Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Sternenmeer im Swimmingpool

Mit Triumph eröffnet Bayreuth die Richard-Wagner-Festspiele: Roland Schwabs neue „Tristan“-Inszenierung erntet kein einziges Buh, der dirigierende Einspringer macht seine Sache prima, und das Ensemble hält den unmenschlichen Strapazen weitgehend stand.


Von Michael Thumser

Bayreuth, 27. Juli – Montagnachmittag, vorm Festspielhaus: Hat man den Andrang hier schon je so einlass- und ausweglos erlebt? Absperrungen überall; Polizisten in Trupps und Reihen, die den Anmarsch der Besucherinnen und Besucher kanalisieren, in Taschen und sogar Geldtäschchen schauen wollen, den Verkehr der Auffahrt regeln, auch wenn gar keine Autos fahren, und so unter den allmählich eilig-ungeduldigen Menschentrauben sinnlos für Staus und Stockungen sorgen. Dazu die Hitze: afrikanisch. Auch drinnen. Dort will ein Teil des fast 2000-köpfigen Publikums partout nicht zur Ruhe kommen, selbst als das Saallicht schon erloschen ist und die Musik, sehr zart, beginnt.

     Dann aber: Entschleunigung. Entrückung. Markus Poschner, erst vor zehn Tagen anstelle von Cornelius Meister als Dirigent für die Eröffnung eingesprungen, entdeckt im Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ die Langsamkeit. Die inständigen Akkorde und Modulationen dehnt er, aber er zerdehnt sie nicht; die Phrasen lässt er wachsen, ohne sie hochzuzüchten, und bringt sie an Enden, die den zauberischen Fluss dieser unaufhaltbaren Musik nicht kappen. In der so gerühmten wie gefürchteten Akustik auf Bayreuths Grünem Hügel Tiefenspannung zu erzeugen und zu erhalten, das hat der Festspiel-Neuling auf wunderbare Weise während der wenigen Proben gelernt, in denen das Orchester ihm zur Verfügung stand. Vier Aufführungsstunden lang lässt Poschner zwar keinen Dauerstrahlglanz schimmern, dafür aber modelliert er durch sein bald empathisches, bald emphatisches Dirigat angemessen variable Klangplastiken und vernachlässigt dabei das Dramatische niemals auf Kosten des vorherrschend Lyrischen. Sehr schöne Bläser-, auch ein paar weniger gelungene Streichersoli dringen aus dem Graben.

Grundrauschen im Publikum

Während das Orchester bereits spielt, fährt so mancher im Publikum mit Getuschel fort oder fängt schon mal zu applaudieren an, während noch letzte Takte ausklingen: Die Zuschauenden, wenigstens in Teilen, wollen den Abend diesmal wohl wie eine italienische Oper in der Arena von Verona genießen, noch dazu, wenig coronagerecht, weitaus mehrheitlich ohne Maske. Nicht durchweg diszipliniert, geben sie ein dauerndes Grundrauschen mit vielerlei rumpelnden oder klirrenden Störgeräuschen von sich. Nach jedem Akt und erst recht nach dem letzten bereiten sie der Produktion mit Bravorufen und donnerndem Getrampel einen ungeteilten Triumph.

     Nicht einmal das Regieteam muss sich Protest gefallen lassen, was selten ist im Haus. Roland Schwab: noch so ein Kurzentschlossener. Erst vor wenigen Monaten sagte er der Intendanz die Inszenierung zu. Von den Kriegs- und Krisenzeiten wendet sie sich ab und wandelt Richard Wagners tragisch endende, wenig handlungsstarke „Handlung in drei Aufzügen“ um in einen positiven Sieg unbedingter Gefühlsverbundenheit. Zum Abenteuer eines „anachronistischen Eskapismus“ lädt Schwab ein, die Zuschauenden, ja das Werk selbst will er „von der Welt loslösen“ (so teilt er im Programmheft mit) und den Zeitgenossen als „Heilmittel“ eine zeitlose, inner- und zwischenmenschliche „Sehnsucht“ verordnen.

Peinlich berührt

Da droht Kitschgefahr. Wirklich entgeht Schwab ihr nicht vollkommen. Wenn die „Handlung“ nicht viel zum Handeln hergibt, schreiten die Gestalten mit beschwörenden Gebärden und rätselhaften Symbol-Requisiten einher, im Kreis und auf und ab. Während des Vorspiels, bei sehr zögerlich und nur halb geöffnetem Vorhang, kuschelt sich ein Kinderpaar aneinander; später schauen zwei junge Erwachsene stumm den verhandelten Herz-und-Seelen-Angelegenheiten zu; zum Schluss tappt ein tattergreisenhaftes Pärchen einträchtig nach vorne an die Rampe: Philemon und Baucis, lässt Schwab wissen. Das berührt peinlich. In seinem traumerfüllten und -erfüllenden Sehnsuchtsreich soll solche Allegorie die Unsterblichkeit einer lebenslangen Liebe feiern. In Wirklichkeit wird jede dritte in Deutschland geschlossene Ehe geschieden, und fast 23 Millionen Menschen hierzulande leben als Single.

     Aber die „Handlung“ seiner Neudeutung spielt ja gar nicht in der richtigen Welt. Für die realitätsverleugnende und gegenwartsverweigernde Selbstvergessenheit des titelgebenden Paars destilliert der Regisseur aus zeichenhaften Lichteffekten und gespenstischen Schattenwürfen stark einnehmende Bilder und Momente. Sein erster „Tristan“-Aufzug spielt nicht einmal auf dem von Wagner vorgesehenen Schiff. Auf einem Raum-Schiff vielleicht. Als hätte Piero Vinciguerra eines von Ken Adams frühen „James Bond“-Filmsets nachgebaut, dehnt sich sein Bühnenbild als ein von monumentalem Grau umschlossenes Ambiente aus, das durch eine ovale Öffnung oben den Blick in ein sacht flutendes All entlässt: als reiste die Szenerie durch Raum und Zeit, vorbei an ungezählten Galaxien und sonstigen extraterrestrischen Lichtquellen.

Wie man übers Wasser wandelt

Das Sternenmeer spiegelt sich in einem von Liegestühlen umstellten Swimmingpool, auf dessen wogendem Wasser Tristan und Isolde kraft ihres unstillbaren Verlangens wandeln können, bis – im ersten Aufzug – ein kreiselnder Mahlstrom das Paar unrett- und untrennbar einzusaugen scheint. Für den zweiten Aufzug und die darin ausdauernd besungene „Nacht der Liebe“ steckt Kostümbildnerin Gabriele Rupprecht das Paar in schneeweiße Unschuldsengelsschlafanzüge, die im dritten Aufzug –  während sich Trauerweidengezweig in zwei dichten Katarakten auf die Bühne ergießt –  auch Totengewänder sind für die zwei, die in unberührter Reinheit sterben. Denn zwar „ein Stück für Nachtgeweihte“ will der Regisseur zeigen, aber einer erotischen Liebesnacht weiht er die Heldin und den Helden nicht: Fast berührungslos erfüllt sich beider „höchste Lust“ auf Distanz. Wagner, coronagerecht: Tristanz. 

     „Der Zuschauer“, hat Schwab in einem Interview gesagt, wolle sich in dieser Oper „nicht finden, er will sich verlieren“; Wagner, immer für ein Eigenlob gut, war selber überzeugt, die Magie des „Tristan“ müsse „die Leute verrückt machen“. In eine Verzückung etwa von dieser Art versetzen vor allem die Frauen das Bayreuther Premierenpublikum. Als Isolde behält Catherine Foster (mit Merkel-Frisur) die facettierte Stimmwucht, die ihren anfänglichen Zorn auf Tristan gefährlich befeuert, auch bei, als sie längst in Hingabe zu ihm aufgeht. Mit staunenswerter Kondition steht ihr Sopran ihre unbeugsamen Temperamente und changierenden Affekte durch, oft eine Spur zu tief intoniert, gleichwohl unerwartet treffsicher bei hieb- und stichfesten Spitzentönen. Wer es intimer mag, hört mit mindestens gleicher Neigung ihrer resolut-beredten, stets ergebenen Gefährtin Brangäne zu: Ekaterina Gubanova berührt das Gemüt mit der nobelsten und kultiviertesten Stimme des Abends. Ihr männliches Pendant aus der Männersphäre, Kurwenal, gewinnt vor allem im Schlussakt an Tristans Sterbelager durch den kernigen Bariton von Markus Eiche das Profil eines schmerzlich-barmherzigen Dieners.

Drei Monsterpartien in einem Sommer

Kurwenals Herrn zu verfluchen, bringt auch der von ihm tiefenttäuschte König Marke nicht übers gute Herz: Georg Zeppenfeld, kniesteif als agierender Monarch, bekennt gesanglich mit bewegend bewegtem Bass, dass seine Freundschaft für den Verräter unverbrüchlich hält. Tristan selbst, nämlich Stephen Gould, ringt von Anfang an mit wechselndem Erfolg um Stimmtimbre, -kraft und -ausdruck, kann aber Reserven für die kraftraubenden Monologe der Todesszenen aufsparen. Wie er allerdings die folgenden Festspielwochen durchstehen will – bis zum 30. August soll er, an insgesamt acht Abenden, die Monsterpartie und überdies den Tannhäuser und den Siegfried der „Götterdämmerung“ stemmen –, bleibt Geheimnis.

     Halb enträtselt hingegen: die Liebestode Tristans und Isoldes. Tut sich da, auf der Lichtspielfläche unter den Füßen der Protagonisten, riesig eine rotierende Iris mit Pupille auf? Wahrscheinlicher ist, dass die beiden auf ihrer Reise durch einen Welt-Raum ohne Welt, Raum und Zeit an einem Schwarzen Loch anlangen, in einem kosmischen Mahlstrom, der sie endgültig absorbiert, um nichts mehr herauszulassen – Schwabs treffliches Sinnbild, um Wagners „Handlung“ zu deuten: Völlig „losgelöst“ verläuft sie am Firmament eines unumschränkten Gefühls, jenseits des Ereignishorizonts.

