Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Luisenburg-Festspiele

So hört Gott die Welt

Mit einem Bombenerfolg eröffnet Wunsiedels Naturbühne ihren Festspielsommer. Zwei grandiose Hauptdarsteller nutzen Peter Shaffers „Amadeus“ als Gelegenheit für ausgefeilte Charakterkunst. In dem berühmten Meisterdrama legt Regisseurin Veronika Wolff lebhaft dar, dass sowohl das Gute wie das Böse mitmenschlich ergreifend scheitern kann.


Von Michael Thumser

Wunsiedel, 14. Juni – Das Gute und Schöne ist schön und gut. Aber das Böse ist noch besser. Gelegentlich. Zumindest auf der Bühne (und im Film). Zum Beispiel Goethes „Faust“: Den titelstiftenden Gelehrten spielen zu dürfen, gilt am Theater als eine hohe Weihe. Welche Freude aber bereitet es wohl erst, in die Rolle des Mephisto zu schlüpfen: in die des Geists, „der stets verneint“, der Kraft, „die stets das Böse will und stets das Gute schafft“?

     Zum Beispiel Peter Shaffers „Amadeus“. Der Titelheld, Mozart, kann gar nicht anders, als lauter sehr gute und wunderschöne Musik hervorzubringen. Als Hauptfigur des autobiografischen Erzähltheaters indes bekennt sich von Anfang an sein Gegenspieler: Antonio Salieri, im Wien des späten achtzehnten Jahrhunderts als Compositeur des Kaisers von allerhöchster Gunst besonnt, bis er sich neben dem in der Metropole unverhofft aufgetauchten Jungstar plötzlich dazu verurteilt sieht, sein eigenes „Mittelmaß“ anzuerkennen. So will er denn, wie er in seinem dramatischen Bericht mit Wut und Freimut zugibt, wenigstens durch eine historische Übeltat im Gedächtnis der Nachwelt weiterexistieren, als Giftmörder des uneinholbaren Genies. Freilich hat er allen Grund, sich nach Jahren selbst zu fragen: „War ichs, oder war ichs nicht?“ Gleichviel: Noch im Untergang dominiert er als Urheber und Vollender des Geschehens, als Spielleiter des Verhängnisses, Zentralfigur eines großartigen Stücks.

     Auf der Luisenburg setzt Paul Kaiser seine tödlichen Winkelzüge mit mephistophelischer Zielgenauigkeit ins Werk. Für die Eröffnungsproduktion der diesjährigen Festspiele hat Kostümgestalterin Marion Hauer ihn als Einzigen in die Dunkelfarben und Rabenschwärze einer schlimmen Nacht gekleidet, aus denen sein scharf geschnittenes Paganini-Gesicht, unter wirrem, dunklem Haar, fanatisch und durchtrieben aus schlauen Augen herausblickt und -blitzt. Ein abgefeimter Schuft, den man nicht zum Gegner haben möchte – ein hinreißend irrlichternder Schauspieler, von dem man nicht genug bekommt; und eine Figur, die einen in der Seele dauern muss, wenn sie an ihrer Unzulänglichkeit und Missgunst und an der Übergröße ihres Widerparts sich aufreibt, verzweifelt und zerbricht.

Bravouröser Drahtseilakt

Dem Spieler dieses Parts ist die Spitzfindigkeit auferlegt, als unerbittlich Hassender nicht hassenswert zu werden, die Balance zu halten zwischen der ausgekochten Intriganz eines unfehlbaren Teufels und dem Scheitern als Schicksal, das jedem Sterblichen droht. Ein Drahtseilakt: Paul Kaiser absolviert ihn bravourös. Zum Bombenerfolg für Wunsiedels Naturtheater (das Publikum feierte am Freitag die Premiere stürmisch) gerät die vor Lebendigkeit wie vor Esprit sprühende Inszenierung namentlich durch ihn, wenn auch nicht durch ihn allein.

     Aber wie als Mitwirkender bestehen, ohne Schwächen zu zeigen, neben einer Antriebskraft wie ihm? Regisseurin Veronika Wolff entschied sich klug, die Sonderrolle Salieris nicht realistisch zu relativieren, sondern durch Janusgesichtigkeit zu überhöhen: als die eines Dämons, doch eines gedemütigten. Der schwarze Mann kämpft in einer klinisch reinen Welt unantastbarer Glätte: Mit weiten weißen Treppen hat Bühnenbildnerin Sabine Lindner das Spielfeld ausgelegt und die Felsen bis hoch oben weiß möbliert. Weiß wie Schnee schimmern die Galaroben und Gewänder. Auf den Häuptern der vornehmen Herrschaften (darunter Jimmy Hartwig als einfältig-gutmütiger Kaiser, Julian Niedermeier, Jens Wassermann und Lukas Schöttler als bald hochmütige, bald speichelleckerische Schranzen) wogen, ja türmen sich helle, hirnverbrennende Perücken. Janina Raspe, Mozarts Constanze, fidel in den Gemahl verliebt und unbedingt loyal zu ihm, lässt sich angeekelt herbei, vor ihrem Erpresser Salieri die Beine unterm weißen Spitzenreifrock breit zu machen, bevor sie ihn wie einen „alten weißen Mann“ verflucht.

Lästerliche Lichtgestalt

Wie sich als Salieris Antagonist bezeichnend zu erkennen geben, in all dem unkolorierten Glanz (in den sich einmal, magisch angeleuchtet, sogar das Laub der nächtlichen Bäume überwirklich teilt)? Wie Mozart sein, die Lichtgestalt? Durch Farbe; durch Lässigkeit bis zur Schweinigelei. In bunt gemusterten Leggins und Sportschuhen, in extravaganten Samt- und Felljacken stiefelt, hampelt, hopst der Bürgerspross und Adelsschreck durch die dünnluftige Feudalsphäre hochwohlgeborenen Getues und überfeinerter Ziererei. Ein Lümmel, ungehobelt, mit punkiger Perücke und Pornoschnauzer: Philipp Moschitz – aufgedreht und unterwürfig, gehorsam und unverschämt, flink, flatter-, fieberhaft bis zur inspirierten Panik; und nebenbei vorbildlich vertraut mit der nur kurz, doch wiederholt eingespielten mozartschen Musik.

     Zwei  aufgeregte „Venticelli“ (Lisa Mader und Nikola Norgauer, klatschsüchtige Gerüchtemacherinnen) kündigen den Wienern Mozarts forsches Wesen als „heiteren Übermut“ und „ungezwungene Manieren“ an; rasch aber entpuppt sich der Hitzkopf als „obszönes Kind“ und „altkluger Bengel“, der den Musik-Magnaten Salieri kaltschnäuzig als künstlerisch impotenten „Idioten“ verlästert. Der wiederum, allen berechtigten Grimms unbeschadet, „erbebt“ gleich bei der ersten Begegnung mit dessen überirdischer Kunst, „quälendes Entzücken“ impft ihm ihre „makellose Schönheit“ ein: „So hört Gott die Welt“, jener Gott, der mit dem „grässlichen Kichern“ des Kindskopfs ihn, Salieri, verlacht. Aber selbst ein Mozart ist für die Wiener Hautevolee kaum mehr als eine Modeerscheinung, erniedrigend beschränkt geht sie nach einer Weile über ihn hinweg. Auch darum durchläuft das Klanggenie  mit Philipp Moschitz – während Salieri früh böse wird und es dann bleibt – bewegend eine Wandlung: Am Ende krümmt Mozart, der „die Schlechtigkeit ringsherum nicht erkennt“, sich voller Lebens- und Todesangst auf dem Schoß des vermeintlichen „Freundes“ zusammen.

Zwei „Vergiftete“

„Auch das Schöne muss sterben“, klagte Friedrich Schiller neun Jahre nach dem Tod des Glücksboten und Unglücksraben Mozart. Auf der Luisenburg gehen er und in ihm das Schöne herzergreifend wie ein wimmerndes Kind zugrunde, egal ob an Nierenversagen, der Syphilis oder an Salieri. An dem, seinerseits, erfüllt sich das Mephisto-Phänomen: Für den naiven Antipoden wollte er stets das ausgeklügelt Schlimmste, und doch vermehrt er gerade dadurch dessen grandiosen Nachruhm, mit dem Mysterium eines Unschuldsengels, der himmelschreiender Ruchlosigkeit zum Opfer fiel. „Vergiftet“ – das erkennt Salieri, und das macht die Inszenierung Veronika Wolffs  nachdrücklich offenbar – wurden beide: er selbst, die Koryphäe, durch die Galle des Neides, der andere, der begnadete Narr, durch den Geifer der Niedertracht und Ignoranz. Die Jahrhunderte seither haben die Toxine abgebaut. Antonio Salieri, soviel steht heute fest, war weitaus mehr als nur der „Schutzheilige der Mittelmäßigen“. Und Mozart strahlt am Firmament der Tonkunst als Polarstern, ziemlich isoliert, aber unauslöschlich.

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Es ist Feuer in der Bude

Klimakämpferin Greta Thunberg besucht die Stadt, und zwei Mädchen machen sich mit einem Kumpel zum Schulstreik bereit. Das Junge Theater Hof debattiert vor jungen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten, wie sie sich für die Zukunft des Planeten engagieren können und ob das noch Sinn hat.


Von Michael Thumser

Hof, 28. Mai – Was für ein Jahr! Ein Jahr der „Zeitenwende“. Die verkündete unser Bundeskanzler, nachdem Wladimir Putins Armee unprovoziert in die Ukraine einmarschiert war. Nun liefert Deutschland, was es noch nie tat, schwere Waffen in ein Kriegsgebiet, und unsere Bundeswehr kriegt hundert Milliarden Euro.

     Was für eine Welt! Die „Zeitenwende“ liegt, wenn wir Greta Thunberg und den Klimaaktivistinnen und -aktivisten ihresgleichen glauben, viel länger zurück. Haben den Umweltkrieg gegen unseren Planeten erst unsere Eltern oder Großeltern eröffnet? Warens vielleicht schon unsere steinzeitlichen Vorvorfahren und Ururahnen?

     Was für ein Tag! Heute, brüllen Alina, Betty und Claudio, heute „kommt Greta nach Hof“. Greata, die Große, nennen die drei sie auf einem der vielen Schilder und Plakate, die sie für die Kundgebung vorbereitet haben. Mit ihnen entern sie geräuschvoll die Bücherei der Schule, wo sie schon erwartet werden: von den Jungs und Mädels der Klasse 5d, die vergleichsweise superbrav auf ihren Stühlen sitzen. Auf eine nachdenkliche, vor allem aber wilde Stunde dürfen sich die Kinder gefasst machen. Denn wie ein Sturmtrupp bricht das ABC-Team Alina, Betty und Claudio zu ihnen durch und würde die Elf-, Zwölfjährigen, die vor Überraschung kichernd die Augen aufreißen, am liebsten gleich im Schlepptau mit zur Demo nehmen.

