Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Splitterregen aus der Spiegelwelt

Die Bayreuther Klavierfabrik Steingraeber & Söhne hat Alexandre Tharaud ins goldverbrämte Markgräfliche Opernhaus geladen. Auch das laute Geräusch des Virtuosentums beherrscht der französische Spitzenpianist – seine Spezialität aber ist der schimmernde Zauber des „lyrischen Stücks“.


Von Michael Thumser

Bayreuth, 26. Juli – Selten passte ein modernes Sakko so perfekt wie dieses ins altehrwürdige Markgräfliche Opernhaus: Die goldenen Revers am Jackett Alexandre Tharauds scheinen Strahlen aussenden zu wollen, um sie vom reflektierenden Gold an Holz und Stuck des wunderreichen Rokokosaals wiederzubekommen. Und selten passt Klaviermusik so stichhaltig in die mit unüberschaubarem Dekor ausstaffierte Welterbestätte wie Jean-Philippe Rameaus reich verzierte „Suite en la“, mit der das Rezital am Montag begann.

     In ‚lyrische Stücke‘, stark ins Romantische tendierend, darf der hochgelobte, bedeutend prämiierte Gast aus Frankreich die vier Piècen des barocken Clavecinisten verwandeln. Kein Wunder, kann er sich doch, statt sich auf die Monotonie des zirpend gezupften (wenn auch stilgemäßen) Cembalos beschränken zu müssen, am großen Konzertflügel der Bayreuther Klavierbauer Steingraeber & Söhne verbreiten, die ihn nach Bayreuth eingeladen haben. Die Anschlagsmöglichkeiten und variablen Druckkräfte des riesigen Instruments, seine Farbenvielfalt und nicht zuletzt das Pedal nutzt Tharaud denn auch weidlich aus, gefühlvoll als Poet schwelgt er, freilich ohne eine einzige der zu Rameaus Zeiten unverzichtbaren Garnierungen zu unterschlagen. In und zwischen den gleitenden Läufen, gemeißelten Akkorden, flatternden Tonrepetitionen prasseln und kräuseln sich Mordants, Schleifer und Pralltriller in Serie, bis das Melos beinah dahinter verschwindet.

Gegenwelt zur Gegenwart

Dem Künstler – den das Publikum im fast vollbesetzten Auditorium von Beitrag zu Beitrag mehr und am Ende exaltiert bejubelt –, ihm gefällt das selbst; von seinen Mienen ist es abzulesen. In den lächelnden oder leidenden Zügen zeichnen sich hier Freude, da Passion ab – wobei Tharaud sich des Guten zu viel erlaubt: Seinen Körper hat er während des Spiels weitgehend unter Kontrolle, das Gesicht indes, mal erstaunt, mal orgastisch entgleist, nutzt er im Lauf des Abends vielfach für Showeffekte, die er seinen Interpretationen zum Glück weitgehend erspart.

     Lyrische Stücke – in dramatischen Zeiten? Wie eine zwar präsente, doch entlegene Gegenwelt zur Gegenwart inszeniert er sie – als Spiegelbilder, als eine gleichsam seitenverkehrte, umgekehrte Wirklichkeit. Zwölf der Miniaturen, die Edvard Grieg zwischen 1867 und 1901 in insgesamt zehn Heften unterm Titel „Lyrische Stücke“ publizierte, fügt Tharaud als Lieder ohne Worte aneinander. Nach säuselnd süßlicher Herzensergießung klingen manche; an eine balladeske Erzählung fügt sich eine Träumerei, an einen chromatischen Klagegesang ein schillernder Engelschor à la Liszt; dann wieder will, bei einem „Norwegischen Tanz“, die Hardangerfiedel über laut brummenden Bordunquinten fidel triumphieren … Etüdenhaft flüchtig flattern „Schmetterlinge“ kreuz und quer, bevor der Künstler den der Daseinslust gewidmeten Saal mit einem „Glockengeläut“ von mussorgskischer Dunkelmagie überzieht. Umso fröhlicher der populäre „Hochzeitstag auf Troldhaugen“: Als wirbelndes Schlussstück entfesselt er ihn halb ausgelassen, halb nimmt er ihn verliebt zurück; bis er ihn, leider, in den letzten Passagen mit keilenden Händen zerdrischt.

     Dafür besinnt sich der 54jährige, leicht zehn Jahre jünger einzuschätzende Interpret – der ansehnlich-schlanken Erscheinung nach eine Art Emmanuel Macron seiner Zunft – nach der Pause auf eine Haltung bescheidenster Verhaltenheit: In seiner eigenen Klavierbearbeitung quillt und wogt das „Adagietto“ aus Gustav Mahlers fünfter Symphonie als erst tropfende, dann sanft brandende, auch gischtend brechende Flut schierer Schönheit – das vielleicht lyrischste Stück der romantischen Symphonik, gebändigt und doch befreit auf 88 Tasten.

Schattenflecke, Lichtblitze

Aber die Sensation des Abends steht da noch bevor: Die „Miroirs“, Spiegelbilder, Maurice Ravels perfektioniert er – zurzeit einer der maßgeblichen Experten für den pianistischen Kosmos des Komponisten – technisch, atmosphärisch, koloristisch zur Meisterleistung seines Programms. Wie ein nächtlicher Splitterregen aus der Spiegelwelt glitzern eingangs die „Noctuelles“, die spukhaft gaukelnden Nachtfalter, bevor Tharaud die abgründige Melancholie der „Oiseaux tristes“, der traurigen Vögel, in einem Netz von Schattenflecken und Lichtreflexen einfängt und auflöst. An der selbst für manch abgefeimten Könner unspielbaren „Alborada del gracioso“, dem Morgenständchen des Narren, scheint in den ersten Takten auch er  scheitern zu sollen, bis seine Hände (und die das Pedal krachend zertretenden Füße) sie sich doch noch eisern unterwerfen.

     Gleichwohl ist er sich für einen bestaunten Schausteller supervirtuoser Klavierkunst zu schade. Ganz in die unabsehbaren „Tal“-Tiefen und den lyrischen Zauber ravelscher Klangfreiheit versenkt er sich in „La vallée des cloches“, wo er - ganz ohne Arabesken, strahlenden Zierrat, verbrämendes Gold - die unirdischen, unterirdischen, wie in Vergessenheit geratenen „Glocken“ einer fernen exotischen Epoche läutet. Und in der „Barque sur l’océan“ fügt er aufs Sublimste vielerlei Klangflächen und -schichten auf- und ineinander, auf dass darauf die titelgebende „Barke“ taumelt, schwankt und tanzt wie auf einer Sintflut, die hoffentlich erst „nach uns“ kommt.

Nächste Veranstaltung bei Steingraeber & Söhne: Freitag, Kammermusiksaal (Steingraeberpassage 1), 19.30 Uhr, Ludwig van Beethovens letzte Klaviersonaten (Opera 109, 110 und 111) mit Tomoko Ogasawara.



Einfach für die Ewigkeit

Albrecht Mayer, einmal mehr Gast der Symphoniker, agiert zum Saisonschluss in Hof als Dirigent und Oboist. Nach Werken von „Großmeistern“ wie Brahms und Dvořák, erst recht nach einem Bach-Konzert feiert ihn das Publikum. Mit der Zugabe kommt er den Hörerinnen und Hörern so nah wie selten ein Solist.


Von Michael Thumser

Hof, 11. Juli – Brahms war neidlos des Lobes voll: „Das war ein Kerl!“ Keinen glorreichen Zeitgenossen staunte der Komponist so an, sondern einen oft als großväterlich-dröge unterschätzten Kollegen aus einer früheren Epoche: Joseph Haydn. Das ist ein Kerl!, mag sich das Publikum am Freitag gedacht haben, als Albrecht Mayer das Podium im Festsaal der Hofer Freiheitshalle betrat. Fast auf den Tag vor zwei Jahren war der weltberühmte Oboist zum letzten Mal am Ort; jetzt, am Ende der Saison, schaut er, wie damals, neuerlich entspannt ins Auditorium, lächelt und lacht wie ein Teenager, obwohl er auf die Sechzig zugeht, und gibt denn auch als Anekdote kontaktfreudig zum Besten, dass er vor 44 Jahren erstmals in Hof aufgetreten sei, als vierzehnjähriges Frühtalent; und dass er danach mit anderen Jungs und Mädels in den nächtlichen Untreusee sprang, „ohne Badehose“, versteht sich.

     Gut spielbare Literatur findet einer wie er vor allem in lang vergangenen Jahrhunderten, nicht zuletzt bei Bach und Händel; aber auch anderweitig, etwa im Frankreich des fin de siècle hat er sich schon umgetan. Jetzt, in Hof, vermischt er zwei Epochen: Dem Romantiker Brahms wendet er sich zu und zugleich einer einfachen Melodie der Klassik, dem „Chorale St. Antoni“, die lange Haydn zugeschrieben wurde und die wohl längst vergessen wäre, hätte nicht der ihn hochverehrende Brahms sie für die Ewigkeit bewahrt. Vor 150 Jahren formte er das Thema und neun ausgewachsene Variationenteile zu seinem Opus 56: Noch vor der vierteiligen Symphonien-Reihe entstand so eine seiner originellsten Orchesterschöpfungen.

Heiter und hoffnungslos

Als Dirigent inszenieren Albrecht Mayers naturbelassen-unaufgeregte Gebärden schon das Thema variabel: In warmer Behaglichkeit dürfen die (Holz-)Bläser es über Cello-Pizzicati legen, in einem feinen Wechsel von Farben und Intensitäten. Erst recht mannigfaltig fügt das Orchester die von Brahms sehr frei ausgearbeiteten Veränderungen aneinander: hier zeremoniöse Breite, dort schlagartig kurze Akzente des Orchesters, auf die bedrohliche Leidenschaften folgen, dann wieder das heitere Gleichmaß gelassenen Strömens. Hoffnungslosen Klagegesten setzen die Musikerinnen und Musiker, mit den Hörnern an der Spitze, Momente federnder Unbekümmertheit entgegen. In der Sicherheit verträumter Zärtlichkeit wiegen sie sich, um kurz danach, von den Bratschen aus, Unheil zusammenzubrauen … Für entschieden bipolar, freilich erst recht darum spannungsreich, dürfte man die Darbietung halten, führte Mayer im Finale das Disparate nicht so zusammen, wie es zusammengehört: In einer Passacaglia – die sich schon hier, wie dann in Brahms’ vierter und letzter Symphonie, zu einem veritablen Variationensatz für sich auswächst – lenkt er das kurze, dafür dem Gehalt nach luxuriös dimensionierte Werk durchs Ziel pompöser Feierlichkeit.

     Das dualistische Ur-Prinzip der Musik, das Wechselspiel von Wiederholung und Veränderung, hat Brahms für seine Mit- und Nachwelt neu erfunden: mit seiner Methode der „entwickelnden Variation“, die aus kleinsten motivischen Keimzellen umfassende Satz-, ja Werkzusammenhänge generiert. Vielleicht darum mochte er Antonín Dvořáks achte Symphonie nicht sehr: Als Sammelsurium von „Fragmenten“ schätzte er ihre formal recht ungebundene Musik gering und fand, statt „Hauptsachen“, nur „Nebensächliches“ darin. Dabei hatte Dvořák 1889, als er sie schuf, „den Kopf voll“ von lauter Hauptsachen: „Die Melodien fliegen mir nur so zu.“

Flötentöne

In der Symphonie will Albrecht Mayer, nach der Pause des mit „Großmeister“ überschriebenen Hofer Abends, keine Hitliste schöner Weisen ‚aus Böhmens Hain und Flur‘ abspulen; aber um die Weite und Breite seligen Melodienreichtums ist es ihm gleichwohl explizit zu tun. Fügsam geht seine Gestaltung der Symphonie von ihrem mild-optimistischen Grundton aus – wobei die Flöten vielmals signifikant hervortreten dürfen –, doch strebt er vom Kopfsatz an nach einer differenzierten Stimmungsmalerei und weiß sie bei den wandlungsfähigen Symphonikern, die er zwischendurch zwei Mal ein „wunderbares Orchester“ nennt, in guten Händen. So dürfen sich auch Bedenken breit machen, sogar, wie im zweiten Satz, Angstgedanken sich äußern, freilich stets im ausgleichenden Wechsel mit begütigenden Zwischenschritten oder gar, wie im Mittelteil des Adagios, mit Phasen sorgloser Erholung.

     Die Schwermut des Walzer-Scherzos kostet der Dirigent zwar mit fast süßlicher Glätte aus, lässt sie dann aber ungekünstelt in einen Frohsinn ausbrechen, wie er Dvořáks „Slawischen Tänzen“ zukommt. Bis eine Fanfare der glasklaren Trompete die Variationen des Schluss-Allegros ankündigt: Voluminös steigt aus den tiefen Streichern das noble Thema auf, bei dessen Mutationen sich die Symphoniker in Schmiss und Schärfe steigern. Dann schwenken sie doch noch mit umso ruhiger Intensität in eine subtil registrierte, eindringlich ausgespielte Schlussrunde ein; bevor sie das (ohnehin ziemlich laute) Werk in der Coda mit Aplomb beenden.

Fantasie im Dämmerlicht

Mit Applaus und Bravorufen feiert das Publikum das Ensemble und namentlich den Dirigenten; und hat es schon zuvor getan, als Albrecht Mayer in Personalunion als Orchesterleiter und Solist zugleich aktiv wurde. Indem er die Oboe d’amore von Fall zu Fall wie einen Taktstock einsetzt, führt er eine Kammerbesetzung von Streichern (und Dorothea Weser am Cembalo) bei Johann Sebastian Bachs A-Dur-Konzert BWV 1055 an. „D’amore“: Mit der Liebe hat das Instrument dem Namen nach zu tun und auch mit seinem Klang, zumindest insofern, als sich seine milde Zartheit für die Freisetzung inniger Gefühle besonders empfiehlt. Folgerichtig weiß Mayer vor allem im Mittelsatz sehr gesanglich damit umzugehen, mit einem rhapsodischen Erzähl-, Fabulier- und Offenbarungston, dem Streicher und Basso continuo eine sparsame Begleitung unterschieben, rhythmisiert wie eine tief beruhigte Herztätigkeit. Ausdrücklich instrumental hingegen fasst der Künstler die Ecksätze auf: den ersten frisch und munter, wenn nicht verspielt durch fortgesetzte Fiorituren, den dritten mit dem behänden, doch bedachten Schwung einer gleichsam reifen Pfiffigkeit.

     Zu Bachs Epochen-Gegenüber wechselt Mayer in der ausführlichen Zugabe. Händel - das war ein Kerl! Der sei, sagt er,  mit der Gabe gesegnet gewesen, „ganz einfache Melodien für die Ewigkeit“ zu ersinnen; als Beispiel führt er, zusammen mit der Symphoniker-Auswahl, das populäre „Lascia ch’io pianga“ an. Schonungsvoll bis zur Überempfindlichkeit intoniert er die schmelzende Arie, deren „einfache Melodie“ in der Oper „Rinaldo“ leidvolle Worte illustriert: „Lass mich beweinen mein grausames Schicksal / und  die verlorene Freiheit beseufzen!“ Mayer indes behält sich die Freiheit vor, die Weise eigenmächtig variierend und verzierend zu einer weltabgewandten Fantasie im Dämmerlicht auszuspinnen. Spielend steigt er vom Podium herab, schreitet die erste Zuhörerreihe ab, schmiegt sich fast, als wollte er  „wie Orpheus singen“, an eine Dame an, wie es Stehgeiger tun. Er könnte das auch bleiben lassen, denkt vielleicht der eine und die andere. Vielen mag es imponieren: Was für ein Kerl!

Weitere Konzerte der Hofer Symphoniker (Auswahl):
■ 16. Juli, Kulmbach, Plassenburg, Schöner Hof, 19 Uhr: „Klassik auf der Burg“, Open-Air-Konzert; Dirigent: Martijn Dendievel.
■ 21. Juli, Regensburg, Schloss St. Emmeram, Innenhof, Thurn-und-Taxis-Schlossfestspiele, 20.30 Uhr: „Festliche Operngala“ mit Jonas Kaufmann, Tenor, und Rachel Willis-Sørensen, Sopran; Dirigent: Jochen Rieder.
■ 23. Juli, Hof, Schiller-Quartier, 19 Uhr, „Tanz und Swing“, Open-Air-Sommerkonzert; Dirigent: Martijn Dendievel.
■ 27. Juli, Schwarzenbach/Saale, Rathaushof, 19.30 Uhr: „Klassik an der Saale“, Open-Air-Konzert; Dirigent: Michael Falk.
■ 29. Juli, 19.30 Uhr, und 30. Juli, 15 Uhr, Bayreuth, Schlosskirche: „Paulus“, Oratorium von Felix Mendelssohn Bartholdy; Solisten, Chor der Schlosskirche Bayreuth, Dirigent: Sebastian Ruf.
■ Alle Veranstaltungen der Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.


Liebe und andere Gegensätze

Kurt Weill ersann bei Weitem nicht nur die Melodien der „Dreigroschenoper“. Als Jude und verfemter Musiker 1933 emigriert, wurde er in den USA als american composer gefeiert. In Selb erinnerten die Hofer Symphoniker an den jazzverliebten Deutschen und nahmen George Gershwin mit ins Boot.


Von Michael Thumser

Selb, 24. Juni – Wie heißt der am häufigsten gecoverte Jazz-Standard? „Autumn Leaves“? „Take the A Train“? „New York, New York”? Alles falsch. Einschlägige Statistiken stellen „Summertime“ an die Spitze der meistinterpretierten Songs – nicht nur der populären Musik. Denn erst recht reicht kein klassischer Gesang an die Beliebtheit von George Gershwins weltberühmtem Wiegenlied heran, das musikalisch zwar zum Jazz gehört, aber für das Format einer 1935 uraufgeführten Oper, „Porgy und Bess“, entstand, was Klassikfreunde ein wenig trösten mag.

     Gegensätze? Schlüssig fanden beide Sphären am Donnerstag in Selb zusammen, wo die Hofer Symphoniker als klassisches Orchester mit einem so unterhaltsamen wie anspruchsvollen Programm swingend auch gleich die Brücke zwischen Deutschland und New York schlugen. „It takes a Weill to get to Broadway“, es braucht eine Weile, bis man am Broadway und seinen illustren Showbühnen ankommt – wortspielerisch nennt der Titel die Hauptfigur des Abends: Dessen größerer Teil ist dem Komponisten Kurt Weill, neun seiner Songs sowie Episoden seiner transatlantisch bewegten Lebensgeschichte gewidmet. Zuvor aber besteht Gelegenheit, „Summertime“, den Songs der Songs, nicht beziehungslos, sondern im tonsprachlichen Zusammenhang mit weiteren Komponenten der Oper zu erleben, die hierzulande nicht oft zu sehen ist, weil sie ausschließlich von schwarzen Darstellerinnen und Darstellern aufgeführt werden darf.

Rasende Aufregung

Das ausgedehnte Arrangement hat Martijn Dendievel erarbeitet. Seit einigen Jahren imponiert der erst 28-jährige, international aufstrebende Dirigent immer wieder auch am Pult des Hofer Orchesters; im Festsaal der Freiheitshalle wird er das nächste Mal am 3. Mai 2024 mit nordeuropäischen Werken von Wilhelm Stenhammar, Pēteris Vasks und Jean Sibelius gastieren. Jetzt, in Selb, konzentriert er sich ganz auf die Charakterzüge US-amerikanischer Tonkunst, die nicht zuletzt in Melos und Rhythmik der schwarzen Sklaven, in Blues und Spiritual wurzelt. Vom Auftakt an versetzt er das Orchester (mit obligatem Klavier) in rasende Aufregung und erhält eine unstete Grundstimmung der Fieberhaftigkeit und Ungeduld auch dann noch aufrecht, wenn die ersten Wallungen mit ihren schubkräftigen Synkopen sich einigermaßen gelegt haben. Vollends zur Ruhe kommt die Musik in den Momenten, da Lorenzo Luccas Konzertmeistergeige, bald von der Oboe unterstützt, seelenvoll bis sentimental die sommerschwüle Melancholie von „Summertime“ heraufbeschwört. Hauptsächlich aber inszeniert Dendievel den greifbaren ‚Verismus‘ jener Bühnenmusik, deren Plastizität auch auf dem Orchesterpodium aus ihrer aufgedrehten Beweglichkeit und zugleich gefühlsbewussten, sogar katastrophischen Tragik hervorgeht.

     Dendievel hat dank seines hohen Gespürs für die Registrierung der Instrumentengruppen, für die Dramaturgie und Verknüpfung der Motivik, dank reichlicher Lebensfrische zudem und sogar einer Prise Humor aus der Partitur des Liebesdramas eine ausgewachsene Tondichtung zu destillieren vermocht und dabei auch auf so manche weniger geläufige Passage der Oper zurückgegriffen. Die beträchtlichen Antriebskräfte und Stimmungsumschwünge entfesselt er am Pult mit hitzigen, ausgreifenden, fanatischen Gesten – oder er gibt sich ihnen beseligt tänzelnd hin, immer auf den nächsten Augenblick gespannt, in seinem Tatendrang auch schon mal übertrieben exaltiert. Gershwins grandiose Themen schustert er nicht hitparadenartig zum ‚großen Querschnitt‘ durch eine Oper ohne Stimmen zusammen, sondern sie taugen bei ihm so eigenständig für den Konzertsaal wie etwa die „Symphonischen Tänze“, die Leonard Bernstein aus seiner „West Side Story“ zog.

    Mit Stimmen gehts nach der Pause weiter: mit der Sprechstimme des Theater-Hof-Schauspielers Ralf Hocke, der als Emigrant mit Hut und Koffer in die Rolle Kurt Weills schlüpft; und mit dem Sopran Katharina Persickes, die auch als Mezzo, wenn nicht Alt durchgeht. Von der Liebe wird weiterhin berichtet, von jener nämlich, die den Komponisten ans Theater und an seine legendäre Interpretin Lotte Lenya unzertrennlich band, sogar über Jahre der Trennung hinweg. Als Seeräuber-Jenny hatte Lenya 1928 an der Uraufführung der „Dreigroschenoper“ mitgewirkt, die den Weltruhm Weills und Bertolt Brechts begründete. Fünf Jahre später, nachdem Weills „Silbersee“ gleichzeitig in Leipzig, Magdeburg und Erfurt sensationell uraufgeführt worden war, kehrte er, sowohl als Jude wie auch als erstrangiger deutscher Repräsentant einer zeitgemäßen, daher von den Nazis abgeurteilten Musik, der Heimat den Rücken. Mit „Berlin im Licht“ bringt Katharina Persicke der Metropole eine „Liebeserklärung“ des Komponisten dar. Nicht viel später macht sie mit ihm und „Je ne t’aime pas“, dem Anti-Liebeslied eines treulosen Lebemanns, in der französischen Hauptstadt Station; bevor sie, ironisch frech bis ausgelassen, mit Songs aus den Musicals „Knickerbocker Holiday“ und „Love Life“ in die Vereinigten Staaten übersetzt.

Triumphal ins Grab

Dort, am Broadway, feierte Weill Triumphe – als genuin american composer wurde der Fünfzigjährige 1950 in New York zu Grabe getragen. Bei seinen (fast sämtlich vom Hofer Symphoniker Peter Lawrence instrumentierten) Liedern bedürfte Persickes Gesang der Mikrofone nicht, deren sie sich bedient: Anpassungsfähig kräftig und reich modulierend ist die Künstlerin bei Stimme und unterschlägt, trotz aller damen-, vielleicht auch divenhaften Eleganz, eine Dosis ruhmreich-rassiger Gewöhnlichkeit nicht. So vermittelt sie einerseits zwischen der von Ralf Hocke launigen Geschichten  herbeizitierten Liebe und deren „Gegensätzen“, zum andern zwischen der überhöhten Tonart ‚klassischer‘ Opernkunst und der Bodenhaftung der ausgekochten Diseuse.

Zum Abschied gibts von beiden ein Abschiedslied aus Weills „A Touch of Venus“ (Ein Hauch von Venus). Noch so ein unvergänglicher Standard in Amerikas ureigener Stimmlage: „Speak low, when you speak love, / Our moment is swift. / Like ships adrift / We’re swept apart too soon” – Sprich leise, wenn du von Liebe sprichst, schnell vergeht unser Moment; wie Schiffe, die auseinandertreiben, werden wir allzu früh getrennt … Zum Zwiegesang vereinen sich Chansonnette und Erzähler, femininer Vollton und kehlig-ungefüge Brüchigkeit. Kurt Weill und Lotte Lenya fanden nach ihrer Scheidung wieder zusammen; aus Katharina Persicke und Ralf Hocke wird kein Paar, aber darüber muss man nicht traurig sein.

■ 2. Juli, Selb, Rosenthal-Theater, 17 Uhr: Eröffnung der 36. „Wochen des Weißen Goldes“ mit den Smetana-Philharmonikern Prag; Musik von Dvořák, Reger und Beethoven; Gabriele Strata, Klavier; Dirigent: Hans Richter.
■ Die nächsten Veranstaltungen des Rosenthal-Theaters im Internet: hier lang.



Sonne in der Sommernacht

Mit wohltemperierter Musik von Haydn, Mendelssohn und Debussy begeistert das junge Malion-Quartett im Schloss Fantaisie das Publikum der zu Ende gehenden Musica Bayreuth. Abschließend erinnern sie auch an die „Götterdämmerung“ in der Ukraine.


Von Michael Thumser

Donndorf, 23. Juni – Bevor Richard Wagners „Wähnen“ in seinem Haus Wahnfried „Frieden fand“, logierte er 1872 für fast ein halbes Jahr nur fünf Kilometer entfernt in der Fränkischen Schweiz, im einstigen Donndorfer Hotel Fantaisie. Dass der „Meister von Bayreuth“ hier die Orchesterskizzen zum dystopischen Schluss der „Götterdämmerung“ fertigstellte, mochte kaum glauben, wer am Montag das benachbarte Schloss gleichen Namens aufsuchte – schien sich doch die markgräfliche Sommerresidenz, zumal der sie umgebende Park, an diesem noch taghellen, warmen Abend auf einen Sommernachtstraum vorzubereiten. Die Musica Bayreuth hatte das Malion-Quartett aus Frankfurt/Main in den Weißen Saal eingeladen, und das erst fünf Jahre alte, bereits international erfolgreiche Ensemble eröffnete sein Programm, als könnte es gar nicht anders sein, mit einem Werk Joseph Haydns aus der Reihe seiner „Sonnenquartette“.

     „Götterdämmerung“? Bei „Papa Haydn?“ Tatsächlich fand der bedeutende Musikhistoriker Ludwig Finscher einst Gründe, den ersten Satz „erschreckend“ zu finden; von einem „Vernichtungsprozess“ sprach er sogar. Ganz so unheilbringend gehen die drei Musikerinnen und ihr Primarius zwar nicht zu Werk, aber stürmische Kräfte entfalten sie im Kopfsatz durchaus und verpassen keine Gelegenheit, überraschende Abbrüche und unerwartete Fortführungen kernig auszuspielen. Streng auch eröffnen sie das Menuett, finden sich dann allerdings, in seinem Trio, umso lieber zu Phasen der Anmut bereit. Als aussagekräftigsten Satz des Werks bestätigen sie das Adagio, in dem die Cellistin eine heimliche Hauptrolle übernimmt: Kein Dialog in gefahrloser Intimität entspinnt sich, sondern ein Austausch hochgespannter Gedanken. Das Tempo stark anziehend, mit der Verve scharfer Rhythmik und ausgeprägter Akzente formulieren die vier die protestierende Thematik des Finales – und führen sie, unverhofft, dann an ein Ende der Vertraulich- und Versöhnlichkeit.

Wagners „Antipathie“

Unversöhnlich rechnete Richard Wagner mit Felix Mendelssohn Bartholdy ab, ungeachtet der zahllosen Inspirationen, die er gerade ihm zu verdanken hatte. Ausgerechnet bei dem frühvollendeten, frühverstorbenen Genie behauptete der bekennende Antisemit fündig geworden zu sein, als er nach Gründen für seine „Antipathie gegen jüdisches Wesen“ forschte. Schon als Siebzehnjährigem war es Mendelssohn gegeben, ein wahres Wunder-Werk wie die Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“ zu schaffen; aber all seiner „Talentfülle“ und „Bildung“ ungeachtet sprach Wagner seiner Musik in der berüchtigten Schmähschrift „Das Judentum in der Musik“ jede „tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung“ ab. Die Unhaltbarkeit der paradoxen Verunglimpfung einmal mehr zu widerlegen, ließ sich das Malion-Quartett beim Opus 12 des zwanzigjährigen Wunderknaben angelegen sein.

     Rein weiblich – und deutsch-finnisch – war noch die erste Formation des Ensembles besetzt, als die Cellistin Bettina Kessler, eine gebürtige Münchnerin, 2018 nach Partnerinnen oder Partnern suchte, um Maurice Ravels einzigen Beitrag zur Gattung einzustudieren. Heute nimmt Alexander Jussow aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew den Platz des Primarius ein, während zwischen ihm und Kessler die US-Amerikanerin Miki Nagahara mit der zweiten Violine und die britisch-ukrainische Bratschistin Lilya Tymchyshyn agieren. Ihren Wettbewerbs- und Publikumserfolg – auch die Gäste im Schloss Fantaisie überschütten die vier mit Beifall – verdanken sie der vollendeten Akkuratesse, der unverzagten, indes stets differenzierten Präsenz ihres Zusammenspiels. Durch fortwährende Blickkontakte versichern sie sich einer sozusagen kollektiven Musikalität, die keine Misshelligkeiten fürchten muss. Jeden Fehlton würde die unmittelbare, trockene Akustik im Weißen Saal des Schlosses sogleich offenbaren, es unterläuft ihnen aber keiner.

     Erst schmachtend, dann gefühlssatt treten die Interpretinnen und ihr Kollege in Mendelssohns Kopfsatz ein, das Melos in schöner Freizügigkeit intonierend und durch Schattenseiten bedenklich kontrastierend. Ihr Gespür für die staunenswert kunstvolle – und von einem kaum erwachsenen Tonsetzer so kaum zu erwartende – Durcharbeitung der Themen und Motive breiten sie nicht minder nachdrücklich in der folgenden „Canzonetta“ aus, die sie graziös als märchenhaftes Misterioso mit sommernachtstraumhaftem Elfengewimmel im Mittelteil inszenieren. Nach dem versonnen zarten Intermezzo des Andante gerät das Schluss-Vivace drängend, passioniert, bis die Truppe mit begütigenden Wendungen zum Ausgangsmaterial des Kopfsatzes zurückkehrt, gleichsam erleichtert: Alles wird gut.

