Sie spielen unser Lied
Krimi-Nostalgie im Theater Hof: Regisseur Frank Behnke und ein reibungslos aufeinander reagierendes Ensemble machen aus Agatha Christies „Mausefalle“ eine sympathisch altmodische Boulevardkomödie mit Spuren tieferer Bedeutung.
Von Michael Thumser
Hof, 12. November 2024 – „Wie lange geht das schon?“ Die Frage aller Fragen zwischen eifersüchtigen Eheleuten steht auch zwischen Mollie und Giles, den Betreibern des Landgasthofs Monkswell Manor. Betrifft die Frage das Theaterstück, in dem die beiden einander misstrauisch gegenüberstehen, muss die Antwort lauten: Es „geht“ schon verdammt lang. Seit 72 Jahren wird in London Agatha Christies „Mausefalle“ gezeigt, Tag für Tag – ein uneinholbarer Rekord: 28.201 Mal ging der Krimi dort seit der Uraufführung im Jahr 1952 über die Bühne, bis Corona am 16. März 2020 die längste ununterbrochene Aufführungsserie in der Geschichte des Welttheaters schnöde für eine Weile unterbrach. Naturgemäß denkt man in Hof ein bisschen kleiner: Dreizehn Aufführungen, die vom Publikum bejubelte Premiere am Freitag eingeschlossen, sind am Standort selbst sowie in Selb und in Aschaffenburg vorerst vorgesehen. Dabei stellt sich eine andere Frage aller Fragen: Whodunit? lautet sie in Mordgeschichten. Wer hats getan? Frank Behnkes Inszenierung beantwortet sie mit gut gealterten Spannungstricks, solidem Nachdruck und obendrein viel Spaß.
Geradezu klassisch variiert das Stück ein Thema, das der Krimifreund auch in anderen Variationen kennt, etwa aus dem elf Jahre jüngeren Edgar-Wallace-Streifen „Das indische Tuch“ oder François Ozons Kino-Musical „8 Frauen“ von 2002: In einem abgelegenen, isolierten Anwesen liegt jemand tot im Zimmer, und jeder könnte der Killer sein. Agatha Christie wählte die Flucht eines Frauenmörders als Ausgangspunkt ihres amüsanten Thrillers. Bald halten sich, Hotelierspaar und Gäste zusammengezählt, sieben Personen in der neueröffneten Herberge auf. „Schnee macht die Dinge kompliziert“, während die Bewohner, abgeschnitten von der Welt, immer fester glauben müssen, dass sich der gesuchte Unhold unter ihnen befindet. Hilfe ist bestenfalls von einem Kriminalbeamten zu erwarten, der nicht anders als auf Skiern zu ihnen stoßen kann.
„Unangenehm oder seltsam“
Leicht habens die Gastgeber nicht mit ihrer Klientel. Während die junge Mollie, als Dame des Hauses, bei Cornelia Löhr die dicke Luft mit der keimfreien Seifenreinheit einer ländlichen Doris Day erfrischt, gibt sich Gatte Giles (Marco Stickel) Mühe, seine Unsicherheit und Überforderung mitsamt dem partnerschaftlichen Argwohn durch zunehmend ungeduldige Dienstwilligkeit zu überspielen. Indessen erweisen sich die sämtlich allein reisenden Gäste, die nacheinander buchstäblich hereinschneien, als „entweder unangenehm oder seltsam“ – was fürs Publikum in Hof bedeutet: entweder als reichlich rätselhaft oder ausgesprochen amüsant.
Zur ersten Kategorie gehört Carolin Waltsgott, die als Ms. Casewell wie ein zierlicher Dämon Dunkelheit um sich verbreitet. Als Metcalf lässt Oliver Hildebrandt ahnen, dass weniger oder mehr oder ein ganz anderer in ihm steckt als ein übertrieben schneidiger, abgehalfterter Major in Zivil. Mit unwiderstehlicher Hyperaktivität gibt Maurice Daniel Ernst den Christopher Wren als jugendlichen Spinner, dem man nicht böse sein kann, sofern er nichts Böses im Schilde führt. Als „Mann, der aus der Kälte kam“ kopiert der entsprechend rotbackige Ralf Hocke in Mr. Paravicini vollendet den unnachahmlichen Oliver Hardy. Und von Anja Stanges hinreißend abscheulicher Schreckschraube Mrs. Boyle sähe und hörte man gern noch mal so viele Gehässigkeiten, wie sie ohnehin gallig verspritzt. Da hat Jörn Bregenzer als fieberhaft ermittelnder Detective Sergeant Trotter reichlich Auswahl bei der Tätersuche: Mit der Unnachgiebigkeit einer Tiefenbohrung nutzt er dabei die um sich greifende „Mechanik der Angst“, traut er doch jedem und jeder nur das Allerschlimmste zu.
