Im Rosenbett
Hof, 10. Oktober 2024 – Das Theater Hof ehrt verdientermaßen den weithin unterschätzten Komponisten Engelbert Humperdinck: Statt mit dessen one hit wonder „Hänsel und Gretel“ führt Regisseurin Tamara Heimbrock mit dem kaum bekannten Singspiel „Dornröschen“ einfallsreich ins grimmsche Märchenland.
Von Michael Thumser
Keine Rose ohne Dornen.
Im Theater Hof heißt die Rose Röschen, kann aber, der Verkleinerung zum Trotz, als ausgewachsene Kratzbürste ihre royalen Eltern gehörig piesacken. Fünfzehn Jahre wird die Prinzessin gerade, als man ihr eröffnet, es sei an der Zeit, den Prinzen vom Nachbarreich zu ehelichen. Zwangsheirat unter Minderjährigen? So zeitnah aktuell ist die Produktion nicht. Im Märchen werden Jungs und Mädels früh erwachsen, bleiben gleichwohl Kinder und leben in traumhafter Unschuld miteinander, bis dass der Tod sie scheidet. Obendrein kann der Anwärter sich sehen lassen: Minseok Kim als Prinz Reinhold erglüht mit seinem tapferen Tenor als sympathisch stiller Herzensbrecher. Obwohl unbewaffnet, bringt er den Mut auf, für die Hand der ihm unbekannten, weil seit hundert Jahren schlummernden Braut unangenehme Prüfungen und Verführungsversuche zu überstehen, namentlich den Kampf gegen eine bühnenhohe, buchstäblich übergriffige Rosenhecke, mit der Stefanie Rhaue als gewiefte Dunkel-Fee Dämonia ihn einzuwickeln trachtet.
Für mich solls rote Rosen regnen.
Zwar rieseln für Prinzessin Röschen die Rosen nicht vom Himmel, verflechten sich aber festlich zu schier endlosen Girlanden. Ausstatterin Jeannine Cleemen vermied es, Engelbert Humperdincks wenig bekanntes Singspiel „Dornröschen“ aus dem Jahr 1902 allzu simpel beim Titel zu nehmen und es in einen idyllischen Rosenhag einzubetten. Stattdessen fügte sie aus Kulissenelementen und zwei Türmchen ein weißes „Strahlenreich“ mit kobaltblauem Tapeten- oder Porzellandekor zusammen. Seine Fantastik unterstreicht es dadurch, dass es mit Treppchen und Stufen-Motivik ein bisschen an die irrealen Stiegenhäuser des Zeichners Maurice Escher und ihre Unendlichkeits-Imaginationen gemahnt.
Es ist ein Ros entsprungen,
… aber nicht „aus einer Wurzel zart“. Wiewohl schmuck und zierlich, entwischt Röschen den Eltern und deren polternden Bändigungsversuchen als das, was man zur Entstehungszeit des Singspiels einen „Wildfang“ nannte: Hyperaktiv und ungezogen, trotzig und eigensinnig tanzt die hinreißende Anna Krasnoselskaya dem regierenden Papa auf der hoch getragenen Nase herum. In seinem „Strahlenreich“ geht es schnell mal drunter und drüber. Thilo Anderssohn als König Ringold versucht blasiert, den Ton anzugeben, was dem in all der Helligkeit eher unterbelichteten Regenten nur gegen Widerstände gelingt. Als er und Gattin Armgart (Malgorzata Kusmierz) wie an einem Firmament als Mond und Sonne aufgehen – umfunkelt vom Chor als irrlichterndem Sternengeschwader –, zeigt sich, wie schief der Haussegen im vermeintlich siebten Himmel hängt: Er solle, mault sie, endlich „abnehmen“, er droht ihr stänkernd mit „Sonnenfinsternis“. Auf dem Kopf des Monarchen erhebt sich derweil schwankend die Sichel des Erdtrabanten, dem Scheitel der Königin entsprießen pfeilspitz und goldblitzend im Halbkreis die Strahlen des Zentralgestirns – „Dornröschen“ in Hof ist die Apotheose des Kopfputzes.
Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose?