Wie Goethes „Erlkönig“

Impressionismus beschließt die offizielle Werkfolge – nicht zwar von Ravel, aber von Claude Debussy. Für sein grandioses, leider einziges Streichquartett erweist sich der – gelinde gesagt wohltemperierte – Saal dann doch als zu klein. Grell tritt die erste Geige hervor, hart springt der Ensembleklang in den Ecksätzen die Hörerinnen und Hörer an und gewinnt Transparenz nur dort, wo sich, wie im ersten Satz nach schroffen Heftigkeiten, milderes oder erwartungsvolles Sentiment, flirrender Zauber entrollt, „Herz und Seele ergreifend“. Im zweiten Teil, wo aufgeregt kreiselnde Motivik über wildem Pizzicato und verführerische Einwendungen einander abwechseln, scheinen die Künstler eine französische Version des goetheschen „Erlkönigs“ zu erzählen. Als Sommernachtstraum imaginieren sie den dritten Satz: „Doucement expressif“, mit süßem Ausdruck (und Dämpfer über den Saiten) versenken sie das traumschöne Nachtstück in schlichte Tiefen der Empfindung und wundervolle Harmonien.

     Eher Albträume sind Sommerträume in der Ukraine seit der „Götterdämmerung“, mit der Wladimir Putins Angriffskrieg das Land überzog: Wahnsinn statt „Wahnfried“. Das Malion-Quartett, das die Hälfte der Donndorfer Konzerteinnahmen dem heimgesuchten Land zukommen lässt, gibt eine romantische „Melodiya“ des 2020 gestorbenen ukrainischen Komponisten Myroslav Skoryk zu, eine Miniatur voll aufbegehrender Traurigkeit. Indes, kein weinerliches Lamento macht sich vernehmlich, sondern ergreifend eine Klage in berechtigter, aber nicht hoffnungsloser Wehmut: Wird alles gut? Dämmerung greift ja auch um sich, bevor ein neuer Morgen tagt.

■ Mit einem Konzert der Bamberger Symphoniker ging die Musica Bayreuth am gestrigen Donnerstag zu Ende.
■ Sonderkonzert: 31. Oktober, Markgräfliches Opernhaus, 19.30 Uhr, Franz Schubert, „Winterreise“, mit Ralf Lukas, Bassbariton, und James Alexander, Klavier.



Bis sich der Himmel öffnet

So viel Optimismus gab es lang nicht mehr: Die Symphoniker spielen in Hof ein Beethoven-Programm der ausdrücklich hoffnungsfrohen Art. Beim Beifall für Dirigent Christian Zacharias und die Klaviersolistin Claire Huangci gerät das Publikum schier aus dem Häuschen.


Von Michael Thumser

Hof, 20. Juni – Wozu ein Orchester, wenn ein Klavier zur Verfügung steht? Wer sagt, dass sich, um eine Symphonie aufzuführen, zwingend vierzig oder sechzig oder achtzig Musikerinnen und Musiker zusammensetzen müssen? Claire Huangci bringts allein zustande. In Hof, wo die in Frankfurt am Main lebende US-Amerikanerin am Freitag mit den Symphonikern bei deren zehntem Symphoniekonzert musizierte, erklang im Festsaal der Freiheitshalle Ludwig van Beethovens sechste Symphonie, die „Pastorale“, zwar in der Originalversion; die Pianistin aber hat sie für einen Podcast des Südwestrundfunks (SWR) solistisch eingespielt, in Franz Liszts Tastentranskription. „Dafür braucht man viel Power und physische Kraft“, versichert sie. „Man muss fit bleiben, vor allem in den Armen und Fingern.”

     Wenn das so ist, dann ist die 33-jährige Pianistin genau die Richtige für die Aufgabe. Für Beethoven überhaupt? Jedenfalls für sein fünftes und letztes Klavierkonzert in Es-Dur, das die Briten und Amerikaner, warum auch immer, „Emperor“ nennen, den Kaiser der Gattung, wohl auch wegen seines Hangs zu majestätischer Prachtentfaltung und repräsentativem Diesseitsglauben. Als vollziehende Gewalt stürzt sich Huangci gleich nach dem knapp eröffnenden Orchesterschlag mit fiebrigem, flirrendem Temperament in die große Einleitungskadenz. „Fit“ ist sie in der Tat, ein „Power“-Paket und während des folgenden weitläufigen Orchestervorspiels entsprechend ungeduldig. Ganz in die Musik versenkt sie sich, hingegeben wiegt sie sich im Takt und Rhythmus und wird im Verlauf des Werks ein paar Mal expressiv die Hände heben, als wollte auch sie die Symphoniker anspornen, was sie doch dem Dirigenten Christian Zacharias überlassen muss.

Tempo-, Takt- und Zeitgefühl

Nein, an physischer Kraft gebricht es den Armen und den Fingern der Solistin keinesfalls. Nicht zur dreinschlagenden „Pranke“, jedoch sehr wohl zu angemessen üppigem, auch pathetischem Prunk ist ihr Spiel jederzeit bereit. Die Unruhe, die Huangci stets offenbart, solang sie auf ihren je nächsten Großeinsatz wartet, stört das brillante Perlen ihrer Akkord-Läufe und Oktav-Passagen indes nicht: Ohne Übereilung zu riskieren, kann sie sich auf ihr Tempo-, Takt- und Zeitgefühl verlassen, das offenkundig unverrückbar in ihr ruht; auch im Adagio des Mittelsatzes, den sie als Idyll begreift, aber nicht verzärteln mag. „Alle kennen Beethovens stürmische Werke“, sagte Huangci dem SWR, „aber mich berührt seine sehr ruhige, fast religiöse Seite.“ Davon, zugegeben, ist in Hof nicht viel zu merken.

     In den bärenstarken Ecksätzen greift sie nach allen Details der Partitur, jeder stimmigen Dosierung des Ausdrucks präzis, wenngleich betont robust, mitunter radikal. Das „Symphonische“ des Werks – das intendierte Gleichgewicht zwischen Solo- und Orchesterpart – hilft sie zu bewirken, indem sie, ohne an Klangpräsenz zu sparen, die Lautstärke des Flügels phasenweise gehörig zügelt. So setzt sie mit ihrem gehauenen und gestochenen, nicht aber brutal zermeißelnden Anschlag eine Verve frei, die mehr noch als dem Kopfsatz dem Final-Rondo zugutekommt: nicht eisenstarr, aber glashart und glasklar, Grundlage für eine glatt störungsfreie, gleichwohl nicht maschinelle Geläufigkeit, die aus dem Optimismus des Werks strahlend einen Funken um den andern schlägt. Vom Publikum umjubelt, gibt die Künstlerin, als wollte sie noch unverbrauchte Kräfte loswerden, Wolfgang Amadeus Mozarts „Alla turca“ zu, in einer Coverversion, mit der Fazil Say, weltweit gehypter türkischer Pianist und Komponist, den klassischen Gassenhauer gleichsam neu erfunden hat: mit balkanischem Einschlag als stürmisch überschäumende Gypsy-Jazz-Etüde.

    Wie „fit“ sind Christian Zacharias’ „Arme und Finger“? Wer den Dirigenten, der als Pianist Großartiges leistet, am Pult beobachtet, mag das Wedeln und Winken, Schieben und Schubsen, Rühren und Rucken seiner Hände für ziemlich saftlos halten: jedes Mal, wenn sie auf Hosentaschenhöhe oder überm Nabel oder vor der Brust schlenkern und schlackern. So lapidar und schmucklos soll die lässige Gestik aussehen, dass sie sich auch schon mal nachlässig ausnimmt und der Betrachter meinen könnte, das Orchester spiele nicht, was Zacharias ihm vorgibt, sondern er mache nach, was das Orchester spielt. ‚Schön‘ dirigieren geht anders. Aber dirigieren geht offenbar auch so: Das Ergebnis, von den Zuhörenden mit Überschwang beklatscht, erfindet Beethovens Musik nicht neu (was nicht verlangt ist), fördert aber beide Werke, das Klavierkonzert und erst recht die sechste Symphonie, farben- und ereignisreich, anschaulich und hörenswert zutage.

Endzeitliche Urgewalt

Einen entspannt gelassenen Grundton sorgenfreier Leichtherzigkeit unterschiebt Zacharias dem – von den Symphonikern in Hof erst vor anderthalb Jahren, damals mit Lichtbildern von Tobias Melle, präsentierten – Werk, unternehmungslustig hier, dort wie erleichtert in der Tatkraft pausierend. Dem berühmten Diktum Beethovens gemäß, sättigt er den oft beschaulich ruhigen, rollenden Fluss der Musik mit Affekten, aber nicht in Gestalt platt illustrierender Szenen, sondern ohne allzu deutliche Theater-„Malerei“. Selbst die Vogelstimmen aus den Holzbläsern in der „Szene am Bach“ – Nachtigall, Wachtel und Kuckuck – bleiben im Kern als ‚absolute‘ Motive von Flöte, Oboe, Klarinette kenntlich. Die berühmte Gewitterszene allerdings, nach ihrer umsichtig vielstimmigen Vorbereitung, lässt er mit endzeitlicher Urgewalt über den Festsaal hereinbrechen, bis sich Reste von Sturm und Starkregen in den Celli grummelnd verziehen und, über einem weltfrommen Dankeschoral, sich der tönende Himmel aufs Neue öffnet: „Kaiserwetter“ eben – so, sommerlich vielversprechend, ist der ganze Abend überschrieben. Erhebend glückt der Schluss: breit, ohne zerlärmende „Power“, wenn auch mit der Klang-„Kraft“ heilsamer Zuversicht.

     Als Claire Huangci die Klavierfassung der Sechsten aufnahm, erzählte sie dem SWR, sie liebe diese Musik, seit Kindheitstagen als sie im Disney-Trickfilm „Fantasia 2000“ die Schmetterlingsszenen zur Musik aus der „Pastorale“ gesehen habe: „Diese Symphonie gibt den Menschen immer Hoffnung.“ Das lässt sich, in einer Zeit von Krieg und Krisen, auch von der Euphorie des fünften Klavierkonzertes sagen: Beethoven schrieb es 1809 im belagerten Wien, während Kaiser Napoleons Bomben auf die Stadt fielen.

■ Die Hofer Symphoniker in Selb: am 22. Juni um 19.30 Uhr im Rosenthal-Theater: „It takes a Weill to get to Broadway”; George Gershwin Fantasy nach Motiven aus der Oper „Porgy and Bess”; Kurt Weill: Songs unter anderem aus „Love Life“, „Marie Galante“ und „Lady in the Dark“; mit Katharina Persicke (Sopran) und Ralf Hocke (Erzähler); Dirigent: Martijn Dendievel.
■ Weitere Veranstaltungen der Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.



ho-f anderwärts

Eine andere Welt aufbauen

Planeten, Sonnen, Universen: Mit der „Symphonie der Tausend“ ging im Gewandhaus das Mahler-Festival überwältigend zu Ende. Neunzehn Tage lang empfing Leipzig insgesamt 35.000 Gäste, um den Komponisten zu ehren, der nur zwei Jahre in der Stadt verbrachte und dort nicht glücklich war.


Von Michael Thumser

Leipzig, 30. Mai„Veni, veni creator spiritus”, „Komm, ach komm, Schöpfer-Geist, Geschenk des höchsten Gottes, lebendige Quelle, Feuer, Liebe …“: Dies Werk, könnte man meinen, ist die Musik für diesen Feiertag. Im Neuen Testament erzählt die Apostelgeschichte vom „Pfingstwunder“, das sieben Wochen nach Jesu Auferstehung über seine versammelten Jünger gekommen sei: Da „geschah schnell ein Brausen vom Himmel wie das eines gewaltigen Windes, und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeglichen unter ihnen, und sie wurden alle voll des heiligen Geistes.“

     Wie mit Feuersbrünsten und Sturmgebraus hob am Pfingstsonntag denn auch Gustav Mahlers Achte an: mit Eruptionen, mehr noch: Protuberanzen des Klangs aus einem Meer von Instrumenten auf dem Podium des Gewandhauses und aus unzählbaren Menschenstimmen nicht gerade vom Himmel, aber doch von den Rängen über dem Orchester herab. Als „Symphonie der Tausend“ ging das hypertrophe Ausnahmewerk in die Musikgeschichte ein, und der Titel sagt nicht zuviel: Für die Uraufführung 1910 in München traten sogar 1030 Männer und Frauen musizierend zusammen. Jetzt, in Leipzig, warens nicht ganz so viele: Eine immerhin 400-köpfige himmlische Heerschar wurde aufgeboten, um an den beiden Feiertagen einen unüberseh- und unüberhörbaren Schlusspunkt hinter das Mahler-Festival zu setzen – niederschmetternd und erhebend, einzigartig.

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35.000 Gäste aus 48 Ländern hat das Festival – das zweite nach 2011 – in den neunzehn Tagen vom 11. bis zum 29. Mai bei sich empfangen. Zudem nahm, so das offizielle Resümee vom Montag, mehr als eine halbe Million Menschen über Fernsehen, Hörfunk und digitale Kanäle an Übertragungen und Streams teil. Was die Veranstalter als Gesamtprogramm auflisten, kommt einer Totalretrospektive des (überschaubaren) mahlerschen Œuvres beinah gleich: „siebzehn sinfonische Konzerte, zwölf Konzerte mit Kammermusik, Klavierrezital, Orgel, Lied, vierzehn wissenschaftliche Vorträge und Lesungen, vier Nachtkonzerte, zwei Filmvorführungen, zwei Theateraufführungen, zwölf Talks in der Mahler-Lounge und acht thematische Stadtführungen.“ Sogar Entlegenes wie die in Jugendjahren aussichtsreich versuchte Kantate „Das klagende Lied“ (am 27. Mai) und, auf andere Art erstaunlich, eine Orgelfassung der „tragischen“ sechsten Symphonie (am 28.) war eingeschlossen.

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Ankommen, so. Noch dazu in Venedig. Erst tropfen ein paar gebrochene Harfenakkorde hernieder, dann kommen ihnen zarte Streicherklänge leise entgegen, während sich aus Frühmorgennebeln die Silhouette eines Dampfers löst. Die Lagune quert der Kahn unhörbar, Achenbach reist auf ihm, jener Künstler, den Thomas Mann 1911, in Gustav Mahlers Todesjahr, in seiner Novelle „Tod in Venedig“ nach dem Komponisten formte und den der italienische Regisseur Luchino Visconti sechzig Jahre später für seine ebenbürtige Verfilmung in einen Tonsetzer zurückverwandelte. An der letzten Station seines Lebens landet der Feingeist an, und das seelenbewegende Adagietto aus Mahlers fünfter Symphonie (beim Festival am 20. Mai vom Concertgebouw-Orchester unter Myung-Whun Chung aufgeführt) geleitet ihn in aller Stille zur letzten Liebeserregung seines Lebens und zur letzten Ruhe.

     Ankommen: in Leipzig, im August 1886. Die Liebe findet Mahler hier, zur Ruhe nicht, und schon gar nicht begegnet ihm der Tod. Aber er trifft, gleichfalls missliebig, auf einen Konkurrenten, der ihm die erhoffte Rolle streitig macht. Zweiter Kapellmeister am Deutschen Theater in Prag ist der 26-Jährige gewesen, als er in der sächsischen Musikmetropole Quartier bezieht, um in der Oper als erster Kapellmeister zu amtieren. Groß ist die Erbitterung, als er den Posten von Arthur Nikisch, dem um fünf Jahre älteren Ungarn, besetzt findet. Weil er den Fehlschlag als Zurücksetzung empfindet, vermag er zunächst kein fruchtbares Verhältnis zu dem Vorgesetzten aufzubauen. Als der jedoch für längere Zeit ernsthaft erkrankt, fällt die Arbeit beider Ämter Mahler zu: „Ich dirigiere beinah täglich große Opern“, meldet er nun tatendurstig in einem Brief; er komme „buchstäblich kaum aus dem Theater hinaus“.

     Was an Freizeit bleibt, nutzt er zum Komponieren. Die erste Symphonie entsteht (beim Festival: am 24. Mai, mit dem Gustav-Mahler-Jugendorchester unter Daniele Gatti), auch eine Reihe der Lieder „Aus des Knaben Wunderhorn“ (MDR-Sinfonieorchester, Dennis Russell Davies) – und die umfangreichen Ergänzungen zum komischen Opern-Fragment „Die drei Pintos“ aus dem Nachlass Carl Maria von Webers (Gewandhausorchester, Dmitri Jurowski, konzertant). Publikum und renommierte Musiker feiern ihn dafür. „Ich bin mit einem Schlage eine bekannte Persönlichkeit geworden“, freut er sich, „und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt.“ Nach zwei Jahren zieht er nach Budapest und an die dortige Königliche Oper weiter, im Gepäck bedeutende Partituren, in Kopf und Herz die feste Überzeugung, in Wahrheit nicht zum Dirigenten, sondern zum Tonschöpfer geboren zu sein.

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Was es für ihn hieß, eine Symphonie zu schaffen, formulierte er selbst: „Mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.“ Nicht aber um ein Abbild irdischer Wirklichkeit wars ihm in den Tönen und deren narrativen – wenn auch meist verheimlichten – „Programmen“ zu tun; er entwarf „Sternkarten, um den Himmel mit seinen leuchtenden Welten zu erfassen“. So konnte die „Welt“, die ihm von Werk zu Werk vorschwebte, stets nur „die andere Welt“ sein, eine, „in der die Dinge nicht mehr durch Zeit und Raum auseinanderfallen“. Arnold Schönberg, einer der Kollegen seiner Zeitgenossenschaft, die ihn von Anfang an am besten verstanden, kommentierte, Mahler habe sich mit dem ihn lebenslang beutelnden „Schicksal“ in seiner sechsten Symphonie abgefunden, „doch selbst die Resignation wird produktiv und erhebt sich in der Achten zur Glorifizierung der höchsten Freude“.

     Der menschlichen Stimme, den Stimmen hatte Mahler in seinen vier ersten Symphonien maßgebliche Aussagen zugewiesen. In den Nummern fünf bis sieben dann beschränkte er sich aufs Orchester und führte es, als Genie der Instrumentation, zu ungekannter Farbenvielfalt, Ausdruckskraft und Wucht der Kontraste. Ebenso konzentriert sich so das letzte von ihm fertiggestellte Werk, die abgeklärte Neunte von 1909 mit ihren fast halbstündigen langsamen Sätzen am Anfang und am Schluss (in Leipzig: am 23. Mai mit dem Budapest Festival Orchestra unter Iván Fischer). Jedoch steht dazwischen das Monumentalste, was Mahler hervorbrachte: die „Symphonie der Tausend“, sein Oratorium für fünf weibliche und drei männliche Gesangssolisten, mehrere Chöre, Kinderchor und Riesenorchester – megaloman und atemberaubend, als ob „das Universum zu tönen und zu klingen beginnt“. Eine Art Schöpfungsgeschichte.

     Die Textauswahl und -kombination reizte damals schon und reizt noch immer Spötter wie seriöse Skeptiker. Erst wird auf Latein, dann deutsch gesungen. Dem ersten Teil, der knapp ein Drittel der achtzigminütigen Aufführungsdauer einnimmt, liegt gottselig der 1200 Jahre alte Pfingsthymnus „Veni creator spiritus“ zugrunde. Wendungs- und figurenreich folgt die umso schlechter gealterte Schlussszene aus dem zweiten Teil des „Faust“ von 1832. Kein Zweifel, dass Mahler, der mit seiner regen Spiritualität in der Kunst eine autarke Religionszugehörigkeit fand, sich vom marianisch manierierten Mystizismus der gespreizten Goethe-Verse im Innersten ergriffen fühlte. Ein gemeinsamer Kernsinn läst sich den denkbar heterogenen Quellen etwa so unterstellen, wie der populäre Musikpublizist Christoph Rueger es tat: „Beide Texte handeln von Erlösung: durch den Heiligen Geist und durch die Liebe, die vom Himmel Begnadigung erfährt.“ Wer an den Pfingsttagen, dergestalt gebrieft, im Auditorium des Gewandhauses Platz genommen hatte, ohne sich durchs Mitlesen der Texte im Programmbuch von Schaulust und Hörgenuss ablenken zu lassen, der wusste jedenfalls fürs Erste genug.

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Schaulust: Denn auch zu sehen gibts mehr als genug. Vier Harfen, acht Kesselpauken, acht Hörner, ausgewachsene Glocken, große Orgel und Truhenorgel, zwei Blechbläsergruppen auf zwei Emporen bietet das Orchester auf, dazu gehörig Holz und Blech, Schwärme von Streichern. Wenn tiefste Tiefentöne aus Orgelpfeifen und Kontrafagott aufdampfen, dann greifen sie direkten Wegs auf den Bauchraum des ehrfürchtig Hörenden zu. Nicht viel anders als die gottesfürchtige Kantate macht es, gleichzeitig und nicht weit vom Gewandhaus entfernt, ein ausdrücklich „heidnisches“ Metal-, Folk- und Postpunk-Gewummer mit den oft gruselig gewandeten, aber karnevalistisch fröhlichen Enthusiasten beim dreißigsten Wave-Gothic-Treffen. In der unmittelbar körperlichen Wirkkraft der Musik überschneiden sich die Nachbarsphären zwar nicht, berühren sich aber kurios.

     Denn auch im Konzertsaal überschwemmen Tsunamis des Pathos, Seebeben der Expression die bürgerlich gekleideten Besucher. Wie der Steuermann eines Riesenfrachters steht Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons am Pult und überschaut im vielleicht zwanzig Meter weiten Halbrund vor ihm die musizierbereiten Massen, die er mit dem Auftakt einmal in Bewegung setzt, um sie fortan nicht mehr in Ruhe zu lassen. Denn eine Ekstase entfesselt er, geeignet den Hörern die gepflegten Frisuren nach hinten zu blasen. Gleichwohl geht auch im Forte-Fortissimo-Ausbruch, in der Vollstreckung des Kolossalen dem Instrumentarium die Transparenz nicht verloren, und die Chöre halten noch im frenetischen Jubeltrubel an ihrer warmen, weichen Kultiviertheit fest. Die Fluten flachen ja auch ab und glätten sich: Dann landen sie in bewegend sachter Vielstimmigkeit ebenmäßig wie an den Stränden von Inseln der Seligen an.

     Aus abgründigen Momenten der Unsicher- und Unheimlichkeit holt Nelsons, sehr allmählich, die Musik zum zweiten Abschnitt hervor. Bald werden hier wiederum triebkräftiges Verlangen, idealistischer Überschwang, sich befreiend, eskalieren. Aber die meisterliche Instrumentation besonders dieses größeren Teils der Symphonie, die fortwährend sich verlagernden Gewichte der Instrumentengruppen, die spitzfindigen Mixturen und die durch sie geschaffenen wandelbaren Atmosphären bleiben durch das betont pragmatische Dirigat durchweg verständlich und plausibel. Elegant, gar schön ist es gerade nicht, dies Dirigat, aber auch ohne Show- und Schauwerte vollzieht Nelsons mit leichten Händen, und oft nur mit der Stabhand, seinen souveränen Willen, der jeder kleinen Einzelheit den gleichen Respekt zollt, wie er dem großen Ganzen zukommt.

     Mahler selbst hielt seine Achte für „das Größte, was ich bis jetzt gemacht“, und ihm kams so vor, als ob darin „nicht mehr menschliche Stimmen“ sich erhöben, „sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen“. Jetzt, in Leipzig, strahlt das Oktett der Solisten, wenn auch nicht ganz gleichrangig. Als „Sonne“ inmitten der „Planeten“ ragt Jacquelyn Wagner als Una poenitentium mit einem ungemein tonschönen, verführerisch bebenden Sopran von unwiderstehlicher Eloquenz heraus; im selben Maß Nikola Hillebrand, die als überirdische Mater gloriosa von den „höhern Sphären“ der Orgelempore herab – leider – nur zwei Goetheverse singen darf.

     Und Brenden Gunnell, US-Amerikaner im Schottenrock, als Doctor Marianus (der in Goethes Original „auf dem Angesicht anbetend“ zu deklamieren hat): Die „Jungfrau, rein im schönsten Sinn“, besingt er als „erwählte Himmelskönigin“, „Göttern ebenbürtig“. Das Frömmlerische (statt Fromme) seines Parts mag einem gegen den Strich gehen – freilich traut man der unverstellten Inständigkeit seines händeringend werbenden Hochtenors zu, jedes Jungfrauen-Herz erweichend zur Kapitulation zu bekehren.

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Mahlers letztes von ihm selbst noch gehörtes und erlebtes Werk war die achte Symphonie. 1907 hatte er die Partitur abgeschlossen. Drei Jahre später, am 12. September 1910, geriet die von ihm selbst geleitete Münchner Uraufführung vor dreitausend enthusiasmierten Zuhörenden zum größten Erfolg, den er je hat auskosten dürfen. Auch im Gewandhaus, am Pfingstsonntagabend, steht das Publikum nach den letzten grundstürzenden Takten komplett und tobt und tost wie die Münchner Fußballfans, wenn der FC Bayern zum x-ten Mal deutscher Meister wird, als wollte es den zuvor heraufbeschworenen Klang-Sintfluten klatschend und Bravo rufend Angemessenes entgegensetzen.

     In der Achten, so Arnold Schönberg, vollziehe sich eine „Glorifizierung der höchsten Freude“ – allerdings fügte er hinzu, sie sei „nur einem möglich, der weiß, dass diese Freuden für ihn für immer vorbei sind“. Fünfzigjährig starb Mahler in Wien, krank, trauerschwer, allein im Innern, in seiner Karriere, allem Glanz zum Trotz, letztlich doch gescheitert. Erst postum traten seine Neunte und seine Gesangssymphonie „Das Lied von der Erde“ (in Leipzig: am 19. Mai mit den Münchner Philharmonikern unter Tugan Sokhiev) öffentlich ans Licht. Bruchstück blieb die Zehnte; 1960 hat der Brite Deryck Cooke sie kongenial rekonstruiert.

     Immerhin ihr Kopfsatz (in Leipzig: am 24. Mai) liegt von Mahlers eigener Hand vollendet vor: eine fast halbstündige, erschütternd zu neuen Ufern aufbrechende Symphonie für sich. In jenem gigantischen Adagio ist es, als reiste der Komponist zum letzten Mal ab, noch einmal aufs Äußerste erregt, dann ausatmend für immer. Und der Sänger des Schluss-„Lieds von der Erde“ harrt still „seiner Stunde“ entgegen, sieht, schon aus „lichten Fernen“, die „liebe Erde“ noch einmal „allüberall grünen“, „ewig … ewig“. „Abschied“ heißt der wunderbar verglitzernde Gesang.

     Derart ausufernd wie am Sonntag im Gewandhaus darf man sich vielleicht die Huldigungen einst in München vorstellen, gerade mal zehn Monate vor Mahlers Tod – als sein Erlebnis der „Glorifizierung“, sein Gefühl „höchster Freude“. Wenn schon Abschied nehmen, dann so: im Triumph. Wenn schon sterben, dann mit solcher Musik: in Schönheit.

Die Interpreten:
Gewandhausorchester.
Brit-Tone Müllertz, Sopran (Magna Peccatrix);  Jacquelyn Wagner, Sopran (Una poenitentium); Nikola Hillebrand, Sopran (Mater gloriosa); Lioba Braun, Mezzosopran (Mulier Samaritana); Gerhild Romberger, Mezzosopran (Maria Aegyptiaca); Brenden Gunnell, Tenor (Doctor Marianus); Adrian Eröd, Bariton (Pater ecstaticus); Georg Zeppenfeld, Bass (Pater profundus).
Gewandhaus-Chor, MDR-Rundfunkchor, Chor der Oper Leipzig, Thomanerchor Leipzig, Gewandhaus-Kinderchor.
Dirigent: Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons.



Auf der Mitte des Weges

Zwei Musiker aus Polen, jeder mit sensationeller Spieltechnik, gemeinsam vollendet im Einklang: Als Gäste Dietmar Ungeranks sorgten Krzysztof Pełech und Robert Horna mit viel Musik des zwanzigsten Jahrhunderts für ein „Gitarrenhighlight“, das dem Namen alle Ehre machte.


Von Michael Thumser

Hof, 27. Mai – Mögen E-Gitarren und -Bässe noch so zuckend und fiebernd unter Strom stehen – Gitarrenmusik, zumindest jene der mehr oder weniger klassischen Art, ist stets ein Akt der Intimität. Auch wenn zwei Gitarristen miteinander musizieren: Dann entstehen Dialoge von einer Vertraulichkeit, wie sie selbst in der Kammermusik Seltenheitswert besitzt, fragil und flüchtig – was freilich leidenschaftliche Mitteilungen nicht zwingend unterbindet.

     Dass es Krzysztof Pełech und Robert Horna krachen lassen, kann niemand behaupten; dazu beschränken sich die klanglichen Härtegrade ihrer Instrumente und deren dynamisches Spektrum zu konsequent auf eine wohltemperierte Klangsphäre der Kultiviertheit und gegenseitigen Zuwendung. Aber unter die Duckmäuser oder Leisetreter ihrer Kunst zogen sich die polnischen Gäste beim jüngsten Abend in Dietmar Ungeranks Hofer Konzertreihe mit „Gitarrenhighlights“ in keinem Augenblick zurück. Zudem besagt der Umstand, dass sie als „klassische“ Gitarristen firmieren, nicht, dass ihr Repertoire sich auf entlegene Epochen der Vergangenheit stützt. Den letzten fünfzig bis achtzig Jahren entstammten die Werke, mit denen das Duo am Donnerstag in der Adventisten-Kapelle ein Publikum anhaltend applaudierender Kenner und Liebhaber ergötzte.

Die Samba swingt

Die Namen der Komponisten, die am Anfang des – überwiegend iberoamerikanisch inspirierten – Programms stehen, mögen hauptsächlich Insidern geläufig sein. Den US-Amerikaner Ralph Towner, den mit Abstand prominentesten unter ihnen, nennen die beiden ihren „Lieblingskomponisten“; vom Brasilianer Celso Machado nehmen sie sich einen „Sambalanço“, also eine „swingende“ Samba, vor; und von seinem Landsmann Ulisses Rocha ein Stück, dessen Titel „Meio do Caminho“ beschreibt, wo sich die Interpreten mit ihrer nie erlahmenden Lebendigkeit stilistisch aufhalten: auf der „Mitte der Straße“, dem Mittelweg nämlich zwischen sprühenden Temperamenten und zügelnder Seriosität.

     Selten erlebt man Gitarristen so brillant und virtuos und doch so konzentriert, beherrscht und in sich ruhend. Lässig jeder für sich, im Verein untrennbar, schließen sie den oft heterogenen Ereignisreichtum der Stücke auf wie aus einem Guss, durchleuchten die stets attraktive, wenn nicht avancierte Harmonik, finden, völlig unverkrampft und einander blind vertrauend, durch komplizierte rhythmische, durch variierende metrische Gefüge. Zur unprätentiösen Coolness der beiden tragen gelegentlich Passagen bei, die sich rhapsodisch frei oder wie improvisiert einschieben (ohne es zu sein). Vertraulichkeit: Auf kleiner, aber lodernder Flamme mischen sie kongruent die Wärme-Energien der Stücke, deren Melodieparts oft vom einen Spieler zum andern übergehen und wieder zum ersten zurück.

