Musik zum Schauen
Kompositionen aus Spanien müssen einem nicht spanisch vorkommen: Beim dritten Hofer Konzert der Symphoniker feiert das Publikum den fabelhaften Gitarrensolisten Ricardo Gallén und Johannes Wildner als launigen Gastdirigenten. Dem Riesenbeifall für beide schließt sich das Orchester an.
Von Michael Thumser
Hof, 19 November 2024 – Können Blinde sehen, wenn sie träumen? Ein Gedicht beschreibt die Gärten von Schloss Aranjuez als Gefilde der „Liebe“, der „Erinnerung“ – als „Ort der Träume“. Was wohl mag sich Joaquín Rodrigo, der als Dreijähriger sein Augenlicht verlor, in den Parks ausgemalt haben? Gemeinsam die Wege durchstreifend, trauerten er und seine Frau Victoria um ihren Sohn, der nicht lang zuvor tot zur Welt gekommen war. Beides, die Düfte des „spanischen Versailles“ und der Kummer um das Kind, flossen 1939 in einem Gitarrenkonzert zusammen, das bestimmt war, das prominenteste der Welt zu werden, und dem besagtes Gedicht als Anregung diente.
Musik zum Anschauen: Zum „Tongemälde“ taugt namentlich der berühmte Mittelsatz. Der verströmt In Hof, beim dritten Konzert der Symphoniker am Freitag, seine anrührenden Tiefenmelancholie unwiderstehlich unverschleiert. Ohne Sentimentalität, aber mit der Anteilnahme des Empathikers versenkt sich Ricardo Gallén in die weiträumige Rhapsodie. Zuvor hat Gastdirigent Johannes Wildner den Einsatz des Solisten mit einem Streicherteppich vorbereitet, mit dem Seidenglanz einer würdevollen Traurigkeit, über der das Englischhorn die längst volksliedhafte Adagio-Melodie betörend schmerzlich intonierte. Die solcherart angestimmte schwermütige Gesanglichkeit nimmt Gallén, 52-jähriger Landsmann des Tonsetzers, mit den sechs Saiten seines Instruments zauberisch auf. Aus dem Schimmer der kantablen Mittellage setzt er sich später ins Dunkle ab, ins tiefe Register, um tragische Untröstlichkeit zu entfalten. Kurz darauf wiederum widerspricht er sich selbst mit den hektisch-heftigen Protestnoten der Kadenz. Als er in die Schlusswendungen des Satzes einmündet, ist es, als könnte er an dessen unverhofftes Dur selbst kaum glauben.
Vollendete Neoklassizität
Für die Ecksätze garantieren das faszinierend leichte Gebaren des Orchesters und nicht zuletzt seine stupend gelingenden Pianissimo-Einsätze dem Interpreten eine so luftige wie tragfähige Basis. Aber schon im Auftakt-Allegro, einem Meister- und Musterstück vollendeter Neoklassizität, imponiert Ricardo Gallén – den das Publikum später, nach zwei Zugaben, feiern wird – durch gedankenvolle Hochkonzentration. Sie erlaubt es ihm, mit weich-fließender Tongebung eine leise Wehmut, aber ohne Jammer, eine stille Skepsis ohne Verzweiflung zu verbreiten. Ebenso wenig mag er im Finalsatz den rassig-rasenden Gitarrero geben: Sinnend, Kopf und Nacken übers Instrument gebeugt, schließt er sich wie ein Denker in sich ein und erinnert so fast wunderlich an die berühmte Skulptur Auguste Rodins.
Vor der Uraufführung in Madrid machte sich Joaquín Rodrigo begreiflich Sorgen, ob die Gitarre mit ihren delikaten Mitteilungen vor einem Orchester werde bestehen können. In Hof geht Ricardo Gallén ein Risiko gar nicht erst ein: Halb verborgen zwischen ihm und dem Dirigentenpult hat er einen, wenn auch kleinen, Lautsprecher postiert. Anders geht es in Juan de Arriagas Symphonie zu: Mühelos macht sie sich unplugged verständlich. Etwa achtzehnjährig hat das spanische Wunderkind aus Rigoitia bei Bilbao sie geschaffen. Den „begabtesten spanischen Komponisten der Romantik“ hat man ihn genannt, einen „baskischen Mozart“; dazu passt, dass er genau fünfzig Jahre nach dem österreichischen Genie das Licht der Welt erblickte. Doch nicht mal zwanzig Jahre leuchtete es ihm: Zehn Tage vor dem runden Geburtstag erlag Arriaga der Schwindsucht.
Eine ‚diverse‘ Symphonie
Als Jugendwerk lässt sich das ehrgeizige Opus mit den trefflichen fünf ersten Symphonien des Teenagers Franz Schubert vergleichen, hauptsächlich in den Ecksätzen. Arriagias Symphonie zeigt freilich schon darum ein eigenes Gesicht, als sie ‚diverse‘ auftritt: Steht sie in D-Dur – oder in d-Moll? Ihr Tongeschlecht bleibt ungeklärt, bereits im Kopfsatz. Für dessen Adagio-Introduktion nehmen Johannes Wildner und die Musikerinnen und Musiker eine anfangs feierliche, dann frohgemute Haltung ein – bis sie passioniert ins düstere Hauptgeschehen überwechseln. Das dynamische Spektrum in allen vier Sätzen weit ausschreitend und kräftige Akzente platzierend – der Pauker schlägt mit harten Schlägeln zu –, setzt der Dirigent auf eine betont drängende Darstellung. Ins entsprechend stark beunruhigte Finale fügen die Holzbläser chromatische Tonleitern wie Seufzer, wenn nicht Aufschreie ein – erst dann bringt das Orchester den janusköpfigen Satz durchs Ziel eines keineswegs selbstverständlichen Dur-Triumphs.
Deutlich schlichter in Stimmung und Substanz halten sich die Mittelsätze zurück. An der einfältigen Gravität des Andante mag Wildner zwar nicht rütteln. Verschmitzt stellt er hingegen den dritten Satz in zwei gründlich verschiedenen Versionen zur Auswahl: als verschlafenes Menuett von höfischer Tanzbarkeit zunächst; anschließend, eigenmächtig, weitaus zügiger als zündendes Scherzo. Das so amüsierte wie begeisterte Publikum entscheidet per Akklamation einstimmig: Druck aufs Tempo tut der Bildkraft der wenig anspruchsvollen Töne hörbar gut.