■ Die Bayreuther Festspiele im Internet: hier lang.


Einladung zur Bluthochzeit

Nichts Halbes und nichts Ganzes? Das Theater Hof muss mit der letzten Produktion der Spielzeit zwar in den Festsaal der Freiheitshalle ausweichen – trotzdem applaudiert das Publikum frenetisch: Auch konzertant wird Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ zum vollwertigen Triumph.


Von Michael Thumser

Hof, 12. Juli – Theater ohne Theater, ein Drama ohne Bühne, Szenen ohne Inszenierung: Konzertanten Aufführungen haftet oft etwas Unfertiges und bloß Halbes an, leicht sehen sie nach Notbehelf aus. Und wirklich, dieser für Hof singuläre Fall ist so einer. Man darf das sagen, zumal das Theater keine Schuld daran trägt, dass Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ am Sonntag nicht im Großen Haus, sondern gegenüber, in der Freiheitshalle, noch dazu in ihrem wenig theatralen Festsaal Premiere feierte. Ein Glück, dass weder die Corona-Pandemie noch das Gezerre um die „Schaustelle“, noch der verheerende Wasserschaden die Produktion des dramma lirico verhindern konnte – hatte die Intendanz doch mit Aleksandra Olczyk einen strahlenden Jungstar der polnischen Opernszene verpflichtet. Vor allem als Königin der Nacht in Wolfgang Amadeus Mozarts „Zauberflöte“ heimste sie jüngst jubelnde Kritiken ein.

     Als Königin des Abends trat sie am Sonntag bei der ersten der leider nur zwei Präsentationen von Donizettis Bühnenhit vors Publikum, das sie – und abschließend das gesamte Gesangsensemble, die Hofer Symphoniker und, am Pult, Ivo Hentschel – mit Bravorufen und Getrampel, zu guter Letzt stehend mit frenetischem Beifall überschüttete. Im ausladenden Glitzerkleid sich verbeugend, nahm Olczyk die Ovationen voll huldvoller Demut entgegen. Eine Diva? Eine Primadonna jedenfalls.

     Zweieinhalb Stunden: Da bleibt ihr nicht viel Zeit, erst Liebe, dann Verzweiflung, am Ende Irrsinn auszuspielen und herauszusingen; denn um gut ein Drittel gekürzt erklingt die Oper in Hof. Liebe brennt in Lucia zu Edgardo, dem Intimfeind ihres Bruders Enrico. Verzweiflung ficht sie an, weil Enrico sie mit einem anderen, Arturo, verheiratet. Dem Wahnsinn fällt sie anheim, nachdem sie Arturo im Brautgemach mittels Dolch gemeuchelt hat. Auf Italienisch wird gesungen, doch hilft das Programmheft mit Szenenbeschreibungen in kluger Knappheit beim Verständnis. Alles Weitere teilt sich mit durch die Musik.

     Die Partitur hat der Komponist fast klischeehaft mit ebenso viel schmetternder und trommelnder wie empfindsam schmachtender italianità aufgeladen, dafür weit weniger mit Nuancen gesättigt. Dirigent Hentschel bezieht aus ihr tonmalerisches Material genug, um das Orchester souverän beim Bau plastischer Klangkulissen von rubuster Stabilität anzuleiten. Vor ihnen entfaltet sich Aleksandra Olczyks wohldosiert vitaler, durch und durch expressiver Sopran als greifbare dramatische Gestalt. Eine über–menschliche Gestalt: In einem realistischen Sinn ‚echt‘ soll die Figur der Lucia gar nicht scheinen; vielmehr leuchtet die Künstlerin seelenvoll abgrundtiefe Urzustände des Gemüts aus. Besonders das innig Inständige, Flehentliche liegt ihr; nicht minder kommen ihr die Koloraturen zupass, die ihr die Rolle reichlich abverlangt, sodass ihr Gebaren zumindest in den ersten Szenen durchaus geheime, gleichwohl aufschlussreiche Spuren einer stillvergnügten Koketterie ahnen lässt. Der künstlichen Figur bewahrt sie so ein gehöriges Quantum warmer Wahrhaftigkeit. Überhaupt vermeidet sie die nur stimmartistische Puppen- und Primadonnenglätte, mit der die Partie ihre imponierende Gestaltungspalette korrumpieren könnte.

Der Dämon des Geschehens

So gebannt lauschen die Zuhörenden der jungen grande dame, dass sie die fehlende andere Hälfte der Aufführung, das Szenische, nicht zu entbehren scheinen. Weil sie fehlt, läuft das übrige Ensemble auch nicht Gefahr, an die Wand gespielt zu werden: Die dialogische Dichte in der siebenköpfigen Sängerriege, ihr beschwörender Wohllaut namentlich während des berühmten, großartig voluminös gelingenden Sextetts, auch der zur Bluthochzeit eingeladene (von Roman David Rothenaicher einstudierte) Chor machen wett, was an Bühne und Bildern notgedrungen nicht zur Stelle ist.

     Neben Stephanie Rhaue mit ihrem mütterlichen Alt und dem schwarzen Bass Igor Storozhenkos, neben Markus Gruber und dem tenoralen Charme Thilo Anderssons sieht sich die zerbrechende Titelheldin von zwei starken Männerstimmen bedrängt und insgeheim nachbarlich gestützt. Bravourös geriert sich Marian Müller in seinem eifernden Zorn, seiner zu allem entschlossenen Rücksichtslosigkeit, mit dem er den wenig geschwisterlich handelnden Bruder Enrico geradezu als Dämon des Geschehens ausstaffiert; erfreulicherweise ist sein prägnanter Bariton mit der entsprechenden Kondition gesegnet: Ohne spürbare Anstrengung fließt er bis zum bitteren Ende in beklemmend düsterer Natürlichkeit dahin. Minseok Kim, als Lucias viriler Liebhaber, startet weniger perfekt: Zwar glänzt sein heller Tenor heroisch, trifft jedoch nicht gleich alle Höhen. Das gibt sich indes bald: Dann zeichnen sich ungemindert Kampfgeist und Stolz in seiner Stimme ab, mit der er, wenn die Geliebte widerspricht, auch schon mal ungemütlich werden kann. In seiner letzten Arie weiß sich sein Edgardo lebensmüde einen starken Abgang zu verschaffen.

     Da endet Lucia auf ganz andere Weise. In schaurige Trugbilder seliger Trance spinnt sich Aleksandra Olczyk während der legendären „Wahnsinnsarie“ ein, um als Gattenmörderin dem Albtraum ihrer Bluthochzeitsnacht zu entkommen. Hingabe, Sehnsucht und Erfüllung ruft ihre grandiose Stimme auf, untergründig aber versinkt sie, kapitulierend vor Tristesse, Täuschung und Enttäuschung, in gnädiger Umnachtung: eine ruinierte Frau jenseits unerträglicher Wirklichkeit. Das schon Jenseitige ihrer Halluzinationen koloriert Philipp Alexander Marguerre an der Glasharmonika mit durchscheinenden, ins schwebend Esoterische entrückten Flötentönen. Schön anzusehen ist das rare Instrument überdies, fast wie ein eigentümliches Stück Bühnenbild. Hätten sich Lucias Geschicke, statt im Festsaal, drüben im Theater vollendet, wär das Schauobjekt im Orchestergraben erklungen, unverdient im Verborgenen.

Eine weitere Aufführung am Mittwoch um 19.30 Uhr im Festsaal der Freiheitshalle. Informationen über die Produktion und weitere Bilder im Internet: hier lang.



Frühling im Herbst

Die Triebe erwachen, aber die jungen Leute wissen nicht, wohin damit: Ali San Uzer, Tänzer in der Ballettcompagnie des Theaters Hof, münzt Frank Wedekinds berühmtes Pubertätsdrama in eine ambitionierte Choreografie um.


Von Michael Thumser

Hof, 23. Juni – Im Studio dehnt sich die Spielfläche nicht eben grenzenlos aus. Und doch vollzieht sich eine der faszinierendsten Augenblicke des Abends in noch rigoroser Beschränkung: Von oben wirft im verdunkelten Raum ein Spotlight nur einen engen Punkt auf einen einzelnen, schwarzen Hocker, auf dem, vertraulich zueinander aufgerückt, zwei junge Tänzer sitzen. Ihr Tanz spielt sich kurz, doch eindrucksvoll allein durch ihre Arme und die Hände ab, als ein Tasten und Grabbeln, Grapschen und Packen, Anrühren und Spüren, als wuselndes Befingern und fassendes Befühlen.

     Ohne Schlüpfrig-, doch voller Zudringlichkeit strahlt jene Szene handgreiflichen Suchens und Versuchens eine überhöhte, gleichwohl unverhohlene Erotik aus. Ein kindliches Suchen nach ersten fleischlichen Erfahrungen offenbart sich darin, ein Ausprobieren; und auch schon mehr: ein Auf-die-Probe-Stellen, der beinah erwachsene Drang des einen, den andern zu verführen. Denis Mehmeti und Andrea Frisano stellen Vierzehn-, Fünfzehnjährige dar, Jungs in einem Alter, in dem vor gut hundert Jahren Jugendliche gefälligst noch nichts zu wissen hatten vom Kindermachen und Kinderkriegen, vom Drang der Geschlechter zu- und ihrer Lust aufeinander.