„Der Planet verreckt“

Was für Zeiten! Die Welt, wie wir sie kennen, viel zu lang schon von uns Menschen bedenkenlos überhitzt, vergiftet, zugemüllt, ausgebeutet, sie steht haarscharf vor dem tipping point, droht unaufhaltsam wegzukippen in den Untergang. „Das echte Leben ist, dass der Planet verreckt.“ Darf man also „wegen ein paar Mathestunden die Zukunft aufs Spiel setzen“, fragen die drei aufmüpfig und mit frechen Schnauzen ihr Publikum. Ist Schulstreik nicht viel wichtiger als Unterricht? „Hier lernt man nicht, wie man Überschwemmungen und Dürren verhindert.“ Artig hört die Klasse 5d zu, wenn auch fast ohne sich zu rühren. Betty wundert und empört sich: „Ist das hier ne Klosterschule?“

     Das allerdings nicht, sondern das Hofer Johann-Christian-Reinhart-Gymnasium. Natürlich kam am vergangenen Mittwoch, an dem hier das Klassenzimmerstück „Greta“ morgendliche Premiere feierte, Greta nicht an die Saale. Aber das Junge Theater Hof tut eine Stunde lang so, als stünde der Besuch der erst neunzehnjährigen, doch längst weltberühmten Ökostreiterin unmittelbar bevor. Ein erwachsenes ‚ACB-Team‘ spielt das jugendliche ABC-Team – Alrun (Herbing), Cornelia (Wöß) und Benjamin (Muth) –, und sie vereinnahmen den Schauplatz draufgängerisch wie Halbwüchsige, mit einer Triebkraft und Ungebärdigkeit, dass es den Zuschauerinnen und Zuschauern nicht schwerfällt, sie für nur wenige Jahre älter zu halten als sich selbst.

     „Wir sind jung, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“, skandieren die Drei unisono aus vollem Hals. Alina und Betty halten eine „Trauerrede“ auf die – schon verlorene? – Erde: „Die allerletzte Diagnose hat unsere allerletzten Hoffnungen zerstört.“ Mit lustiger Großmäuligkeit mahnen und appellieren sie; dabei ist ihnen keineswegs zum Lachen. Cornelia Wöß, im schwarzen Dress der Aktivistin Betty, komödiantisch cool vor Temperament, schäumend vor Zorn, fidel vor Tatendurst, nimmt kein Blatt vor den lästerlichen Mund. Aus Alrun Herbing indes, der weit manierlicheren Alina, spricht eher die verbindlich-reife Stimme der Vernunft, freilich auch die der Resignation. Horrorvisionen einer schon ziemlich nahen Zukunft suchen sie heim. „Ich habe hier und jetzt Angst“, bekennt sie mit Grausen, weil sie weiß: „Es ist Feuer in der Bude“ und „Kein Land, auch unseres nicht, kommt einfach so davon.“ Am wenigsten gehört (noch) der Claudio von Benjamin Muth zur Truppe; worum es geht, versteht er gut, doch hält er sich auch gerne raus und hat obendrein im Hinterkopf, was seine Chefin von ihm, dem Auszubildenden, erwartet: Soll ers wirklich wagen, für den hehren Zweck – das Klima und die Welt zu retten – als Streikender die Arbeitsstelle zu riskieren?

Pessimismus, anfallsweise

Ein ungewöhnliches Stück: nur Reden und Gegenreden, viel Aktion, keine Handlung. Dem Darsteller-Trio der deutschen Erstaufführung und ihrem Regisseur Marco Stickel hat das Autorenduo Suna Gürler und Lucien Haug die Arbeit nicht eben leicht gemacht, ein Spiel daraus zu entwickeln. Die beiden Schweizer waren klug genug, die Dialoge nicht billig mit bierernst-fundamentalistischen Klischees eines Öko-Agitprop-Theaters vollzustopfen. Vielmehr gehts zumeist humorvoll flink und witzig dreist zur Sache zwischen den Dreien, die Stickel pfiffig in einem kleinmaschigen Netz bald beiläufiger, bald zeichenhafter Beschäftigungen zusammenhält. Umständlich blasen sie Gummibälle auf, Miniaturabbilder des malträtierten blauen Planeten; nach einem zündenden Argument klatschen sie sich triumphierend ab, legen die Arme um- oder tanzen miteinander; wo einem die Einstellung des anderen nicht passt, gehen sie aufeinander los oder, gekränkt, auf Abstand. Eine Clique bilden sie und machen doch, bald aufgekratzt, bald kleinlaut, Widersprüche spürbar: solche untereinander sowieso; naturgemäß solche zu den Eltern und Erwachsenen; nicht zuletzt Widersprüche in sich selbst. Wir sollten keinesfalls  an ihrem guten Willen zweifeln. Aber die Zwänge des Alltags machen ihnen, wie uns allen, mächtig Druck.

     Auch den Streik-Blues kennen sie bereits, den „pessimistischen Anfall“ jenseits der Motivation. Was sie mit Gluteifer unter- und an „Verantwortung“ und „Opfern“ auf sich nehmen – hat das überhaupt noch Sinn? Allein schon darum: Auf zur Demo! Dort holen sie sich „das Gefühl: Du bist nicht allein.“ Egal, wie fest A oder B oder C zum Team gehört: Gemeinsam, und stürmisch, machen sie sich auf den Weg zu Greta. Was für ein Tag! Betty saust schon zur Tür, als Claudio sie ermahnt: „Nimm deinen Müll mit.“

■ Als Grundlage für die Rezension diente der Besuch der Generalprobe.
■ Buchungen für Schulen und andere Einrichtungen telefonisch unter (09281) 7070-123; E-Mail: theaterpaedagogik2@theater-hof.de
■ Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.



Ein Geruch von Neckermann

Beim Sächsischen Theatertreffen zeigt das Staatsschauspiel Dresden im Vogtlandtheater zwei tragikomische Dystopien des Kleinbürgertums: Ein Fräulein und ein Versager, in Enge gefangen, suchen Erlösung im Freitod. Man darf die beiden komisch finden – und sollte sich schämen deswegen.


Von Michael Thumser

Plauen, 17. Mai – Das war damals, als man zu unverheirateten Frauen noch „Fräulein“ sagte. Da dachte sich Franz Xaver Kroetz für sein Monodrama „Wunschkonzert“ ein mittelaltes Mädchen aus, „gepflegt“, wenn auch recht „hässlich“,  und ließ es auf der Theaterbühne einen ganz normalen, also normal trostlosen Feierabend verbringen. Im Vogtlandtheater, fast fünfzig Jahre nach der Uraufführung, kommt jenes Fräulein Rasch abgehetzt, wie es ihr Name fordert, von der Arbeit nach Hause. Sie wäscht erst sich, später ihre Unterwäsche. Sie wischt, putzt und poliert und erweist sich überhaupt fast zwanghaft als Sauberfrau. Sie geht aufs Klo. Sie raucht süchtig im Zeitraffer und nimmt ihr Abendessen in Zeitlupe wie eine erotische Erquickung zu sich. Sie prostet der Luft zu. Sie knüpft an einem bunten Flokati und saugt dann nochmal durch. Sie macht sich bettfertig, liest noch ein paar Seiten, drückt Schlaftabletten – viel zu viele – aus der Blisterfolie, träumt sich schön mit Schmuck und Schampus. Stirbt.

     Ist das so, heute: Alles geht schlecht aus? Mit zwei Dystopien des Kleinbürgertums (wie man damals sagte) oder aus dem Prekariat (wie man heute sagt) gastierte das Staatsschauspiel Dresden beim Sächsischen Theatertreffen, dessen elfte Auflage, vom Theater Plauen-Zwickau ausgerichtet, am Sonntag nach sechs Tagen zu Ende ging. Ein großartiges Gastspiel mit zwei staunenswerten Stücken, trotzdem kein Abend, der in zwei Hälften zerfiele: Denn konsequent überhöht gehen die Kurzdramen in Lilja Rupprechts gewitzter Inszenierung ohne Pause ineinander über. Fast verschmelzen sie im knallroten und -gelben, luftig-transparenten Stangen-Bühnenbild Paula Wellmanns und durch die monströsen Köpfe und gesichtslosen Masken, mit denen Annelies Vanlaere die Aktricen und Akteure beeindruckend verfremdet und entstellt.

     Die Winzigwohnung, schon zu Lebzeiten des Fräulein Rasch veränderlich wie in Träumen, sie beherbergt auch die Familie Raab. Vatermutterkind: Herr R. will funktionieren, daheim und im Beruf, ist aber bloß ein halbes Hemd. Zu Hause sprechen die dominanten Eltern und Frau Raab in der dritten Person über ihn, als wär er nicht im Zimmer. Im Büro staucht ihn sein Chef mit unverständlichen Tiraden zusammen. „Sie sollten sich steigern“, mahnt er, sonst wird nichts aus der Beförderung, mit der Frau Raab fest rechnet. In der Schule lässt eine Lehrerin durchblicken, der Filius könne ein Versager bleiben wie er selbst. Vor zwei tumben Plattenverkäuferinnen macht sich Herr Raab lächerlich und blamiert sich erst recht während eines Betriebsfests. Frau Raab sagt: „Je älter du wirst, desto dümmer wirst du. Und fetter.“ Eine Nachbarin schaut vorbei und plappert, ohne Atem zu holen, der Familie tolle Skiurlaubserlebnisse vor. „Warum läuft Herr R. Amok?“ Na, darum. Herr R. macht Schluss mit allem, allen und sich selbst.

Leben in Gefangenschaft

So durchsichtig und leicht die Einheitsszenerie auch aussieht und, mit der Zeit sich zerlegend, sogar in die Höhe und die Breite strebt – sie umschließt eine Welt, aus der es kein Entkommen gibt. Das Fräulein und der Loser: Beide darf man komisch finden, sollte sich freilich schämen deswegen. „Spießig sind wir nicht“, behauptet Herr R.; aber natürlich sind sies alle, auch das Fräulein Rasch, in deren wohlgeordnet fadem Minibiotop gemäß Regieanweisung ersichtlich „der Geruch von Neckermann“ hängt. In beiden Stücken dokumentiert Regisseurin Rupprecht amüsant grotesk und abschreckend grausam das Leben als Gefangenschaft; objektiv tut sies, nicht ganz teilnahmslos zwar, doch mittels der bis zur Vergewaltigung verzerrenden Maskerade aus gehöriger Distanz.