Auf Leben und Tod
Indes, Musik zum Anschauen? Der blinde Joaquín Rodrigo vermutete 1963 in einem Rundfunk-Interview, dass seine Inspirationen und „Eindrücke aus dem Innern kommen, aber so genau weiß ich das nie“. Anders als er wusste Joaquín Turina sehr genau Bescheid über die Eingebung zu seinem „Oración del Torero“: 1925 besuchte er eine andalusische Stierkampfarena, erblickte backstage im Pferdehof die Tür zu einer unscheinbare Kapelle – und „da sah ich mein Werk“. Vor dem Altar machten die Matadoren ihren Frieden mit dem Jenseits, bevor sie auf Leben und Tod ihre Kräfte mit den reizbaren Bullen maßen.
Im „Gebet des Stierkämpfers“ verschaffen Turina und das exquisit klangreine und -intensive Streichercorps der Sonne des Sommers, der aufgeheizten Blutgier der Zuschauenden, vor allem der Andacht und Inbrunst des Toreros eine greifbare Wahrnehmbarkeit, freilich ohne die iberisch-impressionistische Suggestionskraft des kurzen, gleichwohl eindrücklichen Tongemäldes zu unterschlagen. Bestechend mischt Wildner die Unruhe, Einschüchterung, Verzagtheit des Haudegens mit Aufschwüngen getroster Zuversicht, mag sein mit Träumereien von Überleben und Sieg, die der Bangigkeit freilich nur zeitweilig Herr werden. Befreit in überirdische Höhen steigen die Klänge des Schlusses empor, als täte sich verklärend in ihnen der Himmel auf. Ob für den Torero, ob für den Stier, bleibt unbestimmt.
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Quartett zu fünft
Zum achten Mal lud das Projekt „music4cellos“ zum Festival nach Hof. Verstärkt hatten sich die vier „Evangcellisten“ um Markus Jung mit dem leidenschaftlichen Alejandro Castro-Balbi. Beim Schlusskonzert sorgte obendrein ein „Überraschungs“-Gast aufwühlend für Wirbel.
Von Michael Thumser
Hof, 16. November 2024 – Vier ist die magische Zahl, zumindest in der Musik. Einst galt eine zunftgerecht verfertigte vierstimmige Fuge als Ausweis des ausgelernten Tonsetzers, noch immer, und geradezu sprichwörtlich, firmiert das Streichquartett als „Königsdisziplin der Kammermusik“. Letzterer gehören auch die vier „Evangcellisten“ des Projekts „music4cellos“ zu. Die magische Ziffer – four statt for – prangt sogar in der Mitte ihres Ensemblenamens. Aber nur als tenorales Kleeblatt tiefergelegter Saitenmusik sind sie sich nicht genug: Vor gut einem Jahr, als sie im Selber Rosenthal-Theater ihr fünfzehntes Jubiläum feierten, verstärkten sie sich mit etlichen Spiel-Gefährten, bis sie zu zehnt auf der Bühne saßen.
Diesmal waren sie zu fünft, immerhin. Beim Schlusskonzert der von ihnen ausgerichteten Hofer Cellotage gesellte sich den Herren Dihle und Riehmann, Chong und Jung von Fall zu Fall Alexandre Castro-Balbi zu. Zwei Tage zuvor hatte der Franzose mit lateinamerikanischem Familienhintergrund mit dem Briten William Shaw als Klavierpartner die achte Auflage des Festivals eröffnet und tags darauf dem mehrteiligen Kursprogramm eine achtstündige „Masterclass“ beigetragen. Jetzt, am letzten Abend, sitzt er wie ein Primarius links außen bei den anderen, um das Publikum in der gut besuchten Klangmanufaktur mit veritablen Schmachtfetzen des italienischen Musiktheaters gefühlig und gefügig zu machen: Bei Arien-Adaptionen nach Giuseppe Verdi und Giacomo Puccini vermischen die fünf schimmernden Schmelz und schmackhaftes Schmalz und hüllen das Ganze stilvoll ins Gewebe ihres seidig-soliden Zusammenklangs.
Ob zu viert, ob im Fünferpack: Wer schon Konzerte des durch ganz Deutschland tourende Ensembles um den Hofer Markus Jung erlebt hat oder es von seinen CDs kennt, der weiß, dass es seit jeher eine Vorliebe fürs Musiktheater hegt, wobei es auf menschlichen Gesang sehr gut verzichten kann. Auch diesmal umgarnt die Hörenden mit George Gershwins „Summertime“ aus „Porgy and Bess“ ein melancholisches Schlummerlied. Aus George Bizets „Carmen“ haben sie nicht nur die „Aragonaise“ im Programm, sondern ebenso die „Schmugglerszene“; dabei scheuen sie sich nicht, erst einmal vollblütig die Klischees iberischer ‚Rassigkeit‘ zu bedienen, bevor sie sich, umso heimlicher, auf Schleichwege begeben, um schließlich in Tumult auszubrechen: Briganten auf der Flucht.
„Blaue Augen“
Wie überlegt und akkurat sie untereinander die klanglichen und expressiven Gewichte verteilen, wie fein sie ihre Impulsivität abwägen, wie zartbesaitet sie Nuancen schattieren, das lässt bei etlichen Arrangements aufhorchen. Etwa in einer Bearbeitung der „Zwei blauen Augen“ aus Gustav Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen“: Vagabundierend zwischen Dur und Moll, halten sie sich absichtsvoll vieldeutig zwischen Sehnsucht, süßem Weltschmerz und unverfälschter Tragik auf und verklären die Unbestimmbarkeit der Stimmung mit dem jenseitigen Wohllaut der „Lindenbaum“-Episode. Am Beispiel von Paul Desmonds und Dave Brubecks Jazzstandard „Take five“ führen sie überdies vor, wie mühelos ihnen auch heikle Austauschaktionen in der Melodieführung glücken.
Originalwerke für vier Celli sind rar. Ensembleleiter Jung selbst trug dem Repertoire eine „Beduinische Karawane“ bei, die mit ironischem Exotismus durch den Saal trottet. Ausführlicher, weil viersätzig, das gleichwohl kurze, vortreffliche Quartett des Berliners Friedrich Metzler aus dem Jahr 1954: Durch die Sachlich- und Ruppigkeit des ersten Satzes lassen die Künstler zunächst an die Tonsprache etwa Paul Hindemiths denken, um dann den zweiten deutlich verschwiegener, dennoch mit Nachdruck zu passieren; wie eine Stampede stürmen sie durch den dritten Teil, nach dessen trotzigem Schluss sie die Wucht im Finale gleichsam klassizistisch dämpfen – ein kompaktes Werk, dessen apart sich ablösende Erscheinungsbilder sie wie einen Mikrokosmos gewitzt durchstreifen.
