt es sich nur in seinem Kopf ab? Oder in dem des Professors? Worauf läuft das hinaus? Was bedeutet das alles: Tod oder Leben?
Schon vor der Vorführung beunruhigte Regisseur Saule todernst das Publikum im (noch am Sonntagnachmittag vollen) Scala-Kino: Er warnte vor einem „Film, der den Nerven viel abverlangt“. Wohl war. Eine Herausforderung ist er. Eine Offenbarung auch.
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58. Internationale Hofer Filmtage
Überflüssig illegal
Schon zum sechsten Mal ist Dominik Graf beim Festival zu Gast, diesmal mit dem „Polizeiruf“-Fernsehkrimi „Jenseits“ des Rechts“. Der hyperproduktive Routinier – der in einem einzigen Jahr auch schon mal vier Regiearbeiten beendet – belässt es eben dabei: bei Routine.
Von Michael Thumser
Hof, 27. Oktober 2024 – Lang ists her, da half Dominik Graf mit seiner Inszenierung des legendären „Tatort“-Falls „Frau Bu lacht“, das Metier des verstaubenden deutschen Sonntagabend-Fernsehkrimis mit zeitgemäßen Kräften zu beleben. Whodunit: Damals, 1995, diente die klassische Mordermittlerfrage „Wer wars?“ als Vehikel für eine Erzählung über menschlich Abgründiges und Leidvolles. Das seinerzeit weidlich ausgeweidete Thema des Kindesmissbrauchs stellte Graf in einen verzweigten, so dramatischen wie anrührenden Zusammenhang, indem er es mit dem Schicksal thailändischer Frauen verknüpfte, die sich deutschen Männern in wehrloser Abhängigkeit ausliefern müssen.
Für die Konkurrenzreihe „Polizeiruf 110“ wurde der prominente Regisseur heuer zum sechsten Mal – und zum zweiten Mal mit einem Drehbuch von Tobias Kniebe – tätig. Der Fall führt den basisbajuwarischen Kommissar Dennis Eden und, viel weiter noch, seine treuherzig blickende Kollegin Cris Blohm (Stephan Zirner und Johanna Wokalek) auf dünnes Eis „Jenseits des Rechts“, um die Tötung eines jungen Wohnwagenbewohners aufzuklären. Mal um Mal entfloh dessen Freundin Mia dem goldenen Käfig eines sogenannten guten Hauses, um in Luckys Aussteigerbude wüste Pornos zu drehen. Nun liegt der potente Paradiesvogel tot in seinem Blut, und alle einschlägigen Datenträger sind verschwunden. Fortan müssen sich die Kriminalisten nicht nur gegen den Vater des Mädchens, einen steinreichen Münchner Goldhändler, und dessen Vertuschungsaktionen wehren; gleichzeitig kommen den beiden komplizierte Rechtsverordnungen über den Umgang mit DNA-Beweisen in die Quere.
„Krasse vier Wochen“, sagt die trauernde Mia, habe sie durchlebt in Luckys Armen und seiner Butze. Wenigstens für Stunden dem „gefakten“ Luxus in Papas „Villa mit Türmchen“ entrinnend, stillte sie auf den kaum acht Quadratmetern der Bude ihre Gier nach Wehrlosig- und Abhängigkeit, ihre „Sehnsucht, die Kontrolle zu verlieren“. Unverkennbar hat Emma Preisendanz in der diffizilen Rolle der Verstörten das Zeug dazu, Mias Orientierungsverlust und ihre Einsamkeit durch feine Nuancen auszuleuchten. Nur für eine kleine Weile lebte und liebte sie sich mit dem ungehemmt unabhängigen Lucky (Florian Geißelmann) aus, zügellos hart war der Sex, aber unbedingt einvernehmlich: „Es war das echte Glück.“ Viel zu oft freilich lenken Buch und Regie den Fokus von ihrer be- und gefangenen Seele, die sich vollends zu verlieren droht, weg auf das juristische Dilemma, das indes nur ein Mal in einem übereilten Dialog erläutert wird, derart beiläufig, dass es dem zuschauenden Laien weitgehend ein Rätsel bleibt.