Dem Gastgeber zu Ehren

Wer bei Dietmar Ungerank einkehrt, erweist ihm gern mit Beiträgen aus dessen Schaffen die Ehre. Dafür wählen Pełech und Horna zwei „Impromptus“, die der Doyen der Hofer Gitarrenpädagogik zu melancholisch gehauchten Monatsgedichten Salvatore Rinnones, des zarten Hofer Lyrikers, ersonnen hat; auf dem Programmblatt sind sie abgedruckt. Im „Oktober“ erinnern die Künstler mit reifer Schlichtheit und süßer Schwermut beiläufig an das vielleicht populärste Gitarrenstück der Welt, die anonyme „Spanische Romanze“ aus dem neunzehnten Jahrhundert; den „September“ hingegen setzen sie, deutlich energischer und mit solidem Humor, aus raffinierten Anfangs-Dissonanzen zu einem veritablen Südstaaten-Blues zusammen.

     Weil ihnen aufgeschaukeltes Gedöns ganz offenbar nicht liegt, zähmen sie sogar Freddie Mercurys im Original volkstümlich ausbrechende „Bohemian Rhapsodie“ zum veritablen Konzertstück, in seiner Durchsichtigkeit geeignet, abermals beider akkurate Könnerschaft, ihr subtiles Fingerspitzengefühl zu belegen. In Chick Coreas „Spain“ arbeiten sie nicht allein das berühmte „Aranjuez“-Thema aus Joaquin Rodrigos Gitarrenkonzert heraus, sondern setzen Anklänge an Albeniz, Jobim und andere kontrapunktisch dagegen. Feurig, aber düster, rasant in den begleitenden Figurationen, zugleich tiefsinnig in der Grundmelodie, perfektionieren sie Astor Piazzollas „Libertango“. Und Albeniz „Asturias“ (jetzt vollständig) gerät, rassig aufgeheizt, zum Abschluss-Panorama stupender Spieltechnik und alternierender Spielweisen in eiserner Synchronizität. Krachen zwar lassen es die beiden nie, aber mit so viel Impulsivität und Nachdruck gehen sie zu Werke, dass sich noch der geringfügigste Ton, wie kurz und knapp er immer sei, vernehmlich geltend macht. Schade wärs um jeden, der verloren ginge.

Nächstes Konzert der Reihe „Gitarrenhighlights“: 23. Juli, Hof, Adventisten-Kapelle, Lessingstraße 30, 17 Uhr: Nikolas Göhl (Deutschland).



Die Spitzenklöpplerin

Vivi Vassileva aus Hof, als Weltklasse-Perkussionistin in vieler Herren Ländern unterwegs, gab sich „nah an der Heimat“ die Ehre: Bei der Musica Bayreuth brachten sie und ihr Gitarren-Partner Lucas Campara Diniz den Saal mit magischen, munteren und sich überschlagenden Zauberkünsten zum Kochen.

Vivi Vassileva im "Liebesbier" der Maisel-Brauerei: Stets zwanglos lächelnd, doch ohne eine Spur von Aufschneiderei. (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Bayreuth, 20. Mai – Beim Trommeln hat Vivi Vassileva immer alle Hände voll zu tun. Dabei spielt es keine Rolle, worauf oder womit sie trommelt. Sogar zwei unscheinbare PET-Flaschen eignen sich dafür, und nicht nur Geräusch und Lärm entfesselt sie mit ihnen, wenn die prall mit Luft gefüllten Plastikpullen an eine Tischkante, gegen ihre Hand oder ihren Körper prallen. Sogar eine Stimme bringt sie ihnen bei, dann dringen pfeifende und wimmernde Töne aus ihnen, und die atemlos Zuhörenden im Bayreuther „Liebeskind“ ahnen: Hier passiert etwas ganz anderes als mit vergleichbaren Behältnissen zu Hause. Als „Plastic Bottle Cadenza“ gehört die spektakuläre Einlage zum „Recycling Concerto“ des 36-jährigen Münchners Gregor Amadeus Mayrhofer. „Wenn alte Plastikflaschen sich zum Singen bringen lassen“, prophezeit die junge Interpretin zukunftsgewiss, „ist die Menschheit nicht verloren.“

Lucas Campara Diniz: Fingerfeiner Gitarrero, kundiger Arrangeur, inspirierter Komponist.

     Vivi Vassileva: die „Spitzenklöpplerin“; aber eine von ganz anderer Wesensart als das stumm-stille Mädchen, das auf Jan Vermeers berühmtem Bild vollauf in sich gekehrt an ihrem Kissen handarbeitet. Und auch mit der verhuschten Protagonistin in Claude Gorettas Film gleichen Titels hat sie nichts gemein. Ganz im Gegenteil: Die Perkussionistin, vor 29 Jahren in Hof geboren und Spross einer bulgarischen Musikerfamilie, war wohl schon als Kind ein Ausbund an Temperament, als sie während vieler Ferien am Schwarzen Meer lernte, dass jedes Material und alle Gegenstände irgendwie Laut geben, wenn man sie nur zu nehmen weiß. Heute zählt sie in ihrem Fach unangefochten zu den allerersten Vertreterinnen ihrer Generation. Am 14. Juli wird sie bei einem Preisträgerkonzert in Lübeck den begehrten Leonard Bernstein Award des Schleswig-Holstein Musik-Festivals entgegennehmen; damit steht sie in einer Reihe etwa mit dem Starpianisten Lang Lang, der Geigerin Lisa Batiashvili oder Cameron Carpenter, dem US-amerikanischen Orgel-Revoluzzer.

„Besonders aufregend“

Am Mittwoch, in den stylisch aufgebrezelten Gemäuern der Traditionsbrauerei Maisel, verbrachte sie einen „besonders aufregenden“ Abend, wie sie als aufgeweckte Moderatorin in eigener Sache selber sagt, „so nah an der Heimat“. Als Partner hat sie Lucas Campara Diniz mitgebracht, einen famosen Gitarristen aus Brasilien, dem keiner ansieht, dass er einer Familie von Gauchos, also südamerikanischen Cowboys, entstammt. Im Smoking betritt er, neben der in einen orangen One-Shoulder-Overall geschmiegten Künstlerin, das Podium; ein Duo wie die Musik, die es macht: Mag es noch so ausgelassen zur Sache gehen – es bleibt immer elegant.

     Zeitgenössisches herrscht vor im gut zweistündigen Programm, doch auch Klassisches tritt in sein Recht. Dazu gehören, rassig, lässig und markant intoniert, der „Frühling“ und der „Sommer“ aus den „Cuatro Estaciones Porteñas“, mit denen Astor Piazzolla, an die barocke Vorlage Antonio Vivaldis anspielend, 1969 und 1970 die vier Jahreszeiten porträtierte. Und das „Italienische Konzert“ gehört dazu, das Johann Sebastian Bach gut 230 Jahre vorher komponierte. Während Diniz, der Saitenspieler, hier (aber nur hier) den Faden gelegentlich verliert, schwingt sich Vassileva am Vibrafon mit Leichtigkeit und Transparenz durch polyphones Flechtwerk und über federnde Vorhalte und Triller hinweg. Mit Schlägeln unterschiedlicher Härte oder Weichheit verbreitet sie so viel kontrollierte Energie wie leise Intimität und warme Vertraulichkeit, während aus ihren unprätentiösen Bewegungen die Anmut einer Dirigentin oder Tänzerin spricht. Das Publikum im vollbesetzten Saal antwortet mit kaum endendem Applaus, der sich in der Folge von Stück zu Stück noch steigern wird.

     Arrangements, im einen wie im anderen Fall; Originalliteratur für Schlagwerk und Gitarre liegt kaum vor. Dabei steckt, wie Vassileva sagt und mit dem Kompagnon vielfach belegt, „ungeheuer viel Potenzial in der Besetzung“. Wirklich arbeiten inzwischen arrivierte Tonsetzer dem Duo zu, vor allem ausdrücklich neue Musik bietet es denn auch dar. Von Javier Contreras, einem vierzigjährigen Chilenen, haben sich die beiden eine „Sonata for Vibraphone and Guitar“ komponieren lassen, wohl überhaupt die erste ihrer Art. Mit klischeehafter Exotik ists hier nicht getan: Gründlich erforschen sie die enorme melodische, harmonische und rhythmische Komplexität der drei Sätze, deren Klänge sich psychedelisch vertiefen und sacht zu schweben scheinen, wenn Vivi Vassileva die Metallplatten mit einem Geigenbogen streicht oder glöckchenklingelnd auf sieben Klangscheibchen ein geheimnisvolles Leitmotiv anschlägt.

Drei Dämonen beim Hexensabbat

Immerhin siebzig Jahre ist Sérgio Assad alt, mit dessen „Tres lendas brasileiras“ (Drei Legenden) die Künstler – die schon durch ihre jungen Jahre, erst recht durch ihr Engagement perfekt zueinander passen und den ganzen Abend über durch Augenblicks-Augenkontakte gut aufeinander aufpassen – in den Regenwald des brasilianischen Dschungels führen. Drei Dämonenwesen aus volkstümlicher Überlieferung versammeln sie zu einem tumultuosen Hexensabbat, dessen Geräuschkulisse Tempelblocks und Rasseln, Donnertrommel und Güiro (die „Ratschgurke“) vervollständigen.

     Auch solistisch lassen sie sich vernehmen. Diniz, der sowohl als vollblütiger und fingerfeiner Gitarrero wie auch als kundiger Arrangeur und inspirierter Komponist imponiert, formuliert den ersten Satz einer eigenen Gitarrensonate in fasslicher, aber avancierter Tonsprache, technisch und gedanklich anspruchsvoll. Mehrmals reserviert Vassileva das Podium für sich allein, auf dem sie stets zwanglos lächelnd, selbstbewusst, doch ohne eine Spur von Aufschneiderei agiert, um, außer den PET-Flaschen, noch weiteres Schlagwerk spezieller Machart vorzustellen. So entlockt sie, während ihr Fuß eine Basstrommel zu den polternden Salven eines Trommelfeuers animiert, einer afrikanischen „Dondo“ Äußerungen in kurios wechselnden Tonhöhen – den deutschen Gattungsnamen „Sprechtrommeln“ tragen die Instrumente, derart intensiv traktiert, offenbar zurecht. Zu Klaus Hinrich Stahmers „Erinnerungen an einen Holzsammler“ teilt ihre Singsangstimme, während die Handflächen, Finger, Nägel auf dem üppigen Rund einer Rahmentrommel wirbeln und reiben, schaben und kratzen, sogar Verse auf Arabisch mit.

     Das komplette Programm spielen die Künstler auswendig aus dem Kopf – aus erleuchteten Köpfen –, so vertrackt sich die Musik auch entfaltet. Selbst in einem schrägen, mitreißend feurigen Boogie-Woogie aus Bulgarien kommt der fest verschweißende Einklang Vivi Vassilevas mit Lucas Campara Diniz nicht abhanden. 33-Sechzentel-Metrum, Karacho, jeder Schlägel-Schlag ein Volltreffer – auch mit diesem wahrscheinlich untanzbaren Tanz straft das Duo das Sprichwort Lügen: Geschwindigkeit ist eben doch eine Hexerei.

Die Musica Bayreuth im Internet: hier lang.



Ein Thema, das die Welt bewegt

Noch bis zum 22. Juni lädt die Musica Bayreuth zu einem Programm-Mix ein, der anregend die Brücke schlägt zwischen Klassik und Zeitgeist. „Liebe & Licht“ hieß ein Konzert der Bad Reichenhaller Philharmoniker, bei dem es ein Wiedersehen mit dem einstigen Hofer Theaterkapellmeister Daniel Spaw gab.


Von Michael Thumser

Bayreuth, 17. Mai - Es ist einiges los auf Erden, und vieles sieht nicht gut aus. Wer im Internet nach „Themen, die die Welt bewegen“, googelt – oder einfach nachdenkt über sie –, stößt schnell auf Bedenkliches: Klimawandel und KI, Putin und Erdoğan, China und Migration … So tagesaktuell indes lässt sich die Musica Bayreuth nicht auf die Weltlage ein. Das feine Festival, schon 62 Jahre alt und seit einem Relaunch vor etlichen Jahren mehr denn je zwischen unvergänglicher Klassik und hellhörigem Zeitgeist vermittelnd, es wählte am Samstag lieber den Blickpunkt der Ewigkeit: Im altehrwürdigen Markgräflichen Opernhaus fassten die Bad Reichenhaller Philharmoniker Themen von der zeitlosen Sorte ins Auge; immerhin kann das Wort ja mancherlei bedeuten, zumal in der Musik. Diesmal ging es um „Liebe & Licht“.

     Ein Thema, das einem gestellt wird

Im Lauf der Musikgeschichte diente keine Tonfolge häufiger als Ausgangsmaterial für Variationenfolgen als das iberische „Folia“-Thema. Wahrscheinlich aber wurde keines vielseitiger und spektakulärer variiert als die Ursprungsmelodie des 24. und letzten Stücks aus Niccolò Paganinis 24 Violin-„Capricci“ opus 1. Ihr Erfinder selbst und Johannes Brahms, Boris Blacher und Witold Lutosławski haben es um- und umgedreht. Von Sergej Rachmaninow stammt die wohl wiederum berühmteste Version. „Das Ding“ – für Klavier und Orchester –, so meinte der vor 150 Jahren geborene Komponist und Pianist selbst, „ist tatsächlich ziemlich schwierig.“

     Ioan-Dragoş Dimitriu aus Brașov, dem früheren Kronstadt im rumänischen Siebenbürgen, darf schon äußerlich als berufen gelten, es mit den „Schwierigkeiten“ des Schwergewichts aufzunehmen. Ungeachtet einiger Undurchsichtigkeiten in den – dann eher rauschenden als perlenden – Tasten-Kaskaden sitzt dem robusten 32-Jährigen sein Part verlässlich in den fitten Fingern, und hinter dem verschlossenen Gesicht des Künstlers darf Einsicht in die lyrisch salbungsvollen, bänglich ahnenden, elegisch schmerzlichen Wesenszüge des brillanten Werks vermutet werden.

     Allerdings nimmt Dimitriu an einem Flügel Platz, dem man, um dem Dirigenten nicht die Sicht auf sein Orchester zu verstellen, den Deckel abgenommen hat. Mithin fehlt der entscheidende Reflektor, der den Klang stracks ins Auditorium lenken sollte. Klavieristischer Glanz und Volumen entfalten sich darum bestenfalls zum Teil. Zwar geraten das Instrument und sein Spieler so nie in die Versuchung, sich eigensüchtig vorzudrängen; zugleich jedoch entgeht ihnen die Gelegenheit, dort, wo es sich gehörte, den Vorrang zu behaupten. Die spezifisch rachmaninowsche Melancholie, durch die seine Musik in Schwermut blüht, wenn nicht in Schönheit stirbt, stellt sich selten ein. Dafür gelingt es dem Dirigenten, ihr symphonisches, weil von Klavier und Orchester fast gleichgewichtig getragenes Gepräge herauszustellen – und das fabelhafte Pianissimo der Streicher vorzuführen.

    Ein Thema, das einer sich stellt

Sogar Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, die nichts mit Klassik verbindet, reagieren auf diese vier Töne und wissen (meist), von wem sie stammen: Ta-ta-ta-taaa – Auftakt zu Ludwig van Beethovens fünfter Symphonie und denkbar simple Losung für die klassische Symphonik überhaupt. Daniel Spaw aus Nashville, Tennessee, von 2017 bis 2020 Kapellmeister am Theater Hof und seither in Bad Reichenhall Generalmusikdirektor (siehe auch Selb/26. November auf dieser Unterseite), muss sich nicht scheuen, dem Publikum die scheinbar bis zum Überdruss gespielte und gehörte Repertoire-Ikone zuzumuten. Weiß er doch, dass ers mit pulsierender Lebendigkeit vermag. Vom ersten Vier-Ton-Symbol an forciert er das Kurz-Angebundene des Kopfsatzes und hält, solang der dauert, am heftigen Gestus des Unsteten und Gedrängten fest.

     Im Andante linst der Dirigent gleichsam zur „Pastorale“ hinüber, zur Sechsten Beethovens, die gleichzeitig mit der Nummer fünf entstand: Da scheint sich in den schlicht-seelenvollen Harmonien auch die innere Harmonie eines naturverbunden-sommerwarm temperierten Menschen auszudrücken. Dynamisch mannigfach abstufend, demonstrieren die Musikerinnen und Musiker ihre hohe intonatorische Akkuratesse, ihr Interesse fürs Detail und eine Variabilität, mit der sie noch auf zeitlich engem Raum den Ausdruck von Grund auf zu wechseln verstehen. Ihre unbedingte Gefolgschaft dem Dirigenten gegenüber manifestiert sich am sichtbarsten in der hellwachen Konzertmeisterin, in deren so begeisterter wie verständiger Körpersprache der Drang des Musizierens, der Gehalt jedes schallenden Augenblicks nicht minder augenfällige Gestalt gewinnt als in dem Mann am Pult. Vertraut bleibt der Kontakt der Philharmoniker auch im dritten Satz, mit dessen dubiosem Zwielicht sie im Klassiker Beethoven den Romantiker durchschauen. Ohne Umschweife setzen sie ins Schluss-Allegro mit seiner (anfangs etwas verwackelten) Festlichkeit über, wo sie frohgestimmt die strahlenden Fanfaren und blendenden Signalfarben eines vertrauensseligen Zukunftsglaubens loslassen, als müsste kein Thema die Welt ernstlich bewegen.

    Ein Thema, das die Welt bewegt

Wie die Kunst im Allgemeinen handelt die Tonkunst schon immer und am häufigsten von der Liebe und vom Tod. Im Trauerspiel um „Romeo und Julia“ goss William Shakespeare das Sujet unverrückbar in eine poetische Form, Pjotr Tschaikowsky schuf im ersten seiner Meisterwerke ein klingendes Äquivalent dazu. Ganz am Anfang des Abends, und als seine eindringlichste Episode, steht die „Fantasie-Ouvertüre“ zum italienischen Schicksalsschauspiel des britischen „Bard of Avon“, und ganz an ihrem Anfang steht eine Choralweise wie aus der russisch-orthodoxen Kirche.

     Gleich mit ihr versammelt Daniel Spaw das Feierliche, Zärtliche, Tragische, das sowohl die Handlung der Tragödie bestimmt als auch den tragischen Charakter des Komponisten durchzog. Zögerlich, dann unwirsch losbrechend führt der Dirigent die Provokationen und Aggressionen des Dramas herauf; setzt sensibel die leisen Motive der Partitur, ihre linden Passagen, namentlich das herrliche Liebesthema dagegen; führt über ausgedehnte, dabei straffe Steigerungsbögen zu mitreißenden Kulminationspunkten hinüber. Mit der finalen Todesszene erinnert das Orchester trostlos an den Schluss der „Pathétique“ – der sechsten Symphonie, dem letzten Meisterwerk Tschaikowskis –; und hilft sich doch im transzendierenden Epilog aus dem Abgrund der Traurigkeit loslassend heraus: Romeo und Julia, ein Liebespaar auch noch post mortem, eine Ehe, im Himmel geschlossen.

■ Nächstes Konzert des Festivals: Bayreuth, Restaurant und Bar Liebesbier (Andreas-Maisel-Weg 1), Mittwoch, 19.30 Uhr, „Percussion pur!“, Klassik-Lounge mit Vivi Vassileva, Schlagwerk, und Lucas Campara Diniz, Gitarre (Musik von Pereira, Bach, Piazzolla und anderen).
■ Die Musica Bayreuth im Internet: hier lang



So ändern sich die Zeiten

Mayer? Der Name kommt einem bekannt vor. Emilie Mayer war trotzdem lang vergessen. Die Hofer Symphoniker stellen die Komponistin und ihre feine f-Moll-Symphonie vor. Als Solist in Mozarts A-Dur-Konzert triumphiert Sebastian Manz mit der Bassettklarinette: Schöner kann mans nicht spielen.


Von Michael Thumser

Hof, 15. Mai – Ein allzu schlichter Name kann schon mal eine Karriere gefährden. Zum Beispiel riet der Klavierpädagoge Theodor Leschetizky seinem Schüler Franz Schmidt: „Wenn einer Schmidt heißt, soll er nicht Künstler werden.“ Gleichwohl reüssierte der solcherart heruntergeputzte Eleve dann doch noch als einer der bedeutendsten Tonsetzer Österreichs.

     Darf jemand, obwohl er Mayer heißt, es wagen, Komponist zu werden? Emilie Mayer fand nichts dabei. Auf ein bürgerliches Frauen-, das heißt Ehefrauenleben ließ sie sich nicht ein, richtete all ihre Kräfte auf die Musik und brachte ein enormes Œuvre hervor, aus dem acht Symphonien herausragten. Nichtsdestotrotz fiel sie, kaum hatte sie 1883 siebzigjährig den letzten Atemzug getan, vollkommen der Vergessenheit anheim. Weil sie Mayer hieß? Wohl eher, weil sie eine Frau war und der männerdominierte Kulturbetrieb bis weit hinein ins zwanzigste Jahrhundert Komponistinnen nichts Gescheites zutraute. Die Zeiten aber ändern sich: Emilie Mayer und viele ihresgleichen finden endlich, wenn auch immer noch zu selten, in die Konzertprogramme. Wie sehr gerade diese Dame es verdient, bewiesen am Freitag die Symphoniker bei ihrem neunten Konzert in Hof: Die f-Moll-Symphonie (je nach Zählung die fünfte oder siebente) birgt bildschöne Hörstücke gediegener Romantik.

Anheimelnde Gefälligkeitsmusik

Die Zeiten ändern sich; lateinisch: Tempora mutantur. Die Wörter stehen, warum auch immer, als Titel über der 64. der (je nach Zählung 104, 107 oder 108) Symphonien Joseph Haydns. Mit dem klein besetzten A-Dur-Werk beginnt das - in Sachen Haydn wenig bewanderte - Orchester den Abend im Festsaal der Freiheitshalle nicht eben spektakulär, aber unterhaltsam, jedenfalls problemlos. Wohlmeinend sorgt sich Hermann Bäumer um kurzweilige Gestaltung. Dass ers mit anheimelnder Gefälligkeitsmusik zu tun hat, kann der Dirigent nicht verhehlen; durch nachdrückliche Akzentsetzung und dynamische Variabilität aber weiß der Dirigent allzu biedere Gemütlichkeit zu hintertreiben. „Historisch informiert“, verzichten die Streicherinnen und Streicher weitgehend oder völlig auf Vibrato. So aktivieren sie zwar nur wenig Spannung oder gar Esprit im Auftakt-„Allegro con spirito“, auch im Menuett (mit Patzern in den Bratschen und den Hörnern) sowie im Finale. Dem umso gelungeneren Largo verleihen sie hingegen eine besondere, von Bäumer durch lange Pausen intensivierte Untergründigkeit: In gedämpftem Licht steckt da was Fahles, Inoffizielles, Heimliches.

     Sehr anders Emilie Mayers Symphonie. Auch hier drängt tonkünstlerisches Arbeitsgerät nicht im Überfluss aufs Podium, gesellen sich doch zum Holz allein die Hörner; Trompeten und schweres Blech hat die Komponistin ausgeschlossen. Von Naturseligkeit und Herzenserguss spricht die Partitur, von nobler Schwermut und Erlösung, von Verklärung, Gefühlstriumph und ein wenig Dämonie sogar. Ein eigenständiger Personalstil drückt sich aus, der – will man überhaupt vergleichend Männernamen nennen – sich ein gutes Stück nach Beethoven in der Nähe Mendelssohns und Schumanns einrichtete. Reichlich reicht die kammerorchestrale Besetzung hin, um gut eine halbe Stunde und vier Sätze lang eine beherzt-emotionale Musik voll impulsiver Lebensgeister blühen zu lassen, deren prägnante Thematik und beständige Inspiration sich schon und gerade im Kopfsatz kundtun.

Mit Happy End

Das Adagio dann – wie bei Haydn das zentrale Ereignis auch dieses Werks – räumt bereits in den ersten Takten besagten Hörnern, als den Tonangebern des romantischen „deutschen Walds“, dazu den tiefen Streichern Sonderrechte ein. Namentlich die Celli und an ihrer Spitze der Solocellist Young-Phil Hyun mit seinem hingebungsvollen Vibrato nutzen die Gelegenheit, sich als führende Melodiespender zu bewähren. Den entschlossenen Gestus des Kopfsatzes nimmt Bäumer dann im Scherzo auf neue Weise auf: Die Symphoniker steigern sich zu ungestümen Energien, die sie mittels vieler Synkopen rhythmisch aufbrechen, zeigen sich dann aber, gerade im volksliedhaften Trio, auf sonnigen Ausgleich bedacht. Schließlich setzt sich ein übermütiger Auftakt von den Kontrabässen und Celli über die Violen bis zu den Violinen triebkräftig fort, um einen Finalsatz zu entfesseln, der, als kurbelte ein stramm aufgezogenes Uhrwerk ihn an, wie eine Lustspielouvertüre anmutet: nicht mopsfidel, doch freiherzig, nicht unbekümmert, aber zwanglos. Alles wird gut, sagt solche Happy-End-Musik aus innerster Überzeugung.

     Alles wird gut, wenn Sebastian Manz das Klarinettenkonzert Wolfgang Amadeus Mozarts spielt – ein Stück, das zwischen seltener Meisterschaft und allzu häufigem Gebrauch ein heikles Dasein führt. Manz aber, aus innerster Überzeugung, durchdringt das vermeintliche Standardwerk in Hof mit der spontanen Frische einer Novität. Dazu trägt seine Wahl des Instruments bei: Stressfrei und leutselig tritt er nicht mit der ‚normalen‘ Klarinette vors Publikum, sondern mit der längeren, im Tonumfang entscheidend nach unten erweiterten Bassettklarinette. Ihr hat Mozart in seinem Todesjahr 1791 die Originalfassung seines letzten, lebensabendlichen Solokonzerts zugeschrieben.

Dialoge für einen allein

Den Weltklassekünstler – den das Publikum im Festsaal so frenetisch feiert wie nicht oft einen Interpreten – versetzt sie in die Lage, buchstäblich in einem Atemzug gleichsam mit (mindestens) zwei Stimmen zu sprechen, einer emporstrebend tenoralen und der fundamentalen eines Bassbaritons, als träte Manz in einen Dialog mit sich selber ein. Zugleich aber entfernt sich sein Spiel entschieden von dem Klischee, das der Klarinette unterschiebt, sie wolle die menschliche Stimme imitieren: Bei ihm entfaltet sie eine ihr ganz eigene Art von Gesanglichkeit. Mit beschwingter Leichtigkeit des Ansatzes, der Atmung und der Fingerarbeit, ungebunden in jeder Einzelheit der Expression, widmet Manz sich wendig und abwechslungsbereit der verbreiterten Farbpalette, sinnverständig und artikulationsrein in jeder Phase und Phrase. Brennend vor Mitteilungsdrang erschließt er die Eindrucks- und Ideenfülle seines Parts mit der Festigkeit eines reif in sich ruhenden Gemüts und einer Leidenschaft, die freilich Leidensbereitschaft, den Schatten neben all dem Hellen nicht leugnet: Keinen der sanften Schmerzenslaute unterschlägt er, mit denen sich Mozarts lebensendzeitliches Krisen-, ja Kummerbewusstsein geltend macht.

     Die Zeiten mögen sich ändern – Mozarts Abschiedskonzert, so tief begriffen wie hier, so tief ergreifend, taugt für mindestens noch eine Ewigkeit. Schöner lässt es sich nicht spielen: pfiffig ohne Infantilität, aufgeräumt ohne Leichtsinn, virtuos geläufig ohne Gockelgetue oder frivole Gassenhauerei. Schöner lässt sich keine klassische Liebesarie intonieren als der zwar vielzitiere, bei Sebastian Manz aber scheinbar unberührte Adagio-Mittelsatz: mit einem weltentrückten Piano und Pianissimo, das weniger von Sehnsucht als schon von Erfüllung spricht.

■ Der Bayerische Rundfunk hat das Konzert mitgeschnitten und sendet die Aufnahme am 29. Mai um 14.05 Uhr auf seinem Programm BR-Klassik.
■ Weitere Veranstaltungen der Hofer Symphoniker: hier lang



Wie man auf den Käse haut

Mit einem aufsehenerregenden Galakonzert ging in Hof der 8. Internationale Violinwettbewerb Henri Marteau zu Ende. Spieltechnisch sensationell trainiert, bereiteten fünf Preisträgerinnen und -träger dem jubelnden Publikum ein vor allem sportliches Vergnügen.


Von Michael Thumser

Hof, 9. Mai – Wenn eine Frau „Capricen hat“, dann fällt sie eigensinnig-eigentümlich durch bestimmte Launen auf, durch eine Macke, einen Fimmel oder Spleen. Das kann mitunter auf die Nerven gehen und wirkt doch oft sympathisch. In der Tonkunst gibts die „Caprice“ – oder das Capriccio – auch: ein Musikstück, dass sich weniger durch seine elaborierte oder gar große Form auszeichnet als durch das Funkeln der zugrunde liegenden Idee, durch wetterwendische  Launigkeit und Launen, durch Pfiff, Esprit und Ironie.

Mit einer anderen Erklärung des Begriffs probierte es Tobias Föhrenbach in Hof. Als Variationen eines „lustvollen Regelverstoßes“ gab der Moderator die mancherlei „Capricen“ im Preisträgerprogramm des Galakonzerts aus, mit dem der Internationale Violinwettbewerb Henri Marteau am Sonntag prunkvoll endete. Damit indes lag der Entertainer falsch: erlebten doch die Besucherinnen und Besucher im Festsaal der Freiheitshalle genau das Gegenteil. Fünf kaum erwachsene Geigerinnen und Geiger, niemand über 25 Jahre alt und alle auf extrem hohem Ausbildungsniveau, entsprachen mit einer ganzen Serie von „Capricen“ aufs Staunenswerteste den Regeln ihrer Kunst. Launen und drolliges laissez faire verbieten sich: So kann nur spielen, wer durch Zielstrebig- und Punktgenauigkeit sich jahrelang ertüchtigt hat – durch eine Disziplin, die keine Schonung kennt.

Bachsche Vielstimmigkeit

Dazu noch unübersehbar physisch durchtrainiert betritt Teofil Milenkovic das Podium, ohne Klavierbegleitung oder Orchester. Reizvoll, weil fast sperrig fällt der Gewinner des Publikumspreises mit dem ersten seiner beiden Beiträge aus dem kapriziösen Rahmen. Für Max Regers Solo-Präludium opus 117/2, und die vielen ehrerbietigen Anspielungen an bachsche Polyphonie darin, wählt er einen Ton von ungeheurer Sattheit und Druckkraft, die ihn gleichwohl nicht an gediegenen, beweglich wandernden Doppelgriffen hindert und harmonieklar durch alle vagabundierenden Modulationen finden lässt. Noch besser zu seinem athletischen Körperbau passt im Anschluss die letzte der 24 „Capricen“ aus Niccolò Paganinis Opus 1 – das ist die mit dem berühmtesten Variationen-Thema der Musikgeschichte –: der mustergültige Drahtseilakt eines Drahtsaitenakrobaten, vom Publikum tosend honoriert.