     Denn die Geschichte, die da am Sonntag im Theater Hof Premiere hatte, spielt ums Jahr 1891. Da kam „Frühlings Erwachen“ als Buch heraus. Dem Schauspiel verdankte Frank Wedekind seinen Durchbruch als Dichter und breiteste Aufmerksamkeit als Provokateur der bürgerlichen Gesellschaft. In einem sehr eigenen Ton spricht es offen von einem Thema, das jeden irgendeinmal im Innersten betrifft und das, damals noch, alle schamvoll zu verheimlichen suchten. Weil Tugendwächter und Moralapostel den Text, ungeachtet seiner dämmerhaften, meist nur andeutenden Lyrik, als empörende Pornografie denunzierten, machte das gehörig Skandal. Heute fällt es ins breit aufgestellte Genre coming of age: ein Pubertätsdrama.

Die Kinder bringt der Storch

Eine „Kindertragödie“. Schlimm geht sie aus. Die Kinder darin, die kaum noch welche sind, bleiben mit ihren intimen Irritationen, Fragen, Nöten „unaufgeklärt“ und mit sich allein. Möglichst lang sollen sie an das Märchen glauben, der Storch bringe die Kinder. Ganz real freilich spüren sie in sich den Druck, auch den Schmerz einer Lust, die angeblich ein Laster ist. Fügsam, aber vergeblich wehren sie sich gegen den Hunger aufeinander, geben sich nichtsahnend hin. Melchior, der immerhin theoretisch Bescheid weiß, schreibt für Moritz, seinen fiebrig verlangenden Freund, ein paar einschlägige Einzelheiten nieder. Wenig später schießt sich Moritz, als Schulversager abgestempelt, eine Kugel in den qualmenden Kopf, und Melchior, als Verfasser der halbgaren Broschüre, wird dafür schuldig gesprochen und für verworfen erklärt. Da ist Wendla, halb verlangend und halb gewaltsam, bereits von ihm schwanger geworden; eine verpfuschte Abtreibung besiegelt ihr Schicksal. Nicht viel, und Melchior folgte ihr; aber ein „vermummter Herr“ führt ihn zu guter Letzt dem Leben entgegen.

     Als jenes Phantom – schwarz umhüllt und weiß maskiert, mithin als alles andere denn als happyendliche Lichtgestalt eines erwachten Frühlings – tritt Ali San Uzer auf, auch er Mitglied der Compagnie. Vor allem aber, und erstmals, debütiert er diesmal als Choreograf einer ausgewachsenen Produktion. Sein „Frühlings Erwachen“ ist ein Totentanz vor Chiffren des Herbstes: Auf einer Wand mannshoher weißer Tücher, mit denen Ausstatterin Annette Mahlendorf den Schauplatz nach hinten abschloss (und durch deren unsichtbare Schlitze die Tänzerinnen und Tänzer kaum bemerkbar auftreten), erscheinen gleich zu Beginn Videobilder einer Wasserfläche, sporadisch bedeckt von welkem Laub; später sind kahles Baumgeäst und braune Graberde zu sehen, in der sacht Hände wühlen. Überhaupt Hände: In Uzers visionärer Adaption spielen sie vielleicht insgeheim die zentrale Rolle. Wie in einem Traum lassen sie vergessen, dass in dem Ballett eine Handlung vorgeht, deren Verzweigungen sich nicht selbst erklären. Unbedingt sollten Besucher vor der Vorstellung das Programmheft gelesen haben oder, noch besser, gleich Wedekinds Stück.

     Meist trennen Zäsuren die von elektronischer und Blues-Musik, von Cello-, Cembalo- und Klavierklängen (sowie einer Geräuschcollage) begleiteten Szenen; andere lösen sich wundersam ineinander auf: etwa, wenn die Stöcke, mit denen ein Lehrertribunal gerade noch den Schüler Melchior seiner unzüchtigen Schrift wegen malträtierte, sich als Schirme entfalten, sich öffnen als geschlossenes schwarzes Dach über Moritz’ verregneter Beerdigung. Erzählend beginnen die meisten Episoden, indem sie zwischen den Figuren Beziehungen herstellen, Orte anzeigen, eine Stimmung beschwören; dann aber verläuft sich die narrative Fasslichkeit in gespannter Abstraktion und einer unentschlüsselbaren, darum umso attraktiveren Zeichenhaftigkeit.

Tanz zu Worten

Die sammelt sich spannungsgeladen aus weit ausgreifenden und -schreitenden Gebärden und Gängen der Tänzerinnen und Tänzer, aus tändelnden Ensembleszenen des Spiels ebenso wie aus schroffem Gebaren der Ablehnung und des Hohns. Fast intensiver noch, wie unbeabsichtigt, teilen sich die kleinen, detaillierenden Gesten mit, durch die Eigentümlichkeit, auch Extravaganz überraschender Prozesse eines scheuen oder zielgerichteten Zueinanderfindens und Auseinanderdriftens, durch introvertiertes Anhalten, ernüchtertes Fortstreben, bängliches Umschließen, erschrockenes Loslassen – durch Haltungen, Attitüden, Bewegungsverläufe, wie sie so unkonventionell von der Hofer Truppe noch nicht zu sehen waren. Unvorhergesehene Nachdrücklichkeit gewinnen sie, wenn sie ohne Musik hervordrängen: so einmal, bei Naila Fiol, zu den Worten eines von einer Lautsprecherstimme mit mildem Bedauern verlesenen Briefs.

     Kraftvoll äußert sich in Denis Mehmeti, dem Melchior der Premiere, ein früh gereiftes, womöglich frühreifes Erwachsensein. Ihn ergänzt Andrea Frisano als sein von Unwissen gequälter Freund Moritz durch eine ungemein weiche, dabei nicht weichliche, aber dringliche Geschmeidigkeit der Körpersprache. Am beklemmendsten aber vollendet sich die „Kindertragödie“ in Tania Angelovski: Ihre Wendla vergeht vor Bangigheit und Begehren, bis sie sich, im Herzen unschuldig, doch vor der Zeit in „anderen Umständen“, auf einem roten Tuch verblutet: Die Schande fürchtend, überließ die Mutter (Isabella Bartolini) sie einer Kurpfuscherin (Sara Runfola) - obwohl sie doch, wie es in Frank Wedekinds Stück heißt, so „musterhaft gebaut“ war, dass sie „vorzüglich geboren hätte“. Nur der Tanz vermag das: die Hilf- und Heillosigkeit eines Kindes so unheil- und so taktvoll, so entmutigend und doch durch Anmut auszudrücken.

Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang


Luisenburg-Festspiele
Darknet vorm Felsenlabyrinth

Sonst gibt es sie nur in Skandinavien, heuer aber leben die „Trolle unter uns“: im Fichtelgebirge. Mit der Uraufführung des Musicals startet Wunsiedels Naturbühne überraschungsreich in den Sommer. Selten sahen hier die Kostüme eines Familienstücks so verrückt und komisch aus. Selten gebärdete sich ein kindliches Premierenpublikum so laut und ungezügelt.


Von Michael Thumser

Wunsiedel, 3. Juni – Der Troll hats toll. So ein Kobold, in Skandinavien beheimatet, darf alles, was Kinder nicht oder nur selten oder höchstens unter Aufsicht dürfen: Dreck machen, Krach machen, Quatsch machen, sogar rülpsen und pupsen, und das vor allen Leuten. Letzteres tun die Trolle auf der Luisenburg in diesem Sommer ausgiebig, auch schon mal mit einer grünen Wolke im Gefolge.

     So ein Troll ist, andererseits, ein richtig schlimmer Finger: wenn er nicht in Europas Norden, sondern im Internet sein Unwesen treibt. Richtig fies führt er sich dort auf, denn mit hate speech, bösen Posts und schlimmen Kommentaren will er in den sozialen Netzen Ärger machen, Leute anschwärzen, Gruppen kränken, miese Stimmung machen, Öl ins Feuer gießen.

     Zu beiden Sphären gehören die wunderbar spleenigen Naturwesen, die seit der Premiere von „Trolle unter uns“ am Mittwochmorgen mit jeder Menge Schabernack Wunsiedels Naturbühne aufmischen. Auch mit viel Musik: Denn nicht einfach als Familienstück – als ausgewachsenes, wohlklingendes Familienmusical geht die Produktion an den Start. Øystein Wiik und Gisle Kverndokk, Autoren des letztjährigen Publikumshits „Der Name der Rose“, dachten sich dafür eine burleske Geschichte in fixen Dialogen und eine rockig-peppige, schwungvoll poppige, verschiedentlich gefühlvoll-poetische Musik aus. Beider Vorlage verwandelte Regisseur Simon Eichenberger, von Elisabeth Engstler und Musikchef Thore Vogt unterstützt, durch energiegeladene Situationen, eine Menge überraschender Bühnentricks und szenischer Effekte, nicht zuletzt durch trubelnde Tanzeinlagen in ein druck- und eindrucksvolles Spektakel. Die Zuschauerschar aus Aberhunderten von Kindern klatscht, kreischt, tobt zwischendurch, erst recht am Ende.