Nicht in diesem Fall. Denn zwar taucht Röschen in dreierlei Gestalt auf, nicht indes immer als dieselbe. Mit der Titelrolle der widerspenstigen höheren Tochter allein lässt es Anna Krasnoselskaya nicht bewenden, sondern weiß ihren beherzten, auch warmherzigen Soubretten-Sopran ebenso mit der ruhigen Erhabenheit der personifizierten Morgenröte zu ummanteln – bis sie, mit der Stimme so behänd und biegbar wie mit ihrem Rad schlagenden Körper, als quecksilbriger Kobold für Trubel sorgt. Überhaupt hat Regisseurin Tamara Heimbrock das Spiel durch Verspieltheit verflüssigt und durch Ironie dort vom Pathos der Entstehungszeit befreit, wo sich Feierlichkeit und Weihe versteifend hätten geltend machen können. Weils ein Märchen ist, wundert sich im heftig applaudierenden Publikum wohl niemand, dass über den Häuptern der Protagonisten bunte Federn wie gute Geister schweben, Bälle und Kugeln die Schwerkraft überwinden und das zeiger- und sogar zifferlose Zifferblatt einer tanzenden Uhr gummiweich die Zeit aufhebt. Schwarz gewandet, lenkt die Puppenspielerin Mirjam Hesse all dies Zauberwerk und wird, ungeachtet ihrer eigenen anmutigen Bewegungen, selber gleichsam unsichtbar dabei.
Wie auf Rosen gebettet
… dürfen sich die Zuschauenden als Zuhörende fühlen. Die Musik des – trotz seines genialen one hit wonders „Hänsel und Gretel – heute vielfach unterschätzten Komponisten umschmeichelt mit geistvoll-empfindungsreicher Hochromantik das Ohr. Durch den zarten Grundgestus des Klangs, bei darum stets abgewogener Dramatik, führen die Symphoniker auch nüchterne Theaterbesucherinnen und -besucher barrierefrei ins Land der Wunder und der Poesie. Auch manchen magischen, auch mysteriösen, auch dämonischen Moment entfaltet Michael Falk am Pult und nimmt die Partitur in ihrer treuherzigen Schönheit so ernst, wies ihr gebührt. Um die Nähe etlicher Episoden zu Humperdincks Idol Richard Wagner mogeln sich weder der Dirigent noch Regisseurin Heimbrock herum: Immerhin werden hier statt nur eines Rings gleich deren drei zu Schlüsseln der Erlösung, zwischendurch ruft des Königs Volk schon mal „Heil dir!“, als leibhaftige Jahreszeiten tiriliert ein Quartett grandios eingekleideter Feen, die ohne Weiteres als Kusinen der Rheintöchter durchgehen (die Damen Kim, Chichiashvili und Tsoungui, angeführt von der lächelnd-leichten Inga Lisa Lehr); und Prinz Reinhold in Dämonias Rosenhecke kommt einem vor wie Tannhäuser im Berg der Venus.
Rosa
war erklärtermaßen Wagners Lieblingsfarbe.
■ Als Grundlage für die Rezension diente die zweite Aufführung am 2. November.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
Zweierlei Geist in Flaschen
Im Studio des Theaters Hof gerät Barbara Busers choreografische Miniatur „Der Duftmacher“ zu einem ungewöhnlichen Erlebnis für die Sinne: Der „olfaktorische Kammertanzabend“ spricht nicht nur die Augen, sondern auch die Nasen an.
Von Michael Thumser
Hof, 10. Oktober 2024 – Eine Warnung an alle Konzert- und Theaterkritiker, zugleich eine Warnung vor ihnen: „Schreiben über Musik“, soll Frank Zappa gesagt haben, „ist wie Tanzen über Architektur.“ Womit hat mans dann beim Tanzen über Gerüche zu tun? Mit einem Paradox wie dem Schreiben über Musik? Im Studio des Theaters Hof ist die Antwort zu erfahren: „Der Duftmacher“ reizt das Auge und die Nasen auch.