     Zu schauen gibt es in den Stücken wahrlich Wunderliches. Worte fallen indes nur zum Teil. Das Fräulein, in Kroetz’ „Wunschkonzert“, tut fortwährend irgendwas, aber sagt keinen Ton dabei. Mit fesselnder Präsenz füllt Christine Hoppe fünfzig stumme Minuten eines erbarmungslosen Theaters der (scheinbaren) Unerheblichkeit, dem das – am Ende begeistert applaudierende – Plauener Publikum mit Spannung und Vergnügen folgt. Wie jedem ‚überflüssigen‘ Menschen haftet auch dieser von Monotonie gefesselten Randexistenz etwas unweigerlich Komisches und Possierliches an, das ergreift und zugleich zum Spott animiert. Von Fabian Ristaus Livemusik an Keyboards und Schlagzeug begleitet, laden sich die gleichgültig-selbstverständlichen Verrichtungen der Schauspielerin mit einer haargenauen Choreografie auf, die sie vorübergehend ins Fantastische enthebt, bis das Fräulein umso härter im weichen Totenbett seiner letzten Nacht landet.

     Nicht anders, nämlich aufs Genaueste, klügelte die Regisseurin jeden Schritt und jede Geste aus, die Herrn R.s kurzem, aber heftigem Amoklauf vorausgeht. Nun freilich spielt ein Ensemble – um den fabelhaft ‚normalen‘ Matthias Reichwald und die herausfordernde Nadja Stübiger als Ehepaar Raab –, und es darf sattsam quasseln, schwafeln und palavern. Lilja Rupprecht lässt die Debatten so spontan und flüssig, ungekünstelt und alltäglich sprudeln, als ob die Darstellenden sie sich von Moment zu Moment selbst ausdächten. Wirklich basiert das Stück auf der Improvisations-Vorlage für einen 1970 von Michael Fengler gedrehten Film gleichen Titels (als dessen Regisseur fälschlich Rainer Werner Fassbinder firmiert). Fix, fast hastig drängen die verbogenen und verzogenen Gestalten, bizarr wie Außerirdische mit Höckerhäuptern, den noch am wenigsten deformierten Herrn R. ab und in die Ecke. Dorthin, wo alle Kommunikation versagt: Fortwährend wird geredet, und doch scheint jeder Satz lädiert.

     Im Grunde bräuchte, so wie am letzten Abend des Fräulein Rasch, gar nicht erst gesprochen zu werden.



Die Diva unter den Dieben

Boulevard banal in Selb: Christine Neubauer, populäre Leuchte unter Deutschlands Fernsehaktricen, enttäuscht in der unbeholfenen Tourneetheater-Produktion eines kläglichen Lustspiels.


Von Michael Thumser

Selb, 28. April – Verbrechen macht Spaß. Freimütig gibt Celine zu, ihre nächtlichen, ausdrücklich gewaltfreien Einbrüche „aus Vergnügen“ zu begehen. Nach vollbrachter nächtlicher Straftat verbringt sie ihre Tage unauffällig in ihrem wohlstandsbürgerlichen Heim. Das hat ihr, in Selb, Bühnenbildner Elmar Thalmann elegant designt, mit untrüglichen Trophäen ihres einträglichen Metiers: An den Wänden prangen Originale von Miro, Rothko, Mondrian.

Celine: die nie geschnappte Königin unter den Einbrechern. Im Rosenthal-Theater – wo sie sich am Dienstag in dem nach ihr benannten Lustspiel die zweifelhafte Ehre gab – stöckelt sie in einem leopardierten Fähnchen einher oder rauscht in einem ebensolchen Galakleid die Treppe herab, als beträte sie die Arena einer Fernsehshow: Wie ein Star wirft sich Christine Neubauer als Diva unter den Dieben peinlich in Pose, nimmt den Mund gern voll und begleitet jedes ihrer dick aufgetragenen Worte mit gestelzten  Gebärden; oft lacht sie (was sympathisch ist), leider viel zu laut (was bald sehr nervt). „Overdressed“ und overacting: Die Künstlerin, seit Mitte der Achtzigerjahre als Fernseh- und Filmaktrice vielbeschäftigt und beliebt, mit renommierten Preisen ausgezeichnet, findet in der Titelrolle zu keinem Augenblick unverspannter Natürlichkeit. Sie kann nicht anders. Kann sies nicht besser?

Maria Pacôme, gefeierte französische Schauspielerin und gefeierte grande dame des leichten Lustspiels, schrieb sich die Celine 1977 auf den eigenen Leib und riss damit ein ganzes Jahr lang das Pariser Publikum hin. Für völlig misslungen wird man ihr Stück folglich nicht halten dürfen. In Selb indes spult es sich ohne Hintergedanken, Feinheit, Schläue ab: So wie es Thomas Rohmers Theatergastspiele Fürth vorführen, flach in den Dialogen, voll verbrauchter, flauer Pointen, mit ein paar Kinkerlitzchen aufgepeppt, ist es nicht der Rede und schon gar nicht einer Inszenierung wert. Um Neubauer, das selbsternannte „Vollweib“, als sich aufspielenden statt spielenden Dreh- und Angelpunkt der Produktion kreisen Gerda Steiner als neunmalkluge Haushälterin und Moritz Bäckerling, absurd kleinkindlich, als Amateur-Langfinger Guillaume, den sich Celine prahlerisch zur Brust und in die Lehre nimmt, um mit dem malerisch begabten Blindgänger eine Fälscherwerkstatt zu begründen. Später schneien noch ihr „furchtbar“ ehrenwerter Sohn und dessen Freundin (Stefan Peschek, Fee Denise Horstmann) herein.

Samt und sonders erschütternd nuancenlos, chargieren sie so laienhaft, als stünden sie zum ersten Mal auf einer Bühne und vor leibhaftigem Publikum. Da zeigt sich, dass TV-Routine, die das Programmheft ihnen allen reichlich nachweist, Theatererfahrung nicht ersetzt. An selber Stelle liest man überdies Kluges über die Reize „raffinierter“ Boulevarddramatik: „Pikanterie“, heißts da, ist dabei „Trumpf“, sie „knistert“ und „prickelt“, überrascht mit „paradoxem“ Esprit, „kräftiger Situationskomik“, „schillernder Psychologie“ … Nichts davon lässt sich dem Stück nachrühmen; nicht in dieser Aufführung.

Immerhin, Mut haben die Damen und Herren. Den Mut der Verzweiflung? Keine dreißig Autominuten vom Theater Hof und keine fünfzig vom Plauener Vogtlandtheater entfernt, wagen sie sich in die Nähe einer Konkurrenz, neben der sie alt aussehen müssen. Spaß ist anders, und noch vor dem Ende der Vorstellung die Flucht zu ergreifen, ist kein Verbrechen.

■ Nächste Veranstaltung im Rosenthal-Theater am 10. Mai um 19.30 Uhr: „Meine Rede“, Kabarett mit Bruno Jonas.
■ Der Spielplan des Rosenthal-Theaters im Internet: hier lang.



Per Eilpost auf zum Himmel

Durch die Rückwand des Theaters Hof bricht ein Panzer: Mordlustig und mit unstillbarem Bekenntnistrieb drängt Shakespeares dritter Richard nach der Krone. In Reinhardt Frieses Inszenierung besäuft sich Dominique Bals als Killerkönig an einer Eigenliebe, die vielleicht auch Selbsthass ist.


Von Michael Thumser

Hof, 23. April – Wer spricht da? Putin? Er habe, teilt der schwarze Mann unverhohlen mit, „beschlossen, den Dreckskerl aufzuführen“; und dass er wenig hält vom „Friedenstralala“, daran lässt er keinen Zweifel. Ins Theater Hof fährt er auf einem Panzer stehend ein. Obszön stößt das Geschützrohr durch die Mauer, die als schwarze, raue Wand die Bühne nach hinten abschloss, die Trümmer rumpeln laut und schwer: das starke, das beängstigende Bild einer Verwüstung, ein Bild, wenn auch stilisiert, wie aus der Ukraine. Und es soll noch schlimmer kommen.

     Denn der Gewaltmensch, der da spricht, führt das Ensemble eines Königsdramas aus der Feder William Shakespeares an. Folglich pflastern alsbald Leichen seinen Weg. Richard der Dritte: wahrlich ein „Dreckskerl“ vor dem Herrn. Die Königskrone Englands, nach der er giert, ist aus den Klingen von Messer-, Dolch- und Lanzenspitzen fabriziert, an denen Blut klebt: Offenbar hat jeder, der den makabren Kopfputz bislang trug, ihn sich durch Meuchelmord erworben. Nur trieb es keiner derart mitleidlos wie der aktuelle Prätendent. Dass er im Stück von all den schlimmen Fingern der allerschlimmste ist, wird an Richards Behinderungen kenntlich, er hinkt wie der Leibhaftige, auch ist sein linker Arm verkrüppelt und verkrampft. Und umgekehrt: Weil er ein Monstrum ist, missachtet und verschmäht, ist er so schlimm geworden.

Ungemischter Charakter

Gotthold Ephraim Lessing, der Shakespeare hoch und tief verehrte, verbat sich auf der Bühne trotzdem einen „von allem Guten entblößten Bösewicht“; im Trauerspiel hielt er allein Figuren für angemessen, die „weder nur gut, noch völlig böse“ seien. Von einem solcherart „gemischten Charakter“ kann bei Shakespeares drittem Richard nicht die Rede sein. Und sind nicht auch die Zeiten wieder danach, an die Existenz von Menschen zu glauben, die einfach böse sind? Man muss keinen Panzer auf die Bühne rumpeln sehen, um Wladimir Putins Terrorkrieg in der Ukraine zu assoziieren. Allerdings hat Reinhardt Friese, der Regie führende Intendant, das Konzept zu seiner diesjährigen Shakespeare-Adaption wohlgemerkt lang vor dem 24. Februar ersonnen.

     Gehörig strich er den so weitschweifigen wie figurenreichen Text zusammen. Leider gewann das Stück dadurch, anders als erhofft, nicht viel Übersichtlichkeit hinzu; was mehr dem Dichter anzulasten ist als seinem Hofer Interpreten. Wer sich als Zuschauer nicht rechtzeitig über familiäre Zusammenhänge, Zeitsprünge, Winkelzüge informiert, hat es nicht leicht, zu folgen. Gleich vier der genannten Personen heißen Edward, immerhin zwei Elisabeth; der Zeitraum, den der Stoff beansprucht, umfasst etliche Jahre; und auch die plastisch-drastischen, doch eleganten Verse der modernen Übersetzung durch Thomas Brasch hören sich, gesprochen und gespielt, nicht viel einfacher an als die Übertragung durch August Wilhelm von Schlegel, die vordem vielen Generationen als kanonisch galt. Unvorbereitet, nur von Annette Mahlendorfs Düsterbühne herab, wird man die Handlung schwerlich ganz durchschauen.

Leichenbestatter, die Leichen erzeugen

Was man hingegen gleich begreift: Hier wütet ein Unaufhaltbarer gegen die Welt, die Menschheit und (vielleicht) sich selbst, indem er jeden, der seinem Willen zur Macht in die Quere kommt, „per Eilpost auf zum Himmel“ schickt. Dafür nimmt Richard ein Zweigespann komischer Faktoten in Dienst, die ihr gutes „Gewissen“ gegen gutes Geld abgeben: Wie gemütliche Leichenbestatter erfüllen Philipp Brammer und Ralf Hocke ihre Pflicht, Leichen zu erzeugen; sogar Kinder killen sie, vermeiden jedoch zartfühlend, Blumen zu zertreten. Der schwarze Schauplatz zwischen Mauertrümmern, Uralt-Glotze und Dampfradio, Lehnsesseln und Monitoren füllt sich mit Grabkreuzen, die ihn zeitlos zum Totenacker transformieren.