Ein Auge segelt durch die Luft

Mag die Show mit eindreiviertel pausenlosen Stunden auch Sitzfleisch und Fassungskraft der kleinen Leute spür-, hör- und sichtbar überfordern – der kernige Witz, die tobenden Turbulenzen der überbordend opulenten Show kommen gut an. Da segelt ein transportables Auge pampelmusengroß durch die Luft, eine muntere Professorin (Sanni Luis als Klima-Aktivistin: „Meine Mission ist die Nullemission“) hat sich so viel Vanilleeis „aus dem 3D-Drucker“ einverleibt, dass ihren Kugelbauch jetzt „fünfzehn Winter“ aufblähen, von denen sie einen wie ein Schneegestöber entlässt, ein Dutzend Riesenschinken schwebt auf einem Seil ein, Siebenmeilenstiefel mit Flügeln an den Schäften lassen für ihre Träger die Distanzen schrumpfen, eine Dame muss sich in einen „Mummer“, die Kreuzung aus Mutter und Hummer, umbauen und auch noch klonen lassen …

     Auch Erwachsene dürfen über alles gehörig staunen und sich wundern. In den detailreich-großformartigen Szenerien von Stephan Prattes lässt es die quirlige Schar der Wichte, Berggeister und Phantome in jeder Minute mit immer neuen Ausfällig- und Anzüglichkeiten lustig krachen. Unerschöpflich fantasievoll verwandelte Kostümbildnerin Angela Ribera einen Teil des wüsten Haufens in fichtennadelgrüne Baumwesen, strähnig wie von Moos umwuchert, oder in wandelnde Flokati-Teppiche; in knallbunte Klamotten steckte sie die Kerle, pflanzte ihnen lange, dünne Spitznasen in die Gesichter und bauschte auf ihren Köpfen ausschweifende Perücken auf. Den vernehmlich von Flatulenzen  geplagten King Burger (Thorsten Tinney, der derb und herzhaft sämtliche Trollkönige spielt) dachte sie sich als Fleischhaufen auf zwei Beinen aus. Als King Coal mit fetter Visage, kohlschwarzer Mähne und wehendem Mantel auf seinem schwarz qualmenden Förderturm auftaucht, gibt ein Mädchen aus dem Publikum ihn spontan und lauthals als Elvis zu erkennen. Und um King Cyber, im wallenden Hermelin, tanzt diensteifrig eine subalterne Gehilfenclique, die linken Arme mit Computertastaturen aufgerüstet, um buchstäblich im Handumdrehen allerlei „Schmutzkampagnen“ durch „fake news“ zu befeuern.

Ein Riss in der Schöpfung

Bei ihnen, im virtuellen Zentrum einer Art von Darknet vorm Felsenlabyrinth, trifft das beherzte und sympathisch frische Protagonistenpaar unerwartet aufeinander. Elmar, zwölfjährig (Maurice Daniel Ernst), langweilt sich in Norwegen während der Ferien mit der „schrillen“ Mama und dem Vater, der „ständig grinst“ (Carmen Wiederstein, Torsten Ankert). Dummerweise geraten die Drei durch einen unsichtbaren „Riss“ in der Schöpfung wie in „ein online game“: in die kaum real zu nennende „Kehrwelt“ der Trolle, die sogleich nach dem „süßen Menschenfleisch“ lechzen. Heraushelfen können den Verirrten nur der gewitzte Gnom Pelle (Tom Schimon) – der vor lauter Hunger schon mal in Steine oder einen seiner Riesenfüße beißt – und Lena (Henrike Starck, mit anmutig herzwarmer Gesangsstimme). Sie scheint ein nettes Menschen-Mädchen zu sein, aber ein Geheimnis zu verbergen: Warum, zum Beispiel, wächst ihr aus dem Steiß ein Schwanz, den sie verbissen zu verbergen sucht?

     Wie sich erweist, spiegeln sich die Energieprobleme der irdischen Wirklichkeit in den Absonderlichkeiten der verschrobenen Gegenwelt; was zu Zwischenfällen führt, die mitunter fast als Kabarett durchgehen. Für dergleichen erweist sich die zur Uraufführung versammelte Grundschulkinderschar, die ungezügeltste seit Jahren, freilich als zu jung. Zu solcher Lautstärke steigert sich das Grundrauschen diesmal, dass der Handlung selbst in den vorderen Reihen kaum zu folgen ist und mancher schöne musikalische Gedanke, von der Band um Martin Steinlein mit Schmiss und Schmalz unterfüttert, ungenossen verklingen muss. Wären die Kids in Elmars Alter, also zwölf, blieben sie gewiss verständiger bei der Sache, wenn von „Teleportation“, „geothermischer Energie“, „green deal“ und „Migrationspakt“ die Rede geht oder „Mathemagie“ (grandioses Wort!), „Algebra“ und „Algorithmen“ ins Spiel kommen oder die Frage auftaucht, ob in Sachen Welternährung „Insekten-Eiweiß die Zukunft“ sei. So begreifen sie gegebenenfalls kein Wort.

     Was Wunder, dass viele der Kids Krach und Quatsch machen, wie es im Theater sonst nicht statthaft ist. Zum Glück herrschen auf der Luisenburg, wie im sozialen Netz und im Reich der Trolle, sehr eigene Gesetze.

■ Informationen zur Produktion und zu den Terminen der weiteren Aufführungen: hier lang.
■ Die Luisenburg-Festspiele im Internet: hier lang.



Da schlummert ein Vulkan

Muss es immer was ganz Neues sein? Freude macht auch, wenn sich Beliebtes wiederholt oder gar Dahingegangenes wiederaufersteht. So bringt die dritte Ausgabe der Hitparade „Hossa!“ das Publikum des Theaters Hof neuerlich zum Kochen.


Von Michael Thumser

Hof, 1. Juni – Heiner Müller, „Hamletmaschine“: letzte Vorstellung! Geht die Saison denn schon zu Ende? Ganz und gar nicht: Bevor am 16. Juli im Theater Hof der letzte Vorhang fällt – vor den „Scenes of Solitude“, mit denen sich der jugendliche Musicalclub präsentiert –, laufen im Schauspiel Kleists Klassiker um den „Prinzen Friedrich von Homburg“ und mehrere Klassenzimmerstücke weiter, dazu große und kleinere Produktionen wie Franz von Suppés „Schöne Galathée“ oder John Kanders „Cabaret“ im Musiktheater. In dieser Sparte stehen sogar noch zwei Premieren an: Am 19. Juni bringt Ali San Uzer sein Tanzprojekt „Frühlings Erwachen“ nach Frank Wedekinds berühmter „Kindertragödie“ heraus, am 10. Juli beschließt Gaetano Donizettis „Lucia die Lammermoor“, umständehalber konzertant aufgeführt, den Reigen der Neuproduktionen.

     Und doch machen sich die Ensembles für die Schlussrunde bereit. Shakespeares kriegerischer „Richard der Dritte“, in der unerwartet topaktuellen Inszenierung durch den Intendanten, hat seit vergangenem Freitag endgültig ausgespielt; bis Sonntagabend war er für weitere 48 Stunden immerhin im Internet als kostenloser Stream zu sehen. Und auch die „Hamletmaschine“ rattert nicht mehr: letzte Vorstellung, am Donnerstag im Studio.

     Den widerwärtigen, zwar stupend sprachmächtigen, jedoch abstoßend gewaltverliebten und todestrunkenen Fließtext Heiner Müllers verteilte Regisseur Benjamin Walther auf ein Quartett möglicher Hamlets und Ophelias, Claudiusse und Horatiusse und platzierte ihn, zum Glück nicht komplett humorbefreit, vor einem großen, kreideweisen Felsbrocken. Der Stein des Sisyphos und der Sinnlosigkeit? Gelegentlich auf ihm und jedenfalls um ihn herum ereignete sich dank des eindringlich- und eindrücklichen Spiels von Cornelia Wöß und Jörn Bregenzer, Oliver Hildebrandt und Peter Kampschulte ein Stück Theater um seiner selbst willen, wenn auch nicht eitel und unbegründet als l'art pour l'art. Vielmehr erkundeten die Vier, in durchkalkulierten Aktionen und rhythmisch präzis koordiniert, seine stummen und reglosen, tätlichen bis brachialen Ausdrucksmöglichkeiten: eine anderthalbstündige Übung in Surrealität, freilich auch – was nicht überrascht bei diesem Autor – ein Bad in Verbitterung, ein Schwelgen in schwarzem Pessimismus, eine Feier der Totalnegation und des Negativen. So verloren wie in Müllers dogmatisch-niederträchtigem Verriss der ganzen Welt ist nicht einmal die Wirklichkeit Putins, des Coronavirus und der Klimakatastrophe.

„Sie applaudieren ganz zu Recht“

Leider ist sie auch nicht so lustig wie die unvergessene „Zettt-Deee-Efff-Hitparade“, wenn singende Schauspielerinnen und -spieler sie in der dritten Ausgabe von „Hossa!“ nacheifernd zu unbändigem Leben wiedererwecken. Noch zwei Mal darf auf der Vorbühne des großen Saals der salbadernd umtriebige Leif Scheele als Beinahe-eins-zu-eins-Kopie von Moderator Dieter Thomas Heck mit gepresster Reibeisenstimme das Publikum vor der Rampe „und an den Fernsehgeräten zu Hause“ willkommen heißen. Wieder lässt Reinhardt Friese als Organisator des massentauglichen Spektakels die Künstlerschar in längst kurios wirkende Showkostüme schlüpfen (Ausstattung: Annette Mahlendorf) und mit gleißenden Gesichtern unter absonderlichen Schöpfen den deutschen Schlager feiern, „direkt und unmittelbar“. Das Publikum im vollen Haus feiert, klatscht, tanzt entfesselt mit. „Sie applaudieren ganz zu Recht“, freut sich Scheele alias Heck, und: Wir senden heute live“, darauf legt er stolz Wert.

     Vor allem aus den Siebziger- und Achtzigerjahren stammen die – von einer Kombo um Michael Falk unzimperlich begleiteten – Hits, aber es ist, als taugten sie zwei Stunden lang zu Hits von heute: als wären sie alle Evergreens. Unterm wuchernden Brusthaartoupet Oliver Hildebrandts, der als Costa Cordalis seine „Anita“ betört, schlägt ein liebestrunkenes Herz: „Da schlummert ein Vulkan.“ Stefan Reil als Jürgen Marcus, in grünem Samtanzug, mit blonder Engelsmähne und dem Dauergrinsen des Sonnyboys im Gesicht, ist „so glücklich wie noch nie“. Und Dominique Bals – mit unvermutet schönem Bariton, der zu ebensolchen Hoffnungen berechtigt – träumt sich „Über den Wolken“ gleich ganz in die Ferne.