Quartett zu fünft: Wer mit Alejandro Castro-Balbi einen Kollegen im Boot weiß, in dem ein Gutteil südamerikanisches Blut fließt, der nutzt gern die Gelegenheit, mit ihm zusammen die Leidenschaft des Tangos zu entfesseln. Während dreier Musterexemplare wirft er sich denn auch mit Seele und Leib sinnlich, lechzend, lüstern ins Zeug. Obendrein verleiht der sagenhafte Harald Oeler, zu Recht als „Überraschung“ angekündigt, den Tänzen erst eigentlich ihre bezeichnend passionierte Physiognomie: Buchstäblich gebunden an sein artistisch beherrschtes, mit Tiefensentiment atmendes Knopfakkordeon, ist er sozusagen ein native speaker des Tangos, dem er im dritten Satz aus Richard Gallianos grandiosem „Opale Concerto“ ebenso unnachgiebig heftig wie weltabgewandt melancholisch eine hinreißende Apotheose beschert.
Quartett zu – wievielt? Magische Zahlen: Die Sechs ist die neue Vier.
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Schneewolke überm Sommerfeld
New York war eine Reise wert, doch auch in Hof lohnt sich die Aufführung von Karl Jenkins’ Requiem: Nachdem die St.-Michaelis-Kantorei mit Partnerchören die populäre Totenmesse 2017 in Hof und 2023 in der Carnegie Hall aufgeführt hatte, war nun noch einmal die Heimat dran.
Von Michael Thumser
Hof, 14. November 2024 – Das Jüngste Gericht bricht mit dem Gewitter aus einem rockigen Drumset herein, mit Getöse der großen Trommel und wuchtigen Signalen der Hörner, als wollten sie die mauerbrechenden Posaunen von Jericho ersetzen. Immerhin, die Gewölbe in St. Michaelis halten, als Georg Stanek den riesigen Chor, die Symphoniker und das gewaltige, gewalttätige Schlagwerk antreibt, um den göttlichen „Dies irae“, den „Tag des Zorns“, zu evozieren: mit unnachgiebig impulsiven Tutti-Stößen und -Erschütterungen eine Entfesselung des Weltuntergangs.
Vor allem aber ist das aufgeführte Werk eine Beschwörung des Friedens und der menschlichen Sehnsucht nach der Erlösung von aller Angst, nach Errettung aus globalen Teufelskreisen. Wiederholt hat die St.-Michaelis-Kantorei zusammen mit dem Großen Chor des Jean-Paul-Gymnasiums das populäre Requiem des Walisers Karl Jenkins aufgeführt: 2017 schon einmal am selben Ort; im vergangenen Jahr dann reisten Mitglieder der Chöre gar nach New York, um mit anderen Ensembles aus verschiedenen Teilen der Welt an einer Darbietung in der Carnegie Hall teilzunehmen. Dabei lernten sie den heute achtzigjährigen Schöpfer des Werks kennen, der im Ruf steht, der wahrscheinlich meistgespielte lebende Komponist auf Erden zu sein. Für die Reprise am vergangenen Wochenende hatten sich die derart erprobten Sängerinnen und Sänger außerdem mit dem Chor der Plauener Erlöserkirche zusammengetan. Eine – vom Publikum stehend beklatschte – vokale Klangmacht: auch sie gewaltig, stimmgewaltig, aber überraschend nuanciert.
„Harmonie und Ordnung“
Auf Eigenheiten der Tonsprache weist der dirigierende Kirchenmusikdirektor eingangs rein instrumental mit den Orchesterstreichern hin: Auch in den drei Teilen von „Palladio“ bewegen sich die Musikerinnen und Musiker zumeist in kleinen Tonräumen bei eingeschränkt schlichter Harmonik und hoher Redundanz der zigfach wiederholten Motive. „Harmony and order“ will Jenkins, eigenen Worten zufolge, in dem 1996 veröffentlichten Concerto grosso stiften, und er gründet beides auf einer Thematik und einem Klangbild in der Nachfolge des Barocks und Antonio Vivaldis. Kurz angebunden, nervös, wenn nicht aufgebracht gerät der erste Satz; zum Schluss hebt der dritte verschleiert im Flüstermodus an wie eine dunkle Machenschaft, die Stanek später zu hochfahrenden Eskalationen ausspannt. Dazwischen aber, im Largo, drückt das Streichorchester Fernweh nach ewigem Trost aus. Fast eine Art von Trauermarsch: Dass jener langsame Satz die gehaltvollsten Momente des Concertos in sich vereint – auch dies weist wie ein Muster auf das folgende Requiem voraus.
Das wagt das Paradox. Zum einem zwar stützt sich jeder seiner dreizehn Teile auf je einen einzigen, frugalen Grundgedanken, der rastlos wiederkehrt, fast immer ohne nennenswert zu variieren oder gar sich zu entwickeln; anfällig wird die Musik dadurch für ernüchternde Substanzverluste. Zum andern indes kommt es hier und da trotzdem zu fesselnden Kontrasten: so zwischen dem tosenden Maestoso des „Rex tremendae“ („König schrecklicher Gewalten“) und dem anschließenden „Confutatis“, in dem sich der Chor – hochpräzise a cappella – bewegend „demutsvoll im Staube beugt“. Das „Lacrimosa“ mit seinen schön modulierenden Wendungen, nicht „Tränen“-nass, stattdessen warm und belebt intoniert, später das „Pie Jesu“ mit dem traumhaften Engelsgesang eines jungen Sopranistinnen-Quartetts über gedämpften Streichern und milden Hornrufen verstärken mehr und mehr den Eindruck, dass die chorische Vorliebe des Komponisten den Frauen gehört.
Himmlische Ruhe
Erst recht sprechen dafür seine Verarbeitungen japanischer Haikus. In himmlischer Ruhe durchbricht Karl Jenkins mit ihnen die – um zusätzliche lateinische Texte erweiterte – Totenmesse, um deren Sinn zu erden und welttauglich an die Schöpfung anzubinden. Die Vertonungen anzustimmen, bleibt den Chordamen vorbehalten. Und Silvia Müller: Die tief timbrierten Töne ihrer Blockflöte schlängeln sich glissandierend und mit vielfältigen Vorhalten exotisch zwischen dem Vokal- und dem Instrumentalensemble. In die allfälligen Gemeinplätze der Musik schieben sich unversehens Klangräume, die durch ihr magisches Anderssein sowohl auf die Unvorstellbarkeit des Ewigen verweisen als auch, mit Worten, ein Diesseits feiern, das des Bleibens und Lebens wert ist. So vergleichen die hellen Stimmen in einem der (jeweils nur siebzehn Silben kurzen) Gedichte den aus Wolken rieselnden Schnee mit fallenden Kirschblüten, oder sie schweifen schwebend über hohem Streicherflirren und glitzerndem Geklingel des Schlagwerks wie „über Sommerfelder“, als wärs die asiatische Spielart eines gregorianischen Chorals.