     Ein Habitat ganz nach dem eiskalten Herzen eines Unmenschen, der ein Untier ist. Im knöchellangen Mantel, mit verfilztem schulterlangem Haar sieht Dominique Bals in der Titelrolle wie ein abartiger Heiland aus der Hölle aus, später – als Richard wirklich König ist – im blauen Anzug und roten Rüschenhemd groteskerweise wie Udo Lindenberg, nur ohne Hut und Brille. Zynisch zuckt das Lächeln der Lüge über sein Gesicht: ein falscher, krummer „Hund“ im deformierten Körper eines Schwerbeschädigten. Wie betrunken schwankt, wankt und torkelt Bals, berauscht von der Treffsicherheit seiner „List“ und von der „Lust“ an seinem eklig sich entfaltenden Selbst. „Richard liebt Richard“, bezeugt er kurz vor seinem Untergang als gespaltene Persönlichkeit in einem Wahnsinnsmonolog, der sich halb aus lamentierendem Katzenjammer, halb aus feixenden Grimassen fügt, „ich bin ich selbst: allein.“ Überhaupt bezähmt Bals den Bekenntnisdrang der Bestie so wenig wie ihre Mordlust. Wiederholt und sehr ausführlich erklärt er sich wie ein entmenschter Entertainer an der Rampe mit dem Blick ins Publikum, als mokanter Spötter und bitterer Schreihals, so sündenfroh, dass Blut gefriert und Knochen zittern.

Blick ins Schwarze

Den Charmeur indes kann dieser „Satan“ auch. Mit seidenweicher, bilderreicher Poesie bringt er Lady Anne (Aline Adam), die gebrochene Witwe eines seiner Opfer, zu einem Kuss und auf seine Seite. Andere Frauen meinen es weniger gut mit ihm: Alrun Herbing als Königin Elisabeth gibt dem „Höllensohn“ schnippisch-hämisch Kontra. Und Anja Stange, die Altkönigin Margaret, verflucht die „Sau“ in einer besudelnden Suada, vulgär aus Verzweiflung, nur scheinbar eine „Hexe“, in Wirklichkeit Kassandra, die in eine Zukunft blickt, schwarz wie der Schauplatz – ein bombastischer, aufrüttelnder Moment. Einen weiteren, ebenso furios, verdankt die Aufführung Volker Ringe, dem korrupten Königsmacher Buckingham: Als Kriecher trägt er den feinen Anzug des loyalen Gentlemans. Indem er, wie ein Volksredner vorm Mikrofon, Größe, Güte, Gottesgnadentum des royalen Massenmörders preist, gelingt ihm dröhnend ein beängstigendes Beispiel für die Unbesiegbarkeit schlagwortmächtiger Demagogie. Applaus brandet (aus Lautsprechern) auf, und vor dem Geschützrohr schießen die Konfettikanonen.

     „Die Welt ist schlecht“, sagt Königin Elisabeth, „sie wird zu Scherben gehn.“ Wie sie retten? Durch Tyrannenmord, noch bevor der Unmensch zum Tyrannen entartet? Ziemlich am Anfang hält Lady Anne toddrohend einen Dolch hoch über Richard, der kniend um ihre Hand und Liebe wirbt. Sie lässt den Lumpenhund am Leben. Kniete Putin, jetzt, vor ihr, die Brust entblößt, einer Messer- oder Dolch-, vielleicht auch Lanzenspitze preisgegeben, und sie stieße zu: Wär das dann „böse“?

Als Grundlage für die Rezension diente die Aufführung am 20. April.
Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.  




Nur pur und ohne Reue

In Plauen entfesseln ein altes und ein junges Paar den totalen Ehekrieg. Edward Albees Meisterstück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ funktioniert auch sechzig Jahre nach seiner Uraufführung als Musterstück über die Qualen unmöglicher, trotzdem unauflöslicher Liebe.


Von Michael Thumser

Plauen, 20. April – Zum Gründungsmythos jeder machtvollen Nation gehört der gewaltsame Konflikt. Zum Gründungsmythos der Vereinigten Staaten gehören George und Martha – so hießen die Washingtons, der erste Präsident und seine First Lady. Zu den Ursprungssituationen des Theaters gehört gleichfalls der Konflikt, und selten trägt ein Paar ihn so gewaltsam aus wie George und Martha, die typisch amerikanischen Eheleute, die sich in Edward Albees sechzigjährigem Bühnenklassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ zerfleischen.

     So wie machtvolle Nationen ziehen auch eheliche Kombattanten gern unbeteiligte Nachbarn in ihren „totalen Krieg“ hinein. Wenn sich, wie zurzeit in Plauen, Martha und George, beide um die fünfzig, aufmachen, ihren amerikanischen Albtraum auszufechten, brauchen und finden sie ein Publikum, ein junges sogar: Nick, angehender Biologie-Kollege des alternden Geschichtsprofessors, schaut mit seiner noch jüngeren Frau Honey auf einen nachmitternächtlichen Absacker bei den beiden herein; was sich als Verhängnis erweist: Ungeschützt, immer stärker beteiligt und in ihrer eigenen Beziehung bedroht, erleben sie die „Gesellschaftsspiele“, die „Walpurgisnacht“ und die abschließende „Austreibung“, in die der erst 34-jährige Autor die drei Akte 1962 einteilte. Am Ende liegen auf dem von Josefine Krebs als steile, rot gepolsterte Tribüne ausgestatteten Schauplatz Schallplatten, Kissen und Klamotten, Schnapsgläser und Eiswürfel wüst herum und die Lebensträume und -lügen beider Paare in Trümmern. Eine Apokalypse – allerdings hält Jan Jochymski sie in seiner Inszenierung einen Millimeter vor der Grenze zum Nichts auf: Sollte, wo kein Kraut mehr wächst, doch noch einmal neues Leben, alte Liebe aus der Asche sprießen?

Komisch, aber furchtbar komisch

Eine Komödie ist das wahrlich nicht, aber komisch ist es: „Furchtbar komisch“, meckert Martha. Wirklich beginnt das Gemetzel auf der „Kleinen Bühne“ des Vogtlandtheaters wie ein großartiger, großangelegter, grässlicher „Scherz“; würde er nicht früh schon „zu weit getrieben“, man dürfte noch herzlicher lachen. Natürlich weiß der Regisseur, dass die dramaturgische Munition für Albees Zimmerschlacht dem eleganten Konversationsstück des neunzehnten Jahrhunderts und dem Lustspiel des gehobenen Boulevards entstammt. Schnell aber führt Jan Jochymski das nur scheinbar kissenweich und polsterbequem auswattierte Vergnügen in den blutroten Abgrund, als stürzten die vier Überlebenskrieger hart die Treppenstufen der Tribüne hinunter.

Ihren Kampf tragen sie auch schon mal mit vorgehaltener Waffe und würgenden Händen aus; hauptsächlich aber mit den klingenscharfen und degenspitzen Verbalwellen und Syntax-Kaskaden einer Elitesprache, die allerdings zum ehrenvollen Duell kaum noch taugt. Andreas Torwesten als ausgetrockneter, an den eigenen genialischen Ansprüchen gescheiterter George sprudelt die geschliffenen Suaden seiner Intellektuellen-Eloquenz mit so hemmungs- wie artikulationsloser Highspeed-Nuschelei heraus, dass sich ihr zynischer Esprit schon zwischen Zunge und Zähnen verquirlt. Else Hennig als „laut und vulgär“ auflachende Martha, nicht minder mundfertig, wäre wohl lieber eine strahlende Filmdiva geworden, wuchs dann aber doch nicht über die höhere Tochter eines Provinzcollege-Gründers hinaus; umso hämischer giftet und ätzt sie darum ihre Verachtung für die angeheiratete „Flasche“ heraus, unüberhörbar ungeniert wie ein überkandidelter Leinwandstar der Vierzigerjahre.

Apropos Flasche: Aus der breiten, bunt schillernden Schnapsbar oben links bedient sich das qualvolle Quartett reichlich, wobei so viel Hochprozentiges, „nur pur und ohne Reue“ genossen, das vierfältig „triste Leben“ nicht etwa gnädig vernebelt, sondern erst recht durchschaubar offenlegt. Wenn die harten Drinks alsbald wieder aus dem Gesicht der wenig trinkfesten Honey (Johanna Franke) fallen, so ahnt man, dass sie die Situation im Allgemeinen und das Gastgeberpaar im Besonderen zum Kotzen findet – und obendrein Nick, ihren brillanten Karrieristen-Gatten (Friedrich Steinlein), der sich nicht dagegen wehrt, als unreifer Knabe, ja als Enttäuschung entlarvt zu werden.

Lammfromm und lüstern

Lautstark, liederlich und lästerlich spielt das alte Paar das junge an die Wand der Kleinen Bühne, was in Edward Albees Schauspiel vielleicht niemals anders möglich ist. Trotzdem wünschte man sich von der Plauener Produktion ein paar Gelegenheiten mehr für die verfeinerungsfähige Johanna Franke, ihr verborgenes Zwielicht zwischen Lammfrömmigkeit und Lüsternheit changierend auszuspielen. Umgekehrt ließen sich leicht zwei, drei klamottige Ausrutscher entbehren – und, über der Szenerie, das Gemälde eines verknoteten Lindwurms. So ein Drache speit Feuer. Die Parteien im walpurgisnächtlichen Vernichtungsfeldzug auch. Ach so? Ja, klar.

Freilich darf Theater, wo es die archaischste seiner Energien, den Konflikt, derart gewaltsam entfesselt, auch Überdeutlichkeiten wagen. So übersetzen die Aktricen und Akteure mit Hingabe die rasanten Hochseilakte der albeeschen Hochglanzdialoge durch einen kollektiven, mehr und mehr stolpernden, doch nie lang bezähmbaren Bewegungstrieb, durch ein stetes Auf und Ab die Polsterstufen hinauf und hinunter, wobei sich Tanz und anbändelnde Schleicherei, Kissenschlacht, Verfolgungsjagd und Mordversuch kaum auseinanderhalten lassen. So wenig wie Hass und Selbsthass, Rache und Reue, tödliche Beleidigung und die Altlast unauflöslicher Liebe

Als Grundlage für die Rezension diente die Aufführung am 17. April.
Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.



Vielleicht kommt noch was

Theater im Kino: In „Danner.“ schlüpft der Schauspieler Thorsten Danner in die Rolle des Schauspielers Thorsten Danner. Kompliziert? Gar nicht mal so sehr. Der Hofer Autor Roland Spranger hat für den virtuosen (Selbst-)Darsteller einen virtuosen Text geschrieben.