Der italienische Titelheld heißt Giovanni Maria Farina, und es hat ihn – wenn nicht so, dann ähnlich – im achtzehnten Jahrhundert wirklich gegeben. Als 24-Jähriger tat er siegessicher kund, einen Wohlgeruch zusammengebraut zu haben, „der mich an einen italienischen Frühlingsmorgen erinnert, an Bergnarzissen und Orangenblüten kurz nach einem Regen“. Als Luxusartikel galt dergleichen, nur für Begüterte erschwinglich. Damals, als die Menschen sich kaum wuschen, genossen Parfüms das Ansehen des Unverzichtbaren. Ein besonders erlesenes schuf der junge Farina aus den Ölen von Bergamotte, Zitrone und Limette, Orange, Mandarine und Pampelmuse nebst Zusätzen von Zeder und Kräutern. Ein rechtes aqua mirabilis, ein wunderbares Wässerchen, war dem aus Venedig bald nach Köln übersiedelnden Parfümeur gelungen, das er zu Ehren seiner neuen Heimat „Eau de Cologne“ nannte. Dem Vernehmen nach stand es zunächst sogar als Arznei in Ehren, etwa gegen Bewusstlosigkeit und Gelbsucht nahm man es ein, erst recht gegen „stinkenden Atem“. Dem Aroma seines Wunderwassers traute Farina selbst alles Gute zu: „Es erfrischt mich und stärkt meine Fantasie.“
Keine Kleinigkeit
Auch die Fantasie der seit jeher einfallsreichen Choreografin Barbara Buser wurde vielleicht davon „gestärkt“ – noch wirksamer wahrscheinlich von dem Buch „Der Duftmacher“, mit dem die studierte Biologin, Filmemacherin und Autorin Ina Knobloch 2010 erstmals als Romanschriftstellerin hervortrat. Eine choreografische Miniatur, freilich ohne eine Kleinigkeit zu sein: Den Etappen des zu fünfzehn Episoden geronnenen Stoffs folgt die Compagnie eine Stunde lang körpersprachlich und mimisch betont mitteilsam. Zwar überwiegt in der Musik aus den Lautsprechern platte Pianoklimperei. Weit plastischer dagegen verknüpfen die Tänzerinnen und Tänzer, zwischen halb transparenten, milchweißen Wänden und buschhohen Blumen (Bühne und Kostüme: Aylin Kaip), eine spielerische Erzählung, in der die Chefin einmal mehr ihrem aus klassischem Ballett und modernem Tanz gemischten Stil treu bleibt. Stark aufs äußere Geschehen hat sie sich konzentriert, beständig und ereignisreich lässt sie ihre Truppe mit einer Vielzahl von Requisiten umgehen, wodurch sie sich von einer abstrakt-absoluten Körperexpression freilich weit entfernt.
Vor allem Flaschen und Fläschchen zirkulieren. In allerlei Gläsern, Phiolen und Flakons mischt Giovanni, ein Träumer mit dem richtigen Riecher, allerlei Essenzen auf der Suche nach dem ultimativen Bukett, dem flüchtigen Odeur seiner unsterblichen Empfindungen, das er der angebeteten Antonia als Essenz seines Herzens zu Füßen legen will: duftiger Eros, formuliert in knabenhaften Unschuldsgesten. Gleichzeitig hängt sein neidischer Widersacher, der umso wüstere Frauenheld Bernardo, die Lippen süchtig an Bouteillen anderer Art: Wein oder Branntwein ist der Geist in seinen Flaschen.
Als „olfaktorisches“ Kammerspiel ist der Abend angekündigt: Aus unsichtbaren Düsen strömen Düfte übers Auditorium hin. Ungewohnter Budenzauber – vor allem Rosen und Zitronen lassen sich in den Wolken erschnuppern, anderes (Lavendel, Amber und Narzisse verheißt das Programmheft auch) verliert sich in den Wohlgerüchen, mit denen das Publikum sich desodorierte. Doch auch so reizt der Abend, wenn nicht die Sinnlichkeit, dann doch die Sinne. Nebenan, im Großen Haus, wird dieser Tage „Das Wunder von Hof“ versteigert: eine Konservendose voll mit dem „stinkenden Atem“ aus einem Trabi-Auspuff. Da hat Giovanni Farina mit seinem aqua mirabilis, dem Wunderwasser aus Venedig, klar die feine Nase vorn.
■ Als Grundlage für die Rezension diente die dritte Aufführung am 6. Oktober mit Filippo Italiano als Giovanni, Sara Runfola als Antonia und Denis Mehmeti als Vivaldi.
■ Das Theater macht Asthmatiker und Allergiker darauf aufmerksam, dass während der Vorstellung synthetische Duftessenzen ins Studio eingebracht werden.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
Purpur, mit Dornen verwoben
Genau dreißig Jahre nach der Eröffnung des neuen Hauses tritt Lothar Krause als neuer Intendant des Theaters Hof an. Mutig geht der erfahrene Regisseur mit Monteverdi an den Start: Die Premiere der „Krönung der Poppea“ beschert ihm einen gewichtigen und viel beklatschten Einstand.
Von Michael Thumser
Hof, 23. September 2024 – Die Wissenschaft will von der Geschichte wissen, „wie es wirklich gewesen“. Der Kunst kann das egal sein: Sie darf die Weltgeschichte aller Zeiten als Musterbuch benutzen und je nach ihren Zwecken umerfinden. Wer, dies bedenkend, das Theater Hof aufsucht, wird sich darum wenig wundern, wenn dort der römische Kaiser Nero, anders als in der Wirklichkeit, sich nicht selbst mit einem Dolch entleibt. Vielmehr erliegt er einer Bluttat, von einer Frau verübt, mit der Pistole obendrein. Dabei weiß jedes Kind, dass die alten Römer zwar viel und gerne metzelten und massakrierten, brauchbare Schusswaffen jedoch noch dreizehnhundert Jahre auf ihre Erfindung warten mussten.