Zu fünft haben es der Italiener Milenkovic, ein Mitstreiter und drei Mitstreiterinnen hierher geschafft. Vor knapp zwei Wochen gehörten sie noch zu den über sechzig Aspiranten aus 23 Ländern, die anfangs im Lichtenberger Haus Marteau, dann in Hof um insgesamt fünfzehn Preise konkurrierten – und die alle gleich hoffnungsvoll „geprobt, gekämpft, gebangt“ haben, wie Henry Schramm mitfühlend sagt. Gern lässt sich der oberfränkische Bezirkstagspräsident von den Spässlemachereien des Moderators Fahrenbach anstecken, der als schnoddernder Scherzkeks mit extravagantem Style und Showmastertum wie aus dem Privatfernsehen durch den Abend führt. So haut denn auch Schramm nicht auf den Putz oder die Pauke, sondern „auf den Käse“, wie er fidel selbst sagt.

„Das Funkeln ist da“

Als „künstlerischen Glanzpunkt“ der Region würdigt er das Haus Marteau mitsamt dem Wettbewerb, dem er weitere „hundert Jahre“ wünscht und jedenfalls so viele Jahre garantiert, wie er im Amt verbleibt. Jovial dankt er allen, die infrage kommen: den Hofer Symphonikern als Ausrichtern und dem erst 23-jährigen Lichtenberger Bürgermeister Kristan von Waldenfels – „Der Junge hat einfach alles drauf“ –, der Viessmann-Stiftung und all den anderen öffentlichen und privatwirtschaftlichen Geldgebern, den Gastfamilien, natürlich Gilbert Varga, dem Vorsitzenden der Jury, und den Preisrichterinnen und -richtern. Als „Goldgräber“ apostrophiert Varga das Gremium, das bei allen Wettkämpferinnen und -kämpfern gespürt habe: „Das Funkeln ist da“ – um dann, von Runde zu Runde „feiner siebend“, immer kostbarere Goldklumpen zutage zu fördern.

Eine heikle Aufgabe. Ihr unterziehen kann sich nur, wer Grund zur Annahme hat, es lasse sich das Gelingen von Kunst und Kreativität nicht weniger objektiv messen und bewerten als die Leistungen von Sprintern oder Schwimmern, als Übungen an Barren, Ring und Reck. So taugt denn auch die Hofer Gala eher zum sportlichen als zum künstlerischen Vergnügen. Die fünf Protagonisten hauen spieltechnisch gewaltig „auf den Käse“, indem sie sämtlich mit früh ausgereifter Kunstreiterei auf den Saiten brillieren: beeindruckend ihre Bogenbravour, ungeahnt die Griffhand-Grandezza, hinreißend die kaum je – und nie ernstlich – fehlgreifenden Finger-Fechtereien. Allerdings steht in all den „Capricen“ des Programms, wie auch in Paganinis erstem Violinkonzert als Krönung am Ende, das aberwitzig Etüdenhafte der herausfordernden Form deutlich über dem mehr oder weniger dünnen In- und Gehalt der Piècen. Ein Zauberkunststück nach dem anderen überwältigt die Hörenden bei diesem Schaulaufen blühender Ausnahmetalente, aber der Zauber, wie ihn erst eigentlich angeborene, eingehend ausgebildete Musikalität und profunde ästhetische Kennerschaft ausstrahlen, der kommt zu kurz.

Violinistischer Hürdenlauf

Dabei ist es der Japanerin Tsukushi Sasaki aus der Reihe der Finalisten während Paganinis elfter „Caprice“ durchaus um essenzielle Tongebung und eine konzentrierte Fülle der Gedanken zu tun, die sie im Verlauf freilich leichtherzig zu Girlanden, Sprüngen, Trubeleien aufzulösen hat. Sogar eine „Grand Caprice“ steuert der Österreicher Julian Walder, Empfänger des dritten Preises und des Preises der Jugendjury, elektrisierend bei: Franz Schuberts Goethelied vom „Erlkönig“, durch den Mendelssohn-Zeitgenossen Heinrich Wilhelm Ernst singulär in einen violinistischen Hürdenlauf umgegossen. Auch dieser „Junge hat einfach alles drauf“: Bei enormem Grundtempo, über unaufhörlichem Grundtremolo meistert Walder einen von kindlicher Todesangst durchpeitschten, von Gespensterverlockungen unheilvoll durchsäuselten Höllenritt „durch Nacht und Wind“.

Auf die Erschwernisse einer „Étude en forme de Valse“ von Camille Saint-Saëns hat Eugène Ysaÿe in seiner „Caprice“ opus 52/6 zusätzlich noch Haarsträubendes draufgesetzt – was aber Xunyue Zhang, die von Tomoko Nishikawa am Flügel begleitete zweite Preisträgerin, weder um ihre handwerkliche Souveränität bringt noch die Leidenschaften ihres Temperaments ausbremst. Eine Hochenergetikerin: felsenfest ihre Kenntnis der Partitur und der Mittel, um deren vorsätzliche, schon fast unmenschliche Tücken zu bewältigen. Mit Charme und Humor durchquert sie das Stück, mit Schmelz und einer unverhofften Prise Schmäh, die man eher ihrem österreichischen Konkurrenten zugetraut hätte. Nach der letzten Volte fliegt ihre Rechte in die Höhe, als wär der Bogen ein triumphierendes Florett.

Hieb- und stichfest

So hieb- und stichfest, wie die Chinesin agiert, hätte womöglich auch sie den ersten Preis nebst Sonderpreisen verdient. Die aber sicherte sich Hawijch Elders. Hinter der Niederländerin nehmen die Hofer Symphoniker Platz, die unter Christoph-Mathias Muellers Leitung mit reichlich Getöse aus großer Trommel und Becken, mit rückenstärkenden Impulsen und distanzierteren Begleitakkorden den großformatig-theatralen Hintergrund für die Künstlerin ausbreiten. An schlichter oder schmachtender Sanglichkeit holt Elders aus ihrem Part heraus, was sich – hauptsächlich im Adagio-Mittelsatz – darin nur irgend finden lässt. Hauptsächlich aber geht sie in den Eckteilen, als wärens Konglomerate lebensgefährlicher Etüden, eine Klippe um die andere mit imponierendem Elan und spektakulärer Ausdauer an, fast durchweg makellos. Über die Gipfel des überhaupt Spielbaren turnt sie in solistischen Rezitativen, erst recht in der schier endlosen Kadenz hinweg: wandernde Doppelgriffe, rasende Galopps durch alle Lagen, Oktavpassagen und -sprünge, Flageoletts, Triller, Pizzicati der linken Hand …

Stupend ihre Kraft, die unverkrampfte Virtuosität. Lässt sich auch von Freude reden? Das kämpferische Mienenspiel der Geigerin bestätigt: Capricen leistet sich die Dame nicht, von Marotten, Fimmeln, Tics kann bei ihr nicht die Rede sein. Diese Könnerin will dieses Werk – an dem es nicht sehr viel zu deuten gibt – nicht mit- und nachempfinden, sondern bewältigen, bezwingen. Nach den letzten ihrer Kniffe, Tricks und Kabinettstücke überflutet das Publikum sie mit Jubel, als wärs ein Sieg nach Punkten.

Gesiegt haben alle fünf, die sich an diesem Abend präsentierten und danach wieder auseinandergehen, jede und jeder hoffnungsvoll auf dem Weg vom Berufenen zum Auserwählten. „Das Funkeln ist da“: Was da so glänzte in Hof und Lichtenberg, ist unbestreitbar Gold. Wer ahnt, zu welchen Kostbarkeiten es sich wandelt?

■ Liste aller Preisträgerinnen und Preisträger: hier lang.
■ Der 8. Internationale Violinwettbewerb Henri Marteau im Internet: hier lang.



„Ungebrochene Strahlkraft“

In Lichtenberg läuft der achte Violinwettbewerb Henri Marteau. Um die Auszeichnungen konkurrieren über sechzig junge Damen und Herren aus 23 Ländern. Eine Preisträgerin und ein Preisträger von 2017 brillierten beim Eröffnungskonzert mit Tonkunst von Strawinsky und Beethoven.

Yukino Nakamura und Lorenz Chen vor Nigel Clayton am Flügel: Der Spielfreude die Zügel schießen lassen. (Foto: thu)


Von Michael Thumser

Lichtenberg, 25. April – Die Achse Paris–Lichtenberg–Singapur: Gibts die wirklich? Was sonst als lästerlicher Scherz über die vermeintlich abgehängte Provinz durchginge, wird jetzt im Frankenwald für zwei Wochen spannend wahr. Nach langem Warten ist das schmucke Städtchen seit Sonntag zum achten Mal Schauplatz der „International Violin Competition Henri Marteau“, mit dem sich die Gemeinde auf der Weltkarte der bedeutenden Wettbewerbe für junge Geigerinnen und Geiger eingezeichnet hat.

     Dem dreijährigen Turnus der Konkurrenz gemäß hätte sie schon 2020 ausgetragen werden sollen. Dann aber kam, wie dem kulturellen Leben überhaupt, die Pandemie dazwischen. Ihrer „Strahlkraft“ tat die Zwangspause indes keinen Abbruch, die sei „ungebrochen“, konstatierte Henry Schramm freudig bei der Eröffnung im futuristischen, 2021 eingeweihten Konzertsaal des Hauses Marteau. Die Feststellung wusste der Präsident des oberfränkischen Bezirkstags zu belegen: Mehr als sechzig Damen und Herren aus 23 Ländern, alle höchstens 25 Jahre alt, konkurrieren heuer miteinander. Mit 10.000, 7500 und 5000 Euro sind die drei Hauptpreise ausgestattet; hinzu kommen zwölf Sonderpreise, die von einer Produktion mit dem Bayerischen Rundfunk bis zur Leihgabe der Maggini-Geige reichen, die Henri Marteau (1874 bis 1934), Namenspatron des Wettstreits, weltweit gefeierter Violinist und Erbauer der traumschönen Villa, selbst gespielt hat.

Der Erfinder

Auch wird wieder der „Magister-Wilfried-Schönweiß-Preis“ vergeben – für die beste Interpretation eines Stücks von Max Reger –, ausgelobt und mit tausend Euro dotiert vom Freundeskreis der Musikbegegnungsstätte Haus Marteau; er erinnert an den 2020 gestorbenen Pfarrer Schönweiß, der den Wettbewerb sozusagen erfunden und ihn gemeinsam mit dem Freundeskreis zwei Mal ausgerichtet hat. Seltsamerweise taucht der Name des rühmenswerten Initiators in keiner der offiziellen Mitteilungen auf. Seit 2007 der Bezirk Oberfranken die Trägerschaft der Veranstaltung übernommen hat, richten die Hofer Symphoniker sie aus. Sie werden denn auch am Sonntag, dem 6. Mai, bei der Preisträger-Gala im Festsaal der Hofer Freiheitshalle maßgeblich mitwirken.

     Kammermusikalisch hingegen geht es am Auftaktprogramm in der zur Hälfte unterirdischen, akustisch akribisch ausgetüftelten Granitgrotte des Hauses zu. Zwei, die es schon geschafft haben, demonstrieren früh gereiftes Kunstverständnis und durchtrainierte Spieltechnik: Die 28-jährige Yukino Nakamura ging 2017 als zweite Preisträgerin und Gewinnerin des Preises der Jugendjury durchs Ziel; Lorenz Chen, um ein Jahr älter, errang vor sechs Jahren den Haupt- und den Publikumspreis.

Perpetuum mobile

Mit einer „Suite italienne“ begibt sich Yukino Nakamura auf neoklassisches Terrain: Die sechs Stücke sind in ihrer Orchesterversion als Teile aus Igor Strawinskys „Pulcinella“-Ballett weitaus bekannter. Gutgelaunt und frisch, wie die lächelnden Mienen der beflügelten Interpretin, beginnt die Darbietung. Die sehnsüchtige Wehmut der „Serenata“ ironisiert die Künstlerin mit gepfefferter Schärfe. Durch das Feuer einer wilden Jagd verwandelt sie die Tarantella in ein Perpetuum mobile. Ungleich zurückhaltender, wenngleich zunehmend bewegt, durchquert sie die Variationen der Gavotte. Dem Scherzino verleiht sie den Nörgelton eines humoristischen Gezeters, bevor sie im Menuett-Finale seriös begütigend zum Schluss kommt. In allem macht sie, bei nuancierter Tongebung und robustem Akkordspiel, stilistische Einfühlung und eigenständige Vorstellungskraft deutlich – und ein Talent für die Delikatesse der Kammerkunst, das ihr hilft, sich ausgewogen mit Nigel Clayton, ihrem selbstbewusst autonomen, aber nie vordringlichen Partner am Klavier, zu verbünden.

Das Haus Marteau in Lichtenberg, einst Villa eines Stargeigers, heute internationale Musikbegegnungsstätte des Bezirks Oberfranken. (Foto: thu)

     Der Helligkeit dieser Musik könnte das folgende Werk Ludwig van Beethovens widersprechen. Denn als er 1802 seine drei Violinsonaten opus 30 schuf, begann sich sein Wesen, des anwachsenden „Sausens und Brausens“ in den ertaubenden Ohren wegen, zu verdüstern. Gleichwohl lässt die Nummer eins der Werktrias nichts von Verzweiflung spüren; auch nicht, wenn Lorenz Chen sich mit umso aufgeschlosseneren Ohren der A-Dur-Sonate und dem Klavierbegleiter Nigel Clayton zuwendet.

Freiherzig flink

Selbstbewusst demonstriert Chen die „ungebrochene Strahlkraft“ beethovenscher Musik, indem er die Unbefangenheit in den Themen des Kopfsatzes zwar betont unprätentiös exponiert, dann aber, in der an sich wenig dramatischen Durchführung, Gedankenstärke und Konfliktbereitschaft zeigt. Tadellos intoniert er das bedeutsame Adagio, ganz und gar nicht als beiläufiges Intermezzo zwischen den schnelleren Eckteilen, sondern, der Vorschrift gemäß, molto espressivo, sehr ausdrucksstark. Die dreiteilige Liedform des Satzes nimmt er durch eine teils ariose Deklamation beim Wort. Die eigentümliche Schlusswendung scheint sich von der Welt zurückzuziehen – zu der beide Musiker in den Variationen des Final-Allegrettos wieder flink zurückkehren, freiherzig und an inneren Gebärden reich.

     Beiden Geigenkünstlern applaudiert das Publikum reichlich – am meisten nach dem Schlussbeitrag des Programms, fünf Stücken für zwei Violinen und Klavier von Dmitri Schostakowitsch. Ein gefällig-unerhebliches Nebenwerk des russischen Großsymphonikers; hier dürfen die Interpreten, deren Geigenstimmen zumeist brav in Terzen und Sexten harmonieren, ihrer Spielfreude die Zügel schießen lassen. Gefühlsselig und burschikos, launig schmachtend und scherzhaft-schwermütig, am Ende mit Schneid und Freude am Rausschmeißerschwung einer Zirkusmusik machen sie den Zuhörenden Freude mit einer Unterhaltungsmusik, die nichts von der leidvollen Zerrissenheit ihres Urhebers und der vielschichtigen Tiefensubstanz seines Personalstils ahnen lässt. Man kann sich das gefallen lassen: Von der Jury ‚zerrissen‘ wird in den kommenden zwei Wochen niemand aus der Schar der Wettbewerber, und selbst wer hier, auf der Achse zwischen Paris und Toronto, Berlin und Singapur, nicht reüssiert, soll um eine fruchtbare Erfahrung reicher, nicht ‚leidvoll‘ um einen Traum ärmer nach Hause reisen.

Der 8. Internationale Violinwettbewerb Henri Marteau im Internet: hier lang.



Wie man ein Monster bezwingt

Zwei sowjetrussische Komponisten und ihre Musik gegen staatliche Repression und für subjektive Freiheit: Beim achten Konzert in Hof werden die Symphoniker, ihr conductor in residence Hermann Bäumer und Christian Poltéra als bravouröser Solocellist so frenetisch beklatscht wie selten.


Von Michael Thumser

Hof, 24. April – Das Publikum huldigt ihnen, die Kritiker rümpfen gern die Nasen: über die Virtuosinnen und Virtuosen – jene Superkönner, die kraft spektakulärer Spieltechnik wie Artisten und Athleten auf ihren Instrumenten über haarigste Hürden und haarsträubendste Hindernisse hinwegbrettern. Als leeres „Geklimper“ tat Robert Schumann ihre Kunststückchen ab, für Franz Liszt hingegen war die berauschende Ausstrahlung eines Virtuosen „nicht Auswuchs, sondern notwendiges Element der Musik“.

     Und für Sergej Prokofjew? Schon in jungen Jahren hatte er, mit eigenen Werken, als Akrobat der Tastenkunst begeistert. Und am Ende seines Lebens schrieb er ein Konzert, das der Interpret der Uraufführung 1954 für fast unspielbar hielt: Um es zu bezwingen, müsse der Solist wie mit einem „Monster ringen“, gestand Mstislaw Rostropowitsch, einer der fähigsten Cellisten aller Zeiten. Natürlich bediente er sich nicht der „facilitazioni“, der vereinfachten Alternativen, die der Komponist für manche Passagen anbot. „Ich hoffe, dass Interpreten, die ein Gewissen haben, nicht gewillt sind, ‚Erleichterungen‘ zu spielen.“

Künstler mit „Gewissen“

In Hof, am Freitag beim achten Konzert der Symphoniker, erwies auch Christian Poltéra, dass er „ein Gewissen“ besitzt: Mutig, überlegt und überlegen, schier unfehlbar nahm es der 46-jährige Schweizer mit dem „Monster“ auf. Er bezwang es, indem er sich die drei Sätze mit ihrer ganzen Komplexität, ihren Aufschreien und Schönheiten anverwandelte; ganz im Sinn Rostropowitschs: Der hatte Prokofjews Musik mit dessen Art verglichen, sich zu unterhalten: „scharfsinnig und freimütig, manchmal schroff, oft auch zärtlich“.

     Ausdrücklich als „Symphonisches Konzert“ hat der Komponist es ersonnen, was Hermann Bäumer am Hofer Pult dazu motiviert, mit den Musikerinnen und Musikern eine Ton-Finesse und -genauigkeit, ein Artikulationsspektrum und eine Variabilität des Ausdrucks auszuspannen, die das Orchester aus der Assistentenrolle heraus zum gleichwertigen Partner des grandiosen Solisten erhebt. So exakt passen sich Poltéra und die (an diesem Abend überhaupt) exquisit disponierten Symphoniker aneinander an und ineinander ein, dass ein wandelbares Gleichgewicht entsteht, ohne dass eine der Parteien je an Eigenwert verlöre.

Scharfsinnig, freimütig

Vergleichsweise gemessen die Ecksätze: Verwegen eröffnet Bäumer den ersten, fast zeremoniös den letzten. Im einen stellt Christian Poltéra gegen den auftrumpfenden Marschtritt des Tutti begehrliche Aufschwünge, schneidende Akzente, Einsprüche der Intimität. Widerholt schließt er Phrasen so kurzangebunden ab, als wollte er ihre Töne ein für alle Mal wegwischen. Im Finalsatz wiederum entspricht er, „manchmal schroff, oft auch zärtlich“, füllig-feierlichen Chören der Orchester-Bläser mit Springbogen-Partien und Kaskaden rasanter Arpeggien, oder er liiert sich dezent mit einem kammermusikalischen Streicherquintett im Orchester, einem strahlenden Solo der Konzertmeistergeige, mit der dialogbereiten Trompete.

     Das „Monster“ regt sich immer in Prokofjews Konzert – am aufsehenerregendsten im großen Allegro-Mittelsatz; dramaturgisch ist er das Hauptstück des Werks. In Episoden tonaler Auflösung riskiert Poltéra wie voller bebenden Grimms die Akkuratesse seiner Intonation zugunsten einer ruppigen Rauheit, mit der er das Cello hier zornig zetern, dort ironisch provozieren lässt. Dann wieder findet er aus der Impulsivität und Agilität seines Spiels heraus zu schmiegsam-klar formulierten Melismen, die sich übernatürlich flirrend zur Poesie einer ausgedehnten Träumerei verfeinern. „Scharfsinnig“ und „freimütig“ absolviert er die waghalsigen Doppelgriffe und Akkord-Katarakte der Kadenz. Das Publikum im Festsaal der Freiheitshalle feiert den Ausnahmekünstler; unumwunden schließt der Kritiker sich an.

Despoten und ihre Opfer

Zu Lebzeiten Prokofjews, des sowjetrussischen, aber westlich sozialisierten Tonsetzers, hieß das Monster Josef Stalin und war dasselbe Ungeheuer, das Dmitri Schostakowitsch mit Lagerhaft und Auslöschung bedrohte, um es dann wieder in den sozialistischen Kulturhimmel zu heben. Im Cellokonzert ringt der Komponist, wie viele Kommentatoren gewiss zu Recht herausstellen, hörbar um künstlerische Freiheit im Zeichen allseitiger Knebelung. Desgleichen formulierte Schostakowitsch seine Anklage gegen die Despotie und das Mitgefühl für ihre Opfer in vielen seiner Schöpfungen.

     Die elfte Symphonie, nach der Pause, erinnert in vier Abschnitten an den „Petersburger Blutsonntag“, eine grauenvolle Militäraktion im Januar 1905, bei der Nikolaus II., der letzte, 1917 gestürzte Zar, eine friedliche Demonstration gutwilliger Arbeiter zusammenschießen und niedersäbeln ließ; wohl bis zu vierhundert Männer und Frauen, Alte und Kinder blieben tot liegen – Zündfunke für eine revolutionäre, allerdings nur vorübergehend erfolgreiche Volkserhebung. Indes: 1905? Die Programmsymphonie, 1957 uraufgeführt und mit dem Leninpreis prämiert, könnte ebenso (und durfte freilich nicht) „Das Jahr 1956“ heißen, offenbarte Schostakowitsch doch in seiner Autobiografie „Zeugenaussage“, die Schilderungen bezögen sich zugleich auf die Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands.

Ein Rundpanorama

Mit einem Soundtrack fürs Kino vergleichen Fachleute diese Musik gern. Hermann Bäumer aber imaginiert sie nicht wie Filmmusik, sondern aufs Packendste – und zuweilen angemessen ohrenbetäubend – als gewaltige Tondichtung, nicht als überschüssige Begleitmusik für ein anderweitiges Geschehen, sondern selbst als plastisch erzählte Handlung. Gut eine Stunde lang, noch dazu pausenlos, expandiert eine Bilderfolge, die mehr ist als das: Mit dem akribisch einstudierten, so voluminös wie nuanciert, immer ungemein gehaltvoll musizierenden Orchester entrollt der Dirigent ein Rundpanorama vielteiliger, nachdrücklich oder untergründig korrespondierender Wahrnehmungen und Wirkungen mit einem zukunftsgläubigen Ausblick am Ende.

     Eine Stunde, die langmütiges Hören verlangt. Mindestens ebenso sehr wie auf die Themen und Motive von neun (hierzulande nicht geläufigen) Revolutionsgesängen muss es sich auf Atmosphären von grellen und bleichen Ton- und Farbwerten, auf glänzende und blendende Lichter und schonungsvolle wie erschütternd abgründige Schatten in mannigfachen Steigerungen und Abstufungen einlassen. Bäumers Panorama gründet auf der subtil instrumentierten, von den Symphonikern weitläufig in öder Fahlheit geschilderten Leere des Platzes vor dem Petersburger Winterpalais – ein schier endloses Standbild wie auf einem Kinoplakat. Von fern kündigt ein Trompetensignal, ein unwirklich-untergründiges Paukenmotiv den Marsch der Protestler an, über die das Orchester alsbald unerbittlich das Weltuntergangsszenario einer wüst dreinschlagenden Wildheit verhängt, das markerschütternde Massaker auf einem „Platz des himmlischen Friedens“. Manch eine und einer im Ensemble schützt sich mit Ohrenstöpseln. Und doch ist das Brachiale nicht „Auswuchs“ dieser Musik, sondern „notwendiges Element“.

Streicher-Stampeden, Bläser-Orkane

Aus der tödlichen Ruhe nach dem Sturm finden die Bratschen, über leichenblassen Pizzicati der Celli und Bässe, während eines zu Tode betrübten, gleichwohl andächtigen Trauergesangs heraus, mit dem Bäumer in schmerzlicher Erhabenheit an die großen Adagios von Tschaikowsky, Bruckner, Mahler gemahnt. In der Schlussvision endlich, worin er Streicher-Stampeden und Bläser-Orkane immer neu ins Verhältnis setzt, verbünden sich Gefallene und Lebendige zu erneuerter Klangmacht, geeint in der freiheitsglockenklingenden Utopie eines Triumphs über Totalitarismus und Tyrannei.

     Wer fürchtete, ein so ausführlich wucherndes Tableau in all seiner Eigenwilligkeit müsse das Publikum unweigerlich überfordern, sieht sich getäuscht: Selten wird den Symphonikern und ihrem conductor in residence so frenetisch applaudiert wie nach dieser martialischen Russischlektion. Musik bezwingt keine Monster. Ihre Botschaft aber wird in Hof verstanden und den autokratischen Ungeheuren, barbarischen Schreckensherrschern und selbst ernannten Zaren auch der Gegenwart blutrot ins Stammbuch geschrieben.

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Wallfahrten nach Arkadien

Ein Franzose und ein Finne haben sich musikalisch von Italien inspirieren lassen: Die südkoreanische Dirigentin Shiyeon Sung führt die Symphoniker in Hof mit Werken von Berlioz und Sibelius spannungsvoll in die sonnige Frischluft des Südens und ins raue Klima Skandinaviens.


Von Michael Thumser

Hof, 5. April – Warum reisen? Um als Urlauber auszuspannen; um als Tourist fremde Länder und Menschen zu erleben; um ein aufregendes Abenteuer zu bestehen; um auswärtige Geschäfte zu erledigen; um als Geistesmensch den Horizont genussvoll zu erweitern; um ernüchtert einem unzulänglichen Dasein zu entfliehen. Um etwas „erzählen“ zu können, empfahl es sich schon früher – und früher besonders –, dass „jemand eine Reise tut“ (wie einst der Dichter Matthias Claudius empfahl).

     Dabei muss man noch nicht mal weite Strecken auf sich nehmen und viel Zeit investieren. Manchmal reicht, wie beim siebten Hofer Konzert der Symphoniker, eine Dreiviertelstunde Musik. Und weils so schön war, gleich noch eine. Also zwei Erzählungen in Tönen: Am Freitag folgte das erste Werk explizit einer literarischen Vorlage, ging aber mit seinen „quatre parties“ – vier „Teilen“ (nicht: „Sätzen“) – zugleich als Symphonie durch; das andere Opus, an keine Dichtung gebunden, klang nach der Pause so, als gäbe jeder seiner Sätze dramatisch eine Handlung wieder. „Auch ich in Arkadien“ – das Motto, das Goethe über seine „Italienische Reise“ setzte, könnte ebenso gut über den beiden romantischen Partituren dieses Abends stehen.

Das Ziel des Fernwehs

Vor der Pause: „Harold in Italien“. Auf ein Epos des Briten Lord Byron bezog sich 1834 der Franzose Hector Berlioz, auf „Childe Harolds Pilgerfahrt“ und dort auf den vierten und letzten, unter anderem nach Venedig und Rom führenden „Canto“. Childe ist nicht child und bedeutet nicht Kind. Vielmehr bezeichnet der Begriff einen Edelknaben oder Knappen von ritterlichem Geblüt. Der Page Byrons, seines bisherigen Lebens überdrüssig, von den Menschen enttäuscht, unternimmt eine grand tour durch Europa, eine „Kavaliersreise“, die in den Abruzzen den Endpunkt und vielleicht das Ziel eines schwermütigen Fernwehs findet. Vier Tondichtungen schloss Berlioz zu seiner berühmten, eng verzahnten Programmsymphonie zusammen, die ihre starken Reize auch denen mitteilt, die den narrativen Überbau nicht kennen. In eben der Art, als absolute Musik, breitet Shiyeon Sung sie aus; mit der Künstlerin steht, nach dem Symphonikerkonzert unter Holly Hyon Choe unlängst in Selb (siehe unten, 25. März), zum zweiten Mal eine Dirigentin – und zum zweiten Mal eine aus Südkorea – am Pult des Orchesters. Beeindruckend umsichtig, markant und präzis signalisierend verschafft sie den Noten Ton und Klang, tiefsichtigen Gehalt und unmittelbare Wirkung. An der Rampe neben ihr schlüpft Hartmut Rohde in die Rolle des wallfahrenden Wandervogel: kein Menschenfeind wie Harold - ein lächelnd-gutgelaunter Gentleman der Bratsche.

    Anderen, nach Außenglanz verlangenden Interpreten,  wie einst dem „Teufelsgeiger“ Niccolò Paganini, mag der Solopart zu wenig artistisch erscheinen. Rohde indes fühlt sich sowohl in das schlichte Hauptthema und, gleich zu Beginn des ersten Teils, in dessen weit ausströmende Melodielinien geschmackvoll ein als auch später in die durchaus virtuosen Phasen der Aufwallung und Begeisterung. Reich modelliert er den herrlich warmen, strebsam bebenden Ton seines Instruments, der seine Noblesse und souveräne Fülle auch behält, wenn das Geschehen sich steigert und hochspielt, die Themen zu Motivfetzen zerreißen und die Rhythmik, zerbrechend, sich unbändig kompliziert. Den Pilgermarsch des zweiten Teils, von Berlioz und der Dirigentin mittels eines hartnäckig wiederkehrenden, vermeintlichen Fehltons raffiniert vor allzu viel Seligkeit bewahrt, veredelt Rohde durch sublimes Zusammenspiel mit der Harfe, dem Fagott und anderen Partnern im Orchester, dem er sich mal um mal erwartungsvoll zuwendet. Mit silbern-seidigen Flageolett-Arpeggien sublimiert er den Ausklang des Satzes, der vielleicht der schönste der Symphonie ist.