     Das famose Gedöns (Philipp Brammer und Alrun Herbing mit „Im Wagen vor mir“) und Getue (Kerstin Maus und Ralf Hocke als Nina & Mike) muss gar nicht erst parodiert werden, um so recht schrill und verschroben, spinnert und skurril zu wirken. Lustig ists allemal und, meist, auch lachhaft. Der Spaß am Vergnügen verdankt sich der unbeirrbaren Einfalt der meist flachsinnigen Texte ebenso wie den grandios großspurigen Conférencen Leif Scheeles und, vor allem, den intuitiven Nachmachereien und impulsiven Persiflagen der Darstellerinnen und Darsteller, die sich jeweils ein paar Minuten lang für nichts zu schade sein müssen.

     „Heben Sie ab, völlig losgelöst“, ruft das Dieter-Double, und schon schwebt Benjamin Muth alias Peter Schilling alias „Major Tom“ davon; zumindest einer seiner Arme tuts, während der Rest des Körpers, dem Vorbild gemäß, minimalistisch auf Performance verzichtet. Hingegen mag Peter Maffay an Zurückhaltung nicht mal denken: Jörn Bregenzer – männlich-trotzig die Knorke-Miene, die Macho-Pose superviril – gehört mit „Über sieben Brücken“ und gekonnt weggenuschelten Rs auch in der dritten Hofer „Hitparade“ zu den top acts; bevor das Publikum bei „Y.M.C.A.“ der Village People – Eddie Jordan in Fantasie-Uniform, umtrubelt vom Ballett – vollends aus dem Häuschen gerät.

„Himmel und Hölle zugleich.“

„Kinder, ist das spannend heute“, ächzt Scheele. Den Lorbeer an diesem Abend trägt – per Publikumsabstimmung – schließlich Nicole davon, die sich zeitgemäß nach „Ein bisschen Frieden“ sehnt. Gerade siebzehn war die elfenhafte Sängerin 1982, als sie mit der blauäugigen Ballade den Eurovision Song Contest gewann, der damals noch, weit melodiöser, Grand Prix Eurovision de la Chanson hieß. Nun hebt Carolin Waltsgott, im braven Schulmädchen-Look und eine weiße Gitarre überm Knie, die süßliche Weise flehentlich mit jener wohllautenden Stimme in die Höhe, mit der sie schon beim szenischen Liederabend „Walk on the wild Side“ an die Herzen griff. Als ihre temperamentvolle Antipodin gibt Julia Leinweber im weißen Frack die Katja Ebstein, dem „Theater“ huldigend, dem Lebenstraum- und raum von ihnen allen: „Himmel und Hölle zugleich.“

     Zwischen solch schwülstiger Schmonzette und Heiner Müllers beredter Beschwörung des Unheils liegt verbindend die Welt des Absurden.

■ Als Grundlage für die Rezension dienten die Aufführungen am 26. („Hamletmaschine“) und 27. Mai („Hossa! - Die Hitparade 3“).
■ Informationen über „Hossa!“ und weitere Aufführungen der Produktion im Internet: hier lang.



Der Kampf mit dem Wischmopp

Ein Vergnügen für alle Altersgruppen, so lustig-leicht wie hintersinnig: Beim Forum Naila verwandeln die „Mobilés“ mit ihrem virtuosen Körper- und Schattentheater die nüchterne Frankenhalle in eine bunte Comic- und Comedywelt.


Von Michael Thumser

Naila, 29. März – Alles geschieht hier aus der Lust an der Verwandlung. Der Mensch bleibt Mensch, aber sein Schatten, je nachdem woher das Licht kommt, entfaltet ein eigenes Leben und kann zu vielem werden: zum Vögelchen und Spinnentier, zum warmen Bett und Waschbecken, zum Tisch (mit Blumenvase) oder Klavier (mit Hocker), Computer oder Auto … Zugegeben, für die meisten  Silhouetten braucht es eine große Fläche und mehr als nur einen Menschen. Aber das macht nichts: Die „Mobilés“ waren, in Naila, zu siebt.

    „Moving Shadows“: Dem so humoristischen wie hintergründigen Programm der international oft und hoch prämiierten Truppe schauten am Sonntag in der Frankenhalle zweihundert Besucherinnen und Besucher zu, reichlich lachend, kräftig klatschend, am Ende lauthals jubelnd: eine Amüsement, das zwischen den Kleinsten und ihren Großeltern keine Altersgruppe ausschließt. Die „Mobilés“ revanchieren sich, indem ihre gebeugten und gebogenen, gestreckten oder gestauchten Leiber auf der Schauwand die Worte DANKE NAILA formen. Das Forum Naila hat die teils jungen, teils nicht mehr ganz jungen Tänzerinnen und Turner, Artistinnen und Athleten eingeladen (nicht zum ersten Mal), in einen nüchternen Mehrzwecksaal zwar, der eigentlich eine Sporthalle ist, sich aber durch das grelle Licht von Scheinwerfern, die wabernden Schattenrisse auf der Projektionsfläche und deren pastellfarbige, grafische Szenerien poppig in eine Comic- und Comedywelt transformiert.

Wand der Verwandlung

Hinter der Wand der Verwandlung, aber wie Scherenschnitte auf ihr treten die Künstlerinnen und Künstler als belebte und unbelebte Schattenwesen und -dinge auf und somit ganz hinter ihre Individualität zurück. So inszenieren sie, zu einem sprudelnden Musikstrom aus oldies but goldies, in pausenlos fließenden und unvorhersehbaren Metamorphosen eine Körperkunst der radikalen Art: Auf die dritte Dimension des Raums verzichtend, lösen sich, nach exaktem Plan, die Personen von ihrer Persönlichkeit, um völlig frei in Kontur und Fläche aufzugehen. Figuren als Konfigurationen in der Choreografie einer kollektiven Pantomime: Geschwind, wendig und gelenkig dehnen oder krümmen sich die Schemen, kauern oder liegen, quellen einer aus dem andern hervor, bizarr krümmen und krampfen sie die Glieder bis in die Fuß- und Fingerspitzen, verlieren zum Schein den Kopf, schrumpfen oder blähen sich zu Riesengröße auf, halten sich angespannt aneinander fest und lösen sich wieder auf im einheitlich bergenden Schwarz.

     „Die Mannigfaltigkeit und Verlockung des Lebens, seine ganze Schönheit besteht aus Schatten und Licht“, schrieb der russische Großdichter und Friedensprophet Leo Tolstoi. Aus seinem zurzeit wenig friedliebendem Land fällt auf Europa und den Rest der Welt in diesen Wochen vornehmlich Schatten, doch die Mobilés münzen ihn, ganz im Sinn Tolstois, mannigfaltig in Verlockendes um. Ihre Collagen aus Rümpfen, Köpfen und Gliedmaßen, Haltungen und Posen betreiben alle erdenklichen Sportarten, schwimmend und surfend auf dem Wasser, beim Tischtennis oder Radfahren auf dem Land. Von einem Golfplatz aus schlagen sie einen Ball rund um den Globus, über holländische Tulpen und Windmühlen und die Londoner Tower Bridge, die New Yorker Freiheitsstatue und ein vielarmiges indisches Götterbild hinweg. Der kraushaarig-komische Protagonist der sieben nimmt den Kampf mit einem sich vervielfachenden Wischmopp auf, ganz so, wie einst Goethes Zauberlehrling mit den Besen rang, aber er fährt auch im Bagger oder erprobt ein Musikinstrument nach dem andern, von der Harfe übers Schlagzeug bis zum Kontrabass.

David, der Denker und der Harmonika-Mann

In Hollywood kriegt er als Rocky eins vor die Birne, hört im Wilden Westen am Galgen baumelnd dem Harmonika-Mann und seinem „Lied vom Tod“ zu und saust als „Easy Rider“ lässig auf dem Chopper davon – alles von Körpern organisch gefügt und wieder zerlegt. Singende Strauße und Dinosaurier, eine ausgewachsene Sau und ein schwarzer Panther sogar kreuzen seine Reiseroute. Im Museum macht er vor Rodins „Denker“ Halt und Michelangelos „David“ kaputt, bevor er in einem „Time Tunnel“ seine flinken Exkursionen auf die Evolution der Menschheit ausweitet: Herdfeuer und Rad, Schwert und Schrift erfindet er, erweist dem Christkind in der Krippe neugierig die Ehre, landet auf dem Mond und wischt am Smartphone herum. Eingerahmt ist diese tour de force entlang der Kulturgeschichte von der herrlich herzigen Paarbildung zweier Liebender – die sich im O eines leibhaftigen LOVE vereinen –, wozu nicht passen mag, dass zur Entfaltung der Zivilisation ersichtlich auch die Erfindung des Panzers gehört. Darum hat er (nicht in der Ukraine, aber bei den „Mobilés“) einen Knoten im Rohr.

■ Nächste Veranstaltung des Forums Naila: 22. Mai, Bad Steben, Großer Saal des Kurhauses, 19 (Bewirtung ab 18) Uhr, Pop- und Folksongs a cappella mit dem Ensemble „Quartonal“.
■ Am 17. April um 19.30 Uhr sind die „Mobilés“ im König-Albert-Theater von Bad Elster zu Gast.



Lauter Übriggebliebene

Zwei Sterbeszenen in Plauen, die eine parodistisch, die andere als schwarze Zeremonie: Mutig wagt sich das Vogtlandtheater an anspruchsvoll sperrige Kurzopern des ungarischen Zeitgenossen Péter Eötvös.


Von Michael Thumser

Plauen, 8. März – „Sprengt die Opernhäuser in die Luft!“, soll Pierre Boulez, der berühmte Dirigent und Komponist, gesagt haben. Dabei sind in Deutschland seit den Siebzigerjahren derartige Brachiallösungen gar nicht nötig: Wo für Kultur angeblich das Geld fehlt, geht schon mal eine Sparte, wenn nicht ein ganzes Theater zugrunde. So schlimm steht es in Plauen noch nicht: Oper gibt es hier noch. Aber halt wie?