Aber Kunst darf dergleichen. Ein Regisseur darf das. Im Fall von Lothar Krause hat sich das Publikum des Theaters Hof schon oft und vielfach hingerissen davon überzeugt, wie gut er sein Handwerk versteht; und dass er den unbedachten Inszenierungsgag um jeden Preis vermeidet. In diesem Herbst, da das neue Haus in der Kulmbacher Straße seinen dreißigsten Geburtstag feiert, tritt der junge, gleichwohl mit allen nötigen Wassern gewaschene Theatermann als neuer Intendant an. Aber weder wohlfeil mit einem Schlachtross des Musiktheaters noch mit einem anderweitig exaltierten Paukenschlag wollte er seine Amts- und die neue Spielzeit beginnen; lieber wählte er ein Stück von Ausnahmerang: Noch nie ging hierorts ein Werk von Claudio Monteverdi über die Bühne; und gerade seine letzte Oper, „Die Krönung der Poppea“ aus seinem vorletzten Lebensjahr 1642, steht im Ruf, einst der jungen Gattung Oper entscheidende Wege gewiesen zu haben.
Die Geschmäcker sind verschieden
Indes begegnen nicht alle Opern-Aficionados der Alten und ‚ganz‘ Alten Musik mit gleicher Aufgeschlossenheit. Musikgeschichtlich Informierte, von denen manche kaum was anderes hören, feiern sie als klingende Insel der Seligen. Andere können und wollen die Erfahrungen nicht ignorieren, die sie ein Leben lang mit der Musik aus den 380 Jahren seit Monteverdi sammelten: mit Bach, Tschaikowsky, Mahler, Debussy, Bartók … Verglichen mit deren Raffinessen, mögen selbst Großtaten aus dem Frühbarock spannungsarm, spartanisch, unleidlich langatmig scheinen.
Was jenes Verständnis – oder Missverständnis – anbelangt, hat Lothar Krause vorgebaut. Zusammen mit dem neuen Musikchef Peter Kattermann entschied er sich für eine Fassung des Werks, deren Instrumentalpart der österreichische Komponist Ernst Krenek 1935 der Tonsprache seiner eigenen Zeit angenähert hat. Was die sparsam, unter anderem mit Klavier und Harfe besetzten Hofer Symphoniker verlauten lassen, klingt einigermaßen nach dem „Pulcinella“ Igor Strawinskys, robust und kantig, wenn nicht spielerisch ungeschlacht, dabei harmonisch farbig und würzig dissonant durchmischt.
Transparenz des Neoklassizismus
Folglich füllt nicht romantischer Pomp das Große Haus am – lang und laut beklatschten – Eröffnungsabend, sondern kammermusikalisch transparenter Neoklassizismus. Namentlich nach der Pause geht es grundsätzlich eine entscheidende Spur zügiger, jedenfalls beseelter zu als zuvor, nicht zuletzt in den kurzen, von Kattermann findig variierten Zwischenspielen. Hingegen fehlte der Premiere in der ersten Hälfte – bei durchaus variablen Tempi – häufig noch der Schwung, verschleppt erschienen manche Szenen, wobei sich Bühne und Graben mitunter rhythmisch nicht recht einig waren. Stets aber öffnet die Feinstofflichkeit des Instrumentenklangs weite Räume, ohne den Stimmen und dem Spiel verdeckend in die Quere zu kommen. Im Gegenteil: Immer wieder passt der Dirigent die Artikulation des Orchesters an Stimmung und Gebärde der Mono- und Dialoge schmiegsam an.
In der Künstlichkeit des antiquierten Textes und der Alten Musik teilt sich eine noch weit ältere Geschichte aus der Geschichte mit. „Purpur, mit Dornen verwoben“: Nero, Roms sagenhaft verrohter Kaiser aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, begehrt die leichtlebig-selbstbestimmte Poppea und verstößt deswegen Ottavia, seine erlauchte Gemahlin (Sylwia Pietrzak, die mit tiefer Resignation in ihrem leidenschaftlich leidensfähigen Mezzo ein Urbild für die „unselige Geschichte der Frauen“ unter der Herrschaft der Männer gibt). Nero entsorgt sie, hat er doch ‚was Jüngeres‘. Wer aber kann heute wissen, wie die echte Poppea „wirklich gewesen“ ist? Folgerichtig zeigt Inga Lisa Lehr in der Titelrolle ein entsprechend schwer zu bestimmendes Doppelgesicht: Den zeternden und prügelnden Gewaltherrscher schmachtet sie an, als wär er die „Verkörperung der Sonne“; wenig später schon verlacht sie höhnisch seine unstillbare Brünstigkeit, die sie befriedigt, um ihm Hingebung vorzugaukeln. Denn der Tyrann soll sie selbst, die Kurtisane, zur Gattin und zur Kaiserin erheben.