Überhaupt belässt es der hyperproduktive Routinier Graf – der in einem Jahr schon mal vier Regiearbeiten beendet – eben dabei: bei Routine. Vital, schräg und quietschbunt zwar gelingt ihm die Sequenz einer ausufernden Party der Münchner jeunesse dorée. Was hingegen vor dreißig Jahren als Alleinstellungsmerkmal einer innovativen Bildsprache durchging – Splitscreen und Lichtblitze statt Schwarzblenden, sprunghafte Dramaturgie und schroffe Schnitte, verschnodderte Wechselreden und psychedelisch taumelnde Farben ... –, das hat sich in seine Arbeiten längst als entbehrliche, wenn nicht unnütze Manier eingefressen.
Die haltbaren Bohlen auf dem Knüppeldamm durch einen brauchbaren Durchschnittskrimi benutzt auch Dominik Graf bei aller trittsicheren Nonchalance ohne nennenswerten Schritt vom Wege. Darüber täuscht selbst eine lachhaft unwahrscheinliche Ermittlungsprozedur nicht hinweg, zu der sich Cris Blohm gegen Ende verzweifelt entschließt. Im höchsten Grad „illegal“, erweist sich die Methode obendrein als „überflüssig“. Was wenig überrascht. Whodunit? Für routinierte Sonntagabend-Fernsehkrimi-Glotzer steht schon vor der ARD-Halbzeit-Marke fest, wers war.
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58. Internationale Hofer Filmtage
Heimkehr zu den Sternen
Die Erde hat genug von den Menschen, darum will eine Glaubensgemeinschaft als „immaterielle Lebensform“ auf dem Jupiter ein paradiesisches Dasein genießen. Benjamin Pfohls Sekten-, Familien- und Jugenddrama mit der hinreißenden Mariella Aumann erhielt den Förderpreis Neues deutsches Kino.
Von Michael Thumser
Hof, 26. Oktober 2024 – Auf der Erde geht es eng zu, die Menschen tun dem Blauen Planeten nicht gut, immer mehr gibt’s von ihnen und immer weniger, immer heftiger umkämpfte Ressourcen, um sie alle am Leben zu erhalten. Was also tun? Am besten abhauen. Nur wohin, und wie? Neu ist sie nicht, die Idee, den taumelnden Wandelstern zu verlassen, um in irgendeinem anderen Sonnensystem auf einem Exoplaneten neu anzufangen und es dort dann besser zu machen.
Die Sekte in Benjamin Pfohls Langfilm-Debüt muss noch nicht mal so weit durch den Kosmos reisen, um sich „von dem ganzen Scheiß hier“ zu befreien. Ihrem Herrn und Meister Wolf wollen die Aussteiger zu einem Erdnachbarn folgen, der (im Durchschnitt) nur schlappe 780 Millionen Kilometer entfernt kreist. Auf Calypso, einem rosa Kometen, der den Himmel seit Wochen mit seinem großen rosa Schweif schmückt, werden sie sich, davon sind sie überzeugt, auf den Weg machen und wenig später auf ihrer wahren Heimat eintreffen, auf dem titelgebenden Jupiter nämlich, um dort in alle Ewigkeit die Segnungen einer „immateriellen Lebensform“ zu genießen.
Humbug, natürlich. Erschreckend, dass nicht wenige Zeitgenossinnen und -genossen an ähnlichen Spinnereien unverbrüchlich festhalten. Zwar, räumt der Regisseur ein, habe er sich diese spezielle Glaubensgemeinschaft ausgedacht, frei erfunden aber hat er sie keineswegs. Fataler Wirklichkeit entspricht, was derlei Irrglaube mit und aus den Menschen macht. In eine Familie unter Druck führt Pfohls Film: Hilflos ziehen die Eltern, von Versicherungen und öffentlicher Unterstützung alleingelassen, ein behindertes Söhnchen groß, dessen rabiate Anfälle nur Lea, seine Schwester, zu lindern vermag. Soviel Drangsal macht empfänglich für verlockende Sirenengesänge und tröstliche Prophetien. Dabei ringt Lea, kaum vierzehnjährig, ihrerseits mit den Bangigkeiten und Verstörungen der Pubertät.
Als der Filmemacher am Donnerstag den mit zehntausend Euro dotierten Förderpreis Neues deutsches Kino entgegennahm, würdigte die Jury nicht zuletzt sein exquisit harmonierendes Ensemble. Als überforderte Mutter und hitzköpfiger Vater nehmen Laura Tonke (Hofer Filmpreisträgerin des Jahres 2004) und Andreas Döhler das Mädchen Lea mit peinigender Zärtlichkeit in die Zwickmühle – und die immerhin achtzehnjährige, gleichwohl mädchenhaft zierliche Mariella Aumann offenbart aufs Eindrücklichste die Atemnot, die Empörungen und den Befreiungsdrang der Halbwüchsigen: eine kraft Naturbegabung unverstellte Jungschauspielerin von reifer Ernsthaftigkeit, dabei wunderbar lebens- und seelenvoll.