Zwei Mal vermengen sich die Worte der lateinischen Liturgie sogar mit den fernöstlichen Versen: Im „Benedictus“ nehmen die Stimmen, von Streicher-Herz- und Glockenschlägen wie zu einer „Mond“-hellen Mitternacht getragen, „von diesem Leben Abschied“; während des „Agnus Dei“ dann psalmodieren sie in tiefer Versenkung wie in einer Klosterzelle: „Lebt wohl! Ich gehe wie Tau auf dem Gras.“ Im letzten – nicht zum eigentlichen Messetext gehörenden – Abschnitt, „In paradisum“, machen sich die Chorscharen, von Harfen-Arpeggien wehend umflort, erleichtert auf zur ungetrübten „Harmonie und Ordnung“ eines erhofften Jenseits: Der Durchgang in die Gefilde der Seligen ist in Hof hörbar kein Trauermarsch, sondern der erste Schritt auf einem freien Fußweg, leicht zu überwinden, schwellenlos.
■ Der Große Chor des Jean-Paul-Gymnasiums wurde von Maniana Füg und Stephan Strunz, der Chor der Plauener Erlöserkirche von Katrin Nürnberger einstudiert.
■ Die St.-Michaelis-Kantorei im Internet: hier lang.
Freie Atemwege
Tiefsinn und Lebendigkeit: Als Trio Amédée spielen die Flötistin Andrea Lieberknecht, der Fagottist Dag Jensen und Jan Philip Schulze am Flügel zusammen. Im Lichtenberger Haus Marteau brillierten sie mit wenig bekannten Werken und reizvollen Bearbeitungen.
Von Michael Thumser
Lichtenberg, 7 November 2024 – Rasetti? Muss man den kennen? Rosetti, mit o, Vorname Antonio, Jahrgang 1750 – von ihm, einem deutschböhmischen Tonsetzer, haben Kenner klassischer Musik gelegentlich gehört. Seinem Beinahe-Namensvetter Amédée Rasetti aber räumen selbst umfangreiche Enzyklopädien kaum ein paar Zeilen ein. Immerhin vermelden sie, er sei 1799 in Paris „an einem Brustleiden“ gestorben. Kein schlimmes Omen für das Trio Amédée, das sich den großen (oder eher kleinen) Unbekannten zum Namenspatron erwählte: Zwar überwiegen Blasinstrumente als Mehrheit im Ensemble – Flöte und Fagott –, doch bewiesen Andrea Lieberknecht und Dag Jensen am Dienstag im Lichtenberger Haus Marteau, dass sie es ganz und gar nicht auf der Lunge haben.
Naturgemäß klingen ihre Instrumente anders, als wenn einer ins Horn stößt oder in die Trompete trötet. Dezenz und Geschmack herrschen als Grundcharakter ihrer Darbietungen vor, woran gleichzeitig ihr fabelhafter Klavierpartner Jan Philip Schulze maßgeblich Anteil hat. Unter seinen wie mühelosen Händen summt und singt, plaudert und glitzert der Flügel gern und oft, was gleich dem Auftakt des – vom Publikum im ausverkauften Konzertsaal reich beklatschten – Abends sehr zugute kommt. Denn statt Ölschinken malen die drei mit feinem Kolorit drei „Aquarelles“ des 1941 in Paris gestorbenen Flötisten und Komponisten Philippe Gaubert aus. „An einem klaren Morgen“ spielt das erste und wird von den Künstlern, der Satzvorschrift zufolge, „enthousiaste“, mit Begeisterung, vorgetragen, mit schwelgerischem, auch unbändigem Optimismus. Weniger an die Impressionisten Ravel und Debussy als an deren Vorläufer Franck, Fauré, Saint-Saëns lässt die Tonsprache denken, die Lieberknecht und Jensen während des folgenden „Herbstabends“ in die Melancholie zweier schöner Seelen kleiden. Deren Herzensergießungen weisen voraus auf ein verliebtes Intermezzo in der „Sérénade“, die ansonsten frisch und forsch-tänzerisch die schöne Suite beschließt.
„Schäfers Klage“
Auch Duo-Werke stehen im Programm. Zu dritt aber, wie am Anfang und dabei wiederum in ausbalancierter Gleichwertig- und -gewichtigkeit, agieren sie noch einmal am Schluss, bei Carl Maria von Webers g-Moll-Trio opus 63, wobei Dag Jensens Fagott neuerlich das in der Partitur vorgesehene Cello ersetzt. Im Vergleich zum nuancierten Empfindungsreichtum des ersten Werks ein braves Beispiel deutscher Treuherzigkeit, ohne indes simpel oder gar verschlafen zu wirken: Zunächst spielen die Interpreten Anmut und Leidenschaft, Schwermut und Gleichmut, Hell und Dunkel, Dur und Moll kontrastierend gegeneinander aus, bevor sie im Scherzo wuchtig polternd, mit erwiesen freien Atemwegen, Ländler-Lustigkeit entfesseln. Lautstark ausgelassen, wiewohl nicht ungebrochen hoffnungsfroh, führen sie die Satzfolge ans schmissige Ende. Zuvor aber stimmen sie noch „Schäfers Klage“ an: Zugrunde liegt jenem Andante ein Gedicht Johann Wolfgang von Goethes, von einem Hirten erzählend, der seiner schon entschwundenen Liebsten sinnlos noch einen Strauß Wiesenblumen pflückt; die Musiker verwandeln die schlichten Verse in ein Lied ohne Worte, gesättigt mit volksliedhafter Wehmut und schubertschem „Winterreisen“-Weltschmerz.
Flöte, Fagott, Klavier – Originalliteratur ist für solche Besetzung ziemlich rar. Als Bearbeitung erklingt im Haus Marteau aber auch Claude Debussys Violinsonate: Den Geigenpart deutet Andrea Lieberknecht mit der Querflöte aus: sich der Ruhe entwindend, aufbegehrend, im Klang sogar ausdrücklich geschärft; sodann im „Intermède“ mit frecher Aufmüpfigkeit, zu der sie seinen tragischen Trotz auflichtet; schließlich „très animé“, sehr lebhaft also, nämlich behände, beherzt, fast unbeherrscht, jedoch nicht ohne stagnierende Momente des Tiefsinns und der Grübelei. Sonst, mit der Violine, stellt sich Debussys Feinstofflichkeit sehr anders dar: nicht so leibhaftig atmend wie hier, nicht so ratlos im Aushauchen. Dafür fehlt jetzt die reichere Farbigkeit der Geige; von der aber steuert Jan Philip Schulze am Flügel so viel bei, dass es für beide reicht.