Ein Musterstück
Typen, keine Charaktere: Natürlich wollte auch Frank Behnke – in Markus Pysalls zweckmäßig-unaufwändiger Ausstattung – den Stoff nicht als forensische Lehrstunde überstrapazieren. Lustvoll nutzen der Regisseur und das in vitaler Reibungslosigkeit aufeinander reagierende Ensemble die mancherlei Gelegenheiten zu schwarzhumoriger Untertönung und finden Zäsuren, um die Suche nach der Antwort auf die Frage aller Fragen durch Slapstick zu unterbrechen. Nach und nach aber offenbaren sich die Skurrilitäten und Exaltiertheiten der ersten Szenen als Vorwände und Camouflagen, hinter denen sich Gestalten ‚mit Vergangenheit‘ verstecken: Denn vor Jahren hat, ganz in der Nähe, der vermeidbare Tod eines vernachlässigten Jungen die meisten von ihnen mittel- oder unmittelbar traumatisiert. Als gruseliges Leitmotiv klingt immer wieder die Melodie eines Kinderreims bedrängend zwischen ihnen auf, sodass einer um die andere fürchtet: Da spielt irgendeiner unheilbringend ‚unser Lied‘. Niemand weiß vom Nächsten mehr als das, was er oder sie selbst von sich behauptet. Jeder ist peinigend mit sich allein, der Andere ist stets ein Fremder und vielleicht der Feind. Man muss Christies Genrekrimi nicht zum Psychodrama adeln, um ein bisschen Hintergründigkeit in ihm ausfindig zu machen.
Ein Meisterwerk? Mag sein. Jedenfalls ein Musterstück: Für unzählige Plots seither gab „Die Mausefalle“ die Formeln unverwüstlich vor. Mithin ist Nostalgie nicht nur erlaubt, sondern geboten: Mit der sympathisch altmodischen Produktion huldigt das Hofer Ensemble einer Autorin, die mindestens bis zu ihrem Tod 1976 zu Recht den Thron der queen of crime besetzt hielt und zweifelsohne selber das besaß, was sie in Tätern und Opfern ihrer Bücher installierte: „ein verrücktes, aber gerissenes Gehirn“.
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
Albtraum und Katzenjammer
„Das Wunder von Hof“ geht, 35 Jahre nach Ankunft der Prager Züge im Oktober 1989, im Theater der Stadt gründlich daneben. Immerhin: Eine Hälfte des Publikums bejubelt die Premiere des Auftragswerks stehend.
Von Michael Thumser
Hof, 8. Oktober 2024 – Das berühmteste Satzfragment der deutschen Geschichte, gesprochen von Außenminister Hans-Dietrich Genscher, brach am 30. September 1989 auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag ab, noch bevor das Wichtigste gesagt war. „Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Das Folgende verschwand im erlösten Jubelgeschrei von Hunderten Geflüchteten aus der DDR. Mal „kontrafaktisch“ nachgedacht: Was wäre geschehen, hätte der Schlussteil der Botschaft gelautet: „… dass heute Ihre Ausreise nicht genehmigt werden kann“? Wäre es unter den ausgelaugten, desillusionierten Männern und Frauen zu Ausschreitungen und Verzweiflungstaten gekommen? Jedenfalls hätte es die legendären Züge nicht gegeben, in denen 1200 „Botschaftsflüchtlinge“ tags darauf, am 1. Oktober um 6.14 Uhr, auf dem Hofer Hauptbahnhof ankamen und frenetisch willkommen geheißen wurden. Vielleicht hätte es – ein historisches Desaster – Mauerfall und „Wende“ nie gegeben.
Und jedenfalls nicht das Stück „Das Wunder von Hof“. Es wäre nicht schade darum gewesen. Im Auftrag des Theaters hat es Jörg Menke-Peitzmeyer geschrieben, und gemessen am Schlussbeifall nach der ersten Schauspielpremiere der Saison könnte man dem 58-jährigen Autor, der bisher namentlich mit erfolgreichen Kinderstücken hervortrat, zumindest einen Teiltriumph zusprechen: Die Hälfte des Publikums applaudierte stehend.