Lächelnder Liebesgruß

Nach der freiluftigen Heiterkeit des verliebten dritten Teils wenden Symphoniker und Solist sich umso vehementer dem pathetischen Auftakt des Schlussstücks zu, in dem sie alsbald in wechselnden Farb- und Ausdrucksintensitäten ein freies Spiel und Zusammenspiel aller Kernmotive des gesamten Werks entfalten. Nach der Hälfte des Finales verlässt Rohde seinen Vorzugsplatz neben dem Pult der Dirigentin und zieht sich hinter das Orchester zurück: Seine Schuldigkeit hat er getan; aber nur vorübergehend. Denn er kehrt zurück: um lächelnd den begeisterten Applaus des Publikums im Festsaal entgegenzunehmen; um sich mit einer eigenen Bearbeitung von Edward Elgars „Salut d’amour“ zu revanchieren …

    … und um, nach der Pause, bescheiden bei den Orchesterbratschen Platz zu nehmen und mitzuspielen. Noch einmal Erinnerungen an Italien – diesmal imaginiert von einem Finnen: Jean Sibelius verdankte entscheidende Einfälle zu seiner zweiten, 1902 uraufgeführten Symphonie einem viermonatigen Aufenthalt in Rapallo, Florenz und Rom. Eine „Italienische Symphonie“, wie Mendelssohn mit seiner Vierten, hat er aus den Inspirationen gleichwohl nicht formen wollen; auch um ein nationales ‚finnisches Idiom‘ wars ihm ausdrücklich nicht zu tun – wenngleich der Ausdeutung durch Shiyeon Sung viel nordländische Herbheit anzuhören ist. Den unverwechselbaren Tonfall des Komponisten, ohne Lieblichkeit schroff und merkwürdig anheimelnd zugleich, seine freie Behandlung der Formen hat die – beim Schlussbeifall bejubelte – Dirigentin gründlich verstanden.

Beschwören und beschwichtigen

Ihre beschwörenden und beschwichtigenden, fordernden und dämpfenden Gebärden inszenieren ein charakterreiches Wechselspiel aus allen möglichen Nuancen der Expression und Koloristik, aus Betriebsamkeit und Beinahe-Stillstand, Wucht und Pausen – einen untergründig fesselnden Kreislauf von klanglicher Verdichtung und Auflösung. Nach dem wunderbar schlichten Beginn des Kopfsatzes weiß sie freizügige Leidenschaftlichkeit zu komprimieren und die Durchführung mit fieberhafter Unruhe zu durchglühen. Auf das sinistre Pizzicato der Kontrabässe und Celli im Andante lassen Fagotte und Hörner ergreifende Klagen folgen. Unaufhaltsam das Flirren des Scherzos, in dessen Trio die Holzbläser schwermütig, aber keineswegs jammervoll wie Schalmeien schallen. Im Finale durchqueren die Symphoniker, machtvoll aufblühend und austreibend, die vielgestaltigen Stimmungssphären der vorangegangenen Teile noch einmal, doch unverbraucht sich steigernd zum am Ende prangenden Triumph.

     Hauptsache, reisen – ob nach England oder Frankreich, auf Arkadiens Berge oder den Küsten Skandinaviens entlang. Zum aufregenden Abenteuer wie zum geistvollen Genuss taugen die symphonischen Wallfahrten des Programms, das Hof für zwei Stunden gleichsam in einen tönenden Mittelpunkt der Welt stellt. So mancher, der „eine Reise tut“, kehrt als ein anderer zurück; erst recht nach zwei grands tours an einem Abend.

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Geburtstagsgaben aus der Seele

Devise „Lebhaft“: Beim Konzert der Hofer Symphoniker in Selb geht es in vier Werken der Romantik vor allem kraftvoll zu. Den Abend eröffnet das Orchester mit der Ouvertüre einer Komponistin aus Frankreich, zudem hat es eine junge Dame aus Südkorea ans Pult geladen.


Von Michael Thumser

Selb, 25. März – Ausdrücklich feminin verlief der Abend, und des Umstands eingedenk, dass es sich um einen Konzertabend handelte, durfte man ihn gar für feministisch halten. Nicht nur, dass am Donnerstag das Werk einer der nicht eben zahlreichen – und nach wie vor schmählich unterrepräsentierten – Komponistinnen das Programm in Selb eröffnete; obendrein stand mit Holly Hyun Choe eine junge Vertreterin der viel zu kleinen, immerhin im Wachsen begriffenen Zunft der Dirigentinnen am Pult der Hofer Symphoniker. Musik von und mit Frauen: Den Herren der Romantik kam sie einst nur dann gelegen, wenn ihre Schöpferinnen und Interpretinnen sich mit subalterner Empfindsamkeit beschieden und keinesfalls nach „männlichem“ Ausdruck strebten. Damit, zum Glück, ists längst vorbei.

     Schon Louise Farranc hielt sich nicht an das Gebot. Dreißig Jahre lang behauptete sie sich am Pariser Conservatoire als gesuchte Klavierprofessorin und schrieb, neben reichlich Kammermusik, drei ausgewachsene Symphonien, für deren Großform sie sich zuvor, 1834, mit zwei kurzen Orchesterouvertüren qualifizierte. Die zweite, in Es-Dur, klingt im Rosenthal-Theater nach allem Möglichen, nur nicht nach einer Einverständniserklärung in weiblich ergebene Leisetreterei. Im Vollton und mit gravitätischer Salbung lässt die 31-jährige, in Südkorea geborene Dirigentin das Werk beginnen und baut rasch Druck unter den Musikerinnen und Musikern auf, als wollte sie jeden Gedanken an Leichtherzigkeit erst einmal vertreiben. Dann, nach derart feierlichem Start, entlässt sie die Symphoniker doch ins freizügigere, phasenweise muntere Hauptgeschehen, wobei sie das traditionsgemäße Verhältnis zwischen Streicher- und Bläserchor variabel austariert. Geschmeidig, rund geradezu gehen ihre Gebärden auseinander hervor und beschränken sich nicht auf die aktiven Arme, sondern münden fließend oft in feine Fingerzeige. Vom Publikum aus gesehen, als straffe, diszipliniert unverrückbare Rückenfigur, mag die Künstlerin etwas ausstrahlungsarm erscheinen – ihre Musik ists keineswegs.

Eine Liebesbekundung

Erst recht nicht, nach der Pause, in der d-Moll-Symphonie Robert Schumanns. Als seine vierte wird sie gezählt und ist doch, 1841 gleich nach der „Frühlingssymphonie“ entstanden, seine zweite; nur dass er sie sich zehn Jahre später noch einmal zur Überarbeitung vornahm. Im „Ehetagebuch“, das er mit seiner Frau Clara, der Pianistin und Komponistin, gemeinsam führte, nennt er sie eine Schöpfung „aus tiefster Seele“. Eine Liebesbekundung: Am 22. Geburtstag der Gemahlin legte er sie ihr auf den Gabentisch. Zum großen Bogen hat er die Sätze zusammengeschlossen, die (so gut wie) ohne Unterbrechung einer in den andern übergehen: eine Einheit, deren Komplexität sich einer Art ‚nulltem‘ Satz verdankt, einer auffallend dezidierten Einführung ins Auftakt-Allegro - und überhaupt ins Ganze: In ihr liegt die Substanz begründet, die den hoch- und weitgespannten Vierteiler als Motivnetz überzieht.

     Aber nicht als aufdröselnde Analytikerin der Partitur tritt Holly Hyun Choe dem – für die Entstehungszeit sehr speziellen – Werk nah. Viel gelöster agierend als am Anfang, hat sie mit Weitsicht das besagte ‚Ganze‘ im Auge und befeuert es, gleichsam mannhaft, mit kaum aufhaltbarem Schwung. Bei aller Kraft lässt sie die Introduktion so intonieren, dass sie dank langer Liegetöne und entschiedenen Legatos zu schweben scheint, unwirklich, wenn nicht unheilkündend.

Mut zur Üppigkeit

Devise „Lebhaft“: Mit dem deutschen Wort ist in (der 1851er-Version der Symphonie) der Kopfsatz überschrieben, wie später Scherzo und Finale auch, und die Dirigentin folgt aufs Wort. In straffem Tempo breitet sie ihn mit dem Orchester aus, akzentuiert, rhythmisch forsch, fast drangvoll grimmig. Als einen von der Oboe, den Celli und Bratschen wohllautend initiierten Trauergesang stellt sie die folgende Romanze dagegen, worin der Zusammenhalt des Ensembles gelegentlich verwackelt; trostvoll ranken sich Girlanden aus der Konzertmeistergeige herab, auch wenn der Gesamtklang sie kaum hervortreten lässt. Im mit Verve punktenden Scherzo verwaschen ein paar Unsauberkeiten der Violinen das Tongekräusel des Trios. Dann aber verwandelt die Dirigentin das Finale, ausgehend von einer sinister vibrierenden, zusehends sich ermächtigenden Adagio-Hinführung, zum Hauptteil des Gesamtwerks: themenreich, nicht stürmisch, aber mit Mut zur Üppigkeit. Bravo rufend applaudiert das Publikum.

     Auch das Hornkonzert, das im Programm zwischen den beiden Orchesterbeiträgen steht, entstand als Geburtstagspräsent: Kaum neunzehnjährig verehrte Richard Strauss das gefühlsselige, sinnen- und signalfreudige Werk seinem Vater Franz, dem führenden Hornisten seiner Zeit, 1882 zu dessen Sechzigstem. Blechblasinstrumente in Solorollen kommen stets hemdsärmelig daher: Warum sollte es Tillmann Höfs als Protagonist in Selb nicht auch tun? Die Manschetten seines Hemdes hat er hochgekrempelt: Es wird ja Frühling.

Elegant und appetitlich

Noch einmal fünf Jahre jünger ist er als die Dirigentin und doch bereits ein Meister seines Fachs. Tadellos entspannt ruht der Künstler in sich, und ebenso sein Spiel. So gut wie perfekt gelingt ihm die – beim Horn notorisch heikle – Tongebung, lebendig weitet er kantable Phrasen aus, in überraschend heimlichem Piano führt er sie zu Ende. Wie bei Schumann: Wiederum folgen die Sätze pausenlos aufeinander. Im ersten wählt sich Höfs namentlich die Celli zu vertrauenswürdigen Gefährten. Dem Andante mit seiner schlichten Schwermut verleiht er stilvoll Tiefe – und wirft sich schließlich als siegesgewisser Virtuose in den Finalsatz, der dem Vater Strauss einst zu schwer war. Tillman Höfs absolviert ihn herzhaft mit leichtflüssiger Geläufigkeit.

     Weils ein kurzes Werk ist, fügen er und das Orchester als Zugabe ein Kleinod an: die 1806 als Prüfungsstück fürs Pariser Conservatoire entstandene, einer italienischen Liedform des sechzehnten Jahrhunderts nachempfundene „Villanelle“ von Paul Dukas. Zart greift Höfs mit den Symphonikern das elegante Melos, die appetitliche Harmonik auf. Zeitweilig, solang das Tempo anzieht, drängt sein Spiel nach Geltung; bald aber darf der delikate Ensembleklang es erneut umfangen. Auch diese Miniatur könnte man für eine Liebesgabe, wie zum Geburtstag, halten: Wer sich von schöner Musik „alles Gute“ wünscht, ohne viel Hintersinn und sonstigen Ballast – hier wird er damit beschenkt.



Ton-Gedichte von Tod und Liebe

Bruckner schätzte ihn hoch, Brahms stieß ihn zurück: Die Symphoniker erinnern beim Konzert in Hof an Hans Rott, eine jugendliche Höchstbegabung unter den romantischen Komponisten. Dabei konfrontieren sie ihn reibungsreich mit seinem Lehrer und seinem Verächter.


Von Michael Thumser

Hof, 8. März – Am Ende musste er sich fühlen wie zwischen Mühlsteinen: aufgerieben. Für Anton Bruckner war er einer seiner liebsten Schüler gewesen; Johannes Brahms hatte den Zweiundzwanzigjährigen, als er um Fürsprache nachsuchte, davongejagt. Das zu ertragen, war das labile Gemüt des ehrgeizigen Jungtonsetzers nicht geschaffen: Von der Missgunst seines berühmten Beleidigers wähnte Hans Rott sich fortan überall verfolgt. Als er im Herbst 1880 mit der Eisenbahn ins Elsass reiste, um dort in Mühlhausen eine Chorleiterstelle anzutreten, war er überzeugt, Brahms habe den Zug mit Sprengstoff präpariert; folgerichtig ließ er sich hinreißen, einem Mitreisenden barsch die Zigarre zu verbieten – mit einer Pistole in der Hand. Er wurde festgenommen. Knapp vier Jahre später, in Wien, starb Rott, keine 26 Jahre alt, geistes- und obendrein noch lungenkrank.

     „An ihm hätte ich unendlich viel haben können“, soll ihm später der einstige Kommilitone Gustav Mahler nachgerufen haben. „Vielleicht hätten wir zwei zusammen den Inhalt der neuen Zeit, die für die Musik anbrach, einigermaßen erschöpft.“ Solchen Sinnes postierten die Symphoniker den hochfliegenden, tief stürzenden Komponisten am Freitag bei ihrem sechsten Hofer Konzert als tragischen Helden neben und gleichsam zwischen seinen beiden Mühlsteinen. Eine knappe Stunde lang inszenierten sie, nach Musik von Bruckner und Brahms, unter Hermann Bäumers Leitung seine monumentale E-Dur-Symphonie und ließen ahnen, was Mahler meinte, als er sich und ihn mit „zwei Früchten von demselben Baum“, verglich, von „demselben Boden erzeugt, der gleichen Luft genährt“. Nicht zu „ermessen, was die Musik an ihm verloren hat.“

Training und Tragik

Was sie an Anton Bruckner in dessen Todesjahr 1896 verlieren würde, war noch nicht abzusehen, als er 1863, mit immerhin schon 39, seine Ouvertüre in g-Moll abschloss. Die Symphoniker nehmen sie ernst und ihrer sich mit Sorgfalt an: Einen tragisch-offiziellen Gestus prägt der Dirigent ihrem Beginn auf und verleiht den Fort- und Durchführungen die Dramatik etwa der Tonsprache Louis Spohrs oder des frühen Mendelssohn. Notgedrungen fehlt die Suggestionskraft, das unmittelbar Bezwingende des (noch) späteren Bruckner – das Stück muss bleiben, was aus Rotts formidabler Symphonie nicht hat werden sollen und nicht wurde: Vorläufer nur, Trainingsarbeit, Übungsstück.

     Hingegen zeigen Johannes Brahms’ „Vier ernste Gesänge“ alle Zeichen höchster Meisterschaft und Reife; wie auch nicht: 1896, im Jahr, bevor er starb, schuf er sie als Letzte seiner Arbeiten. In Hof erklingen die biblischen – im Original vom Klavier begleiteten – Tod- und Ton-Gedichte leider in der wenig inspirierten Orchesterfassung Erich Leinsdorfs (und nicht etwa in der ungleich ‚brahmsischeren‘ von Detlev Glanert). Dafür verleiht ihnen Konstantin Krimmel aufs Eindringlichste und Sprechendste Stimme, Ausdruck und Gewicht. Mit mannhaftem Prophetenernst tritt er vors Publikum, das ihn nach dem letzten Lied mit Applaus und Bravorufen überschütten wird, ein Dreißigjähriger mitten aus dem Leben, der gleichwohl die Vergänglichkeits-Botschaft in Texten und Musik weidlich begreift.

Menschen- und Engelszungen

Von Staub und Sterblichkeit der Menschen singt er nicht als Hiobsbotschafter, doch auch nicht als Tröster; vom „Bösen unter der Sonne“ kündet er leidbewusst, wenn auch nicht klagend und schon gar nicht jammernd. Unmissverständlich konturiert er seinen Bariton, straff führt er ihn durch das rhapsodische Melos und kann sich darauf verlassen, dass der in allen Lagen unverrückbar sitzt. Das befähigt ihn zu einer dunklen, aber klaren Deklamation, die der welterfahrenen Poesie der zeitlosen Worte dasselbe Recht wie den Tönen gewährt. Unheilvoll wuchtig wie die Bruckner-Ouvertüre hebt im Orchester der Gesang „Oh Tod, wie bitter bist du“ an, dessen Mahnung der Sänger, bei aller Herbheit, in Zuspruch verwandelt, indem er das Sterben als Ausweg aus Dürftigkeit, Sorge, Altersschwäche deutet. An die ewig lebende Seele vermochte Brahms nicht zu glauben, dem Leben gleichwohl, der Liebe nämlich und ihrem „Hohen Lied“ aus dem ersten der neutestamentlichen Korinther-Briefe, wendet sich Krimmel am aufklarenden Ende zu:  „Mit Menschen- und mit Engelszungen“ bekennt er sich zu „Glaube, Hoffnung, Liebe“, fast grimmig mag seine Überzeugtheit klingen, und doch hellt er Stimme und Stimmung auf zu einer optimistischen Vision von Diesseits und Jenseits.

     Lieblos konnte Brahm freilich auch sein und wars bei mehr als einer Gelegenheit. So meinte er bei der Durchsicht von Hans Rotts Symphonie-Partitur, reihenweise Anleihen bei Wagner, Bruckner, womöglich bei sich selbst aufzuspüren – und ließ den Bittsteller, der anderweitig bereits mehrmals und stets unverdient Zurücksetzungen hatte hinnehmen müssen, wiederum höhnisch ablaufen. Das Genuine in den vier Sätzen des jungen Mannes zu erkennen, brachte Brahms nicht über sich. Mit keinem Geniestreich, doch mit einer genialischen, also außerordentlich ideenreichen, auch innovativen Musik machen die Symphoniker und Hermann Bäumer das Publikum in Hof bekannt, mit einem weit überdurchschnittlichen Novizen der Tonkunst, der überschwänglich, auch überspannt gleich nach dem Höchsten seines Fachs zu greifen gewagt hat. Seine Symphonie, unüberhörbar auf Überwältigung abzielend und in Hof vom Publikum gefeiert, bewährt sich, einiger Leerstellen ungeachtet, durch viele hinreißende Momente und einen grandiosen Gesamteindruck.

Choral und Ekstase

Den im Ton strömend herzlichen Kopfsatz führen die Musiker, nach dem von der Trompete zart intonierten Kern- und Leitmotiv der gesamten Symphonie, rasch zu einer ersten spektakulären Steigerung – und machen klar: Hier und in den folgenden, sich von Satz zu Satz verlängernden, aufs Finale als Hauptereignis zustrebenden Teilen lösen sich vielerlei Ausdrucksarten einander durchdringend ab. Befreite Frühlingshaftigkeit und festliche Hymnik, Voranschreiten und Voranstürmen, frommer Choral und ekstatisches Aufblühen, beschwörender Einspruch und empfindsame Begütigung, Dreiklangs-Euphorie und überraschend chromatische Dissonanz: Hermann Bäumer entfaltet eins aus dem andern in stichhaltigen Zusammenhängen und spannungsreichen Brüchen.

Dass dem zweiten Satz die thematische Prägnanz des ersten mangelt, macht der Dirigent vergessen, indem er die Vielfalt instrumentaler Wirkungen ausschöpft und die Emotionen in bedeutende Tiefen verfolgt. Euphorisch gerät das Scherzo: Zwar vom – überhaupt überstrapazierten – Triangel wie von einem Tinnitus quälend durchklirrt, packt es doch durch ungebremste Aufbruchsgebärden. Dem untertreibend mit „Belebt“ überschriebenen, ungestümen Finale als Ziel und Zweck der Symphonie hat Rott noch einmal eine Art langsamen Satzes vorgeschaltet: Unheimlich wie aus verschwiegenen Grabestönen wächst er herauf, vor allem von den Holzbläsern getragen und von einem wunderbar sonoren Streicherchor bekräftigt. Dann erst entfesseln die Musiker, weitgehend in rauschhaftem Fortissimo, kunstreiche kontrapunktische Verwicklungen, um endlich macht- und prachtvoll zum Ausgangsthema zurückzugelangen – eine Apotheose, schier ins Endlose perpetuiert.

Während der Schlusswendungen aber nimmt Hermann Bäumer die Lautstärke doch deutlich zurück – als wollte er die geschundene Seele des enttäuschten, erschöpften Tonschöpfers entlastet in den Himmel der Könner, Leuchten, Koryphäen entlassen. Von Anton Bruckner bis Hans Rott: Mit der Kleinmeisterei eines der ganz Großen begann der Abend, um in der Großkreation eines Höchstbegabten zu enden, dem es nicht vergönnt war, ganz erwachsen und zu einem Meister zu werden.

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Bilder der Erinnerung

Eine „Rückkehr von Berlin nach Oberfranken“: In Rehau erinnert Lorenzo Lucca, Konzertmeister der Hofer Symphoniker, zusammen mit der Pianistin Vita Kan an den Komponisten Max Baumann, der 1917 in Kronach zur Welt kam. Dazu gibts Meisterstücke des neunzehnten Jahrhunderts.


Von Michael Thumser

Rehau, 25. Februar – Wer alt genug ist, um bereits in der DDR seligen Angedenkens ferngesehen zu haben, erinnert sich vielleicht an den resoluten Rentner Maxe Baumann, der - von Gerd E. Schäfer gespielt - in einer nach ihm benannten, populären Familienserie durch nassforsche Umtriebigkeit seine Mit- und Nebenmenschen nervte und beglückte. Auch an Max Baumann, ohne e, sollte man sich erinnern, zumal in Nordostbayern: Immerhin hat der Komponist – vornehmlich in Berlin lebend, lehrend und schaffend – hier 1917 das Licht der Welt erblickt. Schade, dass aus seinem umfangreichen Œuvre kaum mehr als eine intensiv verhaltene Pater noster-Motette so etwas wie Popularität erlangte.

     Darum unternahmen es am Donnerstag in Rehau die in der Hauptstadt ansässige Max-Baumann-Gesellschaft und der Tonkünstlerverband Hochfranken als Veranstalter, mit der Tonsprache des 1999 gestorbenen Tonsetzers bekannt zu machen. „Eine Rückkehr von Berlin nach Oberfranken“ nannte der Geiger Lorenzo Lucca das absichtsvoll antithetische, eben darum fesselnde Programm im Festsaal des Alten Rathauses. Beispielhaft interpretierte er dort zusammen mit der Pianistin Vita Kan zwei Arbeiten des gebürtigen Kronachers und stellte ihnen zwei Leib- und Magenwerke der Hochromantik spannungsvoll zur Seite.

Virtuos-expressives Violinspiel

Fühlung aufnehmen kann das (am Ende ausdauernd, teils stehend applaudierende) Publikum zum Beispiel mit drei „Radierungen“ aus dem Jahr 1958, deren jede einem anderen Musiker gewidmet ist. Die erste jener „Hommages“, eine ehrende „Erinnerung“ an den 1831 gestorbenen Rodolphe Kreutzer, einen Pionier des französischen virtuos-expressiven Violinspiels, eröffnet Lorenzo Lucca solistisch mit ausgedehnt-getragenen Geigentönen, um bald mit der Partnerin manisch-panisch aufgeregte Fluchten anzutreten. Umso zartfühlender fahren sie mit einer „Hommage à Jean Francaix“ fort, einer Art sich wiegenden Nocturnes, in dem sie dem späten Impressionismus Frankreichs huldigen: durch ökonomische Reserve, abgedunkelte clarté. Angriffslustig beschließen sie den Zyklus mit einem motorisch-vitalistischen Gedenken an Boris Blacher, den wichtigsten Lehrer des Komponisten, nicht nassforsch, aber unbedingt umtriebig. Insgesamt: ein Spiel mit Masken. Lernt man auch darin Max Baumann kennen? Wieviel von ihm selber steckt wohl in den Stilanleihen?

     Auch seine 1949 entstandene Sonatine gemahnt an einen anderen, diesmal an einen führenden deutschen Tonschöpfer des vergangenen Jahrhunderts: Denn diesmal entscheiden sich Lucca und Kan für einen Tonfall spröder Reduktion, wie sie die neusachliche Rationalität Paul Hindemiths vorgebildet hat. Konsequent nachdrücklich machen sie sich ins „Prélude“ auf und schalten, bevor sie unterm passenden Titel „Tambourin“ rustikal mit einem trotzigen, osteuropäisch inspirierten Volkstanz enden, in schlichter Sanftheit ein „Nocturno“ ein, das in diesem Fall wirklich so heißt.

Unbedingt geschmackssicher

Einmal mehr bewährt sich Lorenzo Lucca, der seit 2007 als Konzertmeister bei den Hofer Symphonikern den Ton angibt und an der Weimarer Musikhochschule „Franz Liszt“ unterrichtet, als ausgebuffter Techniker mit tiefgehender Reflexion. Wo sich sein Ton gelegentlich zu trüben droht, gleicht Vita Kan aus: Im russischen Tomsk geboren und in München daheim, bricht sich die 32-jährige Klavierkünstlerin international zunehmend Bahn als hochmotivierte Meisterin mannigfaltiger Anschlagsarten und souveräne Gestalterin. Unbedingt geschmackssicher ermitteln die beiden für jede Gemütslage den rechten Ausdruck: schwebende Anmut in Gabriel Faurés tiefenentspannter „Berceuse“ als Zugabe – substanzielle Gedankenfülle in der zweiten Sonate von Johannes Brahms und dem Schwesterwerk César Francks; da wie dort finden sie als gleichberechtigte Vertraute zu einer sowohl halt- wie wandelbaren Balance der Selbstständigkeit und des Miteinanders.

     Auch Brahms’ Opus 100 ist ein Bild der Erinnerung: an die einst europaweit gefeierte Altistin Hermine Spies-Hardtmuth als Widmungsträgerin; sehr hat sie der Komponist verehrt und vielleicht noch mehr als das. Eine „Liebes- und Liedersonate“ nannte sein Biograf Max Kalbeck das Werk; eine sehr persönliche Note verleiht das Duo ihm denn auch. Mit Zärtlich-, gar Süßlichkeit aber hält es sich zurück. Vielmehr verdichtet es im Kopfsatz die Energie und erlaubt sich Anflüge von Ernst und Würde. Das „Liebenswürdige“ jenes „Allegro amabile“ überträgt es lieber in den Mittelsatz, in dem es Gesanglichkeit und aufgerissene Rhythmik in ein attraktives Verhältnis setzt. Im Schluss-Allegretto mit seiner freundlichen Seriosität ziehen Luccas mitteilsam fester Geigenton und Kans bewegtes Tastenspiel eine Endsumme kraftvoller Lebensbejahung. Als „reinen Dreiklang einheitlich wohltuender Stimmungen“ vernahm der Großkritiker Eduard Hanslick schon die Uraufführung.

Seligkeit, Dramatik, Traumsequenzen

Die fand 1886 statt, im selben Jahr, in dem die Sonate César Francks in Paris herauskam, die obendrein in derselben Tonart steht und wiederum ein Werk der Liebe ist: ein Hochzeitsgeschenk für seinen Freund Eugène Ysaÿe. Ganz in sich ruhen die Gefühle im moderaten Auftakt, in dem die Interpreten lichte, ungetrübte Seligkeit entfalten. Im zweiten der vier Sätze hingegen peitscht Vita Kan eine so offensive Dramatik auf, dass es scheint, als könnte Luccas straffes Geigenmelos ihr kaum Einhalt gebieten. Dafür zieht sie sich im dritten Satz, wie wenn der Flügel eine Erholungspause bräuchte, ausnahmsweise - und nur vorübergehend - in die Rolle der Begleiterin zurück; so bietet sie der Geige Gelegenheit für üppige rhapsodische Episoden und zu Traumsequenzen berückender Meditationen. Ungetrübt schließlich der Optimismus des Finales: Indem die Instrumente einander Mal um Mal kanonisch folgen, verpartnern sich die Interpreten mehr denn je.

     Im Ruf eines durch und durch ingeniösen Meisterstücks steht Francks Sonate, und die Darbietung tut ihm in jedem Satz aufs Neue Genüge. So teilt sich dieses beinah orchestrale Kammerwerk, eines der bedeutendsten aus dem neunzehnten Jahrhundert, in Rehaus Altem Rathaus ohne unterkühlte Herb- und forsche Ungeschliffenheiten mit, ohne Masken tritt es auf, unverhüllt als eine Reinform der Romantik.



Zwischen Anrufung und Amen

Das Vaterunser ist das bedeutendste Gebet für alle Konfessionen der Christenheit. Entsprechend wichtig nahmen es die Schöpfer geistlicher Musik. An der Hofer Heidenreich-Orgel führt Georg Stanek durch gestaltenreiche Variationen aus fünf Jahrhunderten.


Von Michael Thumser

Hof, 14. Februar – 63 Wörter: Die sind schnell gesagt. Länger ist das Vaterunser nicht. Den Christen aller Konfessionen gilt das Gebet als Kernstück im eisernen Bestand ihrer Überzeugungen, mögen die ansonsten auch weit auseinanderdriften. Direkt auf Jesus, wie die Evangelien ihn beschreiben, geht es zurück, denn dort gibt der Nazarener seinen zwölf Aposteln die (im Deutschen) 63 Wörter als Antwort, als sie von ihm verlangen: „Herr, lehre uns beten.“

     War das Gebet dem Reformator zu kurz? Martin Luther, der den Bibeltext 1539 in ein Kirchenlied umgoss, nahm sich die Freiheit, ihn auf die 311 Wörter von neun Gesangbuch-„Versen“ zu strecken. „Wenn du betest“ – das steht im Evangelium auch –, sollst du nicht „viele Worte machen“. Gleichwohl zählt Luthers Version zum Kernbestand evangelischen Kirchenliedguts, denn nicht als redselige Paraphrase entstand sie, sondern als gründliche Auslegung, vertiefende Interpretation des Originals.

Vielfalt der Stile

Eben darum bemühten sich auch fromme Tonsetzer immer wieder um die Dichtung, kaum war sie ans Licht der erlösungsbedürftigen Welt gelangt. Acht solche Deutungen, aus fünf Jahrhunderten, stellte Georg Stanek am Sonntag in der Hofer St.-Michaelis-Kirche nebeneinander: Beim zweiten und letzten Orgelkonzert der diesjährigen Heidenreich-Tage spannte er den Bogen vom 1587 geborenen Samuel Scheidt bis zu Manfred Kluge, der 1971 gestorben ist. Ein stilvielfältiges Programm: Mit großer Sachkunde und beeindruckender Virtuosität brachte es der Dekanatskantor und Kirchenmusikdirektor auf den gemeinsamen theologischen Nenner.

    Als Thema mit Variationen geht das Rezital vonstatten – im großen Ganzen wie in einigen der Einzelteile. Das Thema gibt Stanek mit Johann Pachelbels barockem Kantionalsatz zu Luthers Choralmelodie an, wofür er das gewaltig-vielstimmige Instrument der Hofer Werkstatt Heidenreich bescheiden wie eine Kapellen-Orgel registriert. Bei solcher Zurückhaltung belässt er es indes nicht lang. In einer Choralfantasie Georg Böhms legt er über eine entschieden voranschreitende Begleitung die Melodie wie einen tenoralen Ariengesang. Für Dietrich Buxtehude, das Vorbild Johann Sebastian Bachs, wählt er ein Klangbild strenger Festlichkeit. Bei Bach selbst, dem Vollender, zieht er sich, unterwegs auf den Umwegen einer komplizierten Chromatik, in die stolpernde und seufzende Rhythmik hochgeistiger, auch technisch anspruchsvoller Exerzitien zurück. Dergleichen wäre eher von Max Reger zu erwarten: Aber sein Choralvorspiel bleibt tonartlich überschaubar; dafür spielt der Interpret die Doppelchörigkeit des Werks durch eklatante Ausdrucksgegensätze aus.