Der einzige Beitrag in ursprünglicher Besetzung kommt aus der Schweiz, hört sich aber gleichfalls recht französisch an. Obendrein entstand er erst vor einigen Jahren, enthält sich aber (fast) jeder avantgardistischen Attitüde. In den „Réminiscences“ des aus Luzern gebürtigen Oboisten und Komponisten Gotthard Odermatt „erinnern“ sich Dag Jensen und Pianist Schulze an zwei Gelegenheiten, sich „temps“, Zeit, zu nehmen. Zuerst „pour ressentir“, fürs Fühlen: Weit und frei holt das Fagott zu einem philosophierenden Solo aus, um sich dann mit dem Klavier in poetischer Tonalität zusammenzufinden, halb nachdenklich, halb schmerzlich, dann gelöster in der Stimmung. Lang ausgehaltene Töne beflügelt der Interpret sacht mit einem sonoren Vibrato, das an ein meditierendes Jazzsaxofon denken lässt. Gutgelaunt, wenn nicht fidel, jedenfalls voller Lust, „zu leben“ („vivre“), griffeln sich Jensens elektrisierte Finger, schnäbeln sich seine Lippen durch rasend loslegende Läufe, gekräuselte Arabesken, die halsbrecherische Kadenz des zweiten und letzten Satzes. Wie macht die Brust das bloß? Seinen Lungen geht die Puste einfach nicht aus.
■ Das Haus Marteau im Internet: hier lang.
Irdisches und himmlisches Leben
Zwei Freunde in einem Konzertprogramm: Gustav Mahler und Josef Bohuslav Foerster. Vom einen sorgen neun „Wunderhorn“-Lieder beim Publikum der Symphoniker für Begeisterung. Für die Symphonien des anderen, wenig bekannten Tonsetzers darf Dirigent Hermann Bäumer als Experte gelten.
Von Michael Thumser
Hof, 23 Oktober 2024 – Ein Schuh, den übelwollende Kritiker sich anziehen sollen: In einem Wettbewerb treten eine aparte Sängerin und ein plumper Sänger gegeneinander an; weil aber der Juror, wie die meisten seines Schlages, von wahrer Tonkunst keine Ahnung hat, gibt er natürlich dem populistischen Schreihals den Vorzug vor der empfindungsvollen Goldkehle. Schlagt ihn tot, er ist ein Rezensent?
Natürlich nicht. Der selbst ernannte Fachmann, im statthabenden Fall zwischen Nachtigall und Kuckuck ein veritabler Esel in jeder Bedeutung des Worts, darf weiterblöken: „Ija, ija.“ Zum Mord ruft das „Lob des hohen Verstandes“ nicht auf, sondern entspinnt sich als satirische Fabel, vergnüglich in Text und Ton . Als eines von neun „Liedern aus des Knaben Wunderhorn“ unterhielt es das Publikum beim zweiten Hofer Konzert der Symphoniker höchlich. Im Lauf von fünfzehn Jahren hat Gustav Mahler 24 Gedichte aus der berühmten Kollektion sogenannter Volkspoesie vertont, die Clemens Brentano und Achim von Arnim zwischen 1805 und 1808 gesammelt und in drei Bänden veröffentlicht hatten; ein für die Romantik Maßstäbe setzendes Projekt: Sogar der alte Goethe meinte, die Sammlung sollte in jedem deutschen Haushalt gleich neben der Bibel liegen. Im Festsaal der Freiheitshalle präsentieren Hermann Bäumer und das Orchester etliche Kernstücke daraus, repräsentativ wegen der enormen Bandbreite der Gemütslagen und klanglichen Atmosphären von Begeisterung und „Narretei“ über ländlich-sittliche Liebessehnsucht und innigen Kinderglauben bis zu Weltabschied und letzter Verzweiflung.
Löwenhaupt
Den unbelehrbaren Beckmesser im Gesangswettstreit gibt in Hof Konstantin Krimmel, jener Bariton aus der Staatsoper in München, den die Zuhörenden hier vor einem Jahr bei den „Vier ernsten Gesängen“ von Johannes Brahms bestaunten und bejubelten. Heuer kürten ihn die Juroren des Opus-Klassik-Preises zum „Sänger des Jahres“, ein Votum, das sich in Hof leicht nachvollziehen lässt. Kernig Krimmels Stimme, klar und kräftig die Kontur jeder Linie. Der einstige Ulmer Chorknabe nimmt mit seinen 31 Jahren allein schon durch das haarumtobte Löwenhaupt für sich ein, erst recht dadurch, dass er es dennoch an unangebracht raubtiermäßiger Präpotenz vollkommen fehlen lässt. Den gleichen sarkastisch-leichtsinnigen Ton wie in der munter fabulierten Esels-Travestie schlägt er, unter der Maske des Machos, an, wenn er als bekennend untreuer Herzensbrecher seiner Ex-Flamme hinterfotzig „Trost im Unglück“ spendet und sie zynisch in die Wüste schickt („Ohn’ dich kann ich wohl leben“). Mit mehr Verliebtheit erzählt er das „Rheinlegendchen“, freilich neuerlich jede Lust auf Sesshaftigkeit bestreitend – ein Wanderer, der weiterzieht.
Sich neben Krimmels hochpräsenter Ausstrahlung mit eigenem Charakter und höchstpersönlicher Intensität zu behaupten, mag nicht jedem Kollegen, jeder Kollegin leichtfallen. Der Lettin Karina Repova, aus dem Staatstheater Mainz angereist, gelingt es mit einer Gesangskultur gespannter Zurückhaltung, die sich gottfromm vertiefen, aber ebenso emphatisch beleben, leidenschaftlich schärfen kann. „Süßen Gesang“ verströmt ihr von variabel verwendetem Vibrato beseelter Mezzo in „Es sungen drei Engel“ (aus der dritten Symphonie), wo sich in die orchestrale Feierlichkeit aus Sündenbekenntnis und Lossprechung eigentümliche Beitöne des Grotesken mischen, deutlicher noch im „Himmlischen Leben“, der Pseudo-Utopie aus der vierten Symphonie: Mit deren rasselndem Hauptthema fahren die Symphoniker denn auch grell dazwischen. Hingegen „sehr feierlich, aber schlicht“, der Vorschrift Mahlers für den vierten Satz seiner Zweiten folgend, lässt die Künstlerin in aller Natürlich- und Nachdenklichkeit, aus verschwiegenem Pianissimo heraus das ergreifende „Urlicht“ aufgehen, das „leuchten wird bis in das ewige Leben“. Denn im Diesseits „liegt der Mensch in größter Pein“, sein „Irdisches Leben“ lang: Jenes Lied, eines der grausigsten des Komponisten, nutzt Karina Repova, um, am Beispiel eines verhungernden Kindes, händeringend dramatisch Furcht und Elend anzuprangern: ein Totentanz.