Ein „Wahnsinn“, damals und heute
Vor einem ruinösen, aber immer noch ansehnlichen Abklatsch der Haupthalle im Hofer Bahnhof (Bühnenbild: Johann Jörg) versammelt sich eine Fernseh-Filmcrew, um im Jahr 2024 den „Wahnsinn“ von vor 35 Jahren nachzustellen. Was natürlich nicht gelingen kann: Die fiebrige Erwartung einer Zeitenwende, die Aussicht auf Unglaubliches lassen sich in einer Low-Budget-Produktion nicht imitieren, das Produktionsteam des Films und sein Ensemble erweisen sich als ahnungslos oder dämlich oder zickig oder überambitioniert, und Regisseur Norman (Oliver Hildebrandt) muss der Statisterie recht geben: „Das Drehbuch ist scheiße.“ Schlimm genug. Schwerer wiegt aber, dass auch Menke-Peitzmeyers Drama, um im fäkalen Bild zu bleiben, zielgerichtet in die Hose geht.
Im Kern referiert sein Stück, was die Menschen hier – andernorts wird es wahrscheinlich niemals aufgeführt – seit 35 Jahren wissen: „Wir haben viel zu wenig gemacht aus Neunundachtzig“; nichts blieb übrig von der Solidarität und Superstimmung; den medial verbreiteten „Hochglanz“-Erinnerungen an eine unauslöschliche Sternsekunde der Weltgeschichte folgten, halb verheimlicht, „Albträume“ im Osten, im Westen Katzenjammer. Vor allem: Viele, die sich anmaßen, den Glanz jenes Epochenumschwungs und das „Wunder von Hof“ vollmundig zu feiern, sind viel zu jung, um selbst „dabei gewesen zu sein“. Auch Autor Menke-Peitzmeyer war nicht „dabei“; allerdings machte er sich bei dreißig hochfränkischen Zeitzeugen in stundenlangen Gesprächen schlau.
Aus seinen Recherchen zogen er und Regisseur Reinhard Göber ein Destillat, gemischt aus „Unterhaltung“ und „Bildungsauftrag“, das dem Haus derart brisant erscheint, dass es eine Triggerwarnung für angeraten hielt: Es sei, liest man an den Türen zum Großen Haus, mit „Nacktheit, Sexualität, politischen Implikationen“ zu rechnen – mit allem also, womit im echten Leben auch zu rechnen ist. Zur „Unterhaltung“ gehören die Versteigerung einer Konservendose mit Trabi-Abgas im Publikum, ein warum auch immer vollentblößter junger Mann (Maurice Daniel Ernst) und eine junge Frau (Charlotte Kaiser), die ihre angebliche Freude über den historischen Glücksmoment (warum auch immer) mit der gleichen stöhnenden Leibeslust vorspielt wie im Film „Harry und Sally“ die ungenierte Meg Ryan. Wo das Stück Komödie sein will oder soll, geht es, allfälliger Geistesblitze ungeachtet, im Krampflachhaften zugrunde, in Überkomik und Zwangslustigkeit, die der Regisseur den Darstellerinnen und Darstellern offenbar verordnet hat.
Betroffenheits-Elegien
Beharrlich zeigt die Saaluhr auf der Bühne 6.14 Uhr, wie die Zeiger steht die Handlung für gut hundert Spielminuten still. Fragment, wie Genschers Prager Satz, bleibt das Stück, verrät es doch, über die Benennung seines Anlasses hinaus, kaum Konkretes über sein eigentliches Anliegen und streckt und dehnt sich nur, entwicklungslos. Den „Bildungsauftrag“ erledigen, vor allem im letzten Drittel, Betroffenheits-Elegien wie aus FAZ-Leitartikeln oder Features des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, vor allem am Ende mit seiner weichlichen Wegweisung zu historischer Klarsicht und zukunftstauglicher Neubesinnung.
Vor drei Jahren scheiterte am selben Ort bereits Franzobels Hexen-Werk „Anna Viehmann“ um eine vermeintliche Zauberin im Hof des siebzehnten Jahrhunderts: ein ziemlicher Albtraum. Mit Stücken aus der Lokalgeschichte hat das Haus mithin kein Glück. Nun steht „Thea von Tauperlitz“ in den Startlöchern. Droht der nächste Katzenjammer? Wird schon schiefgehen?
■ Informationen über die Produktion und weitere Vorstellungen im Internet: hier lang.
■ Kristoffer Keudels Einpersonenstück „Thea von Tauperlitz oder Kein Denkmal für die Frau hinter ‚Metropolis‘ “ mit Alrun Herbing in der Rolle der Drehbuchautorin Thea von Harbou (1888 bis 1954) hat am 18. Oktober im Studio Premiere. Informationen: hier lang.