Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

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Nicht nur hinein, auch hindurch

2015 schloss die Neue Nationalgalerie Berlin ihre maroden Pforten. Sechs Jahre der Erneuerung und 140 Millionen Euro später will der einzigartig schöne Mies-van-der-Rohe-Bau wieder Besucherscharen zu spektakulären Ausstellungen ziehen.

Alexander Calders „Têtes et Queue“ auf der Terrasse rings um das transparente Obergeschoss der zeitlosen Architektur: "Berlins schönstes Museum". (Fotos: thu)


Von Michael Thumser

Berlin, 9. Dezember – Etliche „Köpfe“ und ein „Schwanz“: So wuchtig wie leichtfüßig scheint das Stabile „Têtes et Queue“ auf der Freifläche rund um die Neue Nationalgalerie zu tanzen, ja zu trippeln. 1965 schuf der US-Amerikaner Alexander Calder sein stählernes chef d'œuvre, drei Jahre später wurde es hier, in Berlin, aufgestellt. Nun, 2021, steht es wieder da. Endlich ist alles ganz neu auf dem Areal. Zum Glück blieb irgendwie alles beim Alten.

     Am 21. August hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Neue Nationalgalerie aufs Neue ihrer Bestimmung als öffentliche Sammlung übergeben. „Selten zuvor“, seufzte Monika Grütters, damals noch Kulturstaatsministerin, „wurde die Wiedereröffnung eines Kunstmuseums so sehnsüchtig erwartet.“ Als „Kulturjuwel“ bejubelte der Regierende Bürgermeister Michael Müller die Galerie beim Festakt. Von Grund auf wurde sie renoviert, für teures Geld: für 140 statt wie veranschlagt 110 Millionen Euro. Nach sechs Jahren, statt der geplanten vier, sieht sie nicht anders aus als 1968, als sie nach dreijähriger Bauzeit zum ersten Mal die Tore öffnete. Gut so: Denn mit einem chef d'œuvre Ludwig Mies van der Rohes hat mans zu tun. Den weiten, transparenten Flachbau ersann der legendäre, dem Bauhaus entstammende deutsche Architekt als einziges Werk, das er nach 1945 in Deutschland errichtete, zugleich als letztes abgeschlossenes Objekt seines spektakulären Lebens, das er ein Jahr nach der Einweihung beschloss, 83-jährig in Chicago.

Nach der Wiedereröffnung: Viele große und ein paar kleine Besucher erkunden den weiten Innenraum.

     In ihm, heißt es, habe Mies van der Rohe seine bauästhetischen Vorstellungen vollendet verwirklicht. Auf dem „Kulturforum“ nahe Philharmonie und Matthäuskirche sitzt auf einer gut hundert mal hundert Meter großen (seit der Renovierung barrierefrei zugänglichen) Terrasse aus Granit über quadratischem Grundriss ein eingeschossiger Flachbau aus gläsernen Wänden und mit stark überkragendem Dach, das acht stählerne Träger stützen. Die riesige Halle darunter wirkt umso freier und weiter, als sie in ihrem Innern kaum Pfeiler braucht – ein „offener Raum“, wie er Mies, dem Visionär, immer vorschwebte, und universell nutzbar. Zwei Treppen, obendrein nun auch ein Personenaufzug, führen ins Untergeschoss, dessen sehr verschiedenartige Räume unregelmäßig geschnitten sind: So ergeben sich für die Besucherin und den Flaneur durch wechselnde Ein- und Durchblicke immer andere Perspektiven und Beziehungen ganz von selbst.

Vollständige Demontage

2014 musste das bis dato nie renovierte Gebäude schließen. Schon zwei Jahre zuvor hatte die Stiftung den britischen, weltweit tätigen Stararchitekten David Chipperfield und sein Berliner Büro mit der Instandsetzung beauftragt. Die ließ sich allerdings am sozusagen lebenden Objekt nicht machen. Also wurde das Bauwerk binnen eines Jahres komplett abgetragen, verwendbare Teile wurden katalogisiert und gelagert. Denn 35.000 Elemente – von der Granitplatte bis zum Leuchtkörper – konnten, nach fälligen Reparaturen, wieder eingebaut werden. Vor allem betraf die Sanierung den porös gewordenen und auch anderweitig schadhaften Stahlbeton und die Beseitigung gesundheitsschädlicher Mineralfasern, vor allem des Asbests, ferner die Wärmedämmung, Heizung und Lüftung sowie die Errichtung eines neuen Depots für Kunstwerke im Unterbau. Denn die bisherigen Lagerräume stehen fortan als Garderobe und Museumsshop dem Publikum offen.

Lauter Gefallene: Wilhelm Lehmbrucks "Gestürzter" von 1916 vor dem Gemälde "Flandern" von Otto Dix; das Bild, eine mahnende Reminiszenz an den Ersten Weltkrieg, entstand in den ersten Jahren des Nationalsozialismus.

     Die Architektur sieht genauso aus – aber man sieht anders als zuvor in sie hinein und durch sie hindurch, weil die Verglasung des überirdischen Stockwerks komplett erneuert wurde. Im Lauf der Jahrzehnte hatte sie sich getrübt und war teils gesprungen. Die jetzt aus China angelieferten Scheiben sollen künftig den teils erheblich schwankenden Temperaturen und der Feuchtigkeit besser standhalten. Folgerichtig schwärmen Besucher und Medien von ungewohnten Lichtwirkungen und Fernblicken: „Die riesigen Glasfronten“, so beispielsweise der rbb, „wirken transparent wie lange nicht.“

     Darum scheint der Bau, ungeachtet seiner Monumentalität, beinah zu schweben. An klassizistische Architektur mag sich der eine oder die andere erinnert fühlen, oder an die offene Klarheit fernöstlicher Pavillons, jedenfalls an Bauweisen, die kunstvolle Schlichtheit und Geradlinigkeit pflegen. Völlig abgetan war jener Stil der Sechziger nie, erst recht heute erscheint er wieder zeitgemäß. Mit Kunst und Museumskultur hatte die Grundidee kurioserweise rein gar nichts zu tun: Die nämlich hatte Mies in den Fünfzigerjahren zunächst einem Bürogebäude des Rum-Brenners Bacardi in Kubas Hauptstadt zugedacht.

Aus der Luft: Eine Studie des Pariser Eiffelturms von Robert Delauney (1885 bis 1941) und Constantin Brâncuşis "Vogel im Weltraum" (1923).

     Alexander Calders Großskulptur auf der Terrasse ist nicht das einzige Werk des Amerikaners, mit dem die Galerie zurzeit prunkt – im Gegenteil. In der Glashalle präsentiert die Ausstellung „Minimal/Maximal“ noch bis zum 13. Februar eine imposante Retrospektive mit Werken des 1976 gestorbenen Plastikers. Stabiles und Mobiles, Monumentales und Subtiles ergänzen einander verblüffend. Gewaltige kinetische Arbeiten, wie gewichtslos an der Decke montiert, bringen eine Ahnung von Bewegung in die Statik des Baus; vom Boden aufragend widersprechen mehrere Meter hohe Kolosse mit ihren vitalen Schwüngen und Auswüchsen der Abgeklärtheit des sich nach Linien und Achsen orientierenden Riesenraumes. Nicht weit entfernt indes überraschen Figuren eines Schachspiels, die an Klötze-Spielzeug kleiner Kinder denken lassen, und zarte Gebilde aus Draht muten an wie Musterstücke filigranen Modellbaus.

Ewiges Jetzt

„In a perpetual Now“ – zum Glück bleibt irgendwie alles beim Alten. „In einem ewigen Jetzt“ hat Rosa Barba die Exponate angesiedelt, die sie im Untergeschoss präsentiert. Dort zieht die in Berlin lebende Künstlerin einen Längsschnitt durch ihre seit 2009 entstandenen Arbeiten und zeigt dabei auch einen eigens für die – bis zum 16. Januar laufende – Schau angefertigten Film.

"Crinkly" von Alexander Calder aus dem Jahr 1969.

     Bedeutend länger, nämlich bis zum 2. Juli, bietet gegenüber die kaum zu überblickende „Kunst der Gesellschaft“ eine Auswahl von ungefähr 250 Gemälden und Skulpturen aus den etwa 1800 kostbaren Besitztümern der hauseigenen Sammlung. Zu besichtigen ist Meisterliches aus der Klassischen Moderne zwischen 1900 bis 1945, also aus einer Epoche voller Um- und Zusammenbrüche, geprägt von zwei Weltenbränden.

     Inhaltlich und stilistisch frappierend vielfältig stehen die Arbeiten für einen Zeitraum von weniger als einem Halbjahrhundert, in dem die politischen Systeme in Deutschland und Europa einander so fatal abwechselten wie die Gemütslagen der zwischen Hoffnung und Verängstigung schwankenden Künstlerinnen und Künstler: Kirchner und Schad, Dix und Felixmüller, Hannah Höch und Lotte Laserstein, Delauney und Belling … Kaiserreich und Erster Weltkrieg, sozialistische Revolution und Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Stalinismus, Völkermord und Zweiter Weltkrieg – welche Epoche, wenn nicht diese, sollte eine oder mehrere Avantgarden mit solchen Impulsen befeuert haben? Das räumliche Ebenmaß der Nationalgalerie behält all dies Entschlossene, Nachdrückliche, Voran- und Auseinanderdrängende überlegen im Griff. Rühmend schrieb denn auch der Tagesspiegel, mit „Berlins schönstem Museum“ öffne sich ein Bau, „der ebenbürtig ist der Kunst, die er ausstellt“.

Zähne der Zeit

Kaum aber ist die ‚neue‘ Neue Nationalgalerie fertig und für alle da, gibt es neuerlich Anlass, nach Reparaturen am (wohlgemerkt denkmalgeschützten) Areal zu verlangen. Schuld sind die Skater, die für ihre Kunststücke kaum ein geeigneteres Gelände finden können. Über zerkratzte und verbogene Treppengeländer, Sprünge und Abbrüche in und an Natursteinplatten, -sockeln, -brüstungen, Graffiti an den Mauern klagen Hauptstadtpresse und Stiftung Preußischer Kulturbesitz. „Schon vor der Schließung Hotspot der Skater-Szene, dauerte es nur wenige Tage, bis die Freizeitsportler wieder da waren“, schreibt die die B.Z. faktisch zutreffend, wenn auch grammatikalisch verunglückt. „Fast bei jedem Wetter trainieren sie, rasen und springen über die Stufen oder rutschen die Treppengeländer hinab.“ Manche Besucherin, mancher Flaneur nimmts gelassen: „Nur wegen der Skater ist hier wenigstens ein bisschen was los“, zitiert die Zeitung eine Passantin, „man sollte Verständnis für die jungen Leute haben.“ Sogar die gutbürgerliche Frankfurter Allgemeine empfahl in einem Kommentar, „die Jugend, auch die aus sogenannten bildungsfernen Schichten, an die Kultur heranzuführen“, statt sie zu verprellen.

Calders "3 Segments": Gewaltige kinetische Arbeiten, wie gewichtslos an der Decke montiert.

     Während also die Zähne der Zeit schon wieder zu nagen beginnen, geht gleichzeitig die Erneuerung auf dem „Kulturforum“ weiter. Neben der Neuen Nationalgalerie soll in den kommenden Jahren das Museum des 20. Jahrhunderts entstehen, von den Basler Elbphilharmonie-Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron geplant und von Anfang an hochumstritten. Für das Haus gibt Gerhard Richter nicht weniger als hundert seiner Arbeiten – vierzig Gemälde und sechzig übermalte Fotografien – als Dauerleihgabe her; den Vertrag darüber unterzeichneten dieser Tage der weltberühmte Maler und die Kulturbesitz-Stiftung. In dem Museum wird die Kollektion in einem allein für Richter bestimmten Raum bei wechselnden Ausstellungen gezeigt werden. Bis jedoch der 450 Millionen teure Bau abgeschlossen ist, was sich wohl bis mindestens 2026 hinziehen wird, kommt sie vom übernächsten Jahr an in der Nationalgalerie unter. Platz ist offenbar genug: Im „sinnvollen Kontext“, so teilen die Staatlichen Museen zu Berlin mit, biete das dortige Grafische Kabinett „eine ideale Ergänzung“ zur zeitgenössischen Kunst der hauseigenen Sammlung.

Die Neue Nationalgalerie im Internet: hier lang.
Aktuelle Informationen der Berliner Museen zur Corona-Pandemie: hier lang.




Bücher & Musik

2. Dezember  Die Stadt Hof lädt am Freitag zum Abbau einer Kunstausstellung ein, den Katalog gibts auch danach noch – Gedichte für Cello und Klavier sowie von Ingrid Haushofer – Kammermusik-Miniaturen von Jacques Ibert – Aus dem Leben eines Hofer Gelehrten.