Urlicht
Gestenreich und farbenstark spielt Dirigent Bäumer mit dem Orchester Mahlers Vagabundieren zwischen Komik und Tragik aus, zwischen ahnungsloser Naivität und erschreckender Erkenntnis. So darf auch nicht das „Urlicht“ als Schlusslicht die Liedauswahl von hinten her mit seinem Glanz versöhnlich überstrahlen. Sondern Konstantin Krimmel hat das letzte Wort: Nachdem ihn als desertierten „Tamboursg’sellen“ schon zuvor Trommelwirbel zum Galgen begleitet haben, setzt er mit der berühmten „Revelge“ den letalen Punkt hinter die Liederserie: Als todwund geschossener Soldat sieht er sich, mit einem letzten vitalen Aufbegehren vor der Agonie, von den Kameraden liegen- und zurückgelassen, während das ganze Orchester wie eine einzige Trommel auf ihn einschlägt.
Kann es, danach, ein Zurück ins Dasein geben? Kann es. Während der zweiten Hälfte des Abends nimmt Josef Bohuslav Foersters zweite Symphonie aus dem Jahr 1893 das Publikum an die Hand, nicht allerdings mittels besänftigender Gefälligkeiten, sondern indem sie eine komplex gearbeitete, ausgedehnt stimmungsreiche, nuancenreich ausgedeutete Rundsicht über die Stufen und Grade eines nicht schattenlosen, darum umso glaubhafteren Optimismus entwirft. Ein feines und starkes Stück Musik: merkwürdig, warum das Œuvre des – mit Mahler befreundeten und wie er der deutsch-böhmischen Klangwelt entstammenden – Spätromantikers kaum noch Bekanntheit genießt. Weil ignorante Kritikaster es von den 1920er-Jahren an für antiquiert erklärten? Eine Eselei. Hermann Bäumer indes kennt es, gründlich und von innen: Beim CD-Label Dabringhaus und Grimm brachten er und die Osnabrücker Symphoniker eine Gesamtaufnahme aller fünf Symphonien heraus. Auch in Hof schlüsselt er die Teile der zweiten in F-Dur transparent durchhörbar auf, ohne dass sie brüchig würden, vereint er doch das emotional verzweigte Werk zu einem vielfältig inspirierten Ganzen.
Kosmopolitismus
Gemütvoll beginnts. Eine Neuversion der beethovenschen „Pastorale“ scheint aus dem Kopfsatz erwachsen zu wollen, allerdings nur ein paar Takte lang. Nicht klassizistisch, sondern freizügig romantisch verschafft Bäumer dem auffallend modulationsfreudigen Idiom Foersters Ton und Gewicht. Nicht wohlfeil in Antonín Dvořáks Nähe will der Dirigent die Tonsprache verorten, nicht als nationale Musik stellt er das Opus vor, sondern streicht dessen Kosmopolitismus heraus. Bei aller Geschlossenheit lassen absichtsvolle Brüche aufhorchen: So konterkariert die Dramaturgie des mit Paukenwirbel ungestüm anhebenden Finalsatzes ein rhapsodisch freies Intermezzo, als wärs ein Stück plastischer Programmmusik. Am ehesten ließe sich das Scherzo-Allegro des dritten Satzes als wesenhaft ‚böhmisch‘ deklarieren, ein auffordernder Tanz.
Ganz anders gesonnen hat sich Hermann Bäumer zuvor im Andante des zweiten Satzes gezeigt. Dort holte er aus beklemmenden Tiefen der Celli ein Drei-Ton-Motiv hervor, das der Grundidee zu César Francks fünf Jahre älterer d-Moll-Symphonie gleicht und sich ähnlich aufschwingend und wieder in sich kehrend zu mannhaftem Fatalismus bekennt. Wer sich bewusst macht, dass Foerster mit seiner Zweiten der toten Schwester ein Denkmal setzte, verspürt den Dualismus von „irdischem“ und „himmlischem Leben“ womöglich erst ganz.
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Fliegen im Bernstein
Zu Beginn der neuen Saison tritt Martijn Dendievel den seit 23 Jahren vakanten Posten des Hofer Chefdirigenten an. Mit den Symphonikern und dem jungen Geiger Tobias Feldmann gelingt ihm ein großartiger Einstand. In deutscher Erstaufführung erklingt Richard Blackfords „Niobe“– ein Meisterwerk.
Von Michael Thumser
Hof, 1. Oktober 2024 – Diese Klänge sind fatal. Sie haben und hatten es in sich: Nachdem die nazideutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfallen hatte, pflegte das Kernmotiv aus „Les Préludes“ als „Russland-Fanfare“ die triumphal tönenden, zunehmend verlogenen Frontberichte in Rundfunk und Kino einzuleiten. Lang liegt das zurück, aber ein ungutes Gefühl macht sich bei manchen noch immer geltend, sobald Franz Liszts Tondichtung erklingt. Wie ein gefährlich schönes Insekt in edlem, aber verdächtig braunem Bernstein hält sich die Erinnerung. Das französische Gedicht, das der Komponist (allerdings erst nachträglich) der Partitur wie eine Inhaltsangabe beifügte, schwadroniert von der „Feierlichkeit“ des Soldatentodes und vom Mann, der erst eigentlich als Krieger seine wahre Bestimmung finde. Der unzweifelhaften Grandiosität des missbrauchten Werks darf dies alles keinen Eintrag tun, ist doch die beste Programmmusik jene, die sich den Hörenden mitteilt, auch wenn sie das „Programm“ nicht kennen.
Dies machte sich wohl auch Martijn Dendievel bewusst, bevor er am Freitag das Pult der Symphoniker bestieg. Ein besonderer Abend, nicht nur weil damit – und mit viel rauschendem Beifall des Publikums – die neue Hofer Konzertsaison im Festsaal der Freiheitshalle glanzvoll beginnt; schwerer wiegt, dass der junge Künstler, zuvor schon wiederholt Gast in der Stadt, nun offiziell sein Amt als Chefdirigent antritt. Kein Debüt mithin, gleichwohl ein großartiger Start, trotz des verwackelten allerersten Pizzicatos – derlei Fahrigkeiten erlauben sich die Musikerinnen und Musiker in der Folge nicht mehr. Machtvoll steigern sie Liszts Theatralik zum ersten Aufblühen der berühmt-berüchtigten Fanfare, die sie sogleich ausdrücklich lyrisch mit dem Seitenthema auf- und abfangen. Gebärdenreich nervös treibt Dendievel das Ensemble in und durch die Aggressivität tatsächlich kriegerischer Passagen – um wenig später, gleichsam weltfremd lächelnd, ein sich gen Himmel träumendes Idyll zu entwerfen. Für die Finalstrecke kleidet sich das lyrische Motiv ins Gewand eines forschen Marsches, bei dem sogar die Kleine Trommel rasselt – vielleicht ganz gut, dass nun das Stück ein Ende nimmt, nach einer mitreißenden Viertelstunde, die es in sich hatte. Dafür braucht es keine Weltkriegs-Reminiszenzen.