Im Schwebezustand
Angemessen platziert der Regisseur die Handlung im Schwebezustand eines Zwischenbereichs, halb verschwommene Vergangenheit, halb stilisiertes Jetzt – und jedenfalls hält er es abseits angeblicher Authentizität. Einnehmend attraktiv arrangierte dafür Ausstatterin Aylin Kaip die Bruchstücke eines barocken Kupferstichs – Ruinen eines Palastes oder Tempels in anmutiger Landschaft – lebensgroß auf der Bühne, über die sich das riesige Rund einer Herrscherkrone schwingt, ein goldener Lorbeerkranz. Starke Räumlichkeit erlangt der aus Schwarz und Weiß, Gold und Purpurrot komponierte Schauplatz so, eine zwischen Anfang und Schluss sich mehr und mehr entleerende Tiefe, in der sich die Auflösung aller Ehrlich- und Ehrwürdigkeit abbildet.
Wo bei Monteverdi und seinem Librettisten Giovanni Francesco Busenello noch Reste von Respekt vor der unantastbaren Königswürdigkeit des antiken Milieus durchscheinen mögen, wo mit Poppeas „Krönung“, mithin Inthronisation eine Art Achtung gebietender Schlusspunkt gesetzt, wenn schon kein Happy erreicht ist, da hat Lothar Krause den beiden Hauptfiguren radikal alle Größe, Güte, charakterliche Majestät ausgetrieben. Nero giert und geifert mit der herrscherlich unbeherrschten Stimme Minseok Kims nach seiner willensstark-willfährigen Gespielin. In einer Art barocker Reizwäsche macht Inga Lisa Lehr handgreiflich hautnah die Beine für ihn breit, um zusammen mit seinen Lenden auch seine Entschlusskraft zu umschlingen, und umgarnt und fesselt ihn mit ihrem fiebrig-blutvollen Sopran, dessen starkes Vibrato die Haltlosig- und Unaufhaltbarkeit ihrer Natur vermittelt. Die Männlichkeit des Monarchen aufreizend, zersetzt sie die letzten Spuren seiner Menschlichkeit.
Beflügeltes Glück
Wer zu widersprechen wagt, kann nicht widerstehen. Seneca, als Neros Mentor und Mahner Poppeas entschiedener Gegner, akzeptiert, dass ihm befohlen wird, unterzugehen. Bei Michal Rudziński nimmt er den Tod nicht gefasst und ohne Widerstreben, sondern starr wie eine Säule, temperament- und temperaturlos an. Dagegen arrangiert sich Arnalta opportunistisch und schlangenglatt: Von Poppeas Aufstieg wird auch sie als ihre Dienerin und Alliierte profitieren, wenn ihre Herrin nur erst mit ihren Ränken reüssiert; am Ende trällert und trubelt Stefanie Rhaue siegessicher über die Bühne wie die komische Alte aus einer Operette. Und nicht nur dieser Stilbruch irritiert: Auch erwacht in der bislang so abgebrühten Poppea arg plötzlich die Angst vor der eigenen Courage. Schlägt ihr auf einmal das Gewissen? Vor Nero graut ihr, vor sich selbst, vor all dem vergossenen Blut. Ihr Pistolenschuss auf den Kaiser, drastische Krönung der Hofer Neuerzählung, ersetzt die goldverbrämte Krönung einer Poppea, der Hohn und Lachen vergangen sind. Das war nicht zu erwarten.
Kurz zuvor haben Annina Olivia Battaglia und Andrii Chakov, sie als neckische Drusilla, er ein Ottone von jugendlicher Maskulinität, mit Flügelchen am Rücken glücklich wie auf Wolken schaukeln dürfen. Also doch ein Happy End? Mit lebenswarmen, schönen Stimmen malen die beiden aus, wo sich das einzig wahre Glück vermeintlich finden lässt: Eine gute Ehe wird im Himmel geschlossen. Ob die Wissenschaft die These stützt, kann der Kunst egal sein.
■ Gesungen wird auf Italienisch (deutsche Übertitel).
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.