     Aufgeführt werden soll „Aida“, doch ist von Giuseppe Verdis Festspiel und seiner Opulenz nur noch die Schlussszene zu retten, in der ein einziger Akteur sowohl den Radames als auch die Titelheldin singen muss. Auf drei Bläser – Sopransaxofon, Horn, Tuba – und einen Keyboarder schrumpft das Orchester. Dafür balgen sich drei Theaterleute, Regie führend, um den armen Solisten: Zornig wirft der Schauspieldirektor mit Büchern um sich; eine für Musikdramatik zuständige Dame traktiert den halbnackt und hilflos zusammenbrechenden Solisten auf Italienisch mit musikalischen Vortragsbezeichnungen („dolcissime … diminuendo … pianissimo …“); für den Film arbeitet ein englisch räsonierender Maniac. Sie alle sind, weil tarifvertraglich unkündbar, trotz des Kulturkahlschlags nochmal davongekommen: Die Kunst ist tot, sie blieben übrig.

     „Aida“, ein Musterexemplar der ganz großen Oper, im Fragment-Format auf der Kleinen Bühne statt im Großen Haus – trotzdem steht das Vogtlandtheater im richtigen Leben zum Glück nicht vor dem Untergang. Auch rief Pierre Boulez damals, 1967, in Wirklichkeit keineswegs zu explosiven Terrorakten auf. Vielmehr monierte er in einem legendären Spiegel-Interview die Verstaubtheit des gängigen, „äußerst altmodisch gebliebenen“ Musikbühnenbetriebs: „In einem Theater, in dem vorwiegend Repertoire gespielt wird, kann man nur mit größten Schwierigkeiten moderne Opern bringen. Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen.“

Parodie einer bitteren Realität

Das Theater Plauen-Zwickau spielt mit Mut moderne Opern, gleich zwei auf einen Streich, wenn auch kurze. Zur verhalten, aber lang beklatschten Premiere am Freitag waren sechs oder sieben Kritiker aus der ganzen Republik angereist: Für so ungewöhnlich gilt es dann doch, wenn ein Haus abseits der Metropolen „Radames“ und „Harakiri“ von Péter Eötvös auf den Spielplan setzt. 78 Jahre ist der bedeutende ungarische Komponist („Drei Schwestern“) heute alt; als experimentierfreudiger Jungdreißiger brachte er die Radikalsatire „Radames“ 1976 in Köln heraus.

     Zur gelegentlich und entfernt an Verdi anklingenden Musik, die Leo Siberski, Generalmusikdirektor der Clara-Schumann-Philharmoniker, vom E-Piano aus in flächiger Getragenheit ausbreitet, bewegt sich umso unaufhaltsamer eine Parodie aufs überzogene Ende zu, für das Regisseur Pöckel zusammen mit Ausstatterin Andrea Eisensee Bilder bitterer Realität gefunden hat. In fleckigem Schwarzweiß flackern sie vor allem auf zwei Videowänden, die zeigen, wie eine Kamera trostlos durch einen lost place, eine zerbröselnde, nicht mehr identifizierbare Betonruine fährt. (Sehen jetzt oder bald die Theater in der bombardierten Ukraine so aus?)

     Gleichsam haltlos schwingt Noah Xuhui zwischen Tenor-Belcanto (für Radames) und Falsett (für Aida) hin und her, wie ohne Orientierung, erst recht ohne Ziel: der Bühnenkünstler in der Rolle des willenlos in die Knie gezwungenen Opfers. Selbstherrlich werfen sich Regisseure und Regisseurin zu seinen schonungslosen Manipulatoren auf: Johannes Fritsche, der Mann vom Film, tigert lässig, aber bis zum Kontrollverlust unbeherrscht über den leuchtenden Boden; Marcus Sandmann als genervter Schauspielleiter hat sichtlich die Nase voll; und Małgorzata Pawłowska, vor Verzücktheit überschnappend, drückt dem armen Gesangsknecht am Ende die Luft ab, „morendo“ säuselnd: Sterben muss er.

„Die Oper ist schon tot“

Eine Parodie; komisch freilich ist sie nicht, vielmehr zynisch vor lauter Grimm. „Die Oper stirbt, ist schon tot“, singt das Inszenierungs-Trio, aber „die Regisseure bleiben am Leben“. Jürgen Pöckel gelingt die Horrorvision eines zwischen Finanzmisere und Künstlereitelkeiten aufgeriebenen Kulturbetriebs; zur lebendigen Satire freilich taugt Eötvös’ Stück in seiner Überhöhung und mit seinen unsinnlichen Abstraktionen wenig. So wie im Instrumentarium Streicher fehlen, bringt das Geschehen im Zuschauer, in der Zuhörerin keine Saite zum Schwingen. Um elaborierte Kunst handelt es sich zweifellos, indes um Kunst für einen rein kopfgesteuerten Diskurs.

Noch mehr gilt dies für den zweiten, kürzeren Teil des herausfordernden Abends. Zwei Bassklarinetten begleiten ein „Harakiri“, den japanischen Selbstmord-Ritus durch Aufschlitzen des Bauches. Zwar nimmt ihn in der gleichnamigen Kammeroper eine einsame, wie übriggebliebene Frau an sich vor; erinnern aber soll die japanischsprachige – von Małgorzata Pawłowska und Marcus Sandmann als höhnischen „Dolmetschern“ übersetzte –  Szene an den weltweit aufsehenerregenden Suizid des 45-jährigen Dichters Yukio Mishima im November 1970. In einem laublosen Niederwald aus schweren Holzklötzen, in denen Beile stecken, gibt sich die körperlich wie sprechgesanglich sehr bewegliche Risa Matsushima, im Kimono und von rotem Licht umflossen, einem Freitod hin, der ein wirklich frei gewählter „Teil des Lebens“ sein soll und „wie ein Kunstwerk“ jahrelanger Vorbereitung bedarf. Denn nicht nur als „Moment“ sind Geburt oder Tod zu verstehen, „sondern als Prozess“. So erläutert Regisseur Pöckel einführend das Geschehen mit Worten von Péter Eötvös, und so auch entwickelt sich seine Inszenierung: prozessual, im Wortsinn voranschreitend, als symbolgesättigte Choreografie und streng reglementierter Ablauf.

Etwas abseitsstehend misst ein rothäutiger Holzhacker (Johannes Fritsche), Scheite spleißend, dem Vorgang die sich auflösende Zeit zu. Bis in seine kraftvoll-förmlichen Bewegungen – und die zelebrierenden Gesten von Dirigent Siberski – hinein hat die Todesszene etwas sakral Entrücktes, unheilvoll Zeremoniöses. Gefeiert wird eine schwarze Liturgie des Zerfalls, nach der im Theater eigentlich nichts mehr kommen kann, es sei denn seine Sprengung.

Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.


Blicke hinter den Vorhang

Marie Curie, Romy Schneider, Petra Kelly: Drei Frauen, Zeiten, Lebensweisen – und doch nicht ohne Gemeinsamkeiten. Mit einem feministischen Ballettabend nimmt Choreografin Annett Göhre spektakulär Abschied vom Theater Plauen-Zwickau.


Von Michael Thumser

Plauen, 3. März – Einmal stolpern alle zehn Tänzerinnen und Tänzer auf die Bühne, als ginge ihnen die Puste aus. Korsetts umschließen ihre Taillen wie halbe Zwangsjacken und drücken ihnen die Kraft ab. Schier erstickend ringen sie nach Luft, bis sie sich die Mieder, als wärs mit einem letzten, äußersten Entschluss, von den Leibern reißen. Der erste Atemzug bringt erkennbar lustvolle Erlösung: ein kleiner Schritt in die Freiheit, eine Geste der Emanzipation.

Feministisches Tanztheater in Plauen – doch ohne die Parolen frauenrechtlerischer Ideologie, ohne Attackereiten gegen die vermaledeiten „alten weißen Männer“, die einfach nicht weichen wollen, schon gar nicht jungen Konkurrentinnen. Vielmehr setzt Annett Göhre auf die subtile Beobachtung dreier beispielhafter weiblicher Biografien und auf die suggestive Wirkung der Zeichen, in die sie die Frauen-Porträts überträgt: „Marie! Romy! Petra!“, wie die Hauptfiguren, heißt ihr großartiger Tanzabend, der letzte, den sie für das Theater Pauen-Zwickau produzierte. Denn wenn demnächst der Intendant des Doppel-Hauses wechselt – Dirk Löschner kommt für den scheidenden Roland May –, geht auch sie. Für die Kulturregion wahrlich ein Verlust.

Drei Ausrufezeichen hat sie gesetzt, hinter jeden Namen eines. Denn von exzeptionellen Frauen mit Idol-Charakter will sie erzählen; und darüber, inwieweit sie sich in patriarchalischen Zeiten und Umgebungen zu behaupten suchten. Alle drei hätten für ihre Berufe „übermenschliche Kräfte“ aufgewandt, teilt Göhre im Programmheft mit. „Bis zur Selbstaufgabe“: Das ist Berührungsfläche, fatales Leitmotiv, roter Faden. Über Unterschiede im Detail hinweg vereint die Choreografin die zweifache (Physik- und Chemie-)Nobelpreisträgerin Marie Curie, die gefeierte Filmschauspielerin Romy Schneider, die grüne Säulenheilige, Friedenspolitikerin und Umweltaktivistin Petra Kelly in einem Bildkonzept: Jeder der Damen weist die Bühne des Plauener Vogtlandtheaters – wo das Publikum am Sonntag die Premiere stehend bejubelte – einen Würfel zu, und jede Box ist anders. Drei Gefängniszellen?