Von Michael Thumser

Hof, Helmbrechts, 9. April – „Bockbeinigkeit und Renitenz“, sagt Thorsten Danner, seien „die wichtigsten Fähigkeiten“, zumindest für einen Schauspieler wie ihn. Oft setzt er sie ein: Dauernd, aber unnachgiebig rennt der Starrkopf gegen Wände. Noch haben Beruf und Leben seinen Dickschädel nicht platzen lassen.

     In Patrick Süskinds grandiosem Monolog „Der Kontrabass“ von 1981 spielt ein namenloser Orchestermusiker Kontrabass und klagt sein Leben an. In Roland Sprangers „Danner.“ spielt der Schauspieler Thorsten Danner einen Schauspieler namens Thorsten Danner und klagt sein Leben an. Was beide außerdem gemeinsam haben, ist die unwiderstehliche Komik ihrer Frustration. Bei Süskind leidet ein Schattenwesen, das seinen Beruf hasst und eine junge Sängerin vergeblich liebt. Bei Spranger hingegen quält sich ein fürs Rampenlicht geborener Künstler, von Frauenliebe ausgeschlossen, damit herum, dass man ihn nicht einfach seinen Job machen lässt.

     Ein virtuoser Text für einen virtuosen (Selbst-)Darsteller. Der Autor des Stücks wird in der Republik weithin geschätzt. Gerade jetzt hat das Theater seiner Heimatstadt Sprangers rasant verstörende „White Power Barbies“ im Spielplan. Zu seinen Freunden zählt, seit Jahren schon, der Solist seiner „Selbstbehauptung für 1 Schauspieler“: Thorsten Danner, derzeit noch in Marburg engagiert, wechselt im Herbst nach Nürnberg. Lang war er Ensemblemitglied des Nationaltheaters in Mannheim, das im Juli vergangenen Jahres Sprangers Monodrama als Uraufführung herausbrachte. Jetzt trat Danner mit „Danner.“ in Hof und Helmbrechts auf, erst am Donnerstag im Central-Kino, gestern dann im Filmwerk.

Einfach mal einen schönen Text aufsagen

Beide Male in Lichtspielhäusern. Wo immer ein Schauplatz dem Spiel Danners ausreichend Licht gewährt - stets gibt es einen Könner mit unverkennbarem Hang zu Kabarett und Satire zu bestaunen. Sattsam erntet er Applaus, auch in Hof und Helmbrechts. Nur berühmt wurde er nicht, wie er zugibt; schon gar nicht so berühmt wie Til Schweiger, der außer „nuscheln“ nur eins noch kann: „Til Schweiger spielen. Aber ich“, versichert Danner, „ich kann mehr als nur Danner.“ Und er beweist es. Schiller zitiert er, auf Kleist kommt er zu sprechen, Jean Paul hat er gelesen, bei Shakespeare ist er zu Hause. Dennoch hat ers nie recht aus dem Mittelbau seiner Kunst heraus geschafft. Moderne Autoren muten ihm, dem „Weisungsgebundenen“, „Totgeburten“ von Texten zu, denen nur „Mund-zu-Mund-Beatmung“ einigermaßen ins Leben hilft; und halbgare Regietheaterregisseure, beim zwanghaften Versuch, „etwas zu machen, was der Castorf noch nicht gemacht hat“, quälen ihn mit ihrer „Nabelschau“ und „Befindlichkeitsscheiße“. Danner aber will „einfach mal nur einen schönen Text aufsagen“ und hat „keinen Bock auf Metaebenen“.

     Zu Hause – und sehr effektvoll in den Kinos der Region – schreit der vereinsamte Single sein Gesicht im Spiegel an; nur eine „Etüde“, Übung, seis, behauptet er. Dabei liegt in der Luft: Sein Hass auf alles, einschließlich das eigene „kleine, eingekerkerte Ich“, ist tief und wahr und echt. Um bei Film- und Bühnenagenturen zu punkten, macht sein „Profil“ zu wenig her. Gern würde er Shakespeares hässlichsten Royal, Richard den Dritten, spielen, doch dafür „sehe ich zu gut aus“. Mit einem Meter sechsundsechzig ist er „zu klein für Uma Thurman und zu groß für Bilbo Beutlin“. Fotografieren lässt er sich ausschließlich in Schwarz-Weiß: Das „gibt den Falten Tiefe“; auf Farbfotos hingegen sieht er „immer etwas verlebt aus, und auf Polaroids löse ich mich schon auf wie die Backstreet Boys“. Man vergesse nicht: Danner hat knapp zwanzig Jahre mehr auf dem geprügelten Buckel als Patrick Süskinds etwa 35-jähriger Bassist.

Ein bisschen Existenzangst

Ein Bühnentier löst sich auf, weil seine Kenntnis, Kunst und Könnerschaft nicht mehr viel gelten. Vernichtend kommt hinzu, dass die Theater coronahalber für zwei Jahre dicht machten. Eine „Zwangspause“: Er füllte sie, wie Zigtausend andere, mit „Spazierengehen, ein bisschen Existenzangst und Nachdenken in der Badewanne über die letzten Dinge“. Um sich Letzteren zu nähern, hat er das Mittel buchstäblich in der Hand: Eine „Knarre“ zückt er unversehens und stellt dem Publikum einen „gepflegten kleinen Amoklauf“ in Aussicht. Ansonsten gibt sich Danner durchaus konziliant, auskunftsfreudig, fast gesprächsbereit: ein netter Kerl, aufgeschlossen und gescheit, verliebt in den Beruf.

Großartig spontan und lebensecht schlingert und trudelt, kreiselt und kurvt er durch die grandiosen Selbstfindungs-, Selbstfeier- und Selbsterniedrigungssuaden, die Roland Spranger ihm geistsprühend auf den agilen Leib schrieb. Reichlich Sympathie und Tiefenverständnis fürs Theater, schmerzliches Unverständnis für seine allfälligen Auswüchse, resignierte Einblicke in seinen strapaziösen Alltagsbetrieb hat den – von Zeitgeist-Jargon ironisch gesättigten – Text entstehen lassen, einen der besten des Autors, und so, wie Danners Zunge, Kopf und Körper ihn übersetzen, vernebelt sich die Scheidelinie, an der Sprangers Vorlage endet und die Extempores des Schauspielers beginnen.

"Handys raus!"

Die „Authentizität“, an der er sich abarbeitet, erhöht sich durch solches Agieren in Grenzbereichen nur noch mehr: So viel Seelengrau quillt durch die knallfarbige  Wörterflut, so unvermittelt teilt Danner Zorn und Häme, „Bockbeinigkeit und Renitenz“, Enttäuschungen, Empörungen und, in unergründlich tiefen Pausen, den Sinnverlust seines Daseins mit, dass der Zuschauer sich versucht sieht, ihm mit Gewalt die Waffe zu entwinden. Die Pistole – nur ein Requisit? Vielleicht ist sie nicht minder scharf geladen als Danner selbst.

„Wie aufhören?“ Erwartungsgemäß hält er sich irgendwann den Lauf der Knarre an den eigenen dickschädeligen Starrkopf. „Handys raus!“, befiehlt er seinem Publikum: die letzte Möglichkeit, berühmt zu werden – durch Selbstmord vor laufenden Kameras? „Aber vielleicht kommt ja doch noch was.“ Und wirklich: Sein Mobiltelefon klingelt. Und wirklich: Sein Gesicht hellt sich auf.



Eine Dame verschwindet

Ein junger Mann kriegt seine vermisste Frau zurück – und behauptet, sie seis gar nicht, sondern eine Wildfremde. Einem überschaubaren, aber gebannten Publikum bescheren die Theatergastspiele Fürth in Selb einen unterhaltsamen Krimiabend mit frappierender Auflösung.


Von Michael Thumser

Selb, 26. Februar – Agatha Christies Bühnenkrimi „Die Mausefalle“ wurde von 1952 bis zur coronabedingten Zwangspause im März 2020 Tag für Tag in London aufgeführt, vor gut besuchtem oder ausverkauftem Haus. Robert Thomas’ Thriller „Die Falle“ ging am Dienstag in Selb ein Mal über die Bühne des Rosenthal-Theaters, vor gerade mal sechzig Zuschauerinnen und Zuschauern, und darf trotzdem als Erfolgsstück gelten.

     Den französischen Autor, der 1989 mit nur 61 Jahren in Paris starb, machte vor allem das Schauspiel „Acht Frauen“ bekannt, nachdem sein Landsmann François Ozon es 2002 mit internationalen weiblichen Stars wie Catherine Deneuve oder Isabelle Huppert besetzt und in die Lichtspielhäuser gebracht hatte. Doch schon Thomas’ erster Bühnentext machte Furore; zwar nicht gleich nach der Uraufführung 1960 – die stieß noch kaum auf Beachtung. Bald aber interessierten sich Häuser in vielen Ländern dafür, mehrere Fernseh- und Hörspiele entstanden, auch in Deutschland. Alles in allem soll das Drama über 50.000 Mal aufgeführt worden sein, etwa 1500 Mal hierzulande. In einem Atemzug mit Agatha Christie wurde der Autor genannt, und Alfred Hitchcock sicherte sich die Rechte, um „Die Falle“ fürs Kino zu verfilmen. Dass es dazu nicht kam, verhinderte sein Tod.

Der Schick der Sechziger

„Eine Dame verschwindet“: Diesen schönen Titel trägt ein berühmter früher Hitchcock-Thriller von 1938, und genauso könnte Robert Thomas’ nicht minder kniffliges, 22 Jahre jüngeres Rätselspiel heißen. Die Dame, namens Elisabeth, ist kaum ein Vierteljahr mit Daniel verheiratet, als sie während eines Alpenurlaubs aus dem Feriendomizil der beiden entweicht und nie mehr wiederkehrt. Das heißt: Es kommt zwar eine Frau zurück und freut sich überschwänglich, endlich wieder ihren Daniel in die Arme zu schließen. Nur versichert der dem Polizeikommissar, der sich bislang um den Fall der Vermissten kümmerte, ihr nie begegnet, geschweige denn mit ihr verheiratet zu sein. Ein vielleicht nicht ganz untadeliger Abbé hat Elisabeth zurückgebracht – nun ergeben sich für den Gatten und den Kriminaler zwei mögliche Ansätze, die Lage zu klären: Sollte sich Daniel mit seiner entschiedenen Zurückweisung im Recht befinden, dann trachten ihm mindestens zwei verschworene Verbrecher einer Erbschaft wegen nach dem Leben; oder er hat den Verstand verloren – dann wartet das „Irrenhaus“ auf ihn.