Gleichmaß und Zerrissenheit

Thema und Variationen: Acht an der Zahl sinds bei Samuel Scheidt, sieben – „Strophen“ genannt – bei Manfred Kluge, den beiden Komponisten, deren Biografien die chronologischen Eckpunkte des Programms markieren. Beim ersten, einem frühbarocken Meister der Norddeutschen Orgelschule, schickt Georg Stanek den cantus firmus mit immer anderen Energien und einer wechselnden Zahl von Begleitstimmen durch die veränderlichen Farben der sich ablösenden und vermischenden Register. Mal plaudern Flötentöne, mal führt das Pedal in die sonore Abgründigkeit einer Tuba, manchmal verbirgt der Organist das Thema hinter Seidenglanz, dann stellt er es mit insistierender Prägnanz heraus; um damit schließlich wie in eine Predigt einzumünden, unumstößlich wie Luthers „Feste Burg“.

    Kluges 1963 beziehungsvoll sich fortzeugende „Strophen“ nennt der Kantor selbst „gewöhnungsbedürftig“. Das aufgeschlossene Ohr jedoch fühlt sich durch den Interpreten verständig an das avancierte Idiom ihres Schöpfers herangeführt und lernt dessen magnetisierende Expressivität alsbald zu schätzen. Zwischen einer „Anrufung“ und einem besiegelnden „Amen“ hat Kluge die sieben „Bitten“ seines Vaterunsers eingerahmt. In sinistren Tiefen gründet und gründelt der Beginn, überraschend an den Anfang von Igor Strawinskys „Feuervogel“ gemahnend – ein Motiv, das im Schlussteil diskret, doch hörbar, wiederkehrt.

Eine kluge Wahl

Dazwischen inszeniert Stanek Wechselwirkungen von Gleichmaß und Zerrissenheit durch mannigfache Schritte eines weitreichenden Gestalt- und Stimmungswandels: durch „rhythmisches Atmen“ und „dunkle Ruhe“, durch „Gespinste aus farbigen Figuren, Lichtspiele, Blütenstaub“, durch „ostinates Rotieren“, „gestammeltes“ Melos und „lindernde Gebärden in harmonischen Gegenschichten“ – in solch barocker Blumigkeit beschrieb der Komponist selbst die fließenden Auren des Werks. In aller Ausführlichkeit entfernt es sich denkbar weit von Choralbearbeitungen, -vorspielen und -fantasien herkömmlicher Art: Eher lassen sich die „Strophen“ als im Verborgenen verbundene Segmente einer großartig-großen Tondichtung verstehen. In ihr wird Luthers Choralmelodie kaum zum Inhalt, dient vielmehr als Anlass für eine Musik, die ganz bei sich bleibt, indem sie sich rein auf den Ursprung christlicher Glaubenslehre konzentriert.

    Felix Mendelssohn Bartholdys Orgelsonate zum Thema, sein barock-polyphones Opus 65, an den Schluss des Programms zu setzen: keine zwingende, doch kluge Wahl, nach so genau durchdachtem Aufwand, so angespannter Reflexion. Der Geschicklichkeit Staneks verlangt das Stück noch einmal reichlich ab. Im Ton völliger Begütigung beschließt er es: Die letzten Takte sind ein Augenblick des Ausgleichs. Da löst helle Ruhe die zuvor „dunkle Ruhe“ Kluges ab, und das vor Kurzem noch stockende „Atmen“ der Orgel geht wieder frei. Wer mag, darf sich für erlöst halten: Dann wäre Mendelssohns finales Amen nicht bloß Bekräftigung, auch Absolution.



Mozart feiert sich selbst

An seinem Geburtstag geben die Symphoniker dem Salzburger Genie mit einem klassischen Abend die Ehre. Neben einer seiner Symphonien erklingt eine von Franz Schubert. Und bei einem Solokonzert Haydns brilliert die junge Cellistin Julia Hagen, die ebenfalls aus Salzburg stammt.


Von Michael Thumser

Hof, 31. Januar – Ist jemand, der viele Werke schreibt, darum gleich ein großer Künstler? Der Finne Leif Segerstam (Jahrgang 1944) schleuderte bislang fast 350 Symphonien heraus – uneinholbarer Rekord. Muss also eine Leuchte wie Joseph Haydn als nicht mal halb so gut gelten, weil er der Gattung lediglich 108 Werke beitrug? Bei acht ließ es Franz Schubert bewenden, wenn er sich auch an fünf weiteren versuchte. Und selbst Wolfang Amadeus Mozart steht, am Champion gemessen, mit seinen 41 Symphonien gar nicht so viel besser da. Wie wohl wählt die Musikgeschichte aus, wer als ‚Klassiker‘ firmieren darf und wer (noch) nicht?

     „Mozart zu Ehren“ haben die Hofer Symphoniker am Freitag seinen Geburtstag gefeiert (den 265.), haben auch Haydn und Schubert als unsichtbare, immerhin hörenswerte Gratulanten aufs Podium geholt und, als umso präsenteren Ehrengast, die Cellistin Julia Hagen eingeladen. In Salzburg, wie Mozart, kam sie vor 28 Jahren zur Welt. Ihm „zu Ehren“ entzückt und erstaunt sie das – am Ende zu Jubelstürmen hingerissene – Publikum im Festsaal der Freiheitshalle mit dem D-Dur-Konzert Joseph Haydns, und sie tut es ganz in der Art, die Mozart an seinem älteren Bewunderer bewunderte: Keiner, meinte der, könne so gut wie Haydn „schäkern und erschüttern, Lachen erregen und tiefe Rührung“.

     Nach dem Vorspiel, das Gabriel Venzago vom Pult aus anheimelnd behaglich ausgebreitet hat, greift Julia Hagen mit einem zum Greifen plastischen Celloton ins Geschehen ein, der sogleich dreierlei bedeutsame Vorzüge erweist. Zum einen besticht er durch dichte, gespannte Substanz und charismatische Reichweite, durch Gewandtheit und Strahlung, deren Zug- und Anziehungskraft nie nachlässt. Zum andern verleiht die Solistin dem Klang ihres Instruments eine reine Gesanglichkeit, die sich in weiten Phrasen ebenso wie bei kleinteiligen Partien ohne Unterschied erhält. Und schließlich verfügt sie über eine technische und musikalische Energie, die sie befähigt, alle Räume von Kontrabasstiefen bis zu Violinhöhen und zurück ausfüllend zu durchmessen, ohne dass die imponierende Griffsicherheit ihrer Linken, die Wendigkeit ihrer Bogenhand je unter Druck gerieten. Hohe Virtuosität verlangt der Solopart der Künstlerin ab, und doch ist es ihr in erster Linie um den Ausdruck, nicht um Geschicklichkeit zu tun. So gerät ihr auch die Kadenz des ersten Satzes, die sie streng motivgebunden in den Ablauf einfügt, ohne jede Etüdenhaftigkeit. Zu lauter Wohlgefallen schmilzt unter ihren Händen sodann das „rührende“ Adagio; bevor sie im Final-Allegro ihren artistischen Fertigkeiten doch noch einen fast Paganini’schen Schaulauf gestattet. Aber freilich hält sie auch hier an Klangkultur und -nuancierung schmiegsam fest.

Unverhoffte Gemeinsamkeiten

Um Mozart zu ehren, hält sich dieses Symphoniekonzert, das fünfte der Spielzeit, ganz im klassischen Rahmen. Der singuläre Tonsetzer feiert sich darin gleichsam selbst, mit den nur drei Sätzen seiner 34. Symphonie; und Schubert, dem die Kunst des Salzburger Genies nicht als Blaupause, wohl aber als Leitstern diente, hält mit seiner regelgerecht vierteiligen Zweiten tapfer mit. Zwei unvergleichbare Werke, zugegeben; an diesem Abend aber zeitigen sie trotzdem unverhoffte Korrespondenzen. 24 Jahre alt war der eine Meister, der andere gar unmündige achtzehn, als die Stücke entstanden. Gabriel Venzago, ein wacher, wackerer, emsiger Dirigent mit gelegentlich exaltierter (auch schon mal überladener) Gestik, inszeniert beide als Bekundungen zweier „lachender“, wenn nicht zum „Schäkern“ aufgelegter Gemüter.

     Geradezu pompös hier wie dort die ersten Sätze, denen Venzago einen forsch fordernden, auch triumphalen Gestus aufprägt. Umso anmutiger setzt er in den zweiten – jeweils mit Andante überschriebenen – Teilen einen deutlich heller gestimmten, fast träumerischen Kinderton dagegen. Den Satz Mozarts – als Streichquintett ohne Bläser konzipiert – beschließt er in noch einmal vertiefter Intimität, indem er die Wendungen vor dem Schluss allein von Solomusikern intonieren lässt. Bei Schubert teilt er die Variationen des wiederum nur von Streichern vorgestellten Themas delikat auf die hinzutretenden Orchesterstimmen auf; mithin ergeben sich die Veränderungen, so sehr wie im Motivischen, auch in der Koloristik. Gegen solch seidig weiches Pastell wenden sich die Symphoniker beide Male während der an jeweils dritter Stelle stehenden Allegros blühend und unbändig: In den Finalsatz Mozarts sausen sie geradezu hinein, um ihn, von der „erschütternden“ Pauke, den aktivierenden Trompeten angestachelt, im Geschwindmarsch zu durchmessen. In Schuberts Menuett trumpfen sie fast polternd auf, wenngleich sie sich auch, zwischendurch im Trio, noch einmal an die Empfindlichkeit des vorangegangenen Andantes erinnern. Mozartsche Rasanz kehrt in Schuberts Presto-vivace-Schlusssatz wieder: wirbelnd, wenn auch nicht als Raserei. Denn der Dirigent, bei aller Hurtigkeit, lässt Hastigkeit und Haspelei nicht zu. Stets behält er die Übersicht und weiß für Durchsichtigkeit zu sorgen.

     Schuberts Zweite – ein Jugendwerk? Lange leisteten sich Musikwelt und -kritik den Luxus, sie als begabte Schülerarbeit und Produkt ehrgeizigen Sich-Ausprobierens gering zu achten. In Wahrheit übertrifft sie die Reifeschöpfungen so manchen aktuell gehypten Kleinmeisters bei Weitem. Unfassbar viel hat er komponiert im Lauf seines Lebens, das nur erschütternd kurze 31 Jahre währte, noch einmal vier Jahre weniger als das des nicht minder produktiven Geburtstagskindes Mozart. Muss man viele Werke schreiben, um als großer Komponist zu gelten? Alt werden muss jemand dafür nicht, solange nur sein Schaffen auf Konzertpodien und Tonträgern lebt und webt. Wenn einer, wie der heute 79-jährige Leif Segerstam, 349 Symphonien mit lässiger Hand auswirft wie Saatgetreide, keimt und gedeiht am Ende vielleicht keine einzige davon.

Weitere Veranstaltungen der Hofer Symphoniker: hier lang.



Stege zwischen Fluss und Hügel

Freunde des gepflegten Saitenspiels dürfen sich freuen: Dietmar Ungerank nimmt die von ihm bis 2017 organisierte Reihe der Hofer „Gitarrenhighlights“ wieder auf – vorerst probehalber. Beim Auftakt bekennt sich der Japaner Yoshimasa Yoshida als Verehrer Bachs und gibt dem Gastgeber die Ehre.


Von Michael Thumser

Hof, 24. Januar – Die Gitarre, kein Zweifel, ist seine Leidenschaft. Aber er tut alles, damit man es nicht sieht. Den erfreulich zahlreichen Besucherinnen und Besuchern, die am Sonntagnachmittag in Hof dem Japaner Yoshimasa Yoshida zuhörten und -sahen, leuchtete noch vor den ersten Takten, bei seinen bescheidenen, fast schüchternen Verbeugungen ein, dass da kein rassiger Gitarrero vor ihnen Platz nahm. Der Künstler – vor 61 Jahren in Tokio geboren, in seiner Heimat und Deutschland ausgebildet und in vielen Teilen der Welt unterwegs –, er ist einer der ganz in sich gekehrten Sorte.

     Dass er in die Saiten greife, ist beinah schon zu viel gesagt: kaum dass er sie anrührt, tangiert, betastet und befühlt. Unter den Musikern gehört Yoshida einer betont diskreten, leisen Spezies an. Sobald er, nach wiederholtem, akribischem Stimmen seines Instruments, die ersten Klänge intoniert, zieht sein Körper sich zusammen, kehrt seine Mimik sich ganz ins Innere weg, und das einzige Außen, das sein Blick gebannt erfasst, ist die linke Hand, die am Gitarrenhals die haarsträubendsten Akkorde greift.

„Eine schöne Bilanz“

Zum vierten Mal gastiert er in der Stadt. Eingeladen hat ihn der namhafte Hofer Gitarrist, Komponist und Pädagoge Dietmar Ungerank, wie schon zu den drei Auftritten zuvor; und neuerlich zu einem „Gitarrenhighlight“. Jene unter Kennern hochgeachtete Konzertreihe gab es schon einmal, 25 Jahre lang, bis sie 2017 endete: nach 261 Programmen mit 166 regionalen, nationalen und internationalen Künstlern – eine „schöne Bilanz“, sagt Ungerank mit berechtigtem Stolz. Nun soll, günstigenfalls, die Reihe neu beginnen: Nach dem Start in der – akustisch wie dafür geschaffenen – Kapelle der freikirchlichen Siebenten-Tags-Adventisten will Ungerank den „Versuch“ wagen und probehalber vorerst weitere drei Mal zu intimem Saitenspiel einladen, allerdings nicht mehr, wie einst, an den Freitagabenden der Hofer Symphoniker-Konzerte, sondern an sonntäglichen Spätnachmittagen – wahrlich ein guter Zeitpunkt, um vor dem Ende des Wochenendes lauschend noch einmal zur Ruhe zu kommen.

     Dabei hilft Yoshimasa Yoshida nach Kräften: wohlgemerkt mit stillen, wohldosierten Kräften. Ein Präludium – Vorspiel – steht sinnreich am Beginn seiner Darbietungen, ein Stück, das der polnische Renaissancemeister Jakub Reys alias Polak für die gelinde Laute schuf. Entsprechend versonnen vertieft sich der Interpret in die Mehrstimmigkeit des dezenten Werks, an das er, überraschend stimmig, fast wie eine unumgängliche Fortsetzung Akira Mitakes Miniatur „Kawa no nagare no you ni“ aus dem Jahr 1989 anschließt. Melancholisch singt sich da ein zartes Lied ohne Worte aus.

An der Grenze zur Unspielbarkeit

Als bekennender Verehrer Johann Sebastian Bachs stellt Yoshida gewichtig und ausführlich eine Schöpfung des Großtonsetzers ins Zentrum seines Gastspiels; kein Originalwerk indes, sondern eins für Violine. Von ihm selbst stammt die Bearbeitung der a-Moll-Sonate BWV 1003, und sie ist ihm, wie er lächelnd bemerkt, „sehr schwierig“ geraten. Tatsächlich: eine Version  an der Grenze zur Unspielbarkeit. Sogar ein Könner wie er bringt sie nicht ganz makellos über all ihre fingerverkrümmenden Klippen. Gleichwohl virtuos überträgt er die bereits in der Originalfassung stupende Polyphonie der Sätze auf sein Instrument, schwerblütig im anfänglichen Grave, noch verwickelter in der folgenden Fuge, die er mit verhaltener Geläufigkeit durchquert. Träumerisch erhebt er sodann die Melodie des Andante über den gleichmäßigen Puls einer sacht voranschreitenden Grundlinie, um zu guter Letzt, selbstbewusst im Kontrast dazu, mit dem Final-Allegro einen vergleichsweise beherzten Punkt hinter alles zu setzen. So verbinden sich in Yoshidas Penibilität die seriöse Feierlichkeit der barocken Tonsprache mit der bis heute unüberhörbaren Lust Bachs daran, sie besser beherrscht zu haben als irgendjemand sonst.

     Deutlich berechenbarer, ostentativ traurig schließt sich eine Pièce Astor Piazzollas an, auch ein „Gran Vals“ von Francisco Tárrega, ein (nicht sehr) großer Walzer also, bei dem Yoshida mit einer Spur Schmäh in seinen glissandierten Tönen nicht so sehr an Spanien wie an Wien erinnert. Dann erweist der Interpret dem Gastgeber die Ehre: Den offiziellen Beschluss (vor zwei Zugaben) macht er mit dessen „Intonation und vier Klangbildern“ nach Arbeiten des 1949 in Wuhan geborenen Malers Xiaobai Su. Auf ihre Komposition bereitete sich Dietmar Ungerank durch gründliche Studien chinesischer Musik vor. Die, lässt er das Publikum wissen, habe er sich offenbar so authentisch anverwandelt, dass der Schöpfer der Bildvorlagen beim Hören vermutete: „Das muss von einem Chinesen stammen.“

Doppelte Poesie

Nicht exotistisch, also unstatthaft durch „kulturelle Aneignung“, näherte sich der Komponist dem fremdländischen Idiom. Doch ausdrücklich exotisch, im Sinn von unbekannt, indirekt, verschlüsselt, klingt sein Zyklus in einheimischen Ohren schon. Mit eigens umgestimmter Gitarre meditiert sich Yoshimasa Yoshida durch die Sätze mit ihren sich wandelnden Energiegraden, Stimmungslagen, Artikulationsweisen.

     Ähnlich dem „Klangbild“ Akira Mitakes, dessen Titel übersetzt „Wie das Fließen des Flusses“ lautet, tragen auch hier die Sätze augenfällige Überschriften: „Sich erstreckender Steg mit seinen Schatten“, „Wind auf dem Hügel“ … Die Poesie der Worte stützt die der Klänge. Durch Gleichmaß und Mäßigung, Friedlich- und Stetigkeit  verlocken sie, nicht durch Langeweile oder einen Mangel an Leidenschaft, wohl aber durch die heilsame Wirkung sedierender Monotonie.

Nächstes „Gitarrenhighlight“: Rezital von Anne Haasch am 19. März um 17 Uhr in der Kapelle der Hofer Adventgemeinde.



Mehr Luft

Zu siebt lassen die fabelhafte Blockflötistin Silvia Müller und ein Ensemble nicht nur, aber vor allem aus den Reihen der Symphoniker ihren „Barockfantasien“ freien Lauf. Das Publikum in der ausverkauften Hofer Klangmanufaktur überschüttet die Interpretinnen und Interpreten mit Beifall.


Von Michael Thumser

Hof, 17. Januar – Am Samstag wird das Orchester in den Graben des Theaters Hof hinabsteigen, um dort, bei der Ballett-Premiere mit Igor Strawinskys „Feuervogel“ und „Petruschka“, in voller Stärke Partituren der klassischen Moderne zu intonieren. Zuvor aber, am Sonntag, fanden sich Musikerinnen und Musiker der Symphoniker mit befreundeten Instrumentalisten in der (restlos ausverkauften) Klangmanufaktur zusammen, wo sie im kleinen Kreis ziemlich gegenteiligen „Barockfantasien“ freien Lauf ließen. Zu dem Zweck zogen Wakana und Soshi Nishimura, Maria Kusnezova, Alexander Efimov und Friederike Wilckens Darmsaiten auf Violine, Violone und Viola, Gambe und Cello und nahmen Spezialbögen zur Hand. Selbst das Cembalo, von Christoph Dittmar gespielt, ist der Nachbau eines Originals aus dem siebzehnten Jahrhundert. Mithin alles stilgerecht: „Historisch informiert“ heißt solch traditionsbewusste Aufführungspraxis unter Kennern.

     Mithin darf man die Tonsprache des Konzerts, verglichen mit Strawinskys impressionistischen Farbenspielen und neorussischen Kraftentfaltungen, für weitaus reservierter halten, für schlank, fein, duftig. Freilich vermag sie sich, wenn auch leiser,  durchaus beherzt und affektiv zu äußern, woran die sechs Interpretinnen und Interpreten gleich am Beginn, mit Antonio Vivaldis Opernouvertüre zu „Armida al campo d’Egitto“, keinen Zweifel lassen.

Von der Frühzeit zur Hochblüte

Dann verschlankt sich das Ensemble: Cembalist Dittmar und die Nishimuras mit Gambe und Geige gesellen sich zu Silvia Müller, wobei die fabelhafte Blockflötistin und ihre vielgestaltigen, vielsagend stimmen- und stimmungsreichen Instrumente vom Sopran- bis zum Tenorregister begeisternd die Führung übernehmen. Zwischen der Frühzeit des Barock und seiner Hochblüte, zwischen Girolamo Frescobaldi und Georg Philipp Telemann breitet sich das italienische, franko-flämische und deutsche Spektrum der Epoche an diesem Abend aus. Von unverkrampfter Geläufigkeit voller vergnügter Pointierungen zu geschwungenen Phrasen mit geschmackvollen Rubati oder behut- und bedeutsamen Akzenten reichen die kollektiven Gestaltungsfacetten, von der Transparenz flüssiger Wettläufe bis zum gedankengründelnden Tiefsinn, von geschmeidiger Fließbewegung und vertrautem Sich-Wiegen bis zu offiziöser Förmlichkeit. Wakana Nishimura darf sogar ihrerseits, bei einer Sonate Arcangelo Corellis (opus5/4), mit der bravourösen Technik, den diffizilen Doppelgriffen und wechselnden Temperamenten ihres Geigenspiels als Solistin imponieren. Obendrein erweist sie sich wiederholt als von Grund auf verlässliche Duo-Gefährtin der Flötistin.

     Und wer, wenn nicht eine mit allen Wassern stupender Spieltechnik und kultivierter Expression gewaschene Artistin wie Silvia Müller sollte geeigneter sein, die ursprüngliche, weil genuin ‚hölzern‘ natürliche Klangrede, den naturnahen, gleichsam unverfälschten Tonfall der Blockflöten bis zur Brillanz auszureizen. Mehr Luft als in den metallischeren Silberfarben des substanzhaltigen Querflötentons macht sich in ihm vernehmlich, bei Silvia Müller aber auch eine freie, regsame Bodenständigkeit, die sie zwar immer geschmackvoll zu bändigen weiß. Dennoch versagt sie einer „Diminution“ über Cipriano de Rores gestrenges Madrigal „Non è ch’il duol mi scemi“ einen Zug zur Verspieltheit nicht; Giovanni Bassano ersann diese „Umschreibung“ an der Schwelle der Renaissance zum Barock: Entsprechend sattsam ornamentiert Müller ihren Part durch Triller, Vor- und Nachschläge und sonstige Fiorituren, die den feierlich getragenen Grundgestus des Stücks unterschwellig durch ungeduldige Eiligkeit hintertreiben.

Doppelt pfiffig

Unmittelbar darauf – und ohne dem Publikum, das die Darbietungen mit Beifall überschüttet, ein Applaus-Päuschen zu gönnen – schließen die Musikerinnen und Musiker die „Aria sopra ‚La Bergamasca‘“ an: Als Teil einer Sonate schuf Marco Uccellini jene Passacaglia, während der sich Müllers Flötentöne doppelt pfiffig über einer unveränderlichen Basslinie der Gambe erheben - ebenso hell und klar wie unternehmungslustig und gewitzt.

     Noch einmal treten alle sieben Interpreten geschlossen vors Auditorium, jetzt um mit Hoch- und Nachdruck Antonio Vivaldis c-Moll-Konzert opus 44/19 zu intonieren. Mehr Luft, noch mehr: Rätselhaft bleibt, auf welche Weise die unermüdliche Flötistin sie in den Ecksätzen schöpft, in denen sie – wie auch in Johann Pachelbels zugegebenem „Canon“ – die bei Weitem geschwindesten Passagen eines Abends absolviert, der schon zuvor mit sportlichen Bestleistungen nicht geizte. Graziös, fast zierlich, nie geziert heben und senken sich die Finger in Windeseile an den Grifflöchern – die sichtbare Beweglichkeit einer Musik, die sich mit der unsichtbaren des Atems zu unbändiger Lebenskraft vereint.

Weitere Kammerkonzerte der Hofer Symphoniker: am 26. März um 18 Uhr mit der Latin Band des Orchesters und am 29. Juni um 19.30 Uhr mit dem Atrium-Bläserquintett.


Weihnachten, auch zwischendurch

Mit den vier Entertainern von Viva Voce haben die Symphoniker eines der vitalsten A-cappella-Ensembles seiner Art in Hof zu Gast. Unter Carolin Nordmeyer verwandeln sich die Musikerinnen und Musiker einen triumphalen Abend lang in so etwas wie das „Upper Franconian Pops Orchestra“.


Von Michael Thumser

Hof, 17. Dezember – Dass der Heiligabend am 24. Dezember zelebriert wird und viele sich „weiße“ Weihnachten wünschen: Das hat alles rein gar nichts mit dem Ursprung des Fests zu tun, der Geburt Jesu irgendwann ums Jahr eins herum im heute palästinensischen Westjordanland. Zwar wollen die vier Herren von Viva Voce niemandem hierzulande die Festfreude verderben; im Gegenteil: Vor einem restlos begeisterten Jubel-Publikum im restlos ausverkauften Festsaal der Hofer Freiheitshalle feierten sie am Donnerstag „Weihnacht, dass es kracht“. Aber in einem ihrer Lieder fragen sie dann doch: „Warum nicht einfach mal am 7. Mai oder am 19. April / bei nem alten Freund vor der Türe stehn / mit Kerzen und Geschenkpaket.“ Da kann man nur zustimmen: „Jetzt ist die Zeit, wos jeder tut, / doch nicht nur jetzt tut so was gut.“ Wär Weihnachten nicht auch mal was „für zwischendurch“?

     Also macht das so expressive wie artistische A-cappella-Quartett aus Ansbach gleich eingangs seinem Ensemblenamen Viva Voce – Es lebe die Stimme – alle Ehre, indem es das Leben als solches hochleben lässt: „Viva la vida“. Ein schwungvolles, aber auch paradoxes Entree: bedeutet doch a cappella so viel wie „ohne Begleitung durch Instrumente“; daran ist nicht zu rütteln. An diesem Abend aber rütteln die vier Stimmkünstler daran und lassen sich von den Hofer Symphonikern begleiten. Zum in jeder Hinsicht Außerordentlichen ihres Auftritts gehört obendrein, dass eine der noch immer viel zu wenigen Dirigentinnen das Orchester leitet: Carolin Nordmeyer am Pult agiert agil, anpassungsfähig, mit der leutseligen Coolness einer Bigband-Leiterin. In dem sich die Musikerinnen und Musiker mit prunkvollen Farben und erlesenen Klangeffekten mächtig ins Zeug legen, bewähren sie sich gut zwei Stunden lang als so etwas wie das „Upper Franconian Pops Orchestra“.

„Glücksbringer“

Solch eine akustische Kulisse steht den Viva-Voce-Vieren zwar mal hier, mal da, aber nicht eben oft zur Verfügung, und sie nutzen die seltene Gelegenheit mit sichtlicher Lust. Als „Glücksbringer“ bauen sie in ihre Confèrencen und Liedtexte, in die ausgefuchsten Arrangements und ausgelassenen Aktionen so manchen possierlichen Witz ein. Freilich gehört zum „Heiteren“ der deutschen Weihnacht das „Besinnliche“ untrennbar auch. „Die Gedanken sind frei“, postulieren sie darum beherzt im alten Volkslied, als geschähe es absichtsvoll mit Blick auf die gegenwärtig bedrohte Demokratie und vielerorts scheiternde Presse- und Meinungsfreiheit.

     „Freiheit ist das höchste Gut“ heißt denn auch der Kern-„Gedanke“ eines eigenen Songs, für den die Interpreten, im Orchester sich verteilend, jeweils die Stimmgruppe aufsuchen, die ihnen zukommt: David Lugert mit unangestrengt strahlendem Tenor als Leadsänger und Chef-Entertainer; Heiko Benjes mit seinem in staunenswerter Klarheit zu Kellertiefen absteigenden Bass; der kurze, doch Comedian-tisch umso höher begabte Bastian Hupfer; und Andreas Kuch. Als begnadeter Beatboxer wird er später den Mund mit dem Rappeln und Prasseln, Klopfen und Klirren eines kompletten Drumsets voll nehmen, um damit ein fulminantes Schlagzeug-Solo hinzulegen.

Keine Angst vor Pathos

In einer Variante des berühmten pachelbelschen Kanons stattet die Truppe dem Allmächtigen ihren innigen Dank ab: „Du bist da“. Ohne Angst vor Pathos intoniert sie desgleichen Leonard Cohens „Halleluja“ im akustischen Überwältigungsformat, und auch die ursprüngliche Innigkeit des 170 Jahre alten Advents- und Wallfahrtslieds „Maria durch ein Dornwald ging“ pumpt sich, aus den Tiefen des Kontrafagotts emporwachsend, alsbald vollorchestral auf: Weihnachts-Weihe in pompöser Übergröße. Als Solidaritäts-Appell für „Zeiten, in denen vieles anders geworden“ ist, schuf das Quartett vor Kurzem erst das Wohlfühllied „Halt mer zam“; während es das offizielle Programm vor den Zugaben beendet, wiegen sich im Publikum zig leuchtende Handys an gereckten Armen.

     Aber zu viel Ergriffenheit muss auch nicht sein. Als Gute-Laune-Nummer entpuppt sich „Frosty“, mag der Kinderscherz auch im Orchester zunächst schicksalsschwanger wie eine „James Bond“-Titelmelodie anheben. Den vorweihnachtlichen Familienbeschluss „Wir schenken uns nix“ führt Viva Voce sarkastisch in die absehbare Bescherungskatastrophe (weil irgendeiner dann doch „was hat“). Unvorhergesehen indes verläuft die Kontaktaufnahme der vier mit Zuhörer Gerhard in Reihe eins: Über dessen Beschreibung seiner häuslichen Heiligabendgestaltung kreieren sie den wunderlichen circle song „Vanilleschnitzel aus Bayreuth“; den gibt es, weil improvisiert, nur dies eine Mal zu hören, nur hier und jetzt.

Lauter Liebe mit den Beatles

Nicht bloß für Weihnachten, sondern ebenso „für zwischendurch“ eignen sich ein großes Liebeslieder-Medley, dann, gleichfalls mit reichlich Spielwitz in Bewegung versetzt, ein Querschnitt durch große Beatles-Songs. Da lehnt sich, bei Celine Dions „My Heart will go on“ aus dem Kino-Blockbuster „Titanic“, Carolin Nordmeyer mit ausgebreiteten Armen traumselig gegen die Brüstung ihres Dirigentinnenpults wie einst Kate Winslet gegen die Bugspitze der Reling; und das verrückte „Yellow Submarine“, gerade übermütig in See gestochen, taucht Minuten später in orchestraler Apotheose schon wieder  auf: „All you need is Love“. Damit ist, so kurz vor Heiligabend, das Wichtigste über das Fest der Liebe schon gesagt.


Dürfen wir die Russen mögen?