Steinige Wege

Marie, an der Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert eine Pionierin bei der Erforschung der Radioaktivität, tugendhaft hochgeschlossen in schwarzblaues Tuch gekleidet, füllt die Wände ihrer Box hektisch mit naturwissenschaftlichen Berechnungen. Romy, in Schwarz und leuchtendem Rot Inbild moderner femininer Eleganz, beobachtet sich in fünf Spiegelflächen gleichsam vervielfältigt selbst. Petra, im Vergleich zu ihr eine graue Maus, hat ihre Zelle vollständig mit Merkzetteln und Manuskriptseiten, Statements und Gedankennotaten beklebt. Aus der fabelhaft durchtrainierten Compagnie, in der sich Geschlechter- und Figurenrollen vertauschen und durchmischen, treten Melissa Panetta, Yael Fischer und Momoe Kawamura plastisch als Protagonistinnen heraus, drei Darstellerinnen von überwältigender Präsenz, enthusiastischer Motorik und vielerlei Spannkräften, die sich noch in Stillstand und Erstarrung kundtun.

Kaum kommen sie vorbei an den Steinen, die eine vornehmlich maskuline Mitwelt ihnen in die Wege legt. Als bedrohliche Hindernisse schweben Felstrümmer gleichsam unverrückbar vom Schnürboden herunter, auf dass die Damen, jede auf ihre Weise, sich an ihnen abarbeiten. Zur Musik, die lauter Frauen von Henriette Bosmans bis Nina Hagen komponiert, präsentiert oder inspiriert haben, entwarf Annett Göhre kleine narrative Begebenheiten und, weit ausführlicher, faszinierend abstrakte Episoden von staunenswertem Einfallsreichtum. Überraschend treten während einer Szene die verschlungenen Aktricen und Akteure eine in den anderen über, indem kaum erkennbare Muster auf ihren Trikots unversehens zu den Gesichtern von Marie, Romy, Petra verfließen. Überhaupt gelangen der Ausstatterin Annett Hunger vielfach raffinierte, wenn nicht spektakuläre Bildfindungen: Mit Frisbeescheiben hantiert die Truppe, als wärens riesige, tanzende, strahlende Atome; durch die sich aufklappenden Wände der Spiegel-Box grapschen wimmelnde Finger nach Romy Schneider, als ob sie, die Traumfrau, für alle und jeden mit Händen zu greifen und verfügbar wäre.

Unliebsame Doppelgängerin

Zweifellos wurde Göhre von Größe und Untergang der Schauspielerin am stärksten beflügelt. In den oft fiebrigen, stets hochgradig ästhetischen und enorm detailreich absolvierten Bewegungs-Kompositionen breiten sich gerade ihre Befreiungsversuche eindrücklich aus. Ihr leibhaftiges Image als Diva tritt ihr in großer Galarobe gegenüber, eine unliebsame Doppelgängerin, die Yael Fischer als Romy bekämpft, von sich stößt, zu Boden zwingt – indes vergebens: Denn stets aufs Neue unbezwinglich steht das Double als Kontrahentin gegen sie auf. Der Kinostar als öffentliches, veröffentlichtes Wesen: Auf drei Projektionsflächen über der Bühne leuchten im fliegenden Wechsel Titelseiten von Illustrierten, Presse- und Filmfotos der Schönen auf. Popularität wird zum Fluch und Grund zur Flucht.

Ganz am Anfang der Aufführung gibt eine Frauenstimme ein Votum ab für Visionen des Außerordentlichen: „Die Menschheit braucht Schwärmer.“ Nicht viel später stellt sich (auf Englisch) aus dem Lautsprecher „immer dieselbe Frage: Was ist hinter dem Vorhang?“ Auch der spielt in Annett Göhres tragischem Dreiergipfeltreffen mit, allerdings erst ganz zum Schluss: Dann schließt er sich vor der Bühne – nachdem Marie, in einem Röntgenbild-Trikot, den Strahlentod gefunden, Romy sich zwischen Spiegelsplittern zur Grabesruhe gelegt und Petra die (selbst-)mörderische Pistolenkugel empfangen hat –; sichtbar schließt er sich vor einer bunten Schar alltagsbunter junger Leute, die miteinander tanzen oder einander den Mund verbieten oder sich gegeneinander wehren oder Party machen - ein zärtlicher oder gewaltsamer oder ausgelassener Ausklang. Bis dahin haben Annett Göhre und Annett Hunger gemeinsam mit der Compagnie hinter den geheimen, bergenden Vorhang dreier Persönlichkeiten geblickt und dort Unsagbares und Unausgesprochenes vorgefunden. Ihr Tanztheater verdreht dem Betrachter den Kopf, weil es sich dem verdolmetschenden Wort, einer Anschauung bis auf den Grund entzieht, weil sich die Innenwelten jener Frauen nicht beschreiben und ausdeuten lassen, sondern sich dem Gespür, der Anteilnahme und Vermutung öffnen mit der Fühlbarkeit eines Atemzuges oder Zwischentons, eines Augen-Blicks.

Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.


Als Gott betrunken war

Choreografin Barbara Buser und ihre Compagnie bringen „María de Buenos Aires“ ins Theater Hof. Astor Piazzollas „Tango-Operita“ fasziniert als Leidensgeschichte einer femme fatale aus der Vorstadt und proklamiert die Unsterblichkeit des argentinischen Nationaltanzes.


Von Michael Thumser

Hof, 29. Januar – Der Schauplatz des Stücks findet sich gesellschaftlich ziemlich weit unten auf dieser Welt, irgendwie aber hat es mit Religion zu tun. Eine fromme Andachtsübung ist es allerdings nicht, im Gegenteil. Von „Kreuz“, „Mysterium“ und „Auferstehung“ geht darin die Rede, sogar von „Eucharistie“, wenn auch einer „schmierigen“. María, die erbarmungswürdige Titelheldin, ist nicht etwa gebenedeit, sondern „vergessen“ unter den Weibern.

     Der Schauplatz im Theater Hof ist Hurenhaus und Tanzcafé. Auf der Drehbühne und darum herum hat Ausstatterin Annette Mahlendorf den Tresen, die Tischchen und Stühle einer Bar aufgebaut. Im „Café Victoria“ – vor der Fotoprojektion seiner abgeranzten Fassade – ereignen sich Geburt, Passion und Neugeburt der „María de Buenos Aires“; ihr, der armen Kirchenmaus aus der Vorstadt, die sich in den verruchtesten Winkeln der argentinischen Metropole als Dirne verdingt und für kurze Zeit als vielbegehrte und beneidete femme fatale reüssiert, widmeten Astor Piazzolla und sein Librettist Horacio Ferrer 1968 eine „Tango-Operita“, eine „kleine Oper“ der großen Leidenschaften, ein Tango- und also Tanzöperchen, aus dem Choreografin Barbara Buser fürs Theater Hof einen großartigen Ballettabend kreierte.

     Freilich nicht sie allein. Das Spiel einer Sängerin und zweier Sänger inszenierte in angemessener Gemessenheit Sandra Wissmann. Und Michael Falk leitet vom Flügel aus eine – auf der Bühne versammelte – Kombo aus Mitgliedern der Hofer Symphoniker, in der das Akkordeon Harald Oelers stilgerecht die hörenswerte Hauptrolle spielt. Gern beobachtete man auch die den Augen fast ganz entzogenen Musiker genauer, steuern sie doch die enormen instrumentalen Energien bei, mit denen „Tango-König“ Piazzolla sein einziges Bühnenwerk unterfüttert und aufgeladen hat. Alter Tango und neuer, der „Tango nuevo“, Walzer und Musette, dazu Toccaten und sogar eine famose Fuge fügt das Ensemble in doppelbödig sentimentaler oder zerrissen greller Farbigkeit und mit drängender Motorik aneinander.

Die Stadt des Schmerzes und der Freude

Weitgehend auf Spanisch teilen sich die Stimmen auf: In Sprechchören ergreifen die Tänzerinnen und Tänzer der Compagnie fordernd das Wort; solistisch erklingen Lieder des Stolzes wie der Schwermut. Zu ihnen indes würde der Belcanto der italienischen oder die volkstümliche Naivität der romantischen deutschen Oper ebenso wenig passen wie die Heroik der Wagner-Dramen, der Leichtsinn der Operette, der Showgesang des Musicals. Stefanie Rhaue – ihr Mezzosopran, aber auch ihre präsente Leiblichkeit – stattet die mädchenhafte und zugleich vollweibliche Titelfigur mit einer zum Scheitern verurteilten, gleichwohl großen Seele aus: „Ich bin María“, singt sie mit dem Brustton stolzen Selbstbewusstseins, „jeder Kerl zu meinen Füßen, wie eine Maus, muss in die Falle geraten.“ Ins Grau-in-Grau eines „schläfrigen Gauners“ gekleidet – und zwischendurch als schräger Zirkusdirektor einer psychoanalytischen Schwarz-weiß-Harlekinade –, vertieft sich Karsten Jesgarz kommentierend in die Schicksale der Antiheldin; bittere Weisheit hat die „Stadt des Schmerzes und der Freude“ ihn gelehrt und ihn dafür alle Illusionen gekostet. Nicht zuletzt seine rauer Poesie verbreitet das so trübe wie aufreizende Fluidum des Großstadt-Molochs „aus Tod und Orgasmus“ spürbar über die Rampe ins Auditorium.

     Dies dünstend brünstige Klima suggestiv umzusetzen, gelingt der Aufführung von Anfang an eindringlich, oft mitreißend. Der Symbolismus des Tanzes elektrisiert weit fiebriger als der gesuchte Surrealismus des Librettos, dessen allzu hohen Ton Horacio Ferrer prätentiös aus manierierten Metaphern zusammensuchte und zur Stilblütenlese verschmolz. Auf profane, wenn nicht lästerliche Weise heilig sollen die Verse klingen (das letzte der siebzehn Bilder heißt gar „Tango Dei“), denn unmissverständlich war es dem Dichter um eine Art schwarzer Liturgie zu tun.