Unter lauter verblendeten Erwachsenen widersteht Lea, ihrer Jugend ungeachtet, als Einzige den absurden Glücksverheißungen des unzurechnungsfähigen Gurus und der Dutzendware seiner Plattitüden („Entscheidend ist, dass du deiner inneren Wahrheit folgst“). Seine Versprechen durchschaut sie als Verbrechen der Unbarmherzigkeit und hält mit ihren Alltags-Emotionen, ihrer Selbstbestimmung und Zukunftserwartung dagegen. Um jeden Preis will sie sich dem Gruppensuizid entziehen, dem Wolf – der sanft lächelnde Ulrich Matthes als charismatischer Wirrkopf – seine Gefolgschaft euphorisch entgegenführt.
Weil Wolf kein Morgen auf Erden mehr anerkennt, springt der Film absichtsvoll irritierend durch Rückblenden zwischen dem Heute der Figuren und ihrem Gestern und Vorgestern hin und her. Formal raffiniert verzahnt und konterkariert die Dramaturgie Erinnerungen an die Vergangenheit der einst freudvollen, dann zunehmend brüchigen Familie mit der Abstrusität und Ausweglosigkeit von Leas Gegenwart. Entsprechend ungeschönt fällt der Realismus der groben Bilder aus Tim Kuhns Handkamera aus. Die hier ruinöse, dort hinreißende Natur, in weiten Panoramen als begehbar fester Grund greifbar gemacht, konfrontiert der Regisseur mit Ansichten des Jupiters und seiner vage wabernden Oberfläche, eines Gasplaneten, der sich als sicheres Exil wohl kaum anbietet.
Die Heimreise zu den Sternen storniert Lea entschlossen. Die anderen, von allen guten Geistern verlassen, zahlen einen hohen Preis. Lea, bei Sinnen, zahlt den ihren: Mutterseelenallein bleibt sie zurück. Sie bleibt auf dem Boden, dem der Tatsachen: Sie bleibt daheim.
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58. Internationale Hofer Filmtage
Das Zeichen der Zeit
Taugt die Wirklichkeit für „Wunder“? Jaap van Heusden erzählt von Menschen, die himmlischen Trost gut brauchen können, und von einem Priester, der ihn als Täuschung entlarven soll. Die in Hof heuer mehrfach präsente Schauspielerin Emma Bading spielt mirakulös die stumme Hauptrolle.
Von Michael Thumser
Hof, 25. Oktober 2024 – Wunder gibt es immer wieder (versicherte vor gut fünfzig Jahren die trällernde Katja Ebstein ), aber die meisten sind gar keine. Das weiß die katholische Kirche auch: Jüngst, zu Pfingsten, setzte sie darum einen erneuerten Normenkatalog in Kraft, mit dem vermeintlich übernatürliche Phänomene gründlicher als bisher untersucht und gegebenenfalls als Blendwerk bloßgestellt werden sollen. Gut so. Denn die Lüge ist „das Zeichen der Zeit“, wie Pater Filippo sagt, „Der Mann aus Rom“ im gleichnamigen Film des Niederländers Jaap van Heusden. Wie von einer „Droge“ lassen sich die Menschen von Schwindel, Schein und Täuschung berauschen und hängen sich, von der Unberechenbarkeit der wirklichen Welt verängstigt, nur zu gern an beglückende Hirngespinste. Zwischen „Syrakus und Aleppo“ fürchtet man den frommen Skeptiker Filippo, weil er, wo immer er auftaucht, als Mythenjäger des Vatikans fast immer entlarvte falsche, „zerstückelte Wunder“ zurücklässt.
In der Gemeinde, die Filippo jetzt aufsucht, hat sich vor dem Wunder ein Ausbruch des Wahnsinns ereignet. Beim Amoklauf eines Jungen in einer Schule sind elf Kinder gestorben, auch der Bruder der neunzehnjährigen Térèse. Das Massaker überlebte sie, hat dabei aber, wohl für immer, die Sprache verloren. Vier Jahre später rinnt einer Marienstatue in ihrem Zimmer Wasser wie Tränen übers verklärte Gesicht. Mag sein, dass das Material der Figur die Tropfen der glühenden Sommerhitze wegen absondert. Für die Bevölkerung indes bekräftigt das Mirakel, dass der Himmel ihren unstillbaren Schmerz teilt. Immer gründlicher begreift der erschütterte Priester, wie dringend die Trauernden das tröstliche „Wunder“ als Hoffnungszeichen gegen das kollektive Trauma brauchen.
Keine fromme Legende erzählt Jaap van Heusden und spricht einer aus der Zeit gefallenen Spiritualität nicht das Wort. Von der engelsgleichen Térèse wird gesagt, sie sei vor dem Blutbad „keine Heilige“ und „keine Jungfrau“ gewesen, und wie einen Kriminalisten lässt der Regisseur den Priester ermitteln: Michele Riondino als stiller, unbeirrbarer Pedant, der freilich, so wie am Wunder, zusehends auch an sich und dem Katalog seiner Normen zweifelt. Über die Statue beugt er sich, als wär er ein Pathologe und sie die Leiche eines Mordopfers, akribisch analysiert er die Scans, die ein Computertomograf von ihrem Innern aufgenommen hat. Gleichwohl lässt Van Heusden mit Mut, Differenzierungvermögen und Diskretion das Glauben neben dem Wissen gelten als Überlebensweg durch eine Welt, die zwischen Fakes und Fakten von Tag zu Tag irrationaler und beängstigender zu werden scheint.
Filippo will, dass „Gottes Kinder im Licht leben“ und nicht in mittelalterlicher Dunkelheit. Nur rechnet er nicht damit, dass ihm Térèse wie ein leibhaftiges Kind Gottes entgegentritt. Nicht als Lichtgestalt zwar: Dafür hält sich in der stummen Rolle die famose deutsche Schauspielerin Emma Bading – bei den Filmtagen heuer als Aktrice wie als Kurzfilm-Regisseurin („Domesticated“) mehrfach präsent – viel zu scheu und misstrauisch zurück, eine äußerlich Unantastbare mit befangenen Augen in verschatteten Höhlen. Wohl aber wird sie selber für Filippo zum Mirakel: Wie in einem Nebel ahnt er in ihr ein Mysterium, nicht die Personifikation „kindlicher Unschuld“, sondern ein Wesen halb übersinnlicher Nächstenliebe, halb sinnlicher Liebe. Der Priester aus Rom spürt den „Mann aus Rom“ in sich, ohne Begehrlichkeit, doch mit einer leise sich regenden Bereitschaft, seine „Blindheit“ zu überwinden und, jenseits der Zeichen der verlogenen Zeit, „Dinge zu sehen, die nicht da sind“. Dass auch ein „Wunder“ eine Wahrheit enthalten kann, leuchtet ihm ein, und kurz vor dem dramatischen, offenen Schluss des Films nimmt er darum selbst Zuflucht zu einer nicht heiligen, aber heilsamen Lüge.
Einmal, in einer entrückten Szene des Films, beugt sich Térèse wie eine kindliche Retterin aus dem Jenseits über den aus einer Ohnmacht erwachenden Filippo, und es ist, als umstrahlte ein Heiligenschein ihr mildes Gesicht. Aber es ist keine Gloriole, nur das runde Gehäuse eines Ventilators im sommerheißen Gegenlicht.
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58. Internationale Hofer Filmtage
Ein Universum im Staubkorn
Erstmals wagt es das Festival, eine Dokumentation statt eines Spielfilms an den Start zu stellen. Torsten Schaumanns Coup gelingt aufs Schönste: „Zeppelin oben rechts“ von Oliver Dürr porträtiert Menschen mit Handicap in ihrer Kreativität und stellt ihre staunenswerten künstlerischen Arbeiten aus.
Von Michael Thumser
Hof, 24. Oktober 2024 – In diesem Film sind, zu gleichen Teilen, Menschen und Werke zu sehen. Zuerst Menschen: zuallererst ihre werkelnden Hände. Sie zeichnen und schnitzeln, pinseln und formen. Die künstlerischen Arbeiten, die dabei entstehen, fallen kleinflächig wie eine Streichholzschachtel aus oder füllen ein Tischplatten-großes Papier oder gleich eine ganze Zimmerwand. ‚Große‘ Kunst? „Ein bisschen Kunst“ seis schon, sagen die Frauen und Männer, danach befragt, wofür sie selber halten, was sie hier, im „Atelier 23“ der Gießener Lebenshilfe, tagtäglich tun. Haben sie das Zeug zu ‚großen‘ Künstlerinnen und Künstlern? Oder sind sie doch eher begabte Laien? Schwer zu sagen. „Es gibt Dinge, die passen in kein Raster“, hat Jens auf eine seiner Zeichnungen eingetragen. Für Menschen gilt das Gleiche. Zumal für die sieben Menschen in Oliver Dürrs Film „Zeppelin oben rechts“; ein seltsamer Titel, der sich erst spät, aber gründlich erschließt.
„Jeder hat sein Päckchen zu tragen“, sagt Lena, die akribische Linolschneiderin, denn alle Protagonisten meistern ihr Leben trotz geistiger Behinderung, psychischer Erkrankung oder körperlichen Handicaps. Alle treten aus ihrem scheinbar unausweichlichen Außenseiterschicksal heraus: Von einem kunstpädagogischen Expertenteam behutsam betreut und beraten, erproben und verwirklichen sie an speziell für sie ausgestatteten Arbeitsplätzen ihre Kreativität und erarbeiten Grafiken, Malereien, Modelle, Fotografien, deren stupende Artistik, Erfindungskraft und Individualität sie bei Ausstellungen in der angeschlossenen Galerie einer faszinierten Öffentlichkeit vorführen.
„Man bleibt nicht auf der gleichen Stufe stehen“, sagt Lena, was auch für die Internationalen Hofer Filmtage gilt: Noch nie zuvor hat eine Dokumentation das Festival eröffnet, für die 58. Auflage aber ließ sich Festivalleiter Torsten Schaumann auf das Wagnis ein und landete einen Coup von kaum zu erwartender Treffgenauigkeit. Den durchschlagenden Erfolg verdankt die im Lauf von fünf Jahren realisierte Produktion der unvoreingenommen empathischen Geduld, mit der sich der Regisseur den Künstlerinnen und Künstlern und ihren sehr verschiedenen, bisweilen erfrischend unberechenbaren Persönlichkeiten zuwendet.
Doppelte Absicht
Ebenso verdankt Sie ihn der doppelten Absicht, Kunst-Doku und zugleich Lebensbericht zu sein. Gern mischt die Tonspur prägnante Neben- und Hintergrundgeräusche unter die Bilder, Schritte und Geklapper, Telefonsignale, Stimmen nicht zuletzt. Eine mahnt: „Du musst mal an deiner Toleranz arbeiten.“ Denn natürlich liegen dem Gießener Projekt auch therapeutische Ansätze zugrunde: Der Gruppe stellt das Atelier einen geschützten Raum zur Verfügung, um sich druckfrei zu entfalten; dort findet sie Erfüllung, Genugtuung über Gelungenes, im Fall des überbordend produktiven Tierzeichners Eric sogar die Liebe, oder, wie Fotograf Andreas, Gelegenheit, brodelnden Frust loszuwerden. Vor allem aber, sagt Projekt-Leiterin Andrea Lührig, sei es ihr und ihren Mitarbeitenden um „Talentförderung“ zu tun: In den Talentproben wird die „Handschrift der Behinderung“ nicht bloß zugelassen, sondern als kreativer Kern ernst genommen.
Talent ist vorhanden, und mehr als das. „Jedes Staubkorn ist ein Universum“, steht auf einer von Jens’ bestrickend kleinteilig gestrichelten Zeichnungen. Als je eigener, eigenwilliger Kosmos offenbaren sich die Künstlerinnen und Künstler in den wunderbar gescheiten, oft tiefsinnigen, auch schon mal unverblümten Auskünften darüber, wer sie sind, was sie wollen, was sie tun. Und Oliver Dürrs Kamera – den in Konzentration versunkenen Gesichtern ungewöhnlich, aber nicht belästigend nah – gibt Auskunft über fruchtbare Ausdrucksweisen jenseits einer vermeintlichen ‚Normalität‘, die allzu schnell ausgrenzt, was sich ihren Regeln entzieht. Zu bewundern ist das Experimentierfeld einer sich selbst ermächtigenden Inklusion, die ein Glück ist und sowohl den Künstlerinnen und Künstlern wie auch den Betrachtern des Films Freude macht – helle Freude. Welche Farbe ihr die liebste sei, wird die muntere Malerin Birgit gefragt und gibt bündig Bescheid: „Alle. Außer Schwarz.“
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