Tschaikowsky, Glasunow, Prokofjew: In Selb reich beklatscht, überraschen die Hofer Symphoniker unter Daniel Spaw mit einem Programm, das weitgehend Musik aus Putins Reich enthält. Als einfühlsam-virtuoser Cello-Solist ist Friedrich Thiele dabei.


Von Michael Thumser

Selb, 26. November – Dass die Philharmoniker im walisischen Cardiff Anfang März, drei Wochen nach dem Ausbruch von Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine, Peter Tschaikowskys Ouvertüre „1812“ vom Konzertprogramm nahmen, das konnte man verstehen: wird in dem kanonendonnernden Schlachtengemälde doch ein triumphaler Sieg der russischen Armee verherrlicht. Dass aber zugleich auch die „Dornröschen“-Suite des Komponisten und seine zweite Symphonie dran glauben mussten, durfte man schon damals für fragwürdig halten. Ähnliche Entscheidungen trafen zur selben Zeit und später auch andere Veranstalter, auch hierzulande. Müssen wir die Russen hassen? In der von barbarischen Angriffen überzogenen Ukraine selbst hat die Regierung am 19. Juni neben dem Import von Büchern auch Musik aus Russland weitgehend verboten: Sie könne, so das Argument, auf „separatistische Stimmungen einwirken“ und überhaupt die Bevölkerung verführen, sich irgendwie russisch zu fühlen.

     Alles Unsinn. Nicht der entmenschte Kriegsherr, wohl aber sein Land zählt zu den führenden Kulturträgern auf Erden, dank einzigartiger Leistungen seiner Sprach- und Ton-, Bild- und Bühnenkunst. Was wäre die geistige Welt ohne Zelebritäten wie Tolstoi und Dostojewski, ohne Borodin und Rachmaninow, Mussorgski und Prokofjew … ? Als die Hofer Symphoniker die Werkfolge für ihr Konzert am Donnerstag im Selber Rosenthal-Theater beschlossen, ließen sie sich auf törichte Verdikte nicht ein: Musik dreier herausragender russischer Meister überwog bei weitem; schwer vorstellbar, dass sich dadurch auch nur einer unter den gut 250 ausgiebig applaudierenden Besucherinnen und Besuchern im Saal in seiner Solidarität mit den geschundenen Ukrainern angefochten sah.

Ein Ende mit Schrecken

Immerhin der Auftakt des Abends könnte eine Veto formulieren – mit Musik von Jean Sibelius. Immerhin schuf der finnische Nationalmusiker mit seiner „Finlandia“ 1900 gleichsam die Freiheitshymne für sein Land, das sich russischer Unterdrückung zu entwinden suchte. In Selb aber dirigiert Daniel Spaw die nicht weniger stimmungsvolle, politisch jedoch neutrale Suite, die der Tonsetzer 1898 aus seiner Bühnenmusik zum Schauspiel „König Christian II.“ des Schweden Adolf Paul destilliert hat. Die Liebesgeschichte eines gekrönten Haupts und eines schlichten Mädchens – tragisch geht sie aus, versteht sich: Ein Ende mit Schrecken gar bereiten ihr die Symphoniker.

     Allerdings führt der Dirigent – der in Bad Reichenhall als Generalmusikdirektor amtiert und zuvor am Theater Hof als Erster Kapellmeister wirkte – keine szenische oder gar theatralische Musik auf. Um Plastizität wiederum ist es seinem eifrigen, geradezu anschiebendem Dirigat schon zu tun. Auf die emotionalen und atmosphärischen Ingredienzien der fünfteiligen Partitur konzentriert er sich. Die schwebende Schwermut des zartfühlenden, im Klang gleichwohl weiträumig gesteigerten „Nocturnes“ zu Beginn intensiviert er in der folgenden „Elegie“ zu ernster Melancholie, die sich sodann, namentlich durch die Wendigkeit der Holzbläserinnen und -bläser, unbeschwert zur „Musette“ auflöst. Erst in der „Ballade“ als dem Finale erinnert das bis in die Kleindetails engagierte und akkurate Orchester an Sibelius’ grimmige Naturinszenierungen in etlichen seiner sieben Symphonien: schlimmes Wetter über wilder Landschaft. Da ließ sich zuvor die „Serenade“ beschaulicher an; wenn auch nicht so honigsüß wie die gleichnamige Miniatur Alexander Glasunows, die das Programm später für vier Minuten unterbricht, mittendrin, wie eine zu früh angestimmte Zugabe.

Mozarts Geist

Solch tändelnde Sorglosigkeit scheint ähnlich auch Peter Tschaikowskys „Rokoko-Variationen“ zu beseelen, das populärste Werk des sonst mit Raritäten aufwartenden Abends. Mozartscher Geist schwebt über dem Thema, das die Symphoniker, dem Werktitel gemäß, mit einem Gestus ausdrücklich diesseitiger Koketterie intonieren. Darauf lässt sich auch der erst 26-jährige Friedrich Thiele als Solist gern ein, freilich mit seriöser Hochkonzentration. Denn der Künstler, der seit dem vergangenen Jahr in Dresden die Cellogruppe der Sächsischen Staatskapelle anführt, weiß, dass er es mit einem im Ausdruck fordernd mannigfaltigen, spieltechnisch anspruchsvollen Part zu tun hat. In keiner Hinsicht bleibt er ihm etwas schuldig. Sein Ton, kraftvoll straff, in wechselnden, dabei stets angemessenen Amplituden schwingend, taugt für Läufe so gut wie für weite Sprünge, für satte Doppelgriffe wie für Pianissimo-Flageoletts in höchsten Lagen.

     Seiner gespannten Mienen ungeachtet bekundet er Spaß an der Sache durch ein halbsekundenkurz-freches Glissando hier, dort durch den übermütigen Sprung des federnden Bogens von einer Saite. Die leidenschaftliche Kadenz in ihrer kontrastierenden Düsternis durchquert der Interpret mit so viel kämpferischer Attacke wie passioniertem Schmachten; und zieht sich, zum guten Schluss, am eigenen Schopf aus der Schwarzmalerei wieder heraus: Die letzte der sieben Variationen verwandeln Thiele, Spaw und das Orchester in eine wirbelnde Burleske.

     Was aber ist das für ein Werk: ‚nur‘ eine launige Folge von Fantasien zu einer Idee; oder nicht doch insgeheim ein ausgewachsenes Cellokonzert? Und worum handelt es sich bei Sergej Prokofjews Sinfonietta: um eine flockig-bunte Suite oder doch um eine Art von wohldisponierter Symphonie, sozusagen um die (später zwei Mal überarbeitete) ‚Nullte‘ des imponierend frühreifen Achtzehnjährigen? In Selb erklingt sie als lose Folge von fünf Charakterstücken, die sich dennoch zum Kreis schließen: Denn der Schlussteil nimmt die Thematik des ersten wieder auf.

Poesie und Ruppigkeit

Irgendwo zwischen dem unverkrampften Spieltrieb von „Peter und der Wolf“ und der avancierten Symphonik des Komponisten mit ihrer eigentümlichen Verflechtung von volkstümlicher Poesie und expressiver Ruppigkeit verortet der Dirigent das in allen Zügen inspirierte Werk. In den transparenten Interaktionen der Symphoniker beleuchtet Daniel Spaw das juvenile Vergnügen Prokofjews am blühenden Einfall, seine innovative Besitznahme konventioneller Formen und Modelle, seine originelle Instrumentation. Sowohl Momenten der Schwelgerei wie der Dissonanz belässt er ihr Recht, auf die für diesen Komponisten bezeichnenden Ostinato-Figuren und die Brüche zwischen hell und dunkel gehen die Musikerinnen und Musiker wach und wissend ein, auf gewaltame Ausbrüche und abrupte Klangschärfen nicht anders als auf bändigende Gastspiele reiner Tonalität.

     Was nun also: Suite oder Symphonie? Jugend- oder Reifewerk? Gleichviel. Wer sich im Februar pauschalisierend veranlasst sah, alle Russen aller Zeiten unter Generalverdacht zu stellen, lernt sie in Musik von solcher Art als friedfertig unternehmungslustig, gutartig zugewandt, burschikos und pudelwohl kennen. So, ohne Geschützdonner und Triumphsignale, wünschen wir sie uns. So sollen wir sie mögen.

■ Das Konzert wurde am Freitag in der Münchberger Mehrzweckhalle wiederholt.
■ Das Rosenthal-Theater im Internet: hier lang.
■ Die Hofer Symphoniker im Internet: hier lang.



Menschen- und Engelszungen

Die „Vier EvangCellisten“ heißen jetzt „projects4cellos“. Weiterhin aber stehen sie für den klassischen Wohllaut tiefergelegten Saitenspiels. In Hof erfüllen die vier streichfeinen Herren etliche „Opern-“ und zwei „Operettenträume“.


Von Michael Thumser

Hof, 22. NovemberIdentitätsprobleme kennen die Herren nicht: Wenn sie gemeinsam streichfein musizieren, sind sie ganz bei sich und einig miteinander. Nur können sie sich wohl noch nicht so recht entscheiden, wie sie heißen: Als „Die vier EvangCellisten“ haben sich Markus Jung aus Hof und Mathias Beyer, Lukas Dihle und Hanno Riehmann bekannt gemacht, seit sie 2008 als Absolventen die Weimarer Musikhochschule verließen; der kalauernde Name verdankt sich weniger religiösem Missionsehrgeiz als dem Umstand, dass ihre Vornamen jenen der biblischen Jesus-Biografen Markus und Matthäus, Lukas und Johannes entsprechen. Vor allem für Konzerte in Kirchen wurden und werden sie bislang gebucht, wozu die oft engelszarte Innerlichkeit ihrer Interaktionen gut passt. Aber freilich gastieren sie ebenso gern an säkularen Schau- und Hörplätzen, weswegen sie nun auch – und künftig wohl vor allem – als „projects4cellos“ unterwegs sind.

     Entsprechend weltlich gings am Freitag in Hof zu, wo das Ensemble seit Jahren „Cello-Tage“ ausrichtet (und 2024 zum achten Mal dazu einladen wird). In der Klangmanufaktur der Symphoniker neben dem Theater eröffnete es die neu installierte Kammerreihe des Orchesters, indem es achtzig Minuten lang „Opernträume“ wahrmachte. Dafür dankte das etwa achtzigköpfige Publikum mit so unablässigem Applaus, dass ihm das Quartett noch zwei lehársche Operettenträume nachreichte. Von George Bizets hitziger Heldin „Carmen“ mit dem unsteten Herzen bis zu Ruggero Leoncavallos „Bajazzo“, dem traurigsten Clown der Musikbühne, arbeitet es sich durch die potenzierten Gefühle der Gattung. Das heroische Pathos, den Ton hoher Ritterliebe in Richard Wagners „Tannhäuser“ scheut das Quartett so wenig wie die „flüchtigen Tränen“, die in Gaetano Donizettis „Liebestrank“ leichtherziger fließen oder die Schwermut in George Gershwins „Summertime“ mit seiner schwülen Entsagungsmelodie über satt auf und ab wehenden Akkorden.

Vierfältig tiefergelegt

Geschmackvoll verschlanken die Interpreten in den Arrangements von eigener und fremder Hand die Weiträumigkeit der Oper, ihren Drang nach hochoffizieller Bekundung zur kultivierten Selbstbescheidung der Kammerkunst, das volle Werk des tutenden und blasenden Theaterorchesters zähmen sie durch ihren ungemischten, von Haus aus tiefergelegten, vervierfältigten Saitenklang. Sonor, zwar nicht gleichmäßig beherzt, aber immer wechselvoll das Zusammenspiel; ein paar harmonische Verstimmungen und verzitterte Töne gefährden die naturgegebene Sanglichkeit ihrer Celli nicht. Die übertrifft noch jene der Violine und nähert sich an die des Saxofons, der Klarinette an. Mit Umsicht und viel Rücksicht aufeinander teilen die Interpreten die identischen Lagen ihrer Instrumente untereinander auf: Im steten Fluss tritt hier einer, dort ein anderer mit dem Part des Sängers, der Sängerin hervor oder legt den Bass als Grundhalt fest oder fügt sich als eine der Zwischenstimmen ein, als flirrendes Füllsel oder mit tropfendem Pizzicato oder einer individuellen Linie.

     Direkt aufs Herz zielen die vier in der zweiten Hälfte des Programms und treffen mit Musik Giacomo Puccinis mitten hinein: mit Evergreens aus „Bohème“, „Tosca“, „Turandot“ … Nicht das ‚ganz große Kino‘ eines von Träumen, Tränen und Übertreibungen triefenden Gefühlstheaters wollen sie inszenieren; sie erschließen, indem sie die Einfallskraft des Melos, den harmonischen Überfluss der Stücke reduzierend auf ihre wenigen gleichberechtigten Instrumente übertragen, die unerschöpfliche Stimulation und das edle Sentiment des großen italienischen Opern-Impressionisten mit einer ihnen ganz eigenen Tiefenwirkung. Man mag Puccinis Emotions-Entladungen für Schmonzetten halten; oder, wie hier, für die Inspiration eines warmen, auch mal glühenden Gemüts.

■ Nächstes Konzert des Ensembles in der Region: 30. September 2023, Selb, Rosenthal-Theater, Präsentation der neuen CD zum fünfzehnjährigen Bühnenjubiläum (in Planung)
■ Das Ensemble im Internet: hier lang.
■ Nächstes Kammerkonzert der Hofer Symphoniker in der Klangmanufaktur: 14. Januar 2023, 19.30 Uhr, Silvia Müller und das Hofer Barockensemble.


Klassik aus dem Jazzclub

Erst 24 Jahre alt und schon ein Star des Saxofons: Die Symphoniker, neuerlich – und wieder akribisch – von Daniel Dendievel geleitet, haben bei ihrem dritten Hofer Konzert die Britin Jess Gillam als phänomenale Solistin zu Gast.


Von Michael Thumser

Hof, 15. November – Schwer zu sagen, was das genau ist: typisch deutsche Tonkunst, oder echt französische Musik, oder der unverkennbare Sound der Vereinigten Staaten. Das Saxofon, zum Beispiel, machte sich zunächst vornehmlich in der populären US-Musik heimisch, wenngleich ein Belgier, Adolphe Sax, es erfunden, damit in Frankreich ein Patent erworben und es in Paris produziert hatte. Das prominenteste klassische Solokonzert fürs Instrument schrieb allerdings ein Russe, Alexander Glasunow, und ein Franzose, Jacques Ibert, widmete ihm ein gleichfalls bedeutendes (italienisch betiteltes) „Concertino da camera“. Von einem Amerikaner wiederum stammt das Saxofonkonzert, das am Freitag in Hof beim dritten Konzert der Symphoniker erklang und mit dem eine noch fast mädchenhafte Britin das Publikum in der Freiheitshalle zu einem Sturm der Begeisterung hinriss.

     John Adams entwarf es vor zehn Jahren und teilte mit, der Solopart möge nicht, wie von „klassischen Saxofonisten normalerweise, im französischen Stil mit schnellem Vibrato“ gespielt werden, „sondern im lockeren, rauen Stil eines Jazz-Interpreten“. Den Wunsch erfüllt Jess Gillam liebend gern und mit koketter Coolness. In ihrem königsblauen Hosenanzug und mit den glitzernden Dr.-Martens-Tretern könnte die 24-Jährige statt auf dem Podium des Festsaals genauso gut in einem gepflegten Jazzclub auftreten, erst recht mit ihrer jazzig angeschnittenen Intonation und den fiebrig-forschen Phrasen, den Drahtseilakten auf weitgespannten Spannungsbögen und den synkopisch vorwärtsgeschobenen Akzenten. Amerikanisch klingen die überwiegend rabiat rasanten, in Motivik und Rhythmik brachial zerrissenen, im Gestus radikal unsteten Sätze durch ihren swingenden Grundtonus, der sich in den unnachgiebig gemeißelten Skalen, den unberechenbaren Intervallsprüngen im Spiel der brillanten Interpretin ebenso mitteilt wie im lässigen Tänzeln, dem burschikosen Wippen ihres Körpers.

Rhapsodische Sprach-Melodie

Mit so viel Durchschlagskraft wie Delikatesse folgt Jess Gillam dem allezeit veränderlichen Stimulus der Partitur, ihren Reizen und Provokationen. Virtuos wuchtig, gegebenenfalls im Stillen und Verborgenen forschend, gibt sich ihre jugendliche Grandezza, ihr ausgereifter Geschmack der Musik hin – und immer auch dem gewaltigen Anteil, den das extrem herausgeforderte, von Martijn Dendievel fast übergenau geleitete Orchester daran hat. Beide Seiten treffen sich in einer staunenswerten Akkuratesse der unabsehbar permutierenden Rhythmik, auch in den (leider nicht sehr vielen) atmosphärischen Zwischenepisoden, die von Celesta, Harfe und Piano magisch angereichert werden. In ihnen gedeiht dann auch der primär eloquente Grundzug des Saxofons am schönsten: seine rhapsodische Mitteilsamkeit, Erzählkraft, Sprach-Melodie. Von eben der breitet Gillam – „um die aufgepeitschten Gemüter wieder runterzubringen“, wie sie sagt – noch eine wunderbare Strecke aus, solistisch und in tiefem Frieden; namenlos diese Zugabe, womöglich eine (extrem verschleierte) Fantasie über George Gershwins Song „Someone to watch over me“ – jedenfalls ein Moment aus Samt und Seide.

     Aus Amerika, schon dem Namen nach, kommt ebenfalls das kurze Orchesterstück, mit dem der Gastdirigent aus Belgien den Abend eingeleitet hat. „Bostoniana“ heißt es, Jacques Ibert schrieb es, vom Boston Symphony Orchestra beauftragt, ursprünglich als ersten Satz einer ganzen Symphonie. Auch hier: Musik, die wie ein tätlicher Angriff beginnt; mit Schüssen und Signalen aus Pauken und Trompeten scheinen sich die Symphoniker auf tumultuarische sechseinhalb Minuten einzustellen. Bald aber zähmt Daniel Dendievel die Schärfe durch kammermusikalische Sanftheit, die sich unter den Streichern zuerst, dann auch unter den Holzbläsern verbreitet, bis das Blech einen strahlend insistierenden Chor daraufsetzt. Kein Tumult, sondern klassische Moderne in heimlicher klassizistischer Ordnung: Hätte der 1962 gestorbene Tonsetzer die übrigen Sätze fertiggestellt – was wäre daraus für eine grandiose Symphonie erwachsen? Iberts Hauptwerk wahrscheinlich.

‚Typisch französisch‘ mit etwas Wagner

Was wurde für eine grandiose Symphonie daraus, als der in Belgien geborene, zur Hälfte von Deutschen abstammende Franzose César Franck daran ging, sein orchestrales chef d'œuvre zu kreieren: Das d-Moll-Opus ragt als ein Hauptwerk aus der französischen Musik des neunzehnten Jahrhunderts heraus, der debakulösen Uraufführung zum Trotz, die 1889 im Unverständnis der Zuhörenden und in Kollegen-Häme unterging. Dendievel, nach der Pause, lässt die Symphonie sozusagen doppelt beginnen: Zur unheilvollen Ruhe und zu den chromatisch gespannten Intervallen der Introduktion setzt er nach einer sehr langen, bodenlos tiefen Pause neuerlich an, um das ganze dynamische Spektrum der Passage vom sinistren Piano zum hochfahrenden Fortissimo mit den Musikerinnen und Musikern noch einmal zu durchqueren.

     Bis in die randständigen Details hat er die Symphonie feinsinnig ausgeklügelt und mit dem Orchester detailliert ausgeprobt, um sie als Monumentalwerk zu inszenieren, ‚typisch französisch‘, aber mit untergründiger Affinität zu Richard Wagners ‚typisch deutscher‘ Klang- und Ausdruckssphäre. Einen ernsten bis grimmigen Schicksalston verleiht der Dirigent dem Kopfsatz, eine Unerbittlichkeit, die er auch in milderen Passagen nicht beschönigen mag. Bereits hier baut er mit dem Schluss eine machtvolle Apotheose auf, der er dann freilich, mit dem Allegretto des Mittelsatzes, eine Art pastoralen Marsch entgegenstellt, mit exquisitem Englischhornsolo über Streicherpizzicati. Die solcherart bezeugte Überzeugungskraft der Emotionen nimmt er ins Finale mit, in dem er den Vollton des ersten Satzes noch steigert, gleichwohl ohne Verluste an formaler Plastizität. Die neuen Themen mischt er mit Reminiszenzen aus den vorangegangenen Teilen, kontrapunktisch eng geführt, aber keineswegs hermetisch, vielmehr durchhörbar transparent – eine Verschmelzung von Feierlichkeit und Optimismus.

Wie eine stillschweigend stimmige Fußnote geben Dendievel und die Symphoniker eine „Erhebung des Herzens“ zu: Die Miniatur widmete ein flandrischer Komponist 1917 seiner während des Ersten Weltkriegs gestorbenen Frau – eine schlicht anrührende Liebeserklärung und -verklärung. Das Publikum, bewegt, feiert den Dirigenten und die Symphoniker für das große wie das kleine Werk: „Welch herrlicher Wohlklang“ – soll César Franck die Uraufführung seiner Symphonie (ihren Misserfolg unbeirrt weglächelnd) kommentiert haben – „und welch begeisterte Aufnahme!“

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Zwölf Töne im Wurmloch

Kompositionen aus den USA, dazu Musik nicht nur mit einer Frau, sondern sogar von einer: Die Symphoniker wagen bei ihrem zweiten Hofer Konzert ein Programm mit Überraschungseffekt und Seltenheitswert.


Von Michael Thumser

Hof, 24. Oktober – Braucht Musik eine Gebrauchsanweisung? Durch Antonín Dvořáks Violinkonzert, zum Beispiel, finden sich Klassikfreundinnen und -freunde ohne vorherige Belehrung leicht hindurch. Aber auch durch Andrew Normans „Unstuck“ von 2008? Wer da nicht allein hören, sondern obendrein verstehen will, ist für eine Anleitung vorweg womöglich dankbar.

Zwei Mal war Hermann Bäumer, conductor in residence der Hofer Symphoniker, am Freitag mit Vorabinformationen dienlich, erst im Konferenzbereich der Freiheitshalle während der Einführung zum zweiten Symphoniekonzert des Orchesters, dann, wenig später, am Pult im Festsaal, bevor er den Taktstock für Normans Komposition hob. Zehn Minuten dauert sie; sechzehn Minuten nimmt sich der Dirigent, um dem Werk ein bildkräftiges Programm zu unterlegen. Auf ein solches verzichtete sein heute 43-jähriger Schöpfer allerdings, und so hat denn auch Bäumers Inhaltsparaphrase im Grunde nichts damit zu tun.

    „Unstuck“ verdankt sich, wie der Komponist wissen ließ, einer Schaffenskrise, einer Schreibblockade und ihrer nach Monaten unverhofften, offenkundig extrem ruckartigen Lösung. „Unstuck in time“: Aus der Zeit gefallen, ungebunden und aller Zwänge ledig, befreit sich die Musik, die Hermann Bäumer, um es dem Publikum möglichst leicht zu machen, vorher humoristisch als Reise durchs All umschreibt. Mittels kurz angespielter Motive beschwört seine Fantasie ein „Raumschiff“, dessen „Astronauten“ und ihre Bedrohung durch „Asteroiden“ herauf, in einem „Wurmloch“ lässt er Konservendosen klappern und aus einem „Gasnebel“ eine Zwölftonleiter entweichen. Wirklich fand Andrew Norman, eigenen Worten zufolge, schon als Kind zum Komponieren, durch John Williams und dessen imposante „Star Wars“-Filmmusik.

Schrecksekunden nach dem Urknall

Aber hilft das weiter? Dem Publikum fliegt „Unstuck“ förmlich um die Ohren. Ein Urknall scheucht es mit der allerersten Schrecksekunde auf und setzt sich als Kesseltreiben von lauter Motivfetzen fort, als explodierendes, kreischend schneidendes, rumpelnd ratterndes Ideenmosaik von lichtgeschwinder Hektik: kein Zuwachs, gleich Zenit. Mögen auch hier und da ein paar Mahler-Akkorde, Schostakowitsch-Melismen, John-Adams-Wendungen aufschimmern oder -blitzen – gleich hauen die Schlagwerker sie krachend wieder in Trümmer. Bäumer entfesselt ein Inferno der Dekonstruktion, undurchschau- und undurchhörbar in seinem Gefüge, das die Sinne nicht anregt oder herausfordert, sondern plattwalzt; bis plötzlich drei Cellisten sinistre Ruheflächen entrollen. Aus ihren Saiten entfleuchen am Ende mit leisesten Hochtönen die Reste des Raumschiffs ins Zwielicht und Dunkel eines kosmischen Nichts. Den Beifall des Publikums darf man mindestens ebenso für ein Signal erlösten Aufatmens wie für eine Einverständniserklärung halten.

     Um die aufgepeitschten Gemüter mit den Empfindsamkeiten stimmungsvoller Romantik zu besänftigen, treten sodann nacheinander zwei Frauen an. Die eine der Damen weilt unter den Lebenden, und wie: Die Geigerin Antje Weithaas will äußerlich und innerlich keine Ruhe geben. Mit extravagantem Sich-Winden, -Drehen und -Zusammenkauern ihres Leibes frönt sie dem Violinkonzert Dvořáks; zugleich wählt sie ein Spektrum hart potenzierter Klänge, mit dem die renommierte Künstlerin das weitgehend lyrisch gestimmte Opus zumindest in Teilen um sein beseeltes Sentiment bringt. Gleich am Beginn des ersten Satzes mangelt es Weithaas an Akkuratesse, und für die vom Komponisten großartig ausgearbeitete Sanglichkeit ihres Parts wendet sie nicht so sehr Glanz und Schmelz wie Druck und Schärfe auf. Im Adagio nimmt sie immerhin den forcierten Ton zurück, überdeckt allerdings die Poesie des Satzes mit der Passioniertheit eines genussfähigen, gleichwohl nie vollends sich entspannenden Temperaments. Im Finale endlich passen die Verve ihres – technisch nun restlos konsolidierten – Spiels und der tänzerische Schwung des Allegros perfekt zusammen. Das Publikum jubelt und erhält zum Dank den dritten Satz aus der ersten der anspruchsvollen sechs Solosonaten Eugène Ysaÿes geschenkt: Dicht, dabei leicht und transparent entwickelt die Geigerin die komplexe Mehrstimmigkeit; formales Verständnis und spielerische Fertigkeiten verschmelzen zu fünf Minuten exzellenter Musikalität.

     Die andere Dame, eine US-Amerikanerin, starb bereits 1953, dreizehn Jahre vor Antje Weithaas’ Geburt. Florence Price kämpfte sich durch als eine von nicht eben vielen Komponistinnen, deren Fraktion neben der horrenden Überzahl ihrer männlichen Kollegen noch immer gern für eine exotische Minderheit gehalten wird; noch dazu als person of colour: Die Symphonie einer schwarzen Frau, von einem der großen US-Orchester dargeboten – das hatte es bis zur Uraufführung ihrer Ersten, 1933 durch das Chicago Symphony Orchestra, nicht gegeben.

Das kenn ich doch ...?

‚Modern‘ mochte Florence Price nicht schreiben, im Gegenteil. Das kenn ich doch, mag sich manch eine und einer im Hofer Festsaal denken, der während der ersten Takte gleich noch einmal an Dvořák denkt – an die berühmte Neunte „Aus der Neuen Welt“. Schnell freilich entpuppt sich Prices Werk unter Hermann Bäumers respektvollem Dirigat als durchaus eigenständige Eingebung: Tonsprachlich zwar schöpfte die Komponistin, unter ihren Zeitgenossen nicht eigentlich zeitgemäß, ganz aus dem Reservoir der Hoch- und Spätromantik – gleich weit entfernt von Andrew Norman wie etwa von George Gershwin –; doch verfuhr sie weitaus konsequenter mit den folkloristischen Anklängen sowohl an die Musik der nordamerikanischen Indigenen als auch an die Gesänge der eigenen Vorfahren, der schwarzen Sklaven.

    Energisch und subtil breiten die Symphoniker den individuellen Ton und autarken Formentwurf, die inspirierte Ursprünglichkeit der vier Sätze aus. Satte, dabei vor allem herbstlich gedeckte Farben mischen sie im moderaten Anfangs-Allegro, als wollten sie einen indian summer illustrieren. Indem die Blechbläser im anschließenden Largo wiederholt eine kernige Choralmelodie hymnisch intonieren, gemahnen sie wie in einer feierlich voranschreitenden Prozession an Kirchenfeiern an der evangelikalen US-Ostküste – oder doch an die frommen Lieder auf südstaatlichen Baumwollfeldern? Vollends den schwarzen Amerikanern widmet das Orchester den kurzen „Juba“, einen in Westafrika wurzelnden, von Trommelei gehörig durchschütterten Tanz, der in Prices ganz und gar ‚klassischer‘ Symphonie das andernorts übliche Menuett ersetzt: volksfestliche Unterhaltungsmusik mit Anleihen beim Ragtime und abschließendem Knalleffekt. Luftig wirbelnd setzen die Musiker mit dem – gleichfalls knappen – Presto-Finale den schmissig-behänden Schlusspunkt.

     Musik des zwanzigsten Jahrhundert; doch in diesem traditionsbewussten Fall braucht sie kein Vorwort und keinen künstlichen roten Faden. Aber kommt sie immer ohne Gebrauchsanweisung aus? Nie schmeichelt aktuelle Tonkunst von Belang sich vordergründig ‚eingängig‘ ein, geschweige denn gefällig, simpel, narrensicher. Wahrscheinlich aber gelingt auch sie am ehrlichsten, wenn sie sich dem Hörer, wie auch immer, mitteilen, öffnen, anvertrauen will.

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Auf die Liebe ist Verlass

Mit einem stimmlich feinen, inhaltlich fein abgestimmten Konzertprogramm feiert der Kammerchor Hof seinen 25. Geburtstag. In Sätzen aus sechs Jahrhunderten beschwört das hochkarätige Ensemble, von Instrumentalisten unterstützt, das innigste der Gefühle zwischen Himmel und Erde.


Von Michael Thumser

Hof, 11. Oktober„Ubi caritas et amor“: Mit dem liturgischen Wechselgesang aus dem achten Jahrhundert, modern gefasst von Maurice Duruflé, beendet in St. Marien der Chor der Dresdner Frauenkirche sein Gastspiel – etwa in dem Moment, da derselbe lateinische Text, hundert Meter entfernt, auch in St. Lorenz erklingt. Dort hat der Kammerchor Hof sein Programm mit Morten Lauridsens Vertonung des uralten Textes sogar umrahmt: „Ubi caritas et amor, Deus ibi est“, Wo sich Wohltätigkeit und Liebe finden, da wohnt Gott. Zwei Konzerte hochkarätiger Vokalensembles im nicht eben großstädtischen Hof beinah zur selben Zeit: Wer eine „Liebe“ für Chormusik hegt, wird solches Zusammentreffen kaum als kulturelle „Wohltat“ empfinden, eher als Totalfiasko einer gescheiterten Terminplanung.