Folgerichtig gibt Barbara Busers Choreografie den Tänzerinnen und Tänzern immer wieder grandiose Etappen rastloser Zeremonien vor, parallele oder symmetrische, auch verwirrend viel- und kleinteilige Ensembleaktionen von exzessiver Wucht. Die Balance halten diese Episoden mit unwiderstehlichen Paartänzen, in denen sich immer neu und vielfach anders die wechselnden Magnetkräfte des Tangos sammeln und befreien: Anziehung und Abstoßung, der Druck in den Lenden und die Androhung von Gewalt, der Aufruhr der Sinne und die Abfuhr, die ein Macho schnöde einer biegsamen Beauté erteilt, das Orgiastische hitziger Gemeinsamkeit und die rückhaltlose Verzweiflung des Zurückgewiesenwerdens. Er- und aufgeregt begegnen und trennen sich die Geschlechter in elementarer Promiskuität: Für Liebe hat der Sexus keine Zeit.

Mit zwanzig Machos im Rücken

Als Schar halb- bis unterweltlicher Monstren wimmeln die jungen Frauen und Männer wie bei einem Hexensabbat. Oder sie huldigen mit übergroßen, ent- und wieder zusammengefalteten Bälgen dem atmenden Ur-Instrument des Tangos, dem Bandoneon. Ungezogen zappeln Komiker und ihre weibliche Begleitung als Marionetten an Fäden, betrunken wie Gott, als er María schuf. Zu den vier Stimmen der Fuge läuft die Compagnie in Gruppen auf, deren geläufigen Umtriebe einander spiegeln oder zuwiderlaufen, bis die ganze Clique in einem Standbild einfriert. Kaum unterscheidbar von der Schar der anderen und doch immer wieder aus ihr heraustretend, in ihr untergehend, alsbald als „Schatten“ wiederbelebt: Naila Fiol, die mit verführerischer Hingabe um ihr Leben tanzende María der Premiere am Freitag. Ihr „lauern im Rücken die Gelüste von zwanzig Machos“ auf, was ihrem Gebaren bezwingende Dynamik verleiht, ihren Körper aber auch zur händeringend flüchtigen Jagdbeute hartnäckiger Verfolger macht. Ihre Leiche betten die Tanzenden auf den Tresen der Bar, als wärs ein Katafalk, Kerzen tragen sie heran und knien nieder: ein sakraler Akt, als gälte es, die verendete Hure wie eine Heilige zur Ehre der Altäre zu erheben. Indem María als Personifikation der Armen Argentiniens und seiner Hauptstadt ins Leben, in ein ewiges, zurückkehrt, postuliert sie die leidenschaftliche Unsterblichkeit des Tangos, des Nationaltanzes, der sich inmitten dieses Totentanzes als Lebenssubstrat bewährt.

     Mag sein, dass so viel subtropisch temperiertes Pathos nicht jede Saite des reservierteren Zentraleuropäers zum Schwingen bringt. In sich und für sich genommen aber fühlt sich die Hofer „María“ stimmig und stichhaltig an. Dem Rollennamen nach als „Geist“ und „uralter Anführer der Diebe“, in Hof als Barkeeper und Erzähler führte bei der Premiere Marian Müller durch die mystische Parabel. Ohne Scheu stellt er sich dem feierlichen Sound und gespreizten Gepräge des Geschehens, das sich aus Ingredienzien von Ballett und Oper, Melodram und Rezitation zu etwas Einzigartigem, hierzulande Ungekanntem zusammenbraut. Müller, mit seiner wohllautenden Stimme, ist gerade der Rechte, die Mixtur zu vollenden: nicht nur, weil sein Bariton schön klingt; der Künstler spricht auch wunderbar.

Als Grundlage für die Rezension diente der Besuch der Generalprobe.
Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.

 


Zugvögel unterm Traumfänger

Sechs Alleinreisende treffen in einem Motelzimmer zusammen. Alle haben ihr Päckchen zu tragen, was sie nicht am Singen hindert: Mit „Walk on the wild Side“ setzt das Schauspiel des Theaters Hof die erfolgreiche Reihe seiner szenischen Liederabende fort.


Von Michael Thumser

Hof, 4. Januar – Sie haben Glück: Den derzeit geltenden Corona-Regeln zufolge dürfen sich in Bayern bei privaten Zusammenkünften, zumal in geschlossenen Räumen, maximal zehn Personen treffen. Im Theater Hof sind sie nur zu sechst; offen bleibt, ob sie alle, wie vorgeschrieben, geimpft oder genesen sind.

     Einer nach der anderen betreten sie das großzügige Doppelzimmer eines US-amerikanischen Hotels oder Motels: Auf der Bühne im Großen Haus hat Ausstatterin Annette Mahlendorf einen ‚geschlossenen Raum‘ sparsam, aber elegant und luftig mit breitem Bett und Sessel, Deko-Schaukelpferd und -Koffer möbliert; an den glatten Klinkerwänden links ein ikonisches Kinoszenenbild aus „Easy Rider“, rechts die allbekannten „Nighthawks“, Edward Hoppers trostlos schöne „Nachtschwärmer“; von der imaginierten Decke schwebt ein Traumfänger herab. Drei Damen und drei Männer – Mitglieder nicht des Musik-, sondern des Schauspielensembles – stoßen hier, augenscheinlich unverhofft, aufeinander, Alleinreisende allesamt, die ihr Päckchen zu tragen haben, was sie nicht am Singen hindert; deshalb wartet auf jede und jeden an der Rampe ein Barhocker mit Mikro davor. „Walk on the wild Side“: Ihr „Spaziergang in der Wildnis“ richtet sich nach innen. Dort, in Herz und Seele, schaut es keineswegs immer ideal und lupenrein aus.

     Mit einem Spaziergang durch Hits der Sechziger- und Siebzigerjahre setzt Intendant Reinhardt Friese die Reihe seiner inszenierten Liederabende fort: Der Johnny-Cash-Abend „Ring of Fire“ mit Volker Ringe und Julia Leinweber zog Scharen begeisterter Zuschauerinnen und Zuhörer an, desgleichen die zwei Ausgaben der Schlager-Hitparade „Hossa!“. Doch anders als in jenen beiden krachend-fröhlichen Retro-Spektakeln geht es im aktuellen „Konzert im Moonlight Motel“ nicht parodistisch-komisch zu, sondern rockig-rhythmisch oder besinnlich und versonnen oder sehnsuchtsvoll-leidenschaftlich oder kompromisslos konfliktbereit … Wieder tun Ringe und Leinweber mit, sie temperamentvoll in Fransen-Top und bunter Flatterhose, zum Schluss mit Brautschleier und Kindergewehr, er im schwarzen Anzug als Kette rauchender Betroffenheitspathetiker à la Lou Reed oder Leonard Cohen, mit von lauter Lebenserfahrung brüchiger Stimme, versunken in die Betrachtung des Mondes, der riesenhaft vor dem Fenster steht (Videografie: Kristoffer Keudel).

Wild, weise und ergreifend

Außerdem stellen sich vor: Beatrice Reece als vor Passion glühende, ja explosive Rockröhre, auch zweier Benzinkanister wegen brandgefährlich; Dominique Bals als cooler Biker und Womanizer; Benjamin Muth als jugendlicher Westerner; und Carolin Waltsgott, gesanglich unvermutet hochtalentiert, als melancholisches Hippiemädel mit leergetrunkener Whiskey-Flasche in der Hand. Viel agieren sie nicht (wenn sies tun, dann tödlich), aber sie reagieren mit ihren Liedern aufeinander, stimmen sich zu, erheben Einspruch – und unterstützen überhaupt einander: Wenn eine oder einer singt, formieren sich andere oft zum Background-Ensemble. Mit insgesamt 27 Songs unter anderen von Janis Joplin und den Stones, Cohen und Reed, Bowie und Dylan, Aretha Franklin und Tina Turner nehmen sie einander das Wort aus dem Mund und den Ton aus der Kehle.

     Vieles reißt mit, manches rührt durch Innigkeit, anderes durch possierliche Unbeholfenheit wie ein Auftritt in der Karaoke-Bar. Mit den wildesten Momenten punktet Beatrice Reece, mit den weisesten Volker Ringe, mit den ergreifendsten Carolin Waltsgott: Ihr wird die Ehre zuteil, mit Billy Joels „And so it goes“ vor dem Publikum ihr Herz zu öffnen als den „Zufluchtsort“, wo die Wunden heilen, die Liebhaber ihr schlugen. Michael Falk, Leiter der Lifeband, begleitet sie dabei mit nichts als zarten Piano-Arabesken. Ansonsten spielen mit ihm vier bravouröse Musiker so emsig wie anpassungsfähig auf: die Gitarristen Oliver Schmidt und Christopher von Mammen – der auch ins Saxofon bläst –, der Bassist Ralf Wunschelmeier und der unverbrauchbare Harry Tröger am Schlagzeug. Leider müssen sie unsichtbar im Orchestergraben verharren – klangerprobte Kellerkinder, denen man doch ebenso gern zusähe wie den Vokalisten.

     Über ihnen füllt sich das Zimmer des Moonlight Motels mit flüchtigen Weisen und Harmonien, Stimmungen und Konfigurationen; ein Durchgangszimmer – Ort mindestens so sehr des Aufbruchs wie der Ankunft, keiner des Verharrens, sondern des Vorübergehens. Traumfänger sind die sechs selbst, Zugvögel, einer wie die andere, die einander die Bahnen kreuzen und sich ohne Lebwohl und Wiedersehen trennen. Sogar eine Leiche steht wieder auf, doch auch sie nur, um sich zu entfernen, wer weiß wohin; vorher allerdings singt auch sie sich noch eins.

Als Grundlage für die Rezension diente der Besuch der Generalprobe.
Informationen zur Produktion und über weitere Aufführungen im Internet: hier lang.