     Denn auch von ihm geht Gefahr aus, für sich selbst und andere. Bei Patrick Dollmann stellt Daniel zwar durchaus was dar: In Elmar Thalmanns tourneegerecht pragmatischer Holzszenerie – mit Wählscheibentelefon, Kofferradio und der reduzierten Eleganz der Sechzigerjahre– räkelt er sich eingangs als sportlich trainierter Beau in nichts als sonnengelben Boxershorts. Wenig später, und angekleidet, aber lässt er spüren: Daniel ist nicht viel mehr als ein schöner Schwächling, der seine zerrütteten Nerven mit viel Alkohol stärken will, dadurch aber nur noch nervöser, unbeherrschter, lauter wird.

Charmant und durchtrieben

Die Soap- und Serien-Community kennt Patrick Dollmann vielleicht als Tierarzt aus dem „Sturm der Liebe“ – das ist, Angaben der ARD zufolge, mit bislang fast 3800 Episoden die erfolgreichste werktägliche Fernsehserie in Europa. Ebenso tauchte Jenny Löffler in der Telenovela eine Zeit lang auf und verleiht nun der angeblichen Gattin Elisabeth erst verliebten Charme, dann willensstarke Durchtriebenheit und wachsendes Bedrohungspotenzial. Und auch Julian Schneider spielte vorübergehend in der Serie mit; als Kommissar  stakst er jetzt auf steifen Beinen zwischen den streitenden Parteien hin und her, gemessenen Schrittes und mit verhaltenem Sprechtempo um Überlegenheit ringend; vielleicht hat er den Schlüssel zur Aufklärung des Falls wirklich schon viel früher in der Hand, als Daniel es für möglich hält.

     Der Selber Auftritt des Ensembles verdankt sich den Theatergastspielen Fürth und seinem Leiter Thomas Rohmer. Wie andere seiner Inszenierungen – und überhaupt die Darbietungen so mancher vergleichbarer Tourneetruppen – setzt auch diese Produktion auf „bekannte Gesichter aus Film und Fernsehen“, wie man so sagt. Sie sollen, weil einem breiteren Publikum vertraut, die Anziehungskraft der Aufführung steigern, was in Selb leider nicht gelang und auch nicht nötig gewesen wäre. Denn im Stück entfaltet sich kurzweilig ein ungewöhnlicher Plot, der trotz nicht unbeträchtlicher Spieldauer spannend bleibt. Kurzer Durchhänger und Redundanzen ungeachtet, gibt Thomas Rohmers Inszenierung ausreichend Stoff ab für einen unterhaltsamen Live-Krimiabend, und die raffiniert (über-)konstruierte Auflösung überrascht so, dass man noch 62 Jahre nach der Uraufführung hört und staunt.

Der Spielplan des Rosenthal-Theaters im Internet: hier lang.



Braune Barbies im Blitzkrieg

„White Power“: Eine Influencerin, ein „Reichstagsluder“ und eine Opportunistin agitieren im Theater Hof gegen Fremde, Feminismus und die freiheitliche Demokratie. Der Hofer Autor Roland Spranger schildert in seinem neuen Stück die Szene rechtsradikaler Frauen mit den Mitteln der grellen Farce.


Von Michael Thumser

Hof, 16. Februar – Die Ladys lassens ganz schön krachen. Melina, die rotzig laute „Info-Kriegerin“, krakeelt und ätzt ins Handy: ein „offenes Rasiermesser“, das dem „Mainstream“ schneidend den „Blitzkrieg“ erklärt. Auf ihren Videos kopuliert sie schwesterlich mit Gefährtin Laura, um gegen das „verlogene Gutgendersternchenmenschentum“ ins Feld zu ziehen und die „political correctness zu sprengen“. Wie eine Kosmetik-Influencerin sammelt sie scharenweise Follower im Netz, nur dass das Make-up, das sie dem Vaterland verpassen will, nicht bunt ist, sondern braun.

     Gegen den „Mainstream“ tritt auch Sandra an – Frau Sandra Engelbrecht, MdB –, anders allerdings, nicht im quietschbunten Sexy-girl-Outfit, sondern im dunklen Hosenanzug, den BDM-Zopf ordentlich ums Haupt gewunden. Ein „Reichstagsluder“: Als Abgeordnete schleudert sie rhetorisch geschliffene Giftpfeile gegen „Eliten“, „Globalisten“ und die „multiethnische Regenbogengesellschaft“. Vor Assistentin Laura als Claqueurin probt sie ihre Ansprachen, in denen sie ein Frausein propagiert, das sich in der Mutterschaft vollendet. Vor dem „großen Austausch“ durch Moslem-Horden warnt sie, „die sich zu uns ins Paradies drängen“, und salbadert über „Europas Auferstehung“ in einer „lichtumflossenen Zukunft“.

     Ein Chamäleon ist Laura: Sie lebt für beide Frauen und führt zudem ein drittes Leben. Sie und Melina sind die ungezähmten „White Power Barbies“, brachial rechte Online-Aktivistinnen. Ihrer Berliner Dienstherrin hilft Laura als kuschende Speichelleckerin, die parlamentarische Demokratie zu unterminieren. Und als V-Frau des Verfassungsschutzes spioniert sie die eine wie die andere aus.

Aus der „Binnensicht“ heraus

„White Power Barbies“ – warum englisch? Weil sich, wie Melina einräumt, das volksdeutsche „Weiße Kraft-Puppen einfach nicht so gut anhört“. Warum „White Power Barbies“, das Stück? Weil Roland Spranger die radikale Gedankenwelt speziell rechter Frauen dokumentieren will. Schockierend gelingt ihm dies, mitreißend munter, dann wieder lähmend beklemmend und ziemlich komisch auch. In seiner vierten Auftragsarbeit für das Theater Hof wagt es der arrivierte Hofer Autor, mit dem Entsetzen Scherz zu treiben. Freilich tut ers nicht leichtfertig aus Freude am anstößigen Effekt.

     Im Gegenteil. Nach der viel beklatschten Premiere am Sonntag berichtet er dem Publikum, wie tief er recherchierend ins kranke Denken der Szene eindrang, um es aus der „Binnensicht“ heraus zu reflektieren. Geballt und komprimiert zitiert er es teils wörtlich in den so grandios wie gefährlich zündenden Dialogen und ihren prägnant getroffenen Jargons. Eine Ansprache Sandras zum Frauentag verdankt sich gar einer echten rechten Rede; Spranger bearbeitete sie nur, um die verquere Wucht ihrer reaktionären Botschaft herauszustreichen.

     Lediglich eine „Startbahn“, sagt Spranger, sollte sein Text sein. Von ihr hebt eine „rein weibliche Maschinerie“ senkrecht und mit Karacho in die Turbulenzen des schwarzen Schwanks ab. Regisseurin Antje Hochholdinger ließ den Schauplatz im Studio von Ausstatterin Imme Kachel mannshoch mit einem lichten Zaun aus Leuchtstäben umstellen, deren Schein das Spiel durchkühlt und zu stilisieren hilft und deren Blinken und Flackern das überstürzte Tempo zusätzlich erhöht: „lichtumflossene“ Gegenwart. Um spontan aufs Publikum loszugehen, entfesselt jede der drei umwerfenden Darstellerinnen ihre eigene Art von „Power“. Als Melina brodelt Carolin Waltsgott vulkanisch vor vulgärer Vehemenz und unbefriedigter Wut. Lasziv posierend plärrt die „Puppe“ Parolen wie aus Comic-Sprechblasen ins Smartphone, „Bang, Crash, Bam“. Gelenkig tigert sie über den Schauplatz, wenn sie nicht mit gieriger Zunge ihre halb überrumpelte, halb willenlos hingegebene Gespielin beleckt. Eine Droge, die den Blutdurst steigert: „Wenn wir Waffen hätten, wären wir noch geiler.“

Zwischen den Stühlen

Melina lacht viel – mit gefletschten Zähnen. Die Sandra der Julia Leinweber hingegen lacht stumm und steif, doch haltlos: in sich hinein. Mit allen Wassern abgefeimter Polit-Routine ist die pseudoromantische Zynikerin nicht gewaschen, sondern durchtränkt. Skrupellos agitiert sie kalt und glatt wie Eis und hält sich, bis in die Knochen unredlich, stets ein Hintertürchen offen: „Man will ja provozieren, aber immer nur so weit, dass man wieder zurückrudern kann.“ Für die volatile Laura schließlich ist der Platz zwischen den Frauen ein Platz zwischen den Stühlen – aber Cornelia Wöß, mit wunderbarem, beinah comedy-antischem Mienenspiel, füllt die Lücke als gewiefte Opportunistin aus, ohne zerrieben zu werden. In heiliger Einfalt liebedienert sie nach beiden Seiten („Meine Ehre heißt Treue“) und taucht doch unter allen zwei Idolen durch.

     Am Ende: Lichtschwerter wie in „Star Wars“, Schießerei, Blutbad – es ist zum Piepen. Furchtbar ist es auch. Schön wärs, wäre Sprangers Stück wirklich nur ein Witz. Tatsächlich versprüht der Autor reichlich grimmigen Humor – trotzdem spaßt er nicht: Seine „Barbies“ gibt es wirklich, keine Puppen sind sie, sondern leibhaftige „Rasiermesser“, oft noch wie in Taschen verborgen, doch „offen“ schon längst.

Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.



Lessings Tik-Tok-Challenge

„Nathan der Weise“ als flotte Maskerade in der zeitgeistigen „2.0“-Version: Das Theater Hof bringt in Helmbrechts seine neue mobile Produktion für junge Leute heraus, mit reichlich Witz und höherem Erziehungsziel.


Von Michael Thumser

Hof, 11. Februar – Wer glaubt, im Kittchen würden nur Pornos gelesen, erfährt von Marco Stickel anderes. In seinem neuen Stück wühlen zwei Knastbrüder in den spärlichen Nachlässen verstorbener Mithäftlinge und fördern, zum Zweck der Archivierung, Bücher ganz anderen Inhalts zutage. Aus einem der Müllbeutel ziehen Erwin und Robert ein dreibändiges Werk über den Untergang des Römischen Reiches hervor, auch einen Band über die Aufklärung, einen über die Französische Revolution; und „Lessing: Alle Stücke“. Das bringt beide zum Nachdenken und lockert bei einem, Robert, das Gedächtnis: Lessing? Aufklärung? Gabs da nicht so ein Drama über Toleranz oder so?

     Gab es. Und bei Stickel gibt es das auch, nur anders: neuer, kürzer, komischer. „Nathan 2.0“ nannte der Schauspieler und Regisseur sein Bühnenwerk, das nicht sein erstes ist. Als Leiter des „Jungen Theaters“ inszenierte er am Hofer Haus zum wiederholten Mal einen eigenen Text und hatte, nach mehreren Verschiebungen coronahalber, nun endlich Gelegenheit, die Uraufführung in Helmbrechts herauszubringen; am gestrigen Freitagvormittag war in der Realschule Premiere.