Von Michael Thumser

■ Fachbereich Kultur der Stadt Hof (Hg.): Blau.Pause. Georg Ludwig Fieger. Katalog zur Ausstellung in der Freiheitshalle. – 96 Seiten, gebunden, Großformat, 12 Euro. Erhältlich per Mail: kultur@stadt-hof.de.
Blau ist eine der Lieblingsfarben des Künstlers. Eine Pause legen die Besucherinnen und Besucher einer Ausstellung ein, um zu sich zu kommen, indem sie zur Kunst kommen. Blaupause nennt man die Kopie von Strukturen, die als weiße Linien auf blauem Papier erscheinen ... All das kommt in der Schau zusammen, die der Eichstätter Künstler Georg Ludwig Fieger eigens für Hof konzipiert hatte. Am 22. Oktober wurde sie im Foyer der Freiheitshalle eröffnet, für den morgigen Freitag lädt die Stadt zum Abbau ein: Bei Einhaltung der 2G+-Regeln und mit FFP2-Maske vor Mund und Nase kann man ab 18 Uhr dort gekaufte „Bilder abholen, miteinander plaudern, mit dem Künstler sprechen, ein Gläschen trinken“, wie die Stadt verheißt. Bei der Gelegenheit und auch weiterhin ist der ebenso aufwendige wie preisgünstige Katalog erhältlich. Vollzählig gibt er die gezeigten malerischen und plastischen Arbeiten wieder, in denen sich der – 1964 im nordrhein-westfälischen Monheim geborene – Künstler als Erster ausdrücklich auf die gut 150-jährige Textil-Tradition Hofs mit seinen einst zahlreichen Spinnereien und Webereien bezieht. Gedichte von Max Häring begleiten die Reproduktionen, ein Essay des Kulturamtsleiters Peter Nürmberger führt sachkundig, weitblickend und gut lesbar zu den Exponaten hin und in die Hintergründe ein. Darin geht Nürmberger, buchstäblich, von Adam und Eva aus und dem Wort Textilie auf den Grund: Für „das Zusammengewebte, Zusammengewirkte, Zusammengefügte“ stehe es, und „Zusammenhänge stellt auch Georg Ludwig Fieger her“. Auch das Konzept der Ausstellung suche danach: „Textil und Malerei, da ist ein logischer Zusammenhang.“ Fieger schmiedet ihn durch das dominierende Blau, „die Farbe des Meeres und des Himmels, der Sehnsucht“ und des Planeten als einer „kleinen blauen Kugel im All“. In Fiegers Arbeiten, so der Kulturamtsleiter, seien die „poetischen Anklänge dieser Farbe sinngebend. Die Blaue Blume der Romantik ist da nicht weit.“ Der Künstler integrierte Textiles in seine Malereien und brachte als Collagematerial Schnittmusterbögen aus der Werkstatt des Vaters, eines Schneidermeisters, in sie ein, wenn er sie nicht gar als Malgrund benutzte. Die Pause, als zeitlich begrenzte Unterbrechung der Arbeit, so Nürmberger, kehre in den Exponaten wieder als „monochrome Fläche“: „Beachtlich ist der Mut zur Leere auf der Leinwand, mithin der Pause, die Raum lässt und dann doch gefüllt ist.“

■ Poèmes for Violoncello & Piano. – Solo Musica, 1 CD, Nr. SM 379, etwa 15 Euro
Um die Exponate für die Ausstellung auszuführen, blieb Fieger „nächtelanges Arbeiten im Atelier nicht erspart“, betont Peter Nürmberger am Schluss seines Essays. Auch Francis Poulenc berichtete, auf seine, die musikalische Art,^von der „Arbeit des Malers“: „Le Travail du peintre“ überschrieb er eine siebenteilige Suite, mit der Klaus Kämper am Cello und die Pianistin Eva-Maria May ihre Duo-CD eröffnen. Picasso und Chagall, Braque, Gris und Klee, Miró und Jacques Villon erhalten im gleichgewichtig subtilen Spiel der beiden je eigene Konturen und vielerlei Farbtöne. Mit zwei Miniaturen kommt auch Jean Françaix zu Wort, mit einem Sonatensatz, als Zugabe gleichsam, Johannes Brahms. Ein zweites Hauptgewicht indes, neben der Malkunst, legen die Interpreten auf die Stimmkunst; dass dabei ihre Vorliebe den getragenen, introvertierten Sujets gehört, verleiht der Platte Nachdenklichkeit, allerdings auch Monotonie. In einer Bearbeitung der „Nachtigall“ aus Alban Bergs „Sieben frühen Liedern“ und in der schier unendlich gespannten Cello-Melodie von Sergej Rachmaninows berühmter „Vocalise“ breitet Kämper mit beredtem Ton und Strich heraus, wie nah instrumentale und vokale Klangsphären einander kommen können. Die Arrangements der „Wesendonck-Lieder“ erstellte er sogar selbst. Zu den – in dieser Version folglich wortlosen – Gesängen, die Richard Wagner auf Verse seiner Flamme Mathilde Wesendonck schuf, passt der Titel der CD, „Poèmes“, Gedichte, vielleicht am besten.

■ Ingrid Haushofer: Und immer zu groß die Sehnsucht. Liebesgedichte. – Athena-Verlag/Edition Exemplum, 116 Seiten, Paperback, 14,90 Euro.
Wie schreibt man Gedichte? „Sie sind nicht machbar, nicht verfügbar, auch nicht mit Fleiß und Disziplin, die bei erzählender Literatur vonnöten ist“, sagt Ingrid Haushofer. „Sie formen sich, zunächst unbemerkt, in der Tiefe, drängen irgendwann ins Bewusstsein und werden dann, wie in einer Art Geburtsvorgang, zu Papier gebracht.“ Und wie schreibt man ein Liebesgedicht? Aus der tiefen Einsicht heraus, dass „die Liebe der Gegenpol des Todes ist, denn Liebe meint Ewigkeit“. Darum zeigt die Hofer Autorin in den freirhythmischen, stets nur wenige Wörter langen, gelegentlich gereimten Versen ihres neuen Lyrikbandes zwar „das Glück, aber auch die Leiderfahrung, die beide zusammen eine große Liebe ausmachen“. Seit Langem ist Ingrid Haushofer verheiratet – aber nicht speziell ihrem Mann widmete sie die Sammlung, sondern „den Liebenden“ ganz allgemein und überall. Schon dadurch lässt sie spüren, dass sie nicht so sehr übers Sich-heimisch-Fühlen in der Partnerschaft nachdenkt wie über das Hingezogensein vor dem Beieinandersein und Sich-Hingeben – über die „Sehnsucht“. Wie ein „Schatten“ folgt die dem Menschen oder geht ihm voraus, stets „körperlos“. Zu Haushofers Reife der Gedanken und Empfindungen tritt jene der Form und der Anschauung: Ohne überflüssiges Dekor taucht sie ins Reservoire ihrer Beobachtungen, Wahrnehmungen, Reflexionen ein und fördert in knappen Formulierungen scheinbar alltägliche Metaphern zutage, die sich indes plastisch zu überraschenden Bildern verbinden. Weil es um die Liebe geht, kann Pathos nicht völlig fehlen; aber die Autorin verwehrt ihm Gedöns und Peinlichkeit. Weil es ihr, bei aller angenehmen Schlichtheit der „alten unsagbaren“ Worte, um ausgearbeitete Wortkunst zu tun ist, unterläuft ihr vereinzelt Geschraubtes auch; aber immer weiß sie sich vor Gemeinplätzen, naiver Schwärmerei, unechtem Sentiment zu hüten. „Will / nur noch / lauschen und flüstern / spüren und riechen / den Duft des Verlangens“: Zwischen beredter Intonation und verhaltener Sinnlichkeit hält Haushofer das Gleichgewicht. Darum fehlt ihren Gedichten sowohl Euphorie als auch Resignation. Selbst wo die Liebe sich infrage stellt oder gar erlahmt – vielleicht weil „wir zu wenig / gesagt haben / und zu viel / geredet“ –, bleibt die Sehnsucht erhalten, eine „Herzstreicherin“ des „Duundich“, die nicht nach Wie und Warum fragt. Sie sagt „einfach: Ich liebe dich. / Punkt.“

■ Jacques Ibert: Kammermusik. Farao Classics, 1 CD, Nr. B 108 105, etwa 15 Euro.
Von wem stammt das Zitat: „Genie ist ein Prozent Inspiration und neunundneunzig Prozent Transpiration“? Die Nachwelt legte es so manchem Großen in den Mund; Techniker zum Beispiel schreiben es dem Erfinder Thomas Alva Edison zu – die Musikwelt dem Komponisten Jacques Ibert. Wer sollte, nachdem Debussy und Ravel das Zeitliche gesegnet hatten, unter Frankreichs Tonsetzern die Führung übernehmen? „Unter all unseren Komponisten ist Ibert gewiss der authentischste französische“, rühmte ihn 1945 der Kollege Henri Dutilleux, „zugleich ist er der unbestrittene Anführer unserer zeitgenössischen Schule.“ Bei aller Modernität aber hielt sich der 1962 in Paris, seiner Geburtsstadt, 72-jährig gestorbene Tonsetzer stets an der Tradition fest und bekannte sich zu einer erweiterten Tonalität. Mithin bleibt die bläserdominierte Musik der CD stets gut hörbar, zumal in den rhythmisch lebendigen, koloristisch mannigfaltigen Darbietungen des Ensembles Arabesque. Das setzt mit der Aufnahme eine Reihe von kammermusikalischen Einspielungen mit Kompositionen Francis Poulencs und Gustav Holsts fort. Ins Zentrum stellen die ausnahmslos jungen, von Werk zu Werk wechselnd eingesetzten Musikerinnen und Musiker klangfein und -frisch Iberts Trio für Violine, Cello und Harfe und die „Trois pièces brèves“ für Bläserquintett. Außer einem elfminütigen, fast schon orchestralen „Capriccio“ für zehn Instrumente bescheidet sich das Gros der Stücke mit dem Format der Miniatur, was sie nicht weniger – oder erst recht – kostbar macht. Ihrer lässig-eleganten Darbietung mangelt es an Inspiration nicht, und schon gar nichts ist dabei von „Transpiration“ zu spüren.

■ Dr. Friedrich Ebert: Autobiografische Schriften. Herausgegeben von Christoph Weißer. Verlag Tredition, 288 Seiten, gebunden, 24,80 Euro.
Zum fünfzigsten Mal jährte sich heuer der Todestag von Dr. Friedrich Ebert, dem verdienten Hofer Stadthistoriker und langjährigen Direktor des dortigen Jean-Paul-Gymnasiums. Zum runden Jahrestag hat sein Enkel Christoph Weißer autobiografische Texte des 1882 geborenen Gelehrten zusammengestellt, die dessen eindrucksvolle Persönlichkeit beleuchten und dabei auch die Geschichte seiner Wahlheimatstadt berühren. Friedrich Ebert durchlebte seine Kinder-, Schul- und Studienzeit – in Ansbach, Erlangen und München – sowie den Eintritt in das Berufsleben während des deutschen Kaiserreichs; seine berufliche, wissenschaftliche und sportliche Karriere fiel in die Jahrzehnte der Weimarer Republik und des „Dritten Reichs“; seinen Ruhestand verbrachte er in der Bundesrepublik Deutschland. So musste er sich in seinem langen Leben mit vier grundverschiedenen politischen Systemen arrangieren und überdies an zwei Weltkriegen teilnehmen. Nach intensiven archäologischen Studien promovierte Ebert mit einer Arbeit zum antiken Tempelbau, die für viele Jahre maßgeblich blieb und ihm eine einjährige Studienreise zu allen wichtigen Stätten der klassischen Antike einbrachte. Als Direktor des Hofer Gymnasiums musste er sich gegen die Repressionen des Nazi-Systems zur Wehr setzen. In Hof, das ihm zur Heimat wurde, etablierte er den Eiskunstlauf. In seinem Ruhestand beschäftigte er sich intensiv mit der Geschichte der Stadt und konnte hierzu wichtige Forschungsergebnisse vorlegen. Der Band versammelt Auszüge aus Tagebüchern, Notizen, Lebens- und Reiseberichten, die der Leserin und dem Leser einen tiefen Eindruck von der faszinierenden Persönlichkeit Friedrich Eberts vermitteln und unmittelbar in seine Gedankenwelt hineinführen. Zugleich ergeben sich interessante Einblicke in die bürgerliche Lebensweise des ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Der Herausgeber, Dr. Christoph Weißer, kam 1952 zur Welt und ist Arzt und Medizinhistoriker. Bis 2016 war er als Chirurg und Unfallchirurg sowie als Lehrbeauftragter für Medizingeschichte an der Universität Würzburg tätig. Seit vielen Jahren firmiert er als Schriftleiter medizinhistorischer Zeitschriften. In dem Band „Familien-Erinnerungen aus vergangenen Jahrhunderten“ (312 Seiten, gebunden 29,80, als Paperback 24,80 Euro) hat Weißer im selben Verlag weitere Dokumente zur Geschichte der Familie Ebert versammelt: Lebensberichte, Tagebücher, Nachrufe und Archivalien aus der Zeit vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Weltkriegsjahr 1914. (Zitiert aus der Verlagswebsite und den Klappentexten der Bücher.)



So schmeckt die Fremde

Die Deutschen essen gerne italienisch. Das war keineswegs immer so. Ein Buch des in Hof geborenen Kulturwissenschaftlers Dieter Richter erzählt, wie zwischen Nord und Süd doch noch eine Leib- und Magen-Beziehung erwuchs.


Von Michael Thumser

Hof, 12. Oktober – In einem berühmten Sketch führte Loriot alias Vicco von Bülow uns Fernseh-Guckern 1977 vor, wie eine Nudel verhindert, dass aus Mann und Frau ein Paar wird. Beim Spaghetti-Verzehr im „Italiener“ ringt ein leitender Angestellter nach möglichst schönen Worten, um einer schüchternen Dame seine Liebe anzutragen. Aber jedes Mal, wenn er sich mit der Serviette über den Mund wischt, wandert eine kleine Nudel von einer Lippe zur andern, von der Nasenwurzel zur -spitze. Stumm und irritierten Auges verfolgt die Angebetete die Reise der Teigware und bekommt so keine Silbe vom Bekenntnis des entflammten Tischherrn mit. Zuschauend ahnen wir früh: Diese Werbung mündet in kein Happy-End.

     Auch im wirklichen Leben und im europäischen Rahmen drohte lange die Gefahr, dass die Nudel und die Deutschen, italienische Küche und einheimische Ernährungskultur nicht zueinander finden. Kaum mag mans glauben, gelangen doch Pizza und Frutti di Mare, Spaghetti und Makkaroni con gusto auf unsere Tische, nicht einfach „mit Geschmack“, sondern gesättigt damit, einzigartig „geschmackvoll“. Gleichwohl kam die heute allerorten offensichtliche Leib- und Magenbeziehung auf hindernisreichen Wegen zustande, wie Professor Dieter Richter in seinem neuen Buch klug aufdeckt und appetitanregend nacherzählt. Der renommierte Literaturhistoriker und Kulturwissenschaftler – in Hof geboren, in Bremen zu Hause und ebenso in Italien daheim – besuchte zum wiederholten Mal die Heimatstadt, um, eingeladen von den Kaiser-Schwestern und ihrer „Buchgalerie“, eine neue Publikation vorzustellen. „Con gusto“ heißt der schmucke jüngste Band, worin der 83-jährige Ehrenbürger von Amalfi der „kulinarischen Geschichte der Italiensehnsucht“ auf den Grund geht. Nach beendeter Frankfurter Buchmesse wird ihn eine Lesereise bis in die italienische Botschaft in Berlin führen. Hier aber, im Konferenzbereich der Freiheitshalle, startete am Donnerstag die Tour: „In Hof schauen wir, wies geht.“

     Es „ging“, und zwar vortrefflich, eine deliziöse Stunde lang. Kein Wunder: In Italien, so Richter, begegneten wir einem Land, das sich „mit allen Sinnen“ erfahren lasse. Allerdings seien mit der Redensart namentlich Augen und Ohren gemeint. Dabei kämen wir erst recht über „Zunge und Gaumen“ auf den Geschmack, nicht allein auf der Apennin-Halbinsel selbst, sondern überall, wo nach Landesart gekocht werde – also beinah auf der ganzen Welt. Indes verhält es sich erst seit dem vergangenen Jahrhundert so.