     Schade. Denn die Damen und Herren des Kammerchors, als eine der unzweifelhaft herausragenden Formationen ihrer Art in Oberfranken, hätten wahrlich ungeteilte Aufmerksamkeit verdient. Mit dem wie immer anspruchsvoll abgestimmten Programm – und wie immer von Wolfgang Weser vortrefflich einstudiert und bescheiden angeleitet – begeht das ehrgeizige Ensemble seinen 25. Geburtstag. Amor und caritas: Den Mitgliedern geht es nicht um Geld und Ehre; sie investieren ihre Musikalität, Zeit und Ambition in ihre Liebe zur Tonkunst, und das Ergebnis ist einmal mehr eine Wohltat für Ohr, Gemüt und Geist.

Von Mensch zu Mensch

Lauter „Lieder von Hoher Liebe“ enthält die Werkfolge, die denn auch sinnvoll unter einem sprichwörtlichen Titel steht: „Herzlich lieb hab ich dich“. Mit diesen Worten beginnt im Konzert, zügig als fromme Ergebenheitsadresse angestimmt, eine geistliche Motette von Heinrich Schütz; so auch beginnt im Alten Testament der Bibel der achtzehnte Psalm, der auch gleich mitteilt, wer als das „Du“ zu denken ist: der „Herr, meine Stärke“. Ganz so eindeutig und ausschließlich aber will es der Kammerchor nicht haben. Die „Hohe Liebe“ schließt jene von Mensch zu Mensch für ihn mit ein, wie für die Bibel auch. Dort, im vorgeblich von König Salomo höchstselbst gedichteten Buch des „Hohen Lieds“, lechzt die hinreißende Sulamith, „Tochter aller Wonnen“, nach den Küssen ihres Liebhabers („süßer als Wein“); er wiederum, vernarrt in die „roten Bänder“ ihrer Lippen und in ihre Brüste („wie die Zwillinge einer Gazelle“), macht sich auf den Weg zu ihrem „Myrrhenberg“, zum „Weihrauchhügel“. Alle Wetter - unverblümte Erotik, reichlich explizit; dem Judentum fiel es ein, die 2300 Jahre alten Texte aus dem fürstlichen „Lustgarten“ umzudeuten in Verbundenheits-Bekenntnisse zwischen Jahwe und seinem gottgläubigen Volk.

     Mithin finden beide Spielarten, himmlische und irdische Liebe, ausgiebig Platz während eines klingenden Streifzugs durch gut fünf Jahrhunderte, von Ludwig Senfl über Duruflé bis Samuel Barber. In Edvard Griegs sanft passioniertem „Wie bist du doch schön“ lassen Matthias Grübls solistischer Bariton und der Chor den „Gottessohn“ und Sulamith in einem Ton unwiderstehlicher Verliebtheit zu Wort kommen. Indem sie die Reibeklänge der verwickelten Harmonien auskosten, verleihen sie der Wechselrede des Werbelieds eine nicht unfromme, freilich sehr kreatürliche Begehrlichkeit.

     Ähnlich in „Shall I compare“, einem Sonett, das der Wunsiedler Philipp Riedel vertonte (dessen Sololied hat Wolfgang Weser mehrstimmig arrangiert). Da „vergleicht“ der Dichter, William Shakespeare, seine Angebetete mit einem schier überirdischen Sommertag, dessen endlose Ungetrübtheit sich trefflich in der Stimme der Sopransolistin Judith Schnabel spiegelt. Die vokale Schwärmerei unterbrechen die Instrumentalpartner des Kammerchors mit einer ausführlichen Passage besonders ausgewogenen Wohllauts: Julian Chang als grandioser Oboist und die Geigerin Wakana Nishimura, Tamara Melikian und Natsuna Arakai an Cello und Kontrabass, dazu Dorothea Weser am Orgelpositiv begleiten etliche Chorstücke und fügen zwischen ihnen in einmütiger Konzentration Werke von Josef Rheinberger, Johann Ludwig Krebs und Georg Philipp Telemann ein. So versehen sie den Abend mit einem willkommenen Rhythmus zwischen gesanglicher Anspannung und instrumentaler Rast.

Abschied von einem „Schatzmeister der Musik“

Trotzdem: „Die ganze Welt erfreut mich nicht“, heißt es pessimistisch in Schütz’ „Herzlich lieb“-Motette. Noch todtrauriger versenkt sich der Chor in Melchior Francks frühbarocke, schwarztragische Sterbeszene des biblischen Stammvaters Jakob. Als letzte Steigerung schließen die Vokalisten endlich einen Trauergesang des noch einmal fast 130 Jahre älteren Josquin des Prez an: In dessen „Nymphes des bois“ beklagen sie den Hingang des verehrten Johannes Ockeghem; während das Gros des Ensembles in sachter Bewegung noble Trübsal verströmt, trägt in der Mitte des Kirchenschiffs eine separierte Gruppe den cantus firmus bei: ein „Requiem“ zum Abschied von einem „Schatzmeister der Musik“.

     Besagtem Melchior Franck räumen die Sängerinnen und Sänger auch die dreiteilige Schlussstrecke ihrer Darbietungen ein, deren zwischen Transzendenz und Diesseits weitgespannte Vielfältig- und Vielgestaltigkeit sie dabei greifbar zusammenfassen. Zu einem Höhepunkt schwermütiger Klangschönheit formen sie die Liebesklage „Ach, wie empfindt mein Herze“ aus – und lassen reizvoll in der Schwebe, ob das „Du“ der Verse im Himmel oder auf der Erde wohnt. Umso unmissverständlicher beschwören sie in „Wiewohl ich arm und elend bin“ eine „Hoffnung“, die „von Gott bescheret“ ist. Dazwischen indes, in „Ich sucht des Nachts in meinem Bette“, geht es unverhofft amüsant zu: In raschen, kurzen Silben, ungeduldig plauderhaft, als gälte es eine Anekdote auszuschmücken, erzählen sie, wie der berückenden und beglückenden Sulamith aus dem „Hohen Lied“ ihr leistungsstarker Lover abhandenkommt; freilich nicht für lang: Auch auf seine Liebe ist Verlass.

     Da darf sich, während des kaum enden wollenden Schlussbeifalls, das etwa hundertköpfige Publikum neuerlich belustigt fragen, wie solch ein Buch wohl Eingang in die Bibel fand.

■ Sein nächstes Konzert in Hof gibt der Kammerchor am 14. Mai 2023.
■ Der Kammerchor Hof im Internet: hier lang.




Universell einsetzbar

Fünf Ärzte füllen das Kurhaus in Bad Steben mit Hunderten Besuchern, aber nicht, weil sie Tipps für die Gesundheit gäben: Als Blechbläserquintett sind sie unterwegs und nennen sich Brassmatiker. In Bad Steben geben sie ein Benefizkonzert zugunsten hilfsbedürftiger Familien und ernten stehende Ovationen.


Von Michael Thumser

Bad Steben, 11. Oktober – Der Asthmatiker hat wenig Grund zum Lachen. Und zu wenig Luft zum Atmen. Beides lässt sich den Brassmatikern, der absichtsvollen Ähnlichkeit des Wortes ungeachtet, nicht nachsagen. Die Instrumente, die sich die Herren für ihr Hobby aussuchten, verlangen eine Menge Puste, spannungsvolle Lippen, flinke Zungen und die Bereitschaft, ordentlich die Backen aufzublasen. Allerdings lassen die Fachrichtungen, in denen die fünf Doktoren der Medizin tätig sind, das nicht gleich ahnen: Dominik Scheruhn, einer der Trompeter, praktiziert als Orthopäde in Hof; der andere Trompeter, Henning Büscher, bohrt sich in Neuhaus am Inn durch ruinöse Zähne; desgleichen der Tubist Benedikt Wittmann aus Prien am Chiemsee; zur Tuba kleineren Formats greift gelegentlich auch Posaunist Bernhard Frey, der sich als Allgemeinarzt in Rosenheim niederließ; ins Horn stößt schließlich Christian Albert, Kinderarzt aus Ravensburg. Wenn die Brassmatiker in zwei Jahren ihr 25. Gründungsjubiläum feiern, wollen die über ganz Bayern verstreuten Bläser zum Festkonzert auch wieder in Hof zusammenkommen.

     In Bad Steben spielten sie jetzt so, dass es 440 Zuhörerinnen und -hörern eine helle, mit schallendem, schließlich stehendem Applaus quittierte Freude war. Restlos vollbesetzt der schöne Große Saal im Kurhaus; per Video- und Tonanlage musste die Musik in den nüchterneren kleinen Saal daneben übertragen werden. Schließlich wollte man niemanden nach Hause schicken, schon aus Gründen der Höflichkeit; doch auch im Interesse des guten Zwecks. Denn zwar kostete das Benefizkonzert – zugunsten der in Reitzenstein bei Issigau ansässigen Therese-Stöcker-Stiftung – keinen Eintritt, doch was das Quintett, buchstäblich den Hut hinhaltend, an Spenden zusammenbrachte, kommt ohne Abzüge bedürftigen kinderreichen Familien in der Region zugute.

Wie Hund und Katz

Grund zum Feiern also. Sogar einen veritablen „Karneval in Venedig“ entfesseln die Künstler, als sie, mit Henning Büscher als atemberaubend virtuosem Solisten, zu schier atemlosen Variationen über das italienische Volkslied „O mamma, mamma cara“ ansetzen. Hierzulande ist die Melodie als Kinderlied in Dauerschleife weitaus bekannter: „Ein Mops kam in die Küche“. Da darf dann auch, gleich im Anschluss, eine ausgemachte Katzenmusik nicht fehlen: „Mr. Jums“, der erste Satz aus Chris Hazells „Brass Cats Suite“, hält, was Büscher versprochen hat - er greift als „superschöne Schnulze“ ans tierliebe Gemüt.

     Schon den Anfang hat Büscher meisterlich bestritten: Beim Kopfsatz aus Johann Sebastian Bachs zweitem „Brandenburgischen Konzert“ ließ er schmissig die Trompete in höchsten Tonlagen tanzen. Als Gegenentwurf, unmittelbar danach, das „Air“, dem Wortsinn nach der ‚Luft-Gesang‘, aus Bachs h-Moll-Orchestersuite, ausdrucksvoll vertraulich – denn damit bringen die Musiker einem ungenannten weiblichen Fan im Saal „ein Ständchen“ zum dreißigsten Geburtstag. Überhaupt Bach: Der sei, sagt Dominik Scheruhn, „universell einsetzbar“.

     Etwa dreihundert Jahre ist sein „Air“ alt: wahrlich keine Weltpremiere. Eine Uraufführung gibt es in Bad Steben gleichwohl auch. Denn die Brassmatiker erfüllten sich („endlich“, sagt Scheruhn) den verständlichen Wunsch nach einer Erkennungsnummer, die sich speziell auf sie bezieht. Von Hans Zellner, dem versierten Arrangeur der „Harmonic Brass“, ließen sie sich darum ein Medley durch populäre Weißkittelserien des deutschen Fernsehens anfertigen, vom „Landarzt“ bis zu den „Freunden fürs Leben“. Das klingt dann, je nach Schauplatz der Handlung, mal behaglich („Die Schwarzwaldklinik“), wenn nicht gar mit Ironie betulich („Der Bergdoktor“), mal geht der Sound, wie der „Medicopter 117“, actiongeladen in die Luft.

Festlichkeit und Rüpelei

Über ehrgeiziges Liebhaberniveau reicht das Können der tutenden und blasenden Ärzte beträchtlich hinaus. Kaum eine spieltechnische Hürde, die zu überwinden sie nicht leichtblütig bis -sinnig Anlauf nähmen. Manchmal wackelt ein Ton, kippelt ein Zusammenklang; aber „Wir geben nie auf“, versichert Dominik Scheruhn. Und die bedrohlichen Dissonanzen am Anfang und Ende der – mit mondäner Melancholie intonierten – Titelmelodie zum James-Bond-Abenteuer „Skyfall“, die stehen genauso in den Noten. Aus den vielfach haarigen Kurven trägt der Schwung das Ensemble nie; bei Harry Decostas „Tuba Tiger Rag“ absolviert selbst Benedikt Wittmann mit dem größten, indes nur scheinbar ungelenken Instrument auf der Kursaal-Bühne bravourös einen riskanten Solo-Hindernislauf.

So seriös Kunst und Können des Quintetts sich auch anhören, immer mischt es dem Goldglanz und der Festlichkeit, die seinen Instrumenten naturgegeben sind, ein Quäntchen (oder auch ein bisschen mehr) von der Rotzfrechheit und dem Hang zur Rüpelei bei, die zum Blech gleichfalls gehören. Selbst in Bachs Musik: Wenn sich die fünf, mit Geschmack, Impulsivität und, im Mittelstück, sogar klagender Reserve, drei Ausschnitte aus seinem „Wohltemperierten Klavier“ vornehmen, dann klingt das spätestens am Schluss fast wie ein Jazz-Standard aus dem hitzigen New Orleans. Waren sie da mal? Vielleicht. In Amsterdam jedenfalls konzertierten sie bereits, der Hofer Scheruhn, als Mitglied des Weltärzteorchesters, bereiste auch schon San Francisco und will im übernächsten Jahr, dem des 25. Brassmatiker-Jubiläums, in Sydney dabei sein. Medizinische Musiker wie er und seine vier Gefährten ähneln Bach auf ihre Art: Wie er sind sie universell einsetzbar. Ihnen gehen weder Lust noch Luft aus. Nur: Warum spielt kein Lungenarzt in ihrer Truppe mit?

Die Brassmatiker im Internet: hier lang.



Bis die Nacht vorüber ist

In Waldsassen lassen der Deutsche Ärztechor und das Bayerische Ärzteorchester lichtvoll den Tag anbrechen: Beim Gastspiel der Internationalen Gluck-Festspiele in der Basilika erklingt Mendelssohns Chorsymphonie „Lobgesang“ und löst optimistisch die Düsternis eines reumütig vorangestellten Bußpsalms auf.


Von Michael Thumse
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Waldsassen, 8. Oktober – Nichts hat der Reformation des Dr. Luther so in die Hände gespielt wie die Erfindung des Buchdrucks. Von 1517 an ging der zu allem entschlossene Mönch Martinus daran, dem römischen Katholizismus ein allein auf das Wort der Bibel gegründetes Christentum entgegenzustellen; und um die Ideen und Thesen, Argumente und Polemiken seiner Lehre in Windeseile weit und breit unters Volk zu bringen, kam ihm die revolutionäre, seit etwa 1440 marktreife Erfindung des Johannes Gensfleisch alias Gutenberg gerade recht: Weil Texte fortan mithilfe beweglicher metallener Lettern und einer Presse vervielfältigt werden konnten, ließen sich Luthers Schriften vergleichsweise blitzschnell und in hohen Auflagen publizieren. Die Reformation war eine Epoche der Aufklärung.

     Dem überzeugten Protestanten Felix Mendelssohn Bartholdy boten die offiziellen Feiern zum 400. Jubiläum des Buchdrucks 1840 einen schönen Anlass, den von den Konfessionen seither heiß umstrittenen Gott ausführlich zu lobpreisen: Seine sogenannte zweite (der Chronologie nach vierte) Symphonie, ein Auftragswerk der Buchmessestadt Leipzig, schloss er nach drei Orchestersätzen mit einem ausführlichen Kantaten-Finale ab. Auf ehrfürchtige Texte der Heiligen Schrift und den Choral „Nun danket alle Gott“ des Lutheraners Martin Rinckart komponiert, betitelte er das Großwerk glorifizierend schlicht „Lobgesang“. 

Ein Akt der Ökumene

Wenn die optimistische Schöpfung in einer katholischen Kirche erklingt, gar in einer „päpstlichen Basilika“ wie jetzt in jener von Waldsassen, dann kann es sich bei solchem Zusammentreffen nur um zweierlei handeln: entweder um ein vielleicht kühnes, vielleicht versehentliches Paradox; oder, wofür mehr spricht, um einen Akt zeitgemäßer Ökumene – besagter umstrittene Gott ist ja doch für beide Konfessionen ein und derselbe. In Waldsassen kam zum spirituellen ‚guten Zweck‘ noch ein weiterer, pragmatischer hinzu: Der Deutsche Ärztechor und das Bayerische Ärzteorchester – zwei Laien- und Projektensembles von hohem Eigenanspruch – stellen den Erlös des Konzertes und zweier weiterer, in der Benediktinerabtei Plankstetten bei Berching in der Oberpfalz und in der Nürnberger Gustav-Adolf-Gedächtniskirche, für den Erhalt der Gotteshäuser zur Verfügung. „Lob“ verdienen mithin die Interpreten selbst.

     Michael Hofstetter, der Dirigent, steht als Intendant den in Nürnberg ansässigen, indes reisefreudigen Internationalen Gluck-Festspiele vor, in deren Rahmen die drei Gastauftritte stattfanden. Vehement und punktgenau, auch für die Zuhörenden und -schauende auf Anhieb verständlich und also erhellend, leitet der schlanke, straffe, bewegliche Künstler die großen Ensembles. So eingehend hat er mit den Instrumentalistinnen und Instrumentalisten geprobt, und so genau achten sie jetzt auf seine Weisungen, dass nicht nur der markante Anfang, bei dem Posaunen das Leitmotiv der Symphonie machtvoll intonieren, mit einer Aufwallung von Zuversicht gelingt. Ebenso setzt das Orchester in den Durchführungsteilen klug und unübertrieben fesselnde Akzente, dehnt Spannungsflächen aus und löst sie, sachter, wieder auf. 

Eintracht im Ausdruck

Hörenswert differenziert Dirigent Hofstetter zwischen den Klangfarben der alternierenden Streicher-, Blech- und Holzbläserchöre, was auch, nach sublimem Übergang, dem sacht sich wiegenden, melancholisch fast walzernden, von schmelzenden Klarinetten- und Oboen-Soli eröffneten zweiten Satz zugutekommt. In kissenweiche Ruhe betten die Musiker, allen voran die Streicher, dann das Adagio durch extrem gebundene Legato-Strecken – der Satzbezeichnung zufolge ausdrücklich ein Adagio religioso

     Im Anschluss, während der gut vierzig-minütigen Kantate, darf das Religiöse kulminieren, aber das Adagio-hafte, die ruhige Langsamkeit, muss weitgehend weichen. Aufs Neue lässt der Dirigent Schwung holen, sowohl das Orchester als jetzt auch den Chor. Beide Ensembles, wiewohl mit Laien besetzt, beweisen eine Qualität, die (ohne im Einzelnen ganz makellos zu sein) deutlich über das Format ehrgeiziger Amateure, erst recht über das von dilettierenden Liebhabern der Tonkunst hinauswill und -gelangt. Denn noch in den rhythmisch heiklen, nicht zu unterschätzenden Partien des oft emphatischen, in zentralen Passagen empfindsamen Werks bleibt unter den Sängern wie den Orchestermusikern fester Zusammenhalt bestehen und Eintracht auch im Ausdruck stetig spürbar. 

     Der stark hallenden Akustik des weitläufigen Kirchenschiffs ist geschuldet, dass die Sängerinnen und Sänger dem Publikum die Texte kaum verständlich machen können. Folglich obliegt es erst recht ihren vokalen Fähigkeiten, Stimmungen und Gehalt der Chorsätze mitzuteilen, was ihnen mit dringlicher Aussagekraft gelingt. Triumphal entfesseln sich die Stimmen im Schlussteil, durch dessen Maestoso sich von selbst versteht, was gemeint ist: „Danket dem Herrn und rühmt seinen Namen […] Alles, was Odem hat, lobe den Herrn!“ Ein „Lobgesang“, wahrlich: „Halleluja“.

Zwei Stimmen, ganz bei sich zu Haus

Umso subtiler finden Textklarheit und bewegend bewegte Gesangslinien bei den Solistinnen zusammen. „Ich harrete des Herrn, und er neigte sich zu mir und hörte mein Flehn“, versichern einander im Duett die Sopranistin Julia Kirchner und ihre Mezzo-Kollegin Vero Miller, freilich nicht mit dem Ton banger Ungeduld oder gar Verzweiflung, sondern endlich gefundener Erlösung. Zwei helle, feste, gleichwohl schmiegsame Stimmen: Die eine etwas höher, die andere ein wenig tiefer timbriert, wissen sich beide ganz zu Hause in der angesagten Ton- und Stimmungslage. Mit einem wohllautend gepflegten und dramatischen, leider über der Mittellage durch einen Bruch wie in zwei Teile zerfallenden Tenor sehnt sich Ludwig Probst nach Licht „in der Finsternis“. Beklommen fragend ruft er wiederholt dem „Hüter“ zu: „Ist die Nacht bald hin?“ Bis ihm Julia Kirchner strahlend antwortet: „Die Nacht ist vergangen …“ und der Chor gewaltig zustimmt: „… der Tag aber herbeigekommen. So lasst uns anlegen die Waffen des Lichts.“

     Welches Lichts? Das der Reformation? Der Aufklärung? Des ewigen Jenseits? Das Diesseits hingegen kann einem gerade ziemlich verschattet erscheinen. Weil Zeiten wie diese nicht so sehr nach Jubelchören verlangen, haben Chor und Orchester das Konzert mit dem 130. Psalm der Bibel eröffnet, einem Bußpsalm: „De profundis clamavi ad te, domine“, Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu Dir. Wie viele andere Tonsetzer hat ihn auch der Namenspatron der in Waldsassen gastierenden Festspiele, Christoph Willibald Gluck, vertont; bei seiner eigenen Totenmesse, 1787, erklang seine Fassung zum ersten Mal. Ein unscheinbares Werk, ein düsteres – in der Basilika begleiten es „aus der Tiefe“ ausschließlich dunkel tönende Instrumente, und auch der Chor koloriert es wie schuldbewusst in reumütig gedämpften Farben. Mendelssohns komplexe Polyphonie fehlt, ebenso jede Verwicklung der Textzeilen. Gluck war Katholik, und doch wirkt die Motette in ihrer Anspruchslosigkeit, als folgte sie asketisch der Lehre Martin Luthers: Ganz auf den Wortlaut kommt es an.

■ Die St.-Michaelis-Kantorei und die Hofer Symphoniker führen Mendelssohns "Lobgesang" am Samstag, dem 15. Oktober, in der St.-Michaelis-Kirche in Hof auf; Beginn: 19 Uhr.
■ Nächstes Konzert in der Basilika Waldsassen: Sonntag, den 6.November, 16 Uhr, Großes Herbstkonzert, Ludwig van Beethoven, Messe C-Dur opus 86; Chor der Basilika Waldsassen, Chor Rastislav Blansko, Orchester Czech Virtuosi; Leitung: Andreas Sagstetter.
■ Weitere Konzerte in der Basilika: hier lang.



Ein Fremdling überall

Christopher Park und Johannes Wildner, der eine als Klaviersolist, der andere als Dirigent vom Publikum gefeiert, eröffnen die neue Konzertsaison der Hofer Symphoniker mit einem hochromantischen Programm. Leitmotiv ist das Wandern: „des Müllers Lust“, des Einsamen Leid.


Von Michael Thumser

Hof, 27. September – Angeblich taten es die Müller mit Vorliebe; das weiß jeder Freund deutschen Liedguts: „Das Wandern ist des Müllers Lust“, behauptet ausdrücklich Franz Schubert in seinem Zyklus „Die schöne Müllerin“. Auch Stromer und sympathische Tagediebe waren, gerade im Zeitalter der Romantik, nicht abgeneigt, etwa Joseph von Eichendorffs „Taugenichts“, der singend und geigend wohlgemut und weiträumig durch die Lande streift. Als in Hof, am Freitag im Festsaal beim Start der Symphoniker in die neue Hofer Konzertsaison, Dirigent Johannes Wildner den Auftakt für Schuberts „Wanderer-Fantasie“ gab, da klang auch das nicht nach bedrücktem Abschiednehmen eines einsam Insichgekehrten, sondern kurzangebunden wie die Aufforderung zu einem schmissigen Tanz. So hat der Komponist sich das wohl vorgestellt: gut gelaunt, unternehmungslustig. Con fuoco, feurig, überschrieb er den Beginn.

     Der Komponist? Die Komponisten. Schubert hat 1822 sein Großwerk – in der notorisch ‚positiven‘ Grundtonart C-Dur – dem Soloklavier zugedacht. Für unspielbar hielt er es selbst, anders als Franz Liszt: Der ließ sich von der Klangfülle des Originals sogar anregen, eine Fassung mit Orchester herzustellen. Auch Christopher Park hat das berüchtigt knifflige Werk, in beiden Versionen, virtuos in den Fingern. Wenngleich ihm hier ein Lauf ein wenig fahrig, dort ein weich-leiser Akkord etwas brüchig gerät – das Publikum feiert ihn zu Recht für die enorme Leichtigkeit seines insgesamt eminent emotionalen Spiels, das wohl die Gewichtig-, nicht aber die Schwierigkeit des Stücks gelten lässt. In dessen durchkomponierter Großform reihen sich unterscheidbar vier divergierende Abschnitte aneinander, wobei Park wohlweislich der Versuchung widersteht, sich in ihnen so zu exponieren, als hätte er es sozusagen mit Franz Schuberts ungeschriebenem Klavierkonzert zu tun. Wohlweislich fügt er sich lieber als Erster unter Gleichen in den symphonischen Prozess ein, den Dirigent Wildner und das Orchester plastisch entfalten.

„Des Fremdlings Abendlied“

Gesammelt und gespannt, eilig begeistert brechen erst das Orchester und gleich danach Christopher Park auf zu ihrem Ausflug ins Freie. Später, im Presto des Scherzo-Teils, entfesseln sie „Müllers Lust“ herausfahrend und meißeln im Final-Allegro das Fugenthema wie in Feldgestein – ein Fußmarsch auf festen Sohlen. Auch schon mal auf allzu festen: Dumpf schollerts aus dem Inneren des Flügels, wenn Park gewaltsam aufs Pedal stampft, statt schonungsvoll mit ihm zu füßeln. Was nicht bedeutet, dass ihm nicht auch die melancholische Meditation läge: Im Adagio, der ausführlichsten und gedanklich zentralen Etappe der Fantasie, zieht er sich ganz ins Innere des nun gottverlassenen, menschenscheuen „Wanderers“ zurück. Ihm hatte Schubert schon 1816 in einem gleichnamigen Lied eine Stimme verliehen, Verse vertonend, die Georg Philipp Schmidt von Lübeck 1808 als „Des Fremdlings Abendlied“ erstmals veröffentlichte. Nicht als leichtsinniger Tourist ist darin der Grenzgänger unterwegs, auch nicht als geduldeter Gast, sondern als Ungekannter: „ein Fremdling überall“.

     Erst einmal schweigt nun das Orchester, der Interpret allein intoniert mit Grabesschwere und gramvoller Langsamkeit die todtraurige Weise („Ich wandle still, bin wenig froh“). Das lyrische Ich überlässt sich seinem Weltschmerz und sagt sich selber: „Dort wo du nicht bist, dort ist das Glück.“ Als dann die Instrumente wieder dazutreten, sucht und findet das Klavier verständnisvolle Reisebegleiter in Solocello und -horn. Momente wunderschöner Niedergeschlagenheit, zugleich geheimnisvoll und schattenhaft, fast schaurig: eine bemerkenswerte Mischung. Noch einmal meliert sie Park: In Franz Liszts zugegebener Transkription des schubertschen „Erlkönigs“ gewinnt er aus ihr in packender Hast den Fiebertraum eines todgeweihten Kindes in einer von Nacht- und Sturmgespenstern durchspukten Natur.

     Kann es, nach solcher Leiderfahrung, das „hoffnungsgrüne“, das gelobte und „geliebte Land“ noch geben, nach dem der Fremdling sich in von Lübecks Versen sehnt? „Immer fragt der Seufzer: Wo?“ Johannes Wildner antwortet: In Anton Bruckners vierter Symphonie. Der Komponist selbst nannte sie „die Romantische“; gleichsam naturnah, freilich nicht naturschwärmerisch stellt sie der Dirigent dar und macht jeden ihrer berückenden Reize bewusst. Seine Tempi wählt er, zumal gleich zu Beginn, verhalten. Umso zeremoniöser geraten, über zart-vagem Streicher-Flimmern, die vierfältigen, fürs Werk insgesamt leitmotivischen Rufe der Hörner, die in allen vier Sätzen eine zentrale Rolle spielen. Zwar können sie nicht immer so, wie sie gern wollen: Mancher herausgehobene Ton wackelt. Für den Wohllaut vieler ihrer Aktionen aber haben sie sich trotzdem die Extra-Bravos beim überhaupt immensen Schlussapplaus verdient.

Pathos und Poesie

Leichtherzig, dann wuchtig blüht die Musik im Kopfsatz auf – und erweist sich in ihrem pathetisch-poetischen Gestus wie in ihren ausufernd differenzierten Klangmassen schnell als übergroß für den arg begrenzten und niedrigen Festsaal. Der Dirigent aber, der das unnachgiebig, dabei durchweg flexibel, kontraststark, ja konfliktbereit musizierende Orchester ohne Partitur anleitet, macht gleichwohl das Beste daraus: etwas wirklich Gutes. Unprätentiös und nach außen hin sachlich hält er die Zügel in der Hand, auch in Momenten exaltierter Hochdramatik ohne eine sichtbare Spur von zweifelnder Unruhe des Gemüts. Im Auf und Ab der bald pulsierenden, bald breit wogenden An- und Entspannungen geht ihm der Zusammenhalt der Form so wenig verloren wie die Übereinstimmung zwischen den Instrumentengruppen. Gemütvolles Melos tritt bei Wildner in sein Recht, langt allerdings immer irgendwann am bedrohlichen Rand eines Abgrunds oder am Fuß einer schroff blockierenden Mauer an. Ominös reist eine Generalpause das Geschehen klaffend auf, nur schmal von zweifelhaftem Paukengrummeln überbrückt. Dann wieder predigen die Choräle der Bläser feierlich eine Heilsbotschaft

     Auf die tragische Ruhe des Trauermarschs zu Beginn des zweiten Satzes entgegnen die Bratschen mit salbungsvollen Andachtsworten. Aus der Schmerzenstiefe jenes Andantes reißen die Symphoniker das Publikum mit der aufgeräumten Jagmotivik des Scherzos heraus. Wie ein Verhängnis wiederum ballen sie das Finale zusammen und laden es in mitreißendem Ereignisreichtum widerstreitend mit Affekten aller Art auf, die sie während der aufgewühlten Ent- und Verwicklungen durchdiskutieren und, während der Schlusswendungen, zum Einklang bringen. Eine Apotheose; aber keine gutgläubige Verherrlichung von Gottes freier Natur, blauem Himmel, durchsonnter Welt. Es ist, als ließe der Dirigent immer mal wieder den Wanderer Franz Schuberts, den Fremdling des Gedichts durch die Klangvorhänge linsen, Brecht zitierend: „Glotzt nicht so romantisch!“

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