Eine Menschheitsutopie

Für Jugendliche „ab vierzehn Jahren“ eignet sich das Stück, also für Schülerinnen und Schüler der achten Jahrgangsstufe. Nehmen die im Deutschunterricht schon „Nathan den Weisen“ durch, Gotthold Ephraim Lessings grandiose Utopie einer über alle ethnischen und religiösen Gegensätze hinweg sich einigenden Menschheit? Wer über Handlung und Hintergründe nicht informiert ist, dem stößt Stickels mobile Theaterproduktion rasant Bescheid – durch einen Schnelldurchlauf der Handlung als Comic-Parodie und Maskenspiel: famos-witziger top act der gut einstündigen Aufführung.

     Da gehen Jörn Bregenzer als lässig-smarter Robert und Peter Kampschulte, eher gemütsmenschlich, als Erwin hinter umgekippten Tischen in Deckung, von wo aus sie blitzartig auf- und eilends wieder abtauchen. Vor die Köpfe schnallen sie sich skizzierte Pappgesichter der Rollen: reicher Kaufmann und tugendhafte Tochter, orientalischer Sultan und katholischer Patriarch, kreuzritterlicher Tempelherr, Derwisch, Mönch. Schnell und schnoddrig lassen sie Männlein und Weiblein, Juden, Moslems, Christenmenschen parlieren, hibbelig in einem hippen Jargon. Den hat der Autor weder dem umkämpften Jerusalem des zwölften Jahrhunderts noch der rhythmischen Verssprache der deutschen Aufklärung abgelauscht, sondern den Schulhöfen und Sammelpunkten der Kids von heute. Nathan „als Tik-Tok-Challenge“.

     Freilich hat, jenseits von Spaß und Schabernack, der (für unvorbereitete Gehirne vielleicht allzu) flotte Schnack auch Tieferes zu bedeuten. Wenngleich der Fantasy-Kinowelt des „Herrn der Ringe“ angepasst, beharrt Lessings „Ringparabel“ auch in der Plauderfassung darauf, dass sich der Segensreichtum einer Religion, der Rang eines Charakters nicht in tugendhaften Worten erfüllt, sondern sich im Handeln eines Menschen bewähren muss.

Friss, oder du wirst gefressen

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“: Das hat zwar Erich Kästner, nicht Lessing gesagt, und auch die beiden Knastologen sagen es nicht. Aber sie begreifen es. Peter Kampschultes Erwin, anfangs scheinbar der vernünftigere, freilich auch verdrossenere von beiden, hasst „das linke Zecken-Gesocks“, würde Politiker gern einen Kopf kürzer machen und alle ausweisen, „die nicht hierhergehören“. Für Robert, den Jörn Bregenzer zur guten Laune eines fixen Sonnyboys ermuntert, gelten nur „meine Regeln, meine Welt“; Trump imponiert ihm („Geld ist Macht, und wer die Macht hat, sagt, wos langgeht“), und nach einer „Revolution“, wie er sie ersehnt, soll gemäß dem „Recht des Stärkeren“ der Sozialdarwinismus regieren: „Friss, oder du wirst gefressen.“

     Das Spiel mit Lessings Schauspiel bringt beide zur Vernunft. Allerdings klingt die überdeutlich aufgesagte Moral von der Geschicht zum Schluss arg artig nach höherer Erleuchtung: „Egal ob Knacki oder König“, Freiheit ist immer und für jeden die „Freiheit des anderen“; alle Menschen sind „Angehörige einer Familie“; man kommt „mit Hass und Wut nicht weiter“, sondern sollte mit den guten Werken „einfach mal anfangen“ … So hebt, nach den wilden Gebärden der Maskenposse, Marco Stickel als Autor wie als Regisseur den moralischen Zeigefinger unüberseh- und -hörbar steil. Immerhin tut ers in edler Absicht. Im Klassenzimmer von Vierzehnjährigen ist sein Stück auch ein Stück Schulunterricht – um mit Lessing zu reden: eine gute Stunde „Erziehung des Menschengeschlechts“ im Geist der Aufklärung. Und die ist aller Ehre wert.

Als Grundlage für die Rezension diente der Besuch der Generalprobe.
■ Buchungen für Schulen und andere Einrichtungen telefonisch unter (09281) 7070-123; E-Mail: theaterpaedagogik2@theater-hof.de
■ Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang.


Nicht schlimmer, nicht besser

Wenn Welt und Leben keinen Sinn haben – was ist dann Glück? Und wie lange lässt es sich hinauszögern? Auf Bayreuths apokalyptischer Studiobühne verstreichen Samuel Becketts „Glückliche Tage“ in kurzweiliger Melancholie.


Von Michael Thumser

Bayreuth, 3. Februar – Glück ist, wenn das Leben einem die zwei schlimmsten Übel erspart, „den Schmerz und die Langeweile“: meinte zumindest 1851 Arthur Schopenhauer, der bis heute als Denker glänzt, wenn auch sein Pessimismus Schrecken erregt. Viel Gutes erwartete er nicht vom Leben. Mithin darf, an jenem berühmten „Aphorismus zur Lebensweisheit“ gemessen, Winnie als glücklich gelten; und so heißt denn auch der Zweiakter, den Samuel Beckett ihr – und ihrem Partner – 1960 gewidmet hat: „Glückliche Tage“.

     In der Bayreuther Studiobühne, wo das Publikum die anspruchsvoll kurzweilige Premiere des modernen Klassikers am Samstag zu Recht lang beklatschte, steckt Winnie gemäß der Vorschrift Becketts „in der Mitte eines kleinen Hügels, bis über die Taille eingebettet“, den „lieben langen Tag“ lang, wie sie seufzt, und einen Tag um den anderen. In Reichweite vor ihr: eine alte Tasche mit ihren Habseligkeiten. Heike Hartmann, pausbäckig wie ein vierzehnjähriger Backfisch, wenn auch in eher lebensabendlichem Alter, kramt munter Zahnpasta, Bürste, Lippenstift hervor; sogar eine Pistole Marke Browning. Die aber legt sie lieber weg: Schluss zu machen ist, trotz unumkehrbaren Gefangenseins, keine Option. Lieber nutzt sie den Morgen für oberflächliche Körperpflege und kindliche Freiheitsfantasien („Hinauf ins Blaue“), bevor sie mittels eines Sonnenschirms, den sie alsbald verliert wie schon viele, vor der Hitze des Tages Schutz sucht und nachrechnet, obs denn nicht bald wieder Abend werden will.

     Kaum dass sie Langeweile spürt, erst recht „fast keine Schmerzen“; also wird auch dieser Tag wieder ein „glücklicher Tag gewesen sein“. Ergeben klagt sie, „so wenig zu sagen und so wenig zu tun“ zu haben. Dabei redet sie fortwährend und tut und macht. Und sie gafft, späht, schaut: durch ihre Brille, eine Lupe – und in den Spiegel, wo sie sich selbst begegnet. Auch sonst ist sie nicht ganz allein, denn hinterm Hügel, in einem Loch, hockt unsicht- und kaum hörbar Willie (Hans Striedl). Hin und wieder erweist er ihr die Ehre und schleppt sich in ihre Nähe ins Licht, hat aber auch dann wenig zu vermelden. Winnie erträgt es mit Nachsicht: Ihr genügt schon, „nur zu fühlen, dass du da bist“.

Kammerspiel im Freien

Als so karg und beständig in der Ausgangssituation, so unvergänglich in der Aussage erweist sich das vor gut sechzig Jahren in New York uraufgeführte, alterslose Stück des irischen Nobelpreisträgers, dass Studiobühnen-Intendant Jürgen Skambraks gut daran tat, seine Inszenierung an dem zu orientieren, was Sprechtext und Regieanweisungen des Autors detailliert vor- und hergeben. Das ist beträchtlich: Konsequent überhöht dies Kammerspiel im Freien die seit Menschengedenken bitter bohrende Schreckensvision eines späten Daseins ohne Zweck und Ziel. Bei Beckett erfüllt es sich in den nichtigen Freuden vollständiger Bedürfnislosigkeit: „Keine Verschlimmerung, keine Verbesserung, keine Veränderung.“ Was Winnie an Vergangenheit wachruft, zergeht als naiv-melancholische Erinnerung an lang zurückliegende Banalitäten; keine Zukunft kennt ihr Dasein, und ihre Gegenwart ist ein Kreislauf des Immergleichen. Für ein paar knappe Schlagzeilen, die Willie unkommentiert aus der Zeitung vorliest, sind ihre Ohren taub. Am „alten Stil“ hält Winnie fest, solange sie Arme und Hände noch frei bewegen kann. Das wird nicht für immer so sein.

     Bei genauem Hinschauen enthüllt Michel Bövers Bühnenbild eine Zutat von eigenem Gewicht, weil sie die Illusion eines monotonen Zeit-Kontinuums sichtbar aufbricht. Heike Hartmanns Oberkörper – dann, im zweiten Akt, nurmehr ihr Kopf – schaut nicht einfach aus einem Erdhügel wie aus einem Grab heraus, sondern aus den Resten eines umgestürzten, mit Geröll angefüllten Schranks. Folglich muss vor dem vermeintlichen Niemals im Nirgendwo durchaus irgendwann ein Irgendwas gewesen sein. Samuel Becketts abstrakter Raum einer „ununterbrochenen versengten Grasebene“ unter „ununterbrochenem Himmel“ gewinnt in der Studiobühne den Anschein eines Schutthaufens, den eine reale Apokalypse – globaler Krieg, jüngster Vulkanausbruch, künftige Klimakatastrophe  – von der Zivilisation und ihren vermeintlichen Glücksgütern übrig ließ. So macht sich das Schauspiel in seiner Zeitlosigkeit untergründig doch mit einem Ton beklemmender Aktualität vernehmlich.

     Was also ist das Leben: „einfach Zufall“, wie die zunehmend resignierte Heike Hartmann räsoniert? „Ein Übermaß an Gnade“, trotz der „Traurigkeit“, „trotz allem“? Alter ist, wenn einem, wie Winnie, die Grabeserde bis zum Hals steht – eine „große Qual für den Verstand“. Trotzdem sucht und versucht Willie bei ihr sein Glück: Keine bunten Boxershorts, wie bisher, trägt Hans Striedl jetzt, sondern manierlich im schwarzen Smoking (Kostüme: Heike Betz) kniet er vor ihr wie ein Bittsteller, als machte er ihr einen klassischen Heiratantrag, und versucht gar kriechend, lüstern ihren Hügel zu erklimmen. Erfolglos, versteht sich. Trotzdem weiß sie es zu schätzen: „ ’S ist wahr, ’s ist wahr“, summt sie versonnen wie Lehárs lustige Witwe, „du hast mich lieb.“ Nur eine hohle Operetten-Phrase? Oder eine überraschend versöhnliche Wendung zum Schluss? Die Liebe ist und bleibt ein Glück, manchmal vielleicht ist sie langweilig und tatsächlich nie frei von Schmerz.

Informationen über die Produktion und weitere Aufführungen im Internet: hier lang

 


Der Teufel im Gehirn

In den Fängen von Crystal Meth: Im Vogtlandtheater bewegen sich vier junge Leute bedenklich „Auf Eis“ und drohen, einzubrechen. Petra Wüllenwebers brisantes Anti-Drogen-Stück entstand 2016 für das Bamberger E.T.A.-Hoffmann-Theater.