Goethe im Sinn, den Baedeker in der Tasche

Zwar traten schon lang vorher von deutschen Landen aus bekennende „Italienschwärmer“ wie Johann Wolfgang von Goethe einen Streifzug, oft gar ihre grand tour in den Sonnensüden an. Doch nach ihrem Geschmack waren Land und Leute keineswegs in jeder Hinsicht. Richter zitiert einen Reisenden, der – „Goethe im Sinn, den Baedeker in der Hand“ – das Land fasziniert durchfuhr, Nachahmer jedoch vor „sieben Kreuzen“ warnte, die man darin auf sich nehmen müsse; eins davon: die „ungenießbare und gesundheitsschädliche“ Küche. Dem mit „Butter und Schmalz“ eingefetteten teutonischen Verdauungstrakt muteten das allgegenwärtige Olivenöl und der Knoblauch Giftstoffe zu, die man erst „nach sieben Wochen Karlsbad“ wieder loswerde, wie ein weiterer Reiseschriftsteller klagte. Wieder ein anderer fand, die Nudeln, zumal die endlos langen Spaghetti ließen sich nur mit deformierter Kehle verschlingen. Und dem bedeutenden Rom-Historiker Ferdinand Gregorovius erschienen Pizza und Frutti di Mare derart toxisch, dass er nur italienischen Proletariern zutraute, sie schadlos zu verstoffwechseln.      „Gastrokulturell“ resümiert Richter: Die Liebe zu Italien ging durch den Kopf, nicht durch den Magen.“    

     Der Geschmack des Öls war, wie er konstatiert, der „Geschmack der Fremde“; wobei er in der Missbilligung des Speisezettels „Signale der Ablehnung einer fremden Kultur“ erkennt. So weit reichte die Anmaßung, dass Deutsche in Italien bevorzugt in deutschen Gasthöfen abstiegen, in Rom gern beim Böhmen Rösler-Franz. Angekommen fühlten sie sich in Arkadien erst eigentlich, wenn sie auf „Sauerkraut und ein Seidel Bier“ stießen. Eine Speisekarte aus dem Rom des Jahres 1847, von Richter aus Akten des Bremer Senats ausgegraben, belegt: Ein „kultureller Kompromiss“ war nötig zwischen Süd und Nord; mithin boten die Lokale internationale Küche an, auch den Engländern, die auf ihr heimatliches breakfast nicht verzichten wollten.

     Ganz nach dem gusto nordischer Genießer waren dann allerdings die Südfrüchte, die vom siebzehnten Jahrhundert an „Zitronenmänner“, „Pomeranzengänger“ und wandernde Saisonarbeiter mitbrachten. In einer umfassenden These fasst Richter Gründe für den „Triumphzug“ der cucina italiana zusammen: Neben der Arbeitsmigration nennt er den Tourismus, auch die „Streetfood- und Catering-Tauglichkeit“ der (vermeintlich) „schnellen“ und (irrtümlich) für „leicht und gesund“ gehaltenen italienischen Küche. Im Deutschland der studentenbewegten 1960er-Jahre kam hinzu, dass die „schweren, fetten, ‚kryptofaschistischen‘ “ Spießbürger-Gerichte als Teil einer „abgelehnten nationalen Identität in Verruf gerieten“. Beispiel dafür, dass der Essteller zur Kristallisationsfläche sozialer Phänomene taugt.

     Bis die „Versüdlichung des Nordens“ unumkehrbar geworden war, ging reichlich Zeit ins deutsche Land. 1977 freilich, im Jahr der verpatzten loriotschen Liebesanbahnung, war der Restaurantbesuch beim „Italiener“ fast schon Standard. Dennoch ist der „Prozess  nicht abgeschlossen“, sagt Dieter Richter: Im „Ernährungsreport“ für 2017 rangiert Pasta unter den Lieblingsspeisen der Deutschen an zweiter Stelle, nach Fleisch – aber vor Kartoffeln.




Geflasht von der Geschichte

Franzobel in Hof: Der österreichische Erfolgsautor sieht sich nicht nur die Uraufführung seines historischen Volksstücks „Anna Viehmann“ an, er liest auch aus seinem neuen, grotesk-grausigen Roman vor: „Die Eroberung Amerikas“.


Von Michael Thumser

Hof, 12. Oktober – Ein Autor, bislang namentlich der Gegenwart verhaftet, bewegt sich zwar nicht rückwärts, geht aber doch zurück: in der Geschichte – warum? Und wie? Franzobel, höchst erfolgreicher Schriftsteller des Jahrgangs 1967, unternahm den nicht ungefährlichen Weg gleichsam schrittweise. Zunächst kam er 2017 mit dem „Floß der Medusa“ heraus, worin er von ausgemergelten Schiffbrüchigen erzählt, die zweihundert Jahre zuvor,  1816, vor Afrikas Westküste gerettet wurden. Heuer dann ließ der Österreicher, seiner Vorliebe fürs Grotesk-Überzeichnete wegen bekannt und beliebt, „Die Eroberung Amerikas“ folgen, deren Stoff 1539 spielt; damals landete der spanische Konquistador Hernando de Soto in Florida, um den Indigenen das Gold zu rauben, das er fälschlich dort vermutete.

     Zwischendurch schrieb Franzobel eigens fürs Theater Hof ein historisches Volksstück über eine harmlos-unschuldige Frau, die hier im siebzehnten Jahrhundert als Hexe enthauptet wurde. (Die Produktion rezensiert ho-f auf der Unterseite Schauspiel.) Zur Uraufführung am Samstag reiste er an und blieb bis Sonntag für eine Lesung, natürlich aus dem neuen Buch. Vorher ließ er im Gespräch mit Dramaturg Thomas Schindler und dem Heimathistoriker Adrian Roßner den Premierenabend Revue passieren: „Ich bin nicht unzufrieden.“

     Was wohl zieht einen wie ihn von den Abgründen der Gegenwart in jene der Vergangenheit? Was zu den Menschheitsverbrechen der Eroberer Mittelamerikas in der frühen Neuzeit? „Ich war“, bekennt Franzobel, „geflasht von der Geschichte und ihrer Vielfältigkeit.“ Auf mehr als einer Zeitebene fügt er seinen Stoff denn auch zusammen. Im heutigen New York zieht ein Rechtsanwalt vor Gericht: Er will, dass die Vereinigten Staaten komplett an die Nachkommen der einstigen Ureinwohner Amerikas zurückgegeben werden. Ins spanische Revolutionsjahr 1868 führt der Autor, wo die Särge der Habsburger geöffnet werden: Längst sind die meisten Leichen zu Staub verrottet, nur Karl V., prominentester der Habsburger-Kaiser, „ist erstaunlich gut beisammen“, seine „herben Gesichtszüge“ und sein Bart lassen sich erahnen. Schnell, fast beiläufig, trägt der Östereicher allerlei Ungeheurliches vor, mit sonorem, leicht singendem Stimmton, etwa auf eine „habsburgische Hasenpfote“, nämlich einen Finger des Monarchen, den die Rebellen einst wirklich abbrachen und mit sich nahmen.

     Schließlich wendet er sich dem Protagonisten des Buchs zu, dem Recken de Soto, der sich mit einer „im Wortsinn aufgetakelten Flotte“ aufmacht, „Florida und das Goldland zu entdecken“. Auch in den extrem profitablen, extrem unbarmherzigen Sklavenhandel will er gern einsteigen, den neuen, fernen Untertanen des Kaisers das Christentum brutal aufzwingen und „seiner Majestät höheren Ruhm“ eintragen. Die Ausbreitung kaltblütiger, blutdampfender Gewaltorgien, wie sie das Buch schonungslos schildert, erspart Franzobel dem Hofer Publikum. Lieber gibt er, in einer flapsigen, indes nie stillosen Sprache aus dem zeitgeistigen Hier und Heute, Beispiele für die humoristische Gegenwartsnähe, die er dem Sadismus der selbst ernannten europäischen Herrenmenschen sarkastisch gegenüberstellt, auch für die findige Anschaulichkeit, mit der er Szenen zeichnet und ausmalt und Figuren schräg charakterisiert. So halten es die Spanier angesichts der Kartoffel für ausgemacht, dass sich die Zumutung, Knollen zu essen, im Abendland nie durchsetzen werde; am Beispiel eines Indigenen-Stammes mit matriarchalischer „Weiberwirtschaft“ wenden „männerrechtliche“ Positionen die augenblickliche Me too-Argumentation parodistisch in ihr Gegenteil; an die aus Skandinavien herbeisegelnden ersten Entdecker Amerikas wird durch IKEA-Reminiszenzen erinnert. Isabella, de Sotos Gattin, macht dem Quäler das Leben ihrerseits „zur Qual“, wenn sie sich ihm „lustfeindlich“ verweigert, „verspannt wie eine Leinwand auf dem Keilrahmen der Ideale“. Regelrecht Angst bekommt der furchteinflößende Massenmörder vor ihr. Und war er, der Berserker, nicht einst ein gemobbter Schüler, als Student ein verhöhnter Jämmerling?

     Die Gelegenheit des Hofer Aufenthalts nutzt Franzobel, um einfließen zu lassen, dass das hiesige Theater, genauer: dessen Intendant auch mit dem Roman in Verbindung stehen, den er augenblicklich ausarbeitet. Reinhardt Friese, so erzählt er, habe ihn auf ein ungeheuerliches Vorkommnis nicht im Leben Albert Einsteins, aber nach dessen Tod aufmerksam gemacht: 1955 wurde die Leiche des Physikers zwar verbrannt, jedoch nicht vollständig – hatte doch ein Pathologe den Schädel geöffnet, das singuläre Zerebrum herausgenommen und in einem Glas konserviert; später zerlegte er es in unzählige kleine Eimzelteile, auf dass Wissenschaftler mikroskopierend das Geheimnis des Ausnahmehirns ergründen und an die „Quelle der Genialität“ vorstoßen könnten. Ein heikler Stoff auf Skalpells Schneide: Wie darüber berichten, ohne in Geschmacklosigkeiten zu versumpfen? Oder will der Autor gerade dies: die Grenzen des angeblich Ungebührlichen ausreizen?

Jedenfalls ist dabei Mut von ihm gefordert, und über den verfügt sogar der frech-tollkühne Franzobel nicht unbegrenzt. In der „Eroberung Amerikas“ skizziert er Karl V., wie er auf einem Leibstuhl pupsend mit der Verdauung kämpft, krumm durch seine Schlossgemächer schlurft und zwischen schiefen Zähne dahernuschelt; auch die anderen „kaiserlichen Karls“, schreibt er, „waren alle deformiert“. Und er schiebt ein, zum Publikum gewandt: Jene Passage hätte er während einer Fernseh-Talkshow nur zu gern dem gegenwärtigen Oberhaupt der einst imperialen Familie, Karl Habsburg-Lothringen, vorgelesen: „Aber dann hab ich mich doch nicht getraut.“

 




Es geht auch ohne Beethoven

Die Neunte des Genies klingt als Evergreen über die Welt. Seine zehnte Symphonie indes blieb in den Anfängen stecken. Am Samstag wird sie dennoch in Bonn uraufgeführt. Die Partitur generierte ein Computer. Das drängt uns die Frage auf: Wie nah stehen die Maschinen den Menschen schon?


Von Michael Thumser

9. Oktober – Zwei Wörter von verwandtem Klang: Komponieren, Computer. Das eine – vom lateinischen componere für zusammensetzen – benennt den durchdacht entwickelnden Aufbau eines Musikwerks. Auch das andere Wort stammt aus dem Lateinischen, wo computare be- oder zusammenrechnen heißt; jenen Maschinentyp bezeichnet es mithin, dessen stetig und rasant wachsende mathematische Fähigkeiten unsere Großrechenanlagen mit fast menschlichen, schier übermenschlichen Fähigkeiten zu begaben scheinen. Tun sie es wirklich?

     Eindrucksvoll sollen jetzt Schösslinge aus beiden Wurzeln öffentlich zusammenwachsen. Am Samstag wird in Bonn eine bis dato ungehörte Musik uraufgeführt, die zwar irgendwie von Ludwig van Beethoven stammt, aber nicht aus seiner Feder. Was das Beethoven-Orchester unter Dirk Kaftans Dirigat und mit Cameron Carpenter an der Orgel von 19 Uhr an im örtlichen Telekom-Forum (und am 27. Oktober noch einmal in Hamburgs Elbphilharmonie) darbieten wird, das nennt sich zwar die zehnte Symphonie des genialischen Komponisten; doch ein Computer hat die Partitur mithilfe eines ausgebufften Algorithmus zusammengefügt.

     Recht spät tritt das Werk aus dem Rechner an die Öffentlichkeit. Dabei waren die Initiatoren und Planer wahrlich rechtzeitig dran. Landen wollten sie den Coup passend zum Gedenkjahr 2020, in dem sich der Geburtstag des berühmten Tonsetzers zum 250. Mal jährte. Im Frühling versammelte die – in Bonn ansässige – Telekom eine Gruppe von Fachleuten sowohl der Musik wie der sogenannten Künstlichen Intelligenz (KI) und stellte sie vor die reizvolle Aufgabe, karge Überlieferungen des Meisters zu komplettieren; ein harter Job, war der doch über Anfangsentwürfe nie hinausgelangt. Umso motivierter setzte sich das Team an die Arbeit: unter anderen Dr. Matthias Röder, Musikwissenschaftler und Direktor des Salzburger Eliette-und-Herbert-von-Karajan-Instituts, der österreichische Musikproduzent Walter Werzowa, Dr. Mark Gotham von der Universität des Saarlands, der Computerwissenschaftler Ahmed Elgammal, Gründer und Leiter des Art and Artificial Intelligence Laboratory (Labor für Kunst und Künstliche Intelligenz) der Universität im US-amerikanischen New Jersey, und der desgleichen aus den Vereinigten Staaten hinzustoßende Pianist und Musikologe Robert Levin. Das Projekt gedieh.

Es klang noch nicht klassisch genug

Im Oktober 2019 indes entschied die Gruppe: Was ihnen da bisher vor Augen und zu Ohren kam, mutete wenig klassisch, eher neuzeitlich an. Dem konnte bis zum Dezember des Jahres einigermaßen abgeholfen werden, sodass der ursprüngliche Uraufführungstermin im April 2020 sich also hätte halten lassen. Doch funkte, wie uns allen, die Corona-Pandemie dazwischen. Weltweit wurde das Beethovenjahr mehr oder weniger abgesagt oder verschoben (ho-f berichtete), auch in Bonn, wo der Komponist 1770 zur Welt kam. Untätig blieb die Korona der Koryphäen gleichwohl nicht. Die Wartezeit nutzend, programmierten – „trainierten“ – sie die KI vollkommen neu. Im Herbst 2020 hatte Mark Gotham dann auch die Orchestrierung vollendet. Im vergangenen Sommer gings ins Studio: Dort spielten die Interpreten, die am Wochenende die fertige Partitur erklingen lassen, die Zehnte schon mal auf Compact-Disc ein.

     Und allerdings wirft ein Unterfangen wie dieses Fragen auf. Gibt es das überhaupt: Künstliche Intelligenz? Immerhin fällt auf, dass wir seit mindestens zwanzig Jahren all unsere menschliche Intelligenz daransetzen, ebendiese möglichst überflüssig zu machen: In immer ausgeklügeltere Hervorbringungen der Technik lagern wir sie aus, in „digitale Endgeräte“ und vernetzte Maschinen, durch die nicht wir immer schlauer, sondern unsere Lebensräume und -accessoires immer „smarter“ werden sollen, auf dass alles ‚wie von selbst‘ vonstattengehe. Die outgesourcte Intelligenz soll uns die Mühen ersparen, unser Köpfchen stets aufs Neue zu bemühen. Nicht schlecht. Doch schon jetzt immer mehr und erst recht in Zukunft steht unser alter, hehrer Freiheitsbegriff der Autonomie für eine autarke Wirksamkeit der Apparate, auch und gerade dann, wenn unser Wille nicht Einfluss auf sie nimmt. Der Kopf aber arbeitet anders als ein Apparat: auch schon mal kraus, un- und widersinnig, sprunghaft und spielerisch statt normgerecht. Erst daraus erwachsen unsere Potenziale der Fantasie, der Fiktionalisierung, der Kreativität – und zugleich die Pflicht, die Folgen unseres Strebens zu bedenken. Verantwortung aber trägt ein Automat nie. Nicht so gern von Künstlicher Intelligenz sprechen darum die Experten wie von selbstlernenden Maschinen. Aber die lernen nicht nur, sie ertüchtigen sich auch selbst darin, das Gelernte immer komplexer anzuwenden.

     Beim Bonner Beethoven-Projekt wandten die Teilnehmenden die digitalen Möglichkeiten an, um eine Grenze zu passieren, die der Klassiker selbst nicht überwand. Erst dadurch, dass er die Arbeit an der Zehnten vergeblich unternahm, entstand der Mythos, eine Symphonie mit der Nummer neun markiere zwangsläufig das Ende einer Komponistenlaufbahn: „Wer darüber hinaus will“, soll Arnold Schönberg gesagt haben, „muss fort.“ Wirklich kam auch der Böhme Dvořák nicht „darüber hinaus“, ebenso wenig der Brite Vaughan Williams, der Schwede Atterberg … Aus Angst, sonst vor der Zeit sterben zu müssen, schob Gustav Mahler nach seiner achten Symphonie zwar eine weitere ein, tarnte aber jenes „Lied von der Erde“ als Zyklus von Gesängen für Solostimmen und Orchester, schrieb dann die rein orchestrale neunte doch – und musste danach wirklich danach „fort“. Trotzdem gibt es Mahlers Zehnte: in Gestalt des von ihm vollendeten ersten Satzes, eines weitschweifigen Adagios; vollgültig und vollständig steht es für sich. Überhaupt dürfen wir Schönbergs Todesurteil zum Unsinn erklären: Nach Beethoven starb Anton Bruckner zwar, ohne seine Neunte mit einem Finalsatz abzuschließen, doch kommt er, sofern sein frühes f-Moll-Werk und die „Nullte“ mitzählen, auf sogar elf Werke der Gattung. Edmund Rubbra brachte es gleichfalls auf elf, Dmitri Schostakowitsch auf fünfzehn, Allan Petterson auf sechzehneinhalb … Als Rekordhalter schleuderten Leif Segerstam (Jahrgang 1944) und der 2005 gestorbene US-Amerikaner Rowan Taylor jeweils weit über 250 Symphonien heraus.

Zehntausend Partituren im Korpus

Der Finne Segerstam gilt denn auch als Schnell-, gar Blitzschreiber. Hochgeschwind arbeitet erst recht der Elektronenrechner, wenngleich nur unter gewissen Voraussetzungen. Wie die meisten Komponistinnen und Komponisten erstellt auch er zunächst ein Particell, also einen detaillierten Entwurf der Stimmen für Melodie und Harmonik ungefähr in Gestalt eines Klaviersatzes auf zwei (seltener drei) Systemen, aber ohne die endgültige Aufteilung auf die Orchesterinstrumente. Dazu jedoch muss der Rechner mit einem möglichst umfassenden Korpus gefüttert werden; das ist eine gewaltige Sammlung einschlägiger Daten, aus der die Maschine zu komponieren ‚lernt‘, indem sie immer feinere Vergleiche zieht.

     Beethoven plante seine zehnte Symphonie parallel mit der 1824 erstmals aufgeführten neunten; zu beiden hatte ihm schon 1817 die Royal Philharmonic Society in London den Auftrag erteilt. In einem Brief, abgefasst ungefähr eine Woche vor seinem Tod (am 18. März 1827), erwähnt er Einfälle, „die schon skizziert in meinem Pulte“ lägen. Zuallererst also gelangten jene über vierzig in einem roten Büchlein niedergekritzelten Ideen-Notate von seiner eigenen Hand in den Korpus; leider umfassen sie jeweils höchstens zwanzig Takte, oft weitaus weniger. Ferner erfuhren die Wissenschaftler von Plänen Beethovens, Motive aus seiner c-Moll-Klaviersonate opus 13, der „Pathétique“, ferner die Melodie von Martin Luthers Choral „Herr Gott, wir loben dich“ und das „Gratulations-Menuett“ in Es-Dur aus dem Nachlass zu verwenden. Und das war erst der Anfang: Überschlägig zehntausend ausgewachsene Partituren speisten die Spezialisten obendrein ein, jene von allen beethovenschen Symphonien in der Original- wie in Franz Liszts Klavierfassung, von seinen Klavierkonzerten und Streichquartetten, aber auch von Stücken etwa Bachs, Haydns und Mozarts, von Komponisten also, die ihn inspiriert hatten, sowie von etlichen seiner Zeitgenossen.

     Freilich verstoffwechselt der Rechner das Riesenangebot nicht dergestalt, dass der Algorithmus am Ende ein perfektes neues Werk aus dem Drucker entlässt. „Aber die Künstliche Intelligenz“, sagte Ahmed Elgammal dem Zweiten Deutschen Fernsehen, „kann musikalisches Material generieren, das menschliche Experten dann nutzen, um vielleicht etwas Bedeutsames zu kreieren.“ Das versuchten sie, indem sie aus den gelieferten Ergebnissen Brauchbares auswählten, Überflüssiges oder Unverträgliches verwarfen, das Bleibende ausfeilten.

Kreativer als der Mensch?

Indem sie Beethoven nicht zu ersetzen trachteten, sondern sich seiner Stilmittel bedienten, brachte ihr Experiment eine entscheidende Kulturfrage einer Antwort näher: Inwieweit kann der an sich geist- und einfallslose, aber ungemein kombinationsschnelle Rechner menschliche Schöpferkraft imitieren? Vermag er sie womöglich zu überbieten? Wo also berühren oder überschneiden die Qualifikationen von Mensch und Maschine einander, worin unterscheiden sie sich, warum und in welchem Grad? Wo es oberflächlich gilt, bindende Vorschriften abzuarbeiten, etwa jene, nach denen eine barocke Fuge gebaut zu sein hat, da liefert digitale Technik längst akzeptable Ergebnisse. 2019 präsentierte in London der Technologie-Riese Huawei Franz Schuberts zweisätzige siebte Symphonie in h-Moll, die sprichwörtliche „Unvollendete“, mit zwei weiteren, gewissermaßen den fehlenden Teilen, die chinesische Wissenschaftler um den Filmkomponisten Lucas Cantor ausgestaltet hatten. Damals enttäuschte das fertige Produkt viele Kenner und Liebhaber. Das sollte nun, in Sachen Beethoven, anders, besser werden.

     Desungeachtet blieb auch hier der Einfluss leibhaftiger Menschen beträchtlich. Schon die Auswahl der Quellen, die in den Korpus einfließen, unterliegt ja dem Gutdünken derer, die sich für sie entscheiden und dafür andere links liegen lassen. Dann „habe ich hundert Versionen zusammengefügt, verfeinert, teilweise ausgebessert, wenn etwas offensichtlich verdreht war, und geschaut, was wie am besten zusammenpasst“, berichtete Walter Werzowa der Berliner Zeitung. „Wir haben vor allem ausgesiebt, was nicht ergreifend war.“ Er sagt auch: „Kein Mensch, und wäre er noch so genial, hätte mit den Skizzen etwas machen können, ohne sich selbst zu verwirklichen. Wenn ich das gemacht hätte, klänge es eben doch nach mir.“ Stimmt das stets? Auch Gegenbeispiele sind bekannt. Ein besonders überzeugendes bot der 1976 gestorbene Brite Deryck Cooke, der Gustav Mahlers erwähnte zehnte Symphonie rekonstruierte: So empathisch spürte er sich in die Klangwelt und Tonsprache des Spätromantikers hinein, dass die zuvor entbehrten, teils nur in fadenscheinigen Grundzügen angedeuteten Sätze zwei bis vier tönen, als stammten sie direkt aus Mahlers „Komponierhäusl“.

„Er wollte immer weiter“

Weniger Zuspruch erntete Beethovens fertige „Zehnte“ bislang bei manchen, die sie bereits hörten. Von langweiligen Passagen geht die Rede. Geradezu grimmig fiel der Vorab-Verriss der Rheinischen Post aus: „Das alles ist keine Sekunde jener späte Beethoven, der immer weiterwollte, es gibt keine Momente von Überrumpelung, keine extremen Register, keine originell-bärbeißigen Lösungen bei Gelenkstellen, keine überraschenden Pointen, kaum motivisch-thematische Arbeit. KI erfindet nichts, was in die Zukunft weist, sondern bildet konventionelle Mittelwerte.“

     Bleiben sie für die seelenlosen Schaltvorrichtungen elektrischer Impulse also doch auf ewig unerreichbar, die menschlichen Alleinstellungsmerkmale einer diskursiven Kommunikation, eines die Welt bereichernden eigenschöpferischen Ingeniums? Timotheus Höttges, Hauptgeschäftsführer der das Projekt überdachenden Telekom, findet den Ertrag des Experiments im Ganzen „wunderbar“ und „großartig“ und gibt sich ansonsten bescheiden: Man habe „ausloten wollen, wie weit eine kreative Zusammenarbeit von menschlicher und Künstlicher Intelligenz“ führen könne, um zu „zeigen, dass auch die Maschinen einen kreativen Nutzen für uns Menschen haben“.

     Menschen, Maschinen: zwei Wörter von verwandtem Klang. Muss, wo Maschinen immer menschenähnlicher arbeiten, der Mensch ihnen nicht seinerseits immer ähnlicher werden, wenn er neben ihnen fortbestehen will? Gäbe es nicht Freude und Rührung, Glaube und Hoffnung, Liebe und das unendliche Feld einer Kunst aus Kopf und Herz und Unterleib – wir müssten fürchten, dass der Materialismus der Apparate unsere Spezies überflüssig macht. Nicht ausgeschlossen, dass die Automaten, irgendwann, genauso denken.

Informationen der Telekom unter anderem zum Livestream der Uraufführung: hier lang




Bücher & Musik

2. Dezember   25 Jahre Kunstverein Hof – „Bittersüßes“ aus Griechenland von Hanna von Feilitzsch – Klavierminiaturen eines Franzosen aus Amerika – Gedichte einer „minimalen“ Seele – Tastenspiele für acht Damen-Hände – Flauberts dunkelsichtiger Jugendstreich.

Von Michael Thumser

■ Annie Sziegoleit (Hg.): 25 Jahre Kunstverein Hof. 120 Seiten, gebunden, 12 Euro. Erhältlich per E-Mail (info@kunstverein-hof.de) und im Buchhandel.
Ganz am Ende des Bandes treibt der Kunstverein ein Wortspiel, das zwar von Samuel Beckett stammt, aber doch eng mit seiner eigenen Situation zu tun hat. „Das Ende ist im Anfang, und doch macht man weiter“, steht auf dem hinteren Buchdeckel zu lesen. Vor einem Vierteljahrhundert ging der Verein an den Start, nun scheint er vor dem Ende zu stehen, denn aus seinem langjährigen Domizil, dem städtischen Theresienstein-Gebäude, muss er ausziehen und hat bislang wenig Aussicht, ein neues zu finden. Aber doch machen die Künstlerinnen und Künstler sowie die Planer und Macherinnen unter der Ägide Annie Sziegoleits weiter. Im Alten Landkrankenhaus brachten sie, wie gewohnt (und berichtet), die alljährliche Ernte ihrer „Kunstsaat“ ein; und eine „Festschrift“ gönnten sie sich zum Jubiläum, in der sie verkünden, dass sie noch da sind und zu bleiben wünschen. „Mit Zuversicht in die Zukunft“ ist ein Kapitel überschrieben, freilich nicht, ohne dass einschränkend ein skeptisches „… obwohl …“ angefügt wäre. Und das Vorwort Ralf Sziegoleits, des anerkannten Nestors der regionalen Kunstszene, gerät gleichzeitig zum „Nachwort einer Erfolgsgeschichte“ – aber ausdrücklich nur „vielleicht“. Neben einer ausführlichen Chronik engagierter Kunst an der Peripherie (die nur von Ahnungslosen für ‚Provinz‘ gehalten werden kann) zitiert das Buch weltberühmte Zeitgenossen herbei, die zwölf Apostel etwa oder „Donald Duck im Badezimmer“, und lässt gleich am Anfang keinen Geringeren als Pablo Picasso zu Wort kommen: „Die Kunst ist der beste Weg, die Kultur der Welt zu begreifen.“ Vielleicht die Welt überhaupt, möchte man hinzufügen. Über die bildende Kunst hinaus werfen die Sziegoleits den Blick auf die Dichtkunst (Jean Paul, Kafka, Herta Müller) und lassen sich selbst nach schweren „Katastrophenjahren“ die Feierlaune nicht verderben. Zeigt ihnen die Vergangenheit doch, dass, wer „In die Vollen“ zu gehen wagt, sich „Einfach himmlisch“ fühlt. Na dann: auf ein Neues!

■ Hanna von Feilitzsch: Bittersüße Mandeln. Roman. Feilitzsch-Verlag, 464 Seiten, gebunden, 24 Euro.
Von Feilitzsch heißt die Autorin, und in Feilitzsch lebt sie, wenn sie sich nicht mit ihrer Familie am Tegernsee aufhält. Nach mehreren Drehbüchern, „kulinarischen Geschichten“ aus Bayern („Der alte Feinschmecker“) sowie Biografischem über den einstigen Startenor Leo Slezak und seine Tochter Margarete („Mädchen mit Beziehungen“) hat sie nun, im eigenen Verlag, ihren ersten Roman vorgelegt: „Bittersüße Mandeln“ heißt er, absichtlich melodramatisch, und spielt in Griechenland, was bei dieser oberfränkischen Autorin nicht wundern muss. Denn zur Hälfte ist sie Griechin und hält engen Kontakt zu ihrer anderen Heimat. Im Zentrum der fiktiven, aber wirklichkeitsnahen Chronik steht Anna, eine mutige Frau und Mutter. Ihr patriotischer Mann Manolis wurde in den Partisanenkämpfen während des griechischen Bürgerkriegs von einem Verwandten und vermeintlichen Freund verraten und leidet lebenslang an den Folgen der peinigenden Gefangenschaft. Also muss Anna, auf sich gestellt, das gemeinsame Leben meistern; indem sie sich und ihre Wünsche dem Heimgekehrten und ihrer Liebe zu ihm unterordnet und alle weiteren Weg gemeinsam mit ihm geht, verzichtet sie auf das florierende Unternehmen, das sie gegründet hat. Ihre Töchter lässt sie in die Vereinigten Staaten auswandern. Die unterschiedlichen Lebenswege der drei Frauen offenbart Annas Sohn Oddy in einer Rahmenhandlung. Empathisch – und sprachlich grundsolid – fühlt sich die Autorin in die auseinanderstrebenden und doch zusammenhängenden Lebenswelten der Familienmitglieder ein. Wie sehr Hanna von Feilitzsch der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart Griechenlands verbunden ist, erweist sowohl ihr historischer Sachverstand als auch ihre Beschreibung der Geografie des Landes, des Brauchtums und der moralischen Vorstellungen seiner Menschen. (sth)

■ Swan Hennessy: En passant. Selected works for piano. Moritz Ernst, Klavier. Perfect Noise, 1 CD, Nr. PN 2006, etwa 20 Euro.
En passant: „Beiläufig“ bedeutet der Ausdruck, soviel wie „nebenher“. Vielleicht ist ja der eine oder die andere dem Komponisten schon mal begegnet, en passant, durch Zufall und von ungefähr. Wer indes seinen Namen nur als den eines US-Schauspielers oder einer Cognac-Marke kennt, muss sich nicht schämen: Der Franzose – der von Geburt Amerikaner war, weil er 1866 in Chicago zu Welt kam, aber von 1903 an in Paris lebte und dort 1929 starb –, er rangiert nicht in der ersten Reihe und vielleicht nicht mal in der zweiten der Tonkünstler einer Zeit und einer Kunstnation, in der Claude Debussy und Maurice Ravel, d’Indy und Chausson, Dukas und Roussel einander das Zepter in die Hand gaben. Gleichwohl hielt dies Moritz Ernst, einen 35-jährigen, in Ostwestfalen gebürtigen Pianisten, nicht davon ab, eine Auswahl aus Hennessys Klavierschaffen zu präsentieren. Als einen originellen, wenngleich nicht unabhängigen Schüler der französischen Spätromantik stellt er ihn in pianistisch nicht arg anspruchsvollen, aber eleganten Skizzen, Studien, Miniaturen vor, die hier an Gabriel Fauré gemahnen und dort an Debussy, Hennessys Idol. Ihm huldigte er mit einem der Stil-Imitate, mit denen er – in den letzten Tracks der CD – die Komponisten Borodin, Chabrier und Ravel herbeizitiert. Bei der Aufnahme drängte die Tontechnik die Höhen insgesamt ein wenig zurück, sodass der Klang des Flügels aus dem Bayreuther Haus Steingraeber (in dessen Kammermusiksaal die Einspielung entstand) eine leichte fin de siècle-Patina erhielt, als wärs ein Blüthner-Instrument aus der Lebenszeit des Komponisten.

■ Gerhard Kraus: Minimale Seelen. Gedichte. Athena-Verlag, Edition Exemplum, 132 Seiten, Paperback, 14.90 Euro.
Mit diesem Dichter ergeht es einem, wie es beim Lateinunterricht der oberen Gymnasialklassen gehen konnte: Da bekam man die Sätze auch kaum oder gar nicht raus. Wer sich Gerhard Kraus’ Gedichten aussetzt, spürt, dass sie es ‚in sich‘ haben, aber inwiefern, das wird äußerlich nicht klar: Schwer, sie in eigene, einfachere Worte zu übersetzen. Wer Gedichte am liebsten wie Prosa ‚herunterliest‘ und nach rascher Eindeutigkeit von Inhalt und Bedeutung verlangt, ist mit seinem neuen Lyrikband schlecht beraten. Der „Minimalismus“ des 71-jährigen Bambergers betrifft lauter Kleinigkeiten des eigenen Erlebens, seines blitzartig auftauchenden Erinnerns, der plötzlichen Beobachtung einer Nebensache. In den Versen, die Bestand haben wollen und darum verlangen (und verdienen), mehrmals vors Auge genommen zu werden, geht es ums „Einwegadjektiv“ und andere Phänomene der Sprache und des Sprechens. Auch ums Schreiben geht es diesem „Lyrik-Innehaltenden“, ums Festhalten von etwas, das bleiben soll bei aller Eile der „Graffitifressen“ und ihrer „Comic-, Bingo- und Ansichtskartensprache“. Da „kriecht“ dann schon mal „Dämmerung über abgeschaltete Computer, an Tau und Bäumen / hingestreckte Augen“. Wundersame Wortneuschöpfungen („Anderslachen“) und -verknüpfungen („lyrikschöne / blaue Symmetrien und Sirenen“) blühen stimulierend auf und münden als Flut von Chiffren, Bildern und Metaphern in ein sacht strömendes, unaufdringlich rhythmisiertes, pastellfarbenes Idiom, das es jenseits jeder Alltagslogik vermag, sie einzufangen und zu umfassen. Wenn Dichtung ein „Abwesenheitsbericht“ des Dichters ist (so zitiert der Autor den frankofonen Schweizer Kollegen Charles Racine), so hält sich dieser Poet in seinen Versen ziemlich weit entfernt von der landläufigen Welt auf, wie mikroskopisch er sie auch wahrnimmt, und will in einer ganz eigenen daheim sein. Die „Silbersyntax“ seiner Zeilen glänzt, und keine „minimale Seele“ regt sich in ihnen, eher eine, die ins Unerwartete, Unabsehbare expandiert.

■ Johannes Brahms: Hungarian Dances. Piano-Duo Hera. 1 CD, Lilamüzik. Erhältlich bei der Bayreuther Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne, 15 Euro.
Gedichte gibt es auch als Beigabe zur geglückten Debüt-CD des Klavier-Duos Hera: Der Südkoreanerin Hyon Sook Tekin und ihrer japanischen Partnerin Satoko Mimura genügt es nicht, die berühmten, schon in vielen Einspielungen vorliegenden „Ungarischen Tänze“ luzide und zündend, volkstümlich und gefühlsintensiv zu interpretieren; Mimura steuerte zu jedem der 21 Stücke obendrein ein drei- bis fünfzeiliges Gedicht bei. Inwieweit derlei Assoziationen das Verständnis einer Musik vertiefen, die sich eigentlich von selbst versteht, mag die Leserin, der Leser entscheiden. Beim Hören der (im Haus Steingraeber entstandenen) Aufnahme jedenfalls wird deutlich, wie engagiert die Musikerinnen den Leitgedanken folgen, die Dr. Hyun Sook Tekin im (türkischen und englischen) Beiheft formuliert: Die beiden wollen „vor allem tiefen Schmerz, Leidenschaft, Verlangen und andere seelische Zustände ausdrücken“ und wissen sich da bei Brahms beim richtigen Komponisten. Denn zwar „bleibt Musik ohne Worte abstrakt“, bei ihm aber „überrascht sie durch einige sehr realistische und konkrete Beschreibungen des menschlichen Wesens“. – Noch einmal Brahms: „Durch meine Musik spreche ich“, bekannte er nüchtern, während sich sein Wegbereiter Robert Schumann etwas genauer äußerte: „Licht in die Dunkelheit des menschlichen Herzens zu schicken – das ist die Pflicht des Künstlers.“ Beide Zitate stehen wie Mottos auf der Hülle einer Doppel-CD, auf der sich die zwei Tonsetzer mit ausgewählter Musik für Soloklavier und für zwei Klavier sowie mit Werken zu vier Händen wechselseitig beleuchten. Entsprechend agiert das Duo Pianosom mal gemeinsam – wie in Schumanns „Bildern aus dem Osten“ oder den brahmsschen „Haydn-Variationen“ – und mal solistisch: Araceli Chacon vielgestaltig mit der umfangreichen „Humoreske“ opus 20 von Schumann, Viviane Bodaczny Taliberti mit den besonnen aufgefassten „Fantasien“ opus 116 aus Brahms’ einzigartig altersweisem Spätwerk. Beeindruckend gelingt es den Brasilianerinnen, zwischen der blutvoll-emphatischen Spielart deutsch-österreichischer Romantik und ihrer eher reflektierenden Variante eine stabile Brücke zu bauen. Aus dem Spiel der Damen sprechen die beiden Herren nicht mit einer Zunge, aber aus vereinten Herzen.

■ Gustave Flaubert: Bibliomanie. Aus dem Französischen von Erwin Rieger. Insel-Verlag, 68 Seiten, gebunden (Insel-Bücherei Nr. 2529), 8 Euro.
Ein Halbwüchsiger, dessen schriftstellerische Begabung weit über seine Jugend hinausgeht, schreibt über einen jungen Bücher-Maniac, dessen greisenhaftes Aussehen weit über seine erst dreißig trüben Lenze hinausgeht, der in Barcelona einen Buchladen betreibt, aber Analphabet ist … Welcher Verlag, dem der Stoff so angeboten würde, wollte die Geschichte heute drucken? Indes von einem Gustave Flaubert ausgeführt, verdiente sie es 1837, in der Kulturzeitschrift Le Colibri veröffentlicht zu werden. Damals war der später große Romancier – Erfinder der „Madame Bovary“, Autor der „Erziehung der Gefühle“ und der „Trois Contes“ – fünfzehn und besuchte das Gymnasium. Der Einband des bibliophilen, im kleinen Duodez-Format gedruckten Bändchens zeigt Regalwände voller Bücher, mit Stricken kreuz und quer gebunden; hingegen erweist der Inhalt, mit welcher Wucht sich die Fantasie des noch unerfahrenen Erzählers schon entfesselte. Sein Protagonist Giacomo, gewesener Mönch, ist alles andere als ein Held, vielmehr ein Eigenbrötler und schräger Sonderling, der die Schätze seines Ladens und Lagers nur ungern aus der Hand gibt, obwohl er ihre Inhalte nicht zu entziffern vermag: „Er liebte die Wissenschaft wie ein Blinder den Tag. Nein! Nicht die Wissenschaft liebte er, nur ihre sichtbare Gestalt, ihren greifbaren Ausdruck. Er liebte ein Buch, weil es ein Buch war.“ Drei ominöse Werke vollenden sein Schicksal: eine „Türkische Chronik“, ein Heiligen-Mysterium, eine lateinische Bibel – sie tauschen, indem er sie besitzt oder veräußert oder ihrer habhaft zu werden sucht, verwirrend die Identitäten. Nicht minder fantastisch gehen in den nostalgischen, stimmungssteigernden Illustrationen von Burkhard Neie schattenhafte Gestalten und Insekten, Architekturen und Dokumente alten Buchdrucks ineinander auf. Wie tief und findig der Knabe Flaubert, womöglich noch ingeniös unbewusst, schon in die Verliese der Seele hinabstieg, streicht Barbara Vinken im Nachwort heraus: „Bücher bleiben für Giacomo ein Buch mit sieben Siegeln“, schreibt die Münchner Literaturwissenschaftlerin. „Was Giacomo in den Büchern liebt, ist der Tod, die Vergänglichkeit, die Endlichkeit des Lebens. Gierig saugt er ihren Staubgeruch ein, und am allermeisten liebt er das Wort Finis, das am Ende jedes Buchs wie eine Grabinschrift steht.“




Wie man aus der Kiste kommt

Einsame Menschen: Eine Frau in mittleren Jahren zieht aus der Stadt an die Küste, um zu ergründen, wo sie „Daheim“ ist. Judith Hermann hat mit ihrem neuen Roman den Lapidarstil ihrer ersten Erzählungen verfeinert und vertieft.

Von Michael Thumser

16. September – Hat man noch Lust, Judith Hermann zu lesen? Wer vor fünf Jahren meinte, den Spaß an ihrer Prosa verloren zu haben, kann jetzt die Gelegenheit nutzen, sein Urteil zu revidieren.

     Judith Hermann lesen, das heißt abschätzen: Wie weit lässt sich die Energie des Spielwerks Sprache wohl herunterfahren, ohne seine Impuls-Räder und Ausdrucks-Gewichte, Bedeutungs-Komponenten und Emotions-Einheiten vollends auszuschalten. In Hermanns bis vor Kurzem letztem Buch, dem Erzählband „Lettipark“, übertrieb sie es mit der stilistischen Selbstbeschränkung und der Auskunftsverweigerung: Freudlos führte sie damals in fünfzehn von siebzehn Geschichten allzu durchschnittliche Durchschnittsmenschen vor, denen so gut wie nichts widerfährt. Das war arg wenig.

     Jetzt, in ihrem kleinen zweiten Roman „Daheim“, ist es mehr. Beim Lesen teilen sich eine dichtere Atmosphäre, intensiveres Leben, eine deutlichere (darum nicht vordergründige) Problematik mit. Mehr Handlung gibt es auch: mehr greifbare Existenz, mehr Schicksal von Belang. Nicht, dass es wuchtig zuschlüge; vielmehr mischt es fast unmerklich mit, irgendwie unbeteiligt, jedenfalls nicht feindlich. „Alleine sein“ zu wollen, gibt die namenlose Icherzählerin vor; vermutlich ist sie in Wahrheit einsam. Sie scheint wie in eine unsichtbare Kiste eingeschlossen; was ihr in der Vergangenheit vielleicht schon klar geworden ist: Die erste, in sich gekonnt geschlossene Episode des Buchs berichtet davon, wie ein abgetakelter Illusionist sie einlud, mit ihm und seiner Frau als showact eines Kreuzfahrtschiffs nach Fernost zu reisen und sich in einem Kasten zersägen zu lassen. Man probierte die Nummer, die Erzählerin sagte zu – und fuhr nicht mit.

     Dreißig Jahre, eine Ehe und eine Scheidung später schafft sie doch noch den Aufbruch, der vielleicht ein Ausbruch ist. Aus der Stadt verlegt sie ihr Leben ohne feste Erwartungen an die Ostsee, statt einer „Einraumwohnung“, wie in ihren späten Teenagerjahren, bezieht sie dort, mit Anfang fünfzig, erstmals ein Haus allein für sich – auch dies eine Art Kiste, mit reichlich, wenngleich ungenutztem Raum und voll von einer Leere, die ihr karges Innenleben reflektiert.

Falle und Gefängnis

Nach und nach bekommt sies mit Nebenmenschen zu tun, die ihr, jeder auf seine Weise, ent- und zugleich widersprechen: mit ihrem älteren Bruder, einem ärmlichen Kneipier; mit einer jugendlichen, todgeweihten Streunerin, der er verfallen ist; mit einer Künstlerin im Nachbarhaus, die, solipsistisch wie die Erzählerin selbst, für sie fast eine Freundin wird; mit deren Bruder, dem Landwirt Arild, dessen Wortkargheit sie anspricht. Mit ihm teilt sie erst den Tisch, dann auch das Bett, ohne dass ein Partner aus ihm würde. Ihr Partner bleibt Otis, der Ex, der ihr immer noch am nächsten steht und dem sie darum per Handy kurze Lebenszeichen und -berichte schickt.

     Kisten: Metaphorisch tauchen sie an markanten Stellen des Buchs auf – als Falle, darin die Erzählerin einen Marder fangen will und eine Katze, einen Vogel fängt; als Kasten, der als Gefängnis der in der Kindheit misshandelten, seither traumatisierten Streunerin diente; als Arilds sarg- oder wenigstens kajütenartiges Schlafzimmer; als Bunker in den Träumen von Otis, der „in absolut jeder Hinsicht immer auf das Schlimmste gefasst“ ist, vor allem auf den Weltuntergang. Otis ist ein Mann der Kisten: In Schachteln verwahrt er Ramsch und Krempel, denn er kann nichts wegwerfen und sammelt und behält alles. Seine Kisten sind sein wertloses Gedächtnis.

Sie hatten es mal ernst gemeint

Sie und Otis, heißt es einmal, haben es als Paar einst „ernst gemeint“. Beziehungsfähig aber sind sie so wenig wie irgendeine andere Figur des Romans. Keiner „hats so richtig mit Freundschaften“, unbehaust leben sie in ihren Häusern, desozialisiert, manch einer an der Grenze zur Soziopathie. Sie leben, fast ohne Vergangenheit und ohne einen Blick in die Zukunft, für den Tag, was sich im oft unmittelbaren Ton der Prosa niederschlägt, der mancherorts an den eines Tagebuchs gemahnt. Den Lapidarstil, mit dem sich Judith Hermann bereits in den Geschichten ihres gefeierten Debüts „Sommerhaus, später“ unverwechselbar zu machen suchte, hat sie in „Lettipark“ zwar bis zur Gleichgültigkeit reduziert. Nun aber wird spürbar, dass sie die vergangenen fünf Jahre nutzte, zurück zum alten sound von 1998 zu finden und, dem totalen Minimalismus abschwörend, seinen leisen Klang zu modulieren und zu nuancieren. Eine kunstfertig gehobene Umgangssprache pflegt sie jetzt, in der sich Erzähltext und Dialoge schmiegsam durchdringen und die ohne Stilbruch in eine herbschöne, plastische Poesie auslaufen kann: „Das Geländer der Brücke über den Fluss schimmert weiß, das Wasser ist unbewegt, ein Streifen Kälte wie ein hingeworfener Schatten.“

     Wer erkennt sich wohl wieder in Judith Hermanns verwaisten, vereinzelten Gestalten? In ihrer elegischen Verlassenheit stehen lauter „in sich zurückgezogene“ Menschen vor der Frage, wo sie „daheim“ sind, und vor der Entscheidung, ob sie „hierbleiben“ wollen. Noch ist nicht klar, ob geteilte Einsamkeit eine doppelte oder halbe Einsamkeit ist, hier, am schmalen, zugigen Rand zwischen ödem Land und weitem Meer. „Wir sind zufällig zusammen alleine auf einem fremden Planeten.“ Immerhin: zusammen alleine. Das ist schon was, ein Aufbruch und, vielleicht, ein Ausbruch aus der Kiste.



 


Eine Explosion für die Augen

Tonkunst mit Schauwert: Im Haus Marteau, der Internationalen Musikbegegungsstätte des Bezirks Oberfranken in Lichtenberg, wurden der neue Konzertsaal mit seiner faszinierenden Granitverkleidung und neue Übungsräume eröffnet.

Blick in den Konzertsaal: 33 Granit-"Splitter", vier Zentimeter stark und bis zu dreizehn Metern lang. (Fotos [4]: thu)

Von Michael Thumser

Lichtenberg, 2. September – Etwa drei Tonnen pro Kubikmeter: So schwer ist Granit. Wer seines Lebens sicher sein will, hängt sich dergleichen besser nicht an die Decke. Oder doch? Ein Raum für feine Tonkunst, aber mit enormem Schauwert. Bei der Eröffnung des neuen Konzertsaals am – und halb unter dem – Haus Marteau meinte man im Gegenteil, kein Material könne sich besser dafür eignen. Wer die frühen „James Bond“-Filme kennt, denkt womöglich, sobald er eintritt, an Ken Adams faszinierende Set-Designs zurück: Auch in Lichtenberg geht mächtiger Fels schnörkellos futuristisch in luftiger Leichtigkeit auf.

     Vorbei an gleichfalls neuen Übungsräumen und durch eine tunnelartige Unterführung gelangt man hinein. Drinnen wirkt der Granit, als hätte er kein Gewicht. Aus dem schweren Gestein zurechtgesägt und zu 33 Keilen dynamisch arrangiert – von „Splittern“ spricht, stark untertreibend, der Architekt –, bedecken die bis zu dreizehn Meter langen, schlanken, grauen Steinelemente Decke und Wände, vier Zentimeter stark, glatt poliert, gleichwohl nicht plan, vielmehr als unregelmäßiges Relief. Dreizehn Mal dreizehn Meter misst die durch Eigenwilligkeit wie kristalline Schönheit überwältigende Kunstgrotte, die das Prädikat verdient, einer der spektakulärsten Kammermusiksäle in Bayern und wohl darüber hinaus zu sein.

Pracht, innen und außen

Wer vergleichbare Örtlichkeiten kennt, fühlt sich an das Konzerthaus in Blaibach erinnert, und wirklich gibt es auffallende Ähnlichkeiten. Unterschiede auch. Die Gemeinde im Landkreis Cham zählt zweitausend Einwohner. Etwa halb so viele sinds im Frankenwaldstädtchen, wohin die Internationale Musikbegegnungsstätte des Bezirks Oberfranken junge Sängerinnen und Sänger sowie Instrumentalisten ganzjährig zu je vierzig Meisterkursen unter der Leitung hochkarätiger Dozentinnen und Dozenten einlädt. In Blaibach gehört der von außen immerhin zur Hälfte sichtbare, baulich aufsehenerregende Saal zum eher schlicht anmutenden Bürgerhaus. Die imposante Lichtenberger Villa hingegen konserviert bis heute innen und außen die Pracht, die ihr der weltberühmte, 1934 hier gestorbene Geiger Henri Marteau verliehen hat; der neue Saal wiederum fällt, unter einem Rasenhügel, vom Grundstückseingang aus kaum auf. Hart an der Grenze zum einstigen Eisernen Vorhang liegen beide Städte: Von Blaibach sind es nur ein paar Kilometer zur tschechischen Grenze, Lichtenberg hat, einen Katzensprung entfernt, Thüringen als Nachbarn. Hier wie dort sorgt in den Musiksälen Granit für den besonderen optischen und akustischen Charakter. Und in beiden Fällen war der Münchner Architekt Peter Haimerl mit seinem jungen Team am Werk.

     Nicht einfach einen Architekten nennt ihn Bezirkstagspräsident Henry Schramm, als er die Ehrengäste aus Politik, Wirtschaft  und Kultur begrüßt, sondern im selben Atemzug auch einen „Künstler“; den Lichtenberger Saal adelt er zum „Kunstwerk“ und den ersten Eindruck zu einer „Explosion für die Augen“. Indes, der Klang – in einer Grotte aus kalt-hartem Stein? „Hell, klar und warm“ findet ihn der namhafte Pianist und langjährige Kursdozent Bernd Glemser. Zusammen mit dem 19-jährigen Geiger Tassilo Probst demonstriert er harmonisch und sonor die beispielhaft intime Akustik mit romantischen Solo- und Duowerken. „Wissen Sie, wie schrecklich eine Geige klingen kann?“, fragt der junge Bürgermeister Kristan von Waldenfels heiter provokant – und meint damit die schrägen Kratz- und Schabgeräusche, mit denen er selbst als kindlicher Anfänger die Ohren malträtierte. Den beiden Musikern dagegen fällt es nicht schwer, Tonkunst von Frédéric Chopin und Niccolò Paganini, Antonín Dvořák und Fritz Kreisler an diesem offenkundig optimal geeigneten Ort rein, empfindungsvoll, teilweise virtuos  zu entfalten. Um seine Klangwirkung schon in frühen Planungsphasen zu optimieren, benutzten der Architekt und seine Helfer ein spezielles Computerprogramm zur dreidimensionalen Raumsimulation – denn kein Schnittwinkel, keine Neigung der Granitbauteile sollte und durfte dem Zufall überlassen bleiben, wie der Architekt berichtet: „Jedes Bohrloch sitzt auf den Zehntelmillimeter genau.“ Drei Tonnen wiegt ein Kubikmeter: Er aber, sagt Peter Haimerl, habe den Stein ausdrücklich gegen dessen „schwergewichtiges Image verwendet“ und, indem er ihn „fein und elegant“ verarbeitete, dem Raum eine individuelle „Würde“ verliehen.

„Ein Stück musikalischer Himmel“

Kein Wunder, dass der Hofer Landrat Dr. Oliver Bär meint, „ein Stück musikalischer Himmel“ habe sich auf hochfränkischer Erde niedergelassen. Dass darüber „die Musikwelt sprechen“ werde, sobald Kursteilnehmer die Kunde vom neuen Raum- und Klang-„Kunstwerk“ in aller Herren Ländern verbreiten, hält Bezirkstagspräsident Schramm für ausgemacht. Für ihn zählt, dass die Region ein weiteres „Alleinstellungsmerkmal“ besitzt – da mag er über die viel länger als kalkuliert währende Bauzeit von vier Jahren gar nicht mehr sprechen, auch nicht über die Kosten von 5,2 Millionen Euro, die alle Voranschläge deutlich überschritten. Wahrlich eine stattliche Investition, stimmt schon;  aber sie trage beträchtlich zur „Stärkung des ländlichen Raumes“ bei.

     So sieht es auch Bernd Sibler. Der Staatsminister für Wissenschaft und Kunst hat sich als Festredner eingefunden, wenige Stunden nachdem er in Nürnberg beim ersten Spatenstich für die Technische Universität zugegen war, die in der Frankenmetropole für stolze 1,2 Milliarden Euro entstehen soll. Indem Sibler darauf hinweist, will er sagen: Der Freistaat fördere spektakuläre Prestigevorhaben ebenso wie „scheinbar kleinere Projekte“, betreibe mithin „Spitzenförderung im Großen wie im Kleinen“, indem sie um der „Chancengerechtigkeit in der Strukturpolitik“ willen das „Eine tut, ohne das Andere zu lassen“. Weil der Minister als Landtagsabgeordneter einer christlichen Partei das Bibelwort ernst nimmt, wonach der Mensch „nicht vom Brot allein“ lebt, nennt er auch Kultur und Musik unverzichtbar für die oberfränkische „Genussregion“, denn „was den Menschen zum Menschen macht, findet in Kopf und Herz statt“. Entschieden bestreitet er, dass die Musikbegegnungsstätte und ihre Erweiterung nur ein paar Auserwählten als „Eliteprojekt“ zugutekomme: Ein „offenes Haus“ sieht der Minister in ihr, einen „Treffpunkt aller Möglichkeiten“, einen Ort zudem „der Freude und der Zuversicht“.

     Die teilt Christoph Adt mit ihm. Der Professor an der Nürnberger Musikhochschule – zugleich seit 2017 ihr Präsident – amtiert im Haus Marteau als künstlerischer Leiter. „Was wir heute hier erleben“, bekräftigt er, „ist ein wunderbares Gegenteil zu den vergangenen achtzehn Monaten“, in denen Kultur und Künste coronahalber weitgehend ohne Öffentlichkeit auskommen mussten. Musik aber sei ausschließlich denkbar als „Begegnung zwischen Menschen“ – und bei der kann es, zumindest in Lichtenberg, sogar vorkommen, dass eine Tote sich zu Wort meldet: Bürgermeister von Waldenfels spielt ein Tondokument mit der Stimme Blanche Marteaus, der 1977 gestorbenen Witwe des Geigers, ein, das damals zunächst ungewisse weitere Schicksal der Villa betreffend, und zeigt sich überzeugt: Über dies „Kleinod der Heimat“ in seinem neuen Format wäre der Geiger selbst „unheimlich glücklich gewesen“. Da widerspricht im neuen Konzertsaal natürlich niemand: „Hier“, staunt Christoph Adt vielmehr, „wirken Sehen und Hören in einer Weise zusammen, dass einem Hören und Sehen vergeht“.

Ausführliche Informationen über das Haus Marteau, die Meisterkurse und die Konzerte sowie über die Verfügbarkeit von Eintrittskarten: hier lang.




Hauptsache, man war dabei

Auch heuer, im 55. Festivaljahr, kommen die Hofer Filmtage ohne Roten Teppich aus. Ihre Stärke: „Charme statt Glamour“. Eine kleine, informative Ausstellung im Museum Bayerisches Vogtland hält Rückschau und blickt voraus.


Von Michael Thumser


Hof, 7. August – Die Hürden waren niedrig. Wenn damals überhaupt jemand darüber entschied, ob ein Film gezeigt werden sollte oder nicht, so war es das Publikum. Nicht gezeigt werden sollte 1969 „Untermann – Obermann“: In der fürs ARD-Fernsehen entstandenen Dokumentation berichtete der damals 30-jährige Reinhard Hauff aus dem Leben eines in die Jahre gekommenen Artisten-Duos. Das wollten die Leute – wer weiß heute noch, warum – nicht sehen: Die Vorführung wurde „nach Protesten abgebrochen“.

     So liest mans ziemlich am Anfang der Ausstellung „55 Jahre Charme statt Glamour“ im Hofer Museum Bayerisches Vogtland auf einer Text-Bild-Wand, die eine ausführliche Kurzübersicht über die Geschichte der Internationalen Filmtage bietet. Mit Lesestoff, Videos und Exponaten von charakteristischer Anschaulichkeit geht die kleine, ansprechende und aufschlussreiche Exposition einer Frage nach, die schon viele Antworten, wenn auch noch keine definitive fand: Warum braucht das Festival, unter etwa vierhundert Filmfesten in der Republik das bedeutendste nach der Berlinale, „keinen roten Teppich“? Dazu äußert sich Filmprominenz: Hans Christian Schmid etwa, der 1995 in Hof mit „Nach fünf im Urwald“ triumphierend debütierte und zurzeit an einem Film über die Entführung Jan Philipp Reemtsmas arbeitet, schätzt das anfangs „kleinste Filmfestival der Welt“ seiner noch heute „kurzen Wege“ wegen; und Detlev Buck, der 1987 „Eine Rolle Duschen“ zu seinen ersten Filmtagen mitbrachte, hält es für gleichgültig, wie gut oder schlecht ein Jahrgang ausfalle – „die Filmtage sind immer Gottesdienst“. Gegen die Beiträge dieser beiden erhob die Mehrheit des Publikums keine Einwände.

     Wie niedrigschwellig der Zugang für Regisseure in den ersten Jahren war, erhellt aus einem Satz des basisdemokratischen Manifests im Programmheft der dritten Auflage: „Jeder kann seinen Film in Hof zeigen. Die einzige ‚Zensur‘, die stattfindet, ist die Beschränkung auf fünf Vorstellungen.“ Das waren noch Zeiten – als junge, widersetzliche Filmemacher hier ihre meist kurzen Produktion aufführten, ohne sich darum zu scheren, was die nationale oder große Filmwelt davon hielt. An einem Sonntagvormittag im Mai 1967 zeigte Heinz Badewitz, damals 26-jährig und heute als ein ‚großer Sohn‘ seiner Geburtsstadt gerühmt, zweieinhalb Stunden lang fünfzehn kurze Versuche, die er und eine Schar Gleichgesinnter am liebsten in München präsentiert hätten; dort aber waren ihnen die Kinos verschlossen geblieben. In Hof hingegen öffnete ihnen das Regina in der Wörthstraße die Saaltüren. „Alle wollen in die Großstadt – wir nicht“, postulierte Badewitz selbstbewusst.

„Besonders wertvoll“    

Gleichwohl war an eine Wiederholung zunächst nicht gedacht. Zu der kam es dann doch, weil Hellmuth Costard im Jahr darauf auf den Leinwänden der arrivierten Oberhausener Kurzfilmtage einen sprechenden Penis kritisch Stellung zum Filmförderungsgesetz nehmen lassen wollte; der Streifen „Besonders wertvoll“ flog aus dem Programm – und etliche Filmemacher kehrten der Stadt infolgedessen ostentativ den Rücken. Kurz entschlossen holte Badewitz sie an die Saale. Schon 1969, in dem Jahr, als Reinhard Hauff bei den dann dritten Hofer Filmtagen durchfiel, hatten sie sich ein eigenes Profil als experimentfreudiges Innovationsforum zugelegt. Um zum Beispiel einen „antiautoritären Publikumsfilm“ herzustellen, wurde unter Zuschauerinnen und Zuschauern im Saal eine laufende Kamera herumgereicht; das Ergebnis: lauter unscharfe Wackelbilder –  die aber standen für den repressionsfreien Kunstbegriff der jungen Kulturrebellen. „In Hof“, heißt es an einer Schauwand mit ausgewählten Presseschnipseln, „ist eben alles anders.“ Oder jedenfalls auf der Höhe der Zeit. Das war auch 2020, im coronabedingt von Einschränkungen gehandicapten 54. Jahr so und soll heuer so bleiben.

     Auf richtungsweisende oder nur liebenswerte Besonderheiten deutet ein „Kleines Filmtage-ABC“ hin, von „Absperrband“ („Gibts nicht“) bis „Weiße Wand“; so heißt, den Namen eines alten, längst untergegangenen Hofer Lichtspielhauses aufgreifend, eine pop up location an Jahr für Jahr wechselndem Ort. Obendrein lassen ein paar Fingerzeige ahnen, wohin die Reise speziell für junge Leute geht. Die Organisatoren der Ausstellung – die „Freunde der Hofer Filmtage“, Festivalchef Thorsten Schaumann und Museumsdirektorin Dr. Magdalena Bayreuther – vergessen nicht, jene zu würdigen, die das alles im Hintergrund und übers Jahr stemmen: die 130 Helferinnen und Helfer, die reichlich Freizeit und Urlaubstage investieren; den Trägerverein Cine-Center; Christine Walther als Büro- und Organisationsleiterin; Rainer Huebsch, jahrzehntelang die rechte Hand von Heinz Badewitz. Der leitete das Festival von der Gründung bis zu seinem unerwarteten Tod vor fünf Jahren. 

Steile Karrieren

Einst und heute war und ist es ein „Spiegelbild des Wandels der Gesellschaft, der Technologie und des Kinos“, so steht es, wie ein Motto, groß an einer Wand geschrieben. Vor allem aber illustriert die Schau, dass Filme von lebendigen Menschen gemacht werden. Zwar kommt die wirtschaftliche Bedeutung Hofs für die Branche, als Vertriebsbörse und Kontaktstelle für Netzwerker, zur Sprache. Weit mehr Raum aber nehmen beispielsweise die steilen „Karrieren“ ein, die hier ihren Ausgang nahmen. Werner Herzog gehörte zu den ersten, bedeutendsten Teilnehmern, desgleichen Wim Wenders, dem die Stadt den Gebrauch ihres Namens als längst sprichwörtliches Akronym verdankt – Hof als Home of Films.

     In den Jahrzehnten danach machten, sozusagen als Hofer Gewächse, die Regisseurin und einstige Filmtage-Team-Mitarbeiterin Doris Dörrie („Männer“, „Kirschblüten – Hanami“) und Julia von Heinz („Standesgemäß“, „Und morgen die ganze Welt“), Chris Kraus („Vier Minuten“, „Die Blumen von gestern“) oder Oscar-Preisträgerin Caroline Link („Nirgendwo in Afrika“, „Im Winter ein Jahr“) neben vielen anderen weithin von sich reden. Link erinnert sich in einem kennzeichnenden Zitat daran, wie sie ehedem mit vier anderen Studentinnen in einem Hofer Einzelzimmer kampierte: „Hauptsache, man war dabei.“ Dörrie nahm 1986 den erstmals vergebenen Filmpreis der Stadt entgegen, der später auch unter anderen an Caroline Link und die erwähnten Herren Herzog und Wenders, Buck und Schmid ging. Das Preisobjekt, lange aus Porzellan, wird seit Kurzem aus einem Filmtage-Katalog gestaltet; beide krass unterschiedliche Versionen sind im Museum zu besichtigen.

     Und Heinz Badewitz selbst? Auch er kommt, versteht sich, vor – wiederum mittels zahlreicher Auszeichnungen: In einem Schaukasten stehen hochrangige Ehrungen beieinander, die ihm die Bundesrepublik, der Freistaat und der Bezirk Oberfranken verliehen, auch die Urkunde, die ihn als Ehrenbürger seiner Heimatstadt ausweist, auch der Deutsche Filmpreis von 1998. Als Trophäe ganz anderer, sehr eigener und für Hof unbedingt typischer Art behauptet sich der „Goldene Handschuh“ in Gestalt der schimmernd imprägnierten Schutzhülle eines Torwarts. Ihn überreichten ihm die beiden alljährlich während des Festivals aufeinandertreffenden Fußballvereine, nachdem Badewitz dem einen wie dem anderen vierzig Jahre lang als Präsident vorgestanden hatte. Die wichtige Rolle, die jener Sport bei den Festivals spielt, hebt die Ausstellung nicht nur mit einer Extra-Vitrine, sondern auch durch einen stattlichen Kicker-Kasten hervor.

     Den Film „Der Goldene Handschuh“ – über den Hamburger Frauen-Serienmörder Fritz Honka – zeigten die Filmtage übrigens nicht. Sein Regisseur aber, Fatih Akin, war zwei Mal im home of films zu Gast.

Bis zum 7. November, dienstags bis freitags von 10 bis 16, samstags und sonntags von 13 bis 18 Uhr; montags geschlossen.
Kostenlose Führung durch die Ausstellung am Sonntag, dem 5. September, um 14 Uhr; Anmeldung per E-Mail  oder telefonisch (0 92 81 / 815 27 00).
Die Ausstellung im Internet: hier lang.
Die 55. Hofer Filmtage finden vom 26. bis zum 31. Oktober statt.




Ein Jubiläum, kein Jubelfest

Zur Vernissage der „Kunstsaat“ strömen Scharen zum Kulturplatz Altes Landkrankenhaus: Der Hofer Kunstverein feiert seinen 25. Geburtstag – hat aber Grund, sorgenvoll in eine dunkle Zukunft zu blicken.

Action painting im Treppenhaus: Annie Sziegoleit und Hausherr Hans-Jürgen Wittig, die Vorsitzende des Hofer Kunstvereins und ihr Stellvertreter, mit der Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Vereins vor Arbeiten von Karin Horosz. (Fotos: thu)

Von Michael Thumser

Hof, 3. August – Der „morbide Charme“ gehöre zu dem Haus, sagt Hans-Jürgen Wittig, und solle ihm erhalten bleiben. Lange schien das Alte Landkrankenhaus, während der 1860er-Jahre in Hofs Schleizer Straße errichtet, dem Verfall preisgegeben, bis der Architekt und seine Frau Petra es 1995 erwarben und so sicherten, dass es nicht weiter Schaden nimmt. Zum „Kulturplatz“ widmeten sie das an sich schmucke Gebäude um, das sich allerdings nicht im Winter, während der kulturellen Hauptsaison, beleben lässt – es gibt keine Heizung. Dennoch bewährte es sich schon wiederholt vor allem als Schauplatz für Ausstellungen. Auch der Hofer Kunstverein, in dem Wittig seit Kurzem das Amt des zweiten Vorsitzenden bekleidet, kehrt gern hier ein, zuletzt vor zwei Jahren. Nach langer Corona-Pause lädt er jetzt wieder hierher: Zu besichtigen ist die traditionelle „Kunstsaat“, bei der Mitglieder ihre kreative Ernte der vergangenen Jahre präsentieren.

     Heuer tun sies zum 25. Mal. Ein Jubiläum also. Aber zum Jubelfest durfte sich die Vernissage am Samstag nicht auswachsen. Zwar drängten Scharen zum „Kulturplatz“: Etwa 140 Besucherinnen und Besucher ließen sich im weiten, mit Skulpturen bestückten Garten nieder; auch versprach der Hausherr, das Anwesen in den kommenden Jahren weiterhin der Kunst zur Verfügung zu stellen. Aber Annie Sziegoleit, als erste Vereinsvorsitzende, kam nicht umhin, in ihren Eröffnungsworten einen „unerwarteten Dämpfer“ zu benennen, den die Stadt der Festfreude verpasst hat. Für das Haus Theresienstein, wo die rührige Künstlerschar seit fünfzehn Jahren ihre Galerie betreibt, gelten neue Brandschutzbestimmungen; mithin muss sie das sympathische, noble und gut bespielbare Domizil verlassen und sich nach einer neuen Heimstatt umsehen. Indes sind Lokalitäten, die sich für die Bildende Kunst eignen, rar gesät und wären, wo man sie findet, nur für unerschwingliche Mietkosten zu beziehen. „Der Kunstverein stirbt“, resümiert resigniert sein Mentor Ralf Sziegoleit, weithin geachteter Kulturexperte und -journalist, „es sei denn, es geschieht ein Wunder.“ Und an so eins kann er kaum glauben. Vor 25 Jahren, sagt er, hätten drei potente Sponsoren gern für die finanzielle Grundausstattung gesorgt – „keinen dieser Zuschüsse gibt es mehr“. Und am Gelde hängt doch alles.

     In der Ausstellung ist dem Verein die Not nicht anzumerken. Auf programmatische Linien und rote Fäden wurde mit Absicht verzichtet, pflegt doch der Reiz der „Kunstsaat“ sich seit jeher der Vielfalt eines Sammelsuriums zu verdanken. Nicht Auswahl, sondern Überfluss regiert: Er macht Kontraste, Widersprüche, Differenzen sichtbar und hebt sie gar hervor, solche der Intention und der Gestaltungsweise, auch solche der Qualität. Da prunken einerseits drei imponierende, krustig monochrome Flächen, auf denen Karin Babiel blutrote oder königsblaue Töne changieren lässt. Nicht weit davon gibt sich anderes, damit verglichen, als Petitesse zu erkennen: Harald Richters kreuzbrave erotische Fotografien etwa, auf denen träumerische Frauen textilfrei „Tender Touches“ (Zärtliche Berührungen) tauschen, oder – im gründerzeitlich-opulenten Goldrahmen – ein „Krokodildschungel“, in dem Ruth Wunderlich imitierend nach der Tropenschwüle sucht, die Henri Rousseau in seinen Dschungelbildern weit hypnotischer beschwor.

     Auf drei Etagen versammeln sich Glanzstücke ebenso wie Zeugnisse einer gutgelaunten oder ehrgeizigen Naivität, Fingerübungen behaupten sich neben Großformaten, Grafik hängt neben Malerei, stimmungsvoll naturnahe Schwarz-Weiß-Fotografie (von Dietmar Harms) neben raffiniert verfremdeten, collagierten Licht-Bildern in grandios komponiertem Kolorit („Summer in the City“ von Harry Kurz). Karikaturen oder ein Cartoon (von Dietrich Müller) lassen sich von schaurig-grotesken Grafiken aus der nie ruhenden Werkstatt Stephan Klenner-Ottos die Schau stehlen. Als Skulptur steht ein nackter „farbigER“ (von Walter Busch) steil aufgerichtet da, und in einer kleinen Vitrine hat Christine Frischmuth filigrane Schmucksachen untergebracht. Sogar eine Art Rauminstallation öffnet sich zu Besichtigung und Begehung: Goga Chedia bedeckte die Wände darin mit unzähligen kleinen, minimalistisch bemalten Tafeln, denen er ein Riesenformat gleichsam unterlegte; ebenfalls mit Punkten und rundeckigen Rechtecken bedeckt, erstreckt es sich in unterschiedlich dunklen Blaus über den kompletten Fußboden.

     Für die Arbeit mit der zweitgrößten Ausdehnung – „VT“, geometrisch kontrolliert, von Julia Tiefenbach – ist im Treppenaufgang zum ersten Stockwerk genügend Platz. Auf dem Weg zum zweiten führt der „Traumpfad“ an zwei Leinwänden vorüber, die Karin Horosz umso ungebärdiger als action paintings mit der Grundfarbe Knallrot ausgefüllt hat. Einträchtig halten in der Schau das Gegenständliche und das Abstrakte ihre Nachbarschaft aus, wobei Ersteres, in vielerlei Abwandlungen, überwiegt. Als vielleicht kraftvollsten abstrakten Beitrag hat Horst Vincenti ein in Schwarz, Rot und Weiß vibrierendes Werk eingereicht. Zwischen reiner Gedanklichkeit und Anschaulichkeit vermitteln mattfarbige Aquarelle von Hans Gert Winter, auf denen reale Architektur kaum merklich in freie Formen übertritt.

     Auch an Träger bedeutender Namen wird im Alten Landkrankenhaus erinnert. Frithjof Schaebs steuert ein Porträt Armin Sandigs aus zarten Linien bei, Anton Richter ist mit originalen „Fränkischen Landschaften“ vertreten. Auf ihnen geht es unwetterschwanger zu, wie ja auch sonst in diesem Sommer, der bislang bestenfalls ein halber war, der Herbst schon eine Rolle spielen will. „Morbider Charme“? Über drei Exponate von Max Dietz schwingen sich breite Bögen in den Braunschattierungen nackter Erde und verdorrten Laubs. Wollte man sie symbolisch deuten, so könnte man in ihnen spätjahreszeitliche Boten vor der lebensfeindlichen Kältestarre des Winters erkennen. Der aber stellt sich, wenn der Frühling kommt, stets aufs Neue als Scheintod heraus. Das drohende Ende des Hofer Kunstvereins hoffentlich auch.

Finissage am 29. August. Geöffnet jeweils samstags und sonntags von 15 bis 18 Uhr.
Zur Ausstellung erscheint in einer Auflage von 25 Exemplaren eine Künstlermappe mit zwanzig kleinformatigen Arbeiten von Mitgliedern des Kunstvereins (250 Euro).
Anlässlich des Jubiläums veröffentlicht der Kunstverein demnächst eine Festschrift (gebunden, 12 Euro).




Keine Zeit für Wunder

Am 5. August soll Dominik Grafs Kinoversion des „Fabian“ in den Filmtheatern zu sehen sein. Passend dazu kam Erich Kästners zeitloser Roman – in der drastischeren, erst 2013 edierten Erstfassung unterm Titel „Der Gang vor die Hunde“ – als aktuelle „Vorlage zum Film“ neu in den Buchhandel.

Von Michael Thumser

Hof, 24. Juli – Jakob Fabian habe kein „Lebensziel“, moniert „ernstlich bekümmert“ Labude, sein vergebens zielstrebiger Freund. Fabian hält dagegen, auf seine Weise: „Ich sehe zu. Ist das nichts?“ So spricht er im Roman „Der Gang vor die Hunde“, an dem Erich Kästner vom Herbst 1930 bis zum Sommer 1931 schrieb und aus dem, nach nicht geringen Eingriffen durch den Lektor Curt Weller von der Deutschen Verlags-Anstalt, der „Fabian“ hervorgehen sollte – die bedeutendste Prosaarbeit des vermeintlichen Kinderbuchautors, die er für Erwachsene schuf.

     So auch äußert sich der Protagonist in „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“, der 2019 abgedrehten Verfilmung durch Dominik Graf, deren Kinostart die Produktionsfirma Lupa-Film für den 5. August ankündigt; im Juni lief der Film bereits im Wettbewerb der Berlinale. Tom Schilling spielt die wertebewusste junge Titelfigur: einen bekennenden Zuschauer am Rand des ziemlich wüsten Treibens und der sich braun zusammenbrauenden Verhängnisse im Berlin der endenden „goldenen“ Zwanzigerjahre. Das Plakatporträt des Schauspielers – ein illusionslos in die Weite blickendes Jungmännergesicht mit ungebärdiger Haartolle in der Stirn und Zigarette zwischen den Lippen – ziert nun auch die aktuelle Taschenbuchausgabe, die der Zürcher Atrium-Verlag am gestrigen Freitag, rechtzeitig vor dem Filmstart, in den Buchhandel brachte.

     Einfach zusehen, wie Fabian – das ist auch was. Aber ist es genug? Darf es „die Geschichte eines Moralisten“ – so Kästners Untertitel – mit nachdrücklicher Passivität genug sein lassen? „Ich warte auf den Sieg der Anständigen“, bekennt der unauffällige Held des Buchs, „aber ich warte darauf wie der Ungläubige auf ein Wunder.“ Apathisch bleibt er, sogar als sein Gefährte Labude, der lächerlichen Intrige eines akademischen Neiders wegen, sich das Leben nimmt. „Wollte Fabian die Besserung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen.“ Mag ihm auch dies Ziel vor Augen stehen, so weiß er doch keinen Weg dorthin. Ein solcher Zeitzeuge war sicher nicht nach dem Geschmack von Kästners Berufskollegen und Zeitgenossen Bertolt Brecht: Dessen agitierende Schriftstellerei verfolgte die Absicht, im Leser, in der Zuschauerin den Wunsch nach einer verändernden Aktion wider die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu wecken.

„Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“

Aber dachte Kästner nicht ähnlich? Immerhin stammt von ihm das sprichwörtlich gewordene Diktum, wonach es „nichts Gutes“ gebe, „außer man tut es“. Dennoch entwarf er mit der Figur des promovierten Germanisten, gescheiterten Journalisten und endlich im Meer der Arbeitslosen forttreibenden Werbetexters Dr. Jakob Fabian einen Charakter seinesgleichen; hielt er sich doch selbst in seiner Funktion „als Zuschauer“ für „nicht zu überbieten“. Sogar dem Feuer schaute er zu, in dem Joseph Goebbels, der geifernde Propagandaminister in Hitlers brandneuem Nazideutschland, am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz seine Werke als Dokumente von „Dekadenz und moralischem Zerfall“ verbrennen ließ.

     „Fabian“ ist Fiktion und zugleich, in Stücken, Autobiografie. Denn in dem Buch – und deutlicher noch in dessen Urschrift „Der Gang vor die Hunde“ – spiegelt sich nicht nur der reale Metropolen-Moloch während der Weltwirtschaftskrise und der letzten Atemzüge der ersten deutschen Demokratie, sondern gleichermaßen Erich Kästners persönliches Krisenbewusstsein während der Agonie der Weimarer Republik. Seine Landsleute – und nicht allein die – sah er „rückwärts laufen, einem klaffenden Abgrund entgegen, in dem Platz für sämtliche Völker Europas ist“. Vor Fabians Augen radikalisiert sich die Gesellschaft, fiebert eine chauvinistische Rechte nach der Herrschaft über das trudelnde Land, verlangt eine verelendende Masse nach dem einen sogenannten starken Mann. Wie einen Schummerbezirk des Lasters, wie ein Bordell im Rotlicht durchstreift Fabian – alias Kästner – das „Irrenhaus“ Berlin, melancholisch belustigt, angeekelt vom Fäulnisgestank. Außer Labude, den Intimus, verliert er seine Freundin und schließlich, aus lauter Hilfsbereitschaft, das Leben. „Dieses Buch ist nichts für Konfirmanden“, warnte der Autor. Von verschlingenden Süchten, nimmersatter Gier und fleischlicher Begierde handelt es plastisch und drastisch, von Gleichgültigkeit und ordinärem Sex (die Brust einer dicken Frau „lag auf dem Plüsch, als sei sie serviert“), von Habenichtsen, die ihr Heil im Opportunismus suchen, von Liebe, der die wachsende Distanz zwischen den Menschen in die Quere kommt.

„Abnorme Spielarten des Beischlafs“

Krasser noch streicht die Erstfassung all das Krude und Kalte, Verwerfliche und dem Verderben Geweihte heraus. Schon im Titel „Der Gang vor die Hunde“ trachtete der Schriftsteller seinen Drang nach Wahr- und Offenheit wie seinen Pessimismus auszudrücken. Davor aber scheute der Verlag damals zurück, nicht anders vor etlichen – für damalige Verhältnisse – expliziten Notaten über die „anatomische Verschiedenheit der Geschlechter“ und „abnorme Spielarten“ bei jenem „Vorgang, den man, temperamentloserweise, Beischlaf nennt“. Erst 2013 rekonstruierte Sven Hanuschek aus dem (im Marbacher Literaturarchiv verwahrten) Manuskript eine „imaginäre Erstausgabe, wie sie „vom Autor geplant und gemeint war“, wobei er die Striche, die der Rotstift des errötenden Lektors vorgenommen hatte, wieder aufmachte.

     Auf diese Fassung gründete Dominik Graf als Regisseur und Ko-Autor seine Kino-Adaption. Keine dreihundert Seiten umfasst der Text im Buch – volle drei Stunden lang dauert der Film, den Graf vielsagend im eigentlich gestrigen Dampffernseh-Format vier zu drei drehte. Überhaupt mutet die Produktion, Berlinale-Berichterstattern zufolge, wie eine Collage aus Elementen der kinematografischen Hochmoderne ebenso wie der Filmgeschichte an, indem darin Stumm- und Tonfilm, Schwarz-Weiß- und Farbaufnahmen, inszenierte und historische Aufnahmen einander ablösen.

„Talent zur Anständigkeit“?

Mit lediglich drei Stunden mochte sich Frank Castorf übrigens nicht zufriedengeben, als er den Stoff – gleichfalls unterm Doppeltitel – Mitte Juni im Berliner Ensemble endlich auf die Bühne bringen konnte; coronahalber hatte die Premiere mehrmals verschoben werden müssen. Fast fünf Stunden (einschließlich einer Pause) nimmt sich seine – wie bei ihm üblich, stark assoziative – Version Zeit, auch war Kästner allein dem umstrittenen Theatermann dabei nicht genug: Zusätzlich habe er sich „in letzter Zeit viel mit Baudelaire beschäftigt“, erzählte er im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur. „Er hat die Melancholie und die Großstadt Paris zu seinem Thema gemacht und auch das Weib und das Bild des Todes.“ Funktioniert solche Überblendung? Der Rezensent des Senders monierte, der Weg der Hauptfigur „vom Unpolitischen zum Politischen“ gehe „in Kartoffelsalat, Senf und Slapstick-Nummern unter“. Also auch hier: ein unerreichtes Ziel?

     Deutlich mächtiger als der „Fabian“ Castorfs konnte der Grafs bei der Presse punkten. So verfehlten Kritiker nicht, Tom Schilling geradezu als „Traumbesetzung“ auszurufen. Als „verletzlich, abgeklärt, mit einer Neugier aufs Leben“ charakterisierte Zeit Online den Künstler und seine Beobachter-Rolle, als „gleichzeitig vom Zweifel beherrscht, ob diese Welt ‚Talent zur Anständigkeit‘ hat“. Das weiß man auch neunzig Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe noch nicht. Bis heute ist der „angestammte Platz“ des aufmerksam zusehenden Moralisten „der verlorene Posten“ (wie Kästner schwermütig scherzte), aber „sein Wahlspruch heißt: Dennoch!“



Alles ist möglich (fast alles)

3D-Druck ist in vielen technischen Bereichen heimisch. Dennoch wohnt der Fertigungsart und dem, was durch sie entsteht, noch immer etwas Futuristisches inne. Im Selber Porzellanikon kann man eine der geschickten Apparaturen aus der Nähe beobachten. Eine Ausstellung zeigt: Auch Kunst lässt sich machen.

Von Michael Thumser

Selb, 1. Juni – Drei entscheidende Momente bei der Entstehung von Kunst spielen auch bei dieser Technik eine Rolle: Präzision; der Zufall; und Willkür.

     Die Technik ist buchstäblich vom Feinsten: Denn aufs Feinste verfährt sie, zum Bespiel mit Porzellan- und anderer Keramikmasse, so filigran, dass unter Umständen selbst geübteste Meister des Modellierhandwerks derart detaillierte und feingliedrige Sachen nicht hinbekämen. Das räumt Christoph Uhlig, Referatsleiter Bildung und Vermittlung am Porzellanikon gern ein. Die Technik ist die des 3D-Druckers, wie sie auch genutzt wird, um Kunststoff- und Metallteile zu erzeugen. Als Privatmensch mit Spaß an mechanischen Innovationen kann man eine einfache Ausführung schon für ein paar hundert Euro erwerben, Uhlig selbst, wie er erzählt, besitzt ein Exemplar. Um anspruchsvolles Kunstgewerbe oder gar ernstzunehmende Kunst zu kreieren, bedarf es freilich kompliziertester und minuziös arbeitender Versionen; sie kosten Summen, die der Normalkonsument eher nicht berappen kann und mag.

     Bauteile für die Medizintechnik, für Autos und Maschinen, Flugzeuge und Raumschiffe kommen heute vielfach aus 3D-Druckern. Ihr Vorzug: Konstruktionsplänen gemäß, die mit dem Computer errechnet, erzeugt und ediert werden und darum zwangsläufig akkurater geraten als jede von Hand skizzierte technische Zeichnung, erledigen sie ihre Aufgaben mit einer auf kleinste Bruchteile eines Millimeters genauen Präzision. Damit verglichen, geht der Drucker des Porzellanikons eher plump und grob zu Werke. Dennoch kommt, wer ihn in seinem unverdrossenen Eifer beobachtet, aus dem Staunen nicht heraus.

     Erst unlängst hat das Haus ihn  angeschafft. In der Ausstellung „Kunst trifft Technik“ führt es ihn zurzeit oft und gern den Besucherinnen und Besuchern vor. „Im Prinzip“, vergleicht Christoph Uhlig, „funktioniert er wie eine Tortenspritze.“ Ein Reservoir wird mit gebrauchsüblicher Rosenthal-Porzellanmasse aus Quarz, Feldspat und Kaolin befüllt. Unter Druck gelangt die Mixtur über einen Schlauch in eine Düse. Für die Demonstration des Selber Vorführmodells ist ihre Öffnung einen Millimeter weit; auch bei einem Zehntelmillimeter kann der Durchmesser liegen. Die Düse wird von drei, horizontal nach allen Richtungen beweglichen Armen festgehalten, die sich wiederum zugleich in ihrer Halterung vertikal orientieren können. Im Rechner- und Steuerungssegment des Druckers steckt eine Speicherkarte mit allen Daten für den gewünschten Artikel. Jener digitalen Bauvorschrift folgend, beginnt die Düse, auf ihren niedrigsten Stand eingestellt, eine sich schließende Schnur aus Porzellanmasse auf der Bodenplatte auszulegen. Eine Runde um die andere fährt die Düse ab und trägt dabei immer eine weitere Schicht auf, jede einen Millimeter hoch und breit. Entsprechend den Informationen auf der Speicherkarte verändert sich der Verlauf der Schnur, sodass