Einsames Scheitern
Nach der Pause erzählt Pjotr Tschaikowskys „Manfred“ nicht von soldatischen Triumphen, sondern, im Gegenteil, von einem einsamen, wenngleich mannhaft erlittenen Scheitern. Das Programm der Riesen-Symphonie: Lord George Byrons „dramatisches Gedicht“ gleichen Titels um die inzestuöse Liebe des gebrochenen Titelhelden zu seiner Schwester und seine Flucht vor ihr und beider Schuld in die Alpen und den Tod. Mag sein, dass der Komponist bei aller Mühe diesmal selber scheiterte – für die beste seiner Symphonien hielt er den „Manfred“ eine Zeitlang, dann verachtete er sie selbst. An die sechs anderen, selbst die (unterschätzten) frühen, reicht sie wahrlich nicht heran. Während einer Stunde offenbaren ihre vier Sätze nicht so viel Substanz wie Liszts „Préludes“ in einem Viertel der Zeit. Wiederholungen, Leerstellen und Leerläufe breiten sich aus, fruchtbare Motive treten verdorrend auf der Stelle, ohne dass die Musik thematisch festen Tritt fasste. Statt der seelenerschütternden Passion der sieben Jahre später uraufgeführten, unvergleichlichen „Pathétique“ baut sich der Popanz eines platten Pathos auf.
Immerhin, was an Größe in dem Werk stecken mag, kommt bei Martijn Dendievel groß raus. Wo sich Wirkungen aufrichtig entfalten wollen, greift sein Spürsinn nach ihnen, Energie-Eruptionen lässt er sich entladen, bevor er binnen Kurzem das Orchester veranlasst, einem Pianissimo nachzulauschen, das sich abrupt beinah zum Schweigen entschließt. Die Holzbläser – in der bitteren Burleske des zweiten Satzes – gebärden sich sprudelnd virtuos, das Blech peitscht grelle Jagden voran, in schmerzvollen Elegien sehnt sich die Seele des flüchtigen Sünders nach Besänftigung, und wirklich kündigt sich zu guter Letzt in der salbungsvollen Frömmigkeit von Orgelakkorden Erlösung an. Orchestrale Gottesdienstlichkeit à la „Parsifal“: Geschmackssache, nicht Glaubensfrage.
Klassisch-modern
Auf Rettung hofft Niobe indes vergeblich. Ihre Tragödie erzählt ein 2017 uraufgeführtes Violinkonzert, in dessen vier verschmolzenen Teilen der Brite Richard Blackford meisterlich an Traditionen des vergangenen Jahrhunderts anknüpft: romantisch die Instrumentalbesetzung bei allerdings starker und wirkungsvoller Beteiligung zeitgemäßen Schlagwerks; klassisch-modern die Tonsprache, die all jene unmittelbar anspricht, die etwa mit Strawinsky, Bartók, Szymanowski Freundschaft schließen konnten.
Im Internet lässt sich die Uraufführung im Prager Rudolphinum verfolgen: Damals hob Tamsin Waley-Cohen das Werk als Solistin aus der Taufe. In Hof beweist Tobias Feldmann, dass er der Britin an Intuition und technischem Vermögen nichts schuldig bleibt. Eine Rückkehr: Als Sieger (fast) aller Klassen des vierten Henri-Marteau-Wettbewerbs brillierte 2011 der damals Zwanzigjährige beim Preisträgerkonzert in Hof frühreif mit dem Violinkonzert von Jean Sibelius. Nun, künstlerisch imponierend ausgewachsen, hat ers neuerlich mit Musik zu tun, die sich Teufelsgeigerei ebenso verbittet wie Sentimentalität. Für beides ist Tobias Feldmann noch immer nicht zu haben.
Quelle der Tränen
Hörend könnte man versuchen, dem Verlauf der griechischen Sage um die kinderreiche Niobe nachzuspüren, die sich höhnisch mit der weit weniger fruchtbaren, aber rachsüchtigen Göttin Leto anlegt und von ihr in einen Felsen verwandelt wird, dem ihre Tränen fortan als Quelle entspringen. Aber man kann und darf sich auch ganz unvoreingenommen dem unerhört wechsel-, insistierend ausdruckvollen Geschehen hingeben. Denn Tobias Feldmann erweist sich als Poet mit einem an Blackfords hochexpressives Idiom genau angepassten Spiel. Auf der Schönheit der Gefühle ruht er sich nicht aus, sondern fügt sich willig, unnachgiebig, dabei zutiefst emotional der Dramatik wie der Dezenz, der flüchtigen Erdabgewandtheit wie den Schwergewichten der sich ablösenden, zu einem aufregenden Ganzen integrierten Episoden. Ein „symphonisches“ Konzert: Hypnotisch hat es der Komponist instrumentiert und dem Orchester weite Zwischenspiele auch ohne Beteiligung der Sologeige eingeräumt. Dementsprechend ummantelt Dirigent Dendievel das Geigenspiel Feldmanns filigran und abgestuft und kann sich darauf verlassen, dass der Solist seinerseits seinen Platz nicht nur vor den Symphonikern, sondern auch in ihnen findet.
Zum Schluss scheint das Orchester in ausgedehnten, so gut wie unbewegten Klängen und Flächen zu erstarren, in und über die der Geiger reue- oder mitleidvolle Linien legt, Doppelgriffe, Flageoletts … Der Komponist – zur deutschen Erstaufführung des Meisterwerks eigens nach Hof gereist und hier zusammen mit Dirigent und Solist aus gutem Grund bejubelt – vergleicht in einem erläuternden Text die sterbende Niobe mit einem Insekt, das von Baumharz langsam, aber unausweichlich eingeschlossen wird. Zu Tode betrübt scheint sie zu verenden – bis Feldmann, in der letzten Minute, schier ungezügelt dagegen aufbegehrt: Die Fliege im Bernstein lebt.
■ Der Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.
Das letzte Wort
Der Kammerchor Hof liest den Ausbeutern der Menschen und der Erde gehörig die Leviten. Mit hoher Stimmkultur und gestalterischem Raffinement prophezeit er in seinem Programm „Warning to the Rich“ bedenkenlosem Reichtum und verantwortungslosem Materialismus ein Ende mit Schrecken.
Von Michael Thumser
Hof, 17. September 2024 – Geld macht uns nicht glücklich. Drum „singe, wem Gesang gegeben.“ Dem Kammerchor Hof ist er gegeben, in beeindruckendem Reichtum: als stimmtechnisches Vermögen ebenso wie als Fülle stilistisch unterschiedlicher Gestaltungsweisen. Dabei kann sich das in Hochfranken und darüber hinaus singuläre Ensemble – das seit 27 Jahren besteht, sich aber vor Überalterung durch Zustrom auch junger Kräfte zu bewahren weiß – darauf verlassen, dass sein Leiter Wolfgang Weser die Kehlen fortlaufend akribisch schult und nicht müde wird, mit gründlicher Werkkenntnis und erfahrenem Geschmack immer aufs Neue gehaltvolle Projekte zu ersinnen.
Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt uns ungemein. Wirklich? Nicht Beschwichtigung hatten die knapp dreißig Sängerinnen und Sänger am Sonntag mit ihrem Auftritt in der Hofer Kreuzkirche im Sinn, im Gegenteil. All denen, die allzu gierig den Spuren schnöden Mammons folgen, sprachen und sangen sie gehörig ins Gewissen, tadelnd und mahnend, bedrängend gar: Ausdrücklich als Warnung an die Reichen – „Warning to the Rich“ – wollte die Werkfolge verstanden sein. Wie stets bei diesem Chor verband sie Sätze aus mancherlei Epochen zwischen Renaissance und Gegenwart, um aus ungleichartigen Teilen ein Ganzes von höherer und tieferer Bedeutung zu gewinnen. Die teilt sich den Zuhörerinnen und -hörern spürbar eindrucksvoll mit.
Das Gravitationszentrum
Jenem Ganzen gibt die Motette „Warning to the Rich“ den Übertitel. In ihr verarbeitete der Schwede Thomas Jennefelt 1977 (englischsprachige) Verse aus dem neutestamentlichen Jakobus-Brief: der avancierteste und aufsehenerregendste Baustein des Konzerts und sein Gravitationszentrum. Der Chor rahmt es ein in das zwei Mal intonierte „Lied von der Moldau“ (aus Bertolt Brechts Stück über den braven Soldaten „Schweyk im Zweiten Weltkrieg“) und sagt damit, geradezu agitierend, eine heilsgeschichtliche Zeitenwende voraus: „Die riesigen Pläne der Mächtigen kommen am Ende zum Halt.“ Jene aufwieglerische Attitüde sublimiert und steigert Jennefelts zehnminütiges Chordrama zu apokalyptischem Protest. Untergründig zunächst baut das Ensemble eine Drohkulisse auf: über einer Art gesummter Litanei ein unheimlich geflüsterter Fluch, der den „Reichen“ heulendes „Elend“ verkündet. Am Ende aller Tage, so die Weissagung, werde selbst unser für unverrottbar gehaltenes Gold und Silber„verfaulen“, und der „Rost wird euer Fleisch fressen wie ein Feuer“. Sodann, in einer Sequenz fast nach Art eines Gospels, wird den Ausgebeuteten ihr gutes Recht zuerkannt. In den Schluss mischt sich eine Spur höhnischer Ironie, wenn nicht Schadenfreude: „Wohlan nun, ihr Reichen!“ Über sie hat der Chor kompromisslos das Urteil gefällt, das in der Ewigkeit verhallende letzte Wort gesprochen: „Eure Freude verkehre sich in Traurigkeit und euer Lachen in Weinen.“
Wohl kein Programmbeitrag fordert an diesem Abend den Kammerchor stärker heraus. Zum zeitgemäßen Gestaltungsrepertoire des Ensembles gehören dabei rhythmisierter Sprechgesang, frei über Tonräume gleitende Glissandi, nach denen die Stimmen gleichwohl wieder akkurat ins Akkordische finden, auch die Orientierung auf verschlungenen Umwegen durch schwer abschätzbare Dissonanzen. Dergleichen angemessen zu interpretieren, sind andernorts meist nur ausgebuffte Profis in der Lage.
Mit exquisitem Alt gleicht sich Yvonne Berg der planvollen Dramaturgie Wolfgang Wesers an; schon zuvor, bei Antonín Dvořáks „An den Wassern Babylons“, tat sich die Künstlerin mit melancholischer Farbenstärke hervor. Ferner beteiligt sich Harald Oeler als trickreicher Akkordeonist, der unter anderem mit einer Tango-Fuge aus der eigenen Komponierwerkstatt eine Brücke schlägt zwischen der Alten und der Neuen Musik des Programms.
Der Arm des Allmächtigen
Gemäßigt modern hat es begonnen: mit einem „Fecit potentiam“ des 2016 gestorbenen Finnen Einojuhani Rautavaara, das buchstäblich packend den „gewaltigen Arm“ des Allmächtigen beschwört – und auf das sich später, deklamiert von vier Solisten, dem Chor und Dorothea Weser an der Orgel, ein Satz Giacomo Carissimis als frühbarockes Pendant bezieht. Noch weiter zurück in die Ferne, ins sechzehnte Jahrhundert nämlich, führen Philippe de Monte und Jacobus Clemens non Papa: Mit dem einen und seinem „Super flumina Babylonis“ („An den Flüssen Babylons“) kontrastieren die Vokalistinnen und Vokalisten feierlich entsagend die vorangegangene Ausdeutung durch den Romantiker Dvořák; mit dem anderen und dessen „Fremuit spiritu Jesus“ über die Auferweckung des Lazarus lassen drei Solistinnen und der Chor über tragischen Worten erhaben einen Auferstehungsgesang schweben.
In eine Schlusssequenz leitet er über, die der Furcht vor ewiger Verdammnis dann doch eine elementare Zuversicht entgegensetzt. Aber genügt das, um uns Geldmenschen zu „beruhigen“, womöglich „ungemein“? Zwischen zwei Sätze aus „Jesu, meine Freude“, der bekanntesten und bedeutendsten Motette Johann Sebastian Bachs, fügt der Kammerchor ergänzend eine sinngleiche Strophe des um eine Generation jüngeren Johann Friedrich Doles ein – in unverhofft tänzerischem Dreiertakt –; und schließlich bitten Chor und Orgel, mit dem „Veni, Sancte Spiritus“ des US-Amerikaners Morten Lauridsen aus dem Jahr 1997, den Heiligen Geist als „Heilsbringer“ und „Herzenslicht“ herbei: als „pater pauperum“, Vater der Armen. Auch hier, wie bei Bach, heißt das letzte Wort: „gaudium“, Freude. Vielleicht dürfen wir, obwohl bis zur Gedankenlosigkeit mit irdischen Glücksgütern gesegnet, doch noch darauf hoffen, dass zu den Wundern des Jüngsten Gerichts dereinst auch ein Nadelöhr gehört, weit genug, um nicht bloß die Kamele, Schwachen und Elenden hindurchzulassen.
■ Der Kammerchor Hof im Internet: hier lang.