Von Michael Thumser

Plauen, 25. Januar – Sie sind gern laut und gut drauf und fast immer in Bewegung. Sie tanzen ab, dass alle Glieder fliegen, oft sausen sie in scharfen Kurven um die Bühne, als wären sie auf der Flucht. Aber es ist eine Lustigkeit auf Zeit, mit dem aufgedrehten Lärm übertönen sie, was sich leise, aber störend in ihrem Innern regt, und ihr Gerenne lässt ahnen, dass sie nicht wissen, wo sie stehen, was sie sind und wohin die Reise geht.

     Die Geschwister Svenja und Bastian, dazu Tom, Svenjas ehrgeiziger Lover, und Lea, das labile Mädel zwischen den Stühlen, die mit der reiferen Svenja befreundet und in den coolen Tom verliebt ist: Die vier sind froh, dass sie sich haben, denn daheim haben sie Probleme, wie man sie in der Spätpubertät mit Müttern und Vätern eben hat. Auf Party und Techno stehen sie viel mehr als auf Schule und Referatemachen. In beiden Welten aber hilft eine Dosis Crystal Meth der Laune auf die Sprünge: Nach einer Line oder Pille kommt Tom seiner Svenja „wie aufgezogen, mega anstrengend“ vor, denn tanzend oder schreibend hält er locker drei Tage und drei Nächte durch, ganz ohne Schlaf.

Von einem Augenblick zum nächsten

Das Vogtlandtheater im Glück: Mit Sabrina Pankrath und Philipp Andriotis, Friedrich Steinlein und Johanna Franke verfügt es über mitreißende Schauspielerinnen und Schauspieler, die jung und temperamentvoll genug sind, um glaubhaft und zeitgeistgerecht ein Teenager-Quartett auf die Beine zu stellen. „Auf Eis“, so besagt der Titel von Petra Wüllenwebers Stück, bewegen sie sich durchs Leben, immer von einem Augenblick zum nächsten, auf einem kalten Grund von unzuverlässiger Tragkraft. Auf „Eis“ sind sie nach zwanzig der achtzig Aufführungsminuten: „Ice“ heißt in der Drogenszene der synthetische Stoff, auf den sich Tom und Lea eines Tages erschreckend bedenkenlos einlassen, um ein paar Tage später schon nicht mehr davon loszukommen.

    Fürs Bamberger E.T.A.-Hoffmann-Theater schrieb die Autorin, mit spannungsgeladener Bündigkeit und authentischem Jugendjargon, das 2016 uraufgeführte Schauspiel. In Plauen, auf der  Kleinen Bühne, hat es jetzt Franziska Ritter ausgestattet und inszeniert, „wie aufgezogen“, grimmig-wuchtig und lobenswert um Aufklärung bemüht. Das fast durchweg jugendliche Premierenpublikum applaudierte lange und beeindruckt. „Mega anstrengend“ kommt „Auf Eis“ zum Glück nicht daher, richtet es sich doch in erster Linie an Zuschauer „ab zwölf“. Zugleich ahnen Erwachsene, wie wüst und leer es in den Gemütern ihres Nachwuchses unter Umständen aussieht.

     Was sich binnen achtzig Minuten zwischen dem vital interagierenden, erst fröhlich umtriebigen, alsbald verzweifelt getriebenen Ensemble entwickelt, geht als veritabler Thriller durch. In den Abgrund unstillbarer Sucht blicken, in die Unterwelt der Beschaffungskriminalität geraten die jungen Leute. Lange halten weder Liebe noch Freundschaft den Druck und Frust aus. Gern tragen die Aktricen und Akteure ihr Herz schnoddrig oder schneidend auf der Zunge, oft aber verbergen sie es auch voreinander. Wo zuvor geküsst und gefummelt wurde, setzt es Schläge. Statt zu tanzen, gehen sie einander an die Gurgel und die Wäsche. 

Schiefe Bahnen

Sex wird zur Währung, wenn für das kristalline Teufelszeug das Geld fehlt. Verhängnisvoll rot prangt an Hemd und Händen das Blut eines Hundes, der hinter der Bühne geschlachtet wurde. Tom, zunehmend paranoid, ist überzeugt, dass „sie“ ihn „beobachten“, nur kann er nicht sagen, wer „sie“ sind. Immer seltener schneit Ice gleißend wie Schneekristalle auf Lea und Tom nieder, um ihnen „ne kleine Portion Gehirnfasching“ zu gewähren, die immer kleiner wird. Zwischen unterschiedlich hohen Quadern verlaufen überbrückend Bretter als schiefe Bahnen, auf denen jede und jeder auf ihre oder seine Weise zu geraten droht. Vor ihrem Elend, ihrer Angst oder voreinander verstecken sie sich in Käfigen, aus denen sie dann wie aus winzig kleinen Kerkerzellen schauen.

     In Brisanz und Tempo entsprechen sich Text und Inszenierung, auch im Mut, tragisch zu enden. Das Stück geht an die Nieren, zumal in Plauen und Bamberg, weil sowohl Bayern als auch Sachsen längst als Hotspots für Schmuggel, Handel und Konsum des aus Tschechien importierten Giftes gelten müssen. Freilich gilt auch anderswo und überall: Wenn beim Gehirnfasching „auf Eis“ einer einbricht, dann ist es nicht der Teufel.

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Alles hört sich echt an

Die Studiobühne Bayreuth brachte das neue Stück ihres 84-jährigen Mitbegründers Eberhard Wagner heraus. Eine komödiantische Kleinigkeit; ihren Reiz verdankt sie dem trefflich eingefangenen Bayreuther Slang.


Von Michael Thumser

Bayreuth, 22. Januar – Was die lesende Welt von einem in Ehren ergrauten Autor erwartet, kann man aus Thomas Manns berühmter Novelle „Ter Tod in Venedig“ lernen: ein abgeklärtes Alterswerk aus „erlesener Prosa, deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung die Bewunderung vieler erregt“. Eberhard Wagner allerdings verweigert sich diesem Anspruch entschieden: Nach soundsovielen „Büchern, Stücken, Lesungen und Sendungen“ könne er, trotz unbestreitbarer Betagtheit, „eine Art Schlusswort nicht bieten“. Lieber, ließ er wissen, wolle er „einen Publikumswunsch erfüllen und Leute zum Lachen bringen: Schlagen wir Corona mit etwas Komödiantischem in die Flucht!“

     In der Studiobühne Bayreuth vertreibt Eberhard Wagner die Pandemie, indem er sie ignoriert: Kein einziges Mal wird ihr Name erwähnt in seiner dort uraufgeführten Novität „Die Quizkönigin“. Der kalauernde Untertitel – „Nix Quiz waaßma net“ – lässt auf zweierlei schließen: Offenbar handelt es sich um etwas Lustiges; und jedenfalls wird Dialekt gesprochen. Kein Wunder bei einem Urheber, der sich sowohl als Mundartautor wie als Mundartforscher große Verdienste in Bayreuth und (Ost-)Franken erwarb. Kaum mag man glauben, dass Wagner nicht als Nordbayer, sondern als Thüringer, 1938 in Weimar, zur Welt kam. In Franken ist er allerdings schon seit 1945 daheim.

     Vernehmlich vor den Toren der Fränkischen Schweiz, im Wald auf einem Wanderparkplatz, spielt sich das Stück ab. Darin überredet der ölige Showmoderator eines Fernsehquiz eine shakespearsche Sonett-Verse rezitierende Jung-Blondine, dass sie sich bei der nächsten Auflage des beliebten Ratespiels durch Vorkenntnis der Antworten die siebenstellige Preissumme zuschanzen lässt, zum Zweck anschließender gemeinsamer Zukunftsgestaltung. Indes: „Geld auf die Schnelle machen ist immer kriminell.“ Trotz sich verstärkender Nervosität – „Alles muss echt aussehen“ – scheint der schräge Coup zu gelingen, bis eine glühende Verehrerin des TV-Stars und ihr flugtechnikaffiner Zufallsbekannter den Betrügern auf die Schliche kommen.

Possierliche Schulhof-Kabbelei

Mit braver Biederkeit ersann der Autor die Handlung des mammonismuskritischen Komödchens, und so auch spielen zwei Darsteller-Paare es den kichernden ‚Wagnerianern‘ bei der Premiere vor: mit der Kinderunschuld einer possierlichen Schulhof-Kabbelei. Den naturverbundenen Schauplatz – vom Regisseur und Ausstatter Uwe Hoppe mittels laubgrüner Fototapeten auf die Bühne geholt und so mit Müll bestreut, dass es „echt aussieht“ –, ihn umschleichen, besetzen und umkämpfen Jana Badewitz als kesse Titelheldin und Oliver Hepp, halbseiden als Jörg-Pilawa-Verschnitt, dazu Conny Trapper und Frank Joseph Maisel als breitgoschiges Spießerduo. Etwas weniger Albernheiten und stumme Herumlaufereien täten der Inszenierung gut, ein paar vertrocknete Spruchweisheiten weniger könnten dem Text nicht schaden. Als eigentlichen Clou der Aufführung setzen Trapper und Maisel das Bayreuther Idiom genüsslich durch: ein Kleinbürger-Pärchen, das auf Eleganz verzichten darf, weil es sich auf den urwüchsigen Charme und die unfehlbare Treffsicherheit des Slangs verlassen kann.

    Beim Verfasser kann man sich darauf verlassen, dass sich dabei „alles echt“ anhört und Wortwahl und Satzbau stimmen. 84 Jahre alt ist Eberhard Wagner seit einigen Tagen, und wer Wirken und Werke des promovierten Dialektologen und produktiven Urhebers von Gedichten und Volksstücken auch nur oberflächlich überschaut, findet Anlass, ihn für seine Unermüdlichkeit und den reichen Ertrag seines Schaffens weit mehr zu bewundern als für die Petitesse, die nun die Studiobühne herausbrachte. Seine Studiobühne, darf man sagen: Mit Werner Hildenbrand und Uwe Hoppe hat er sie 1980 gegründet.

    Sofern es jemand in Bayreuth ausgerechnet unterm Namen Wagner zu etwas bringen will, das nichts mit Musik zu tun hat, muss er mit mutigen Leistungen von hartnäckigem Eigencharakter aufwarten. Vor gut fünf Jahren nahm Eberhard Wagner in Bad Windsheim den „Frankenwürfel“ entgegen; seit 1985 vergeben die Präsidenten der drei fränkischen Regierungsbezirke die Auszeichnung an besonders repräsentable Franken – solche mit wendigem Witz, Widersprüchlichkeit und Widerspruchsgeist, wie sie für die nördliche Unterart des bayerischen Menschen typisch sind. Angeblich. Von Eberhard Wagner, dem gebürtigen Thüringer, kann man wohl so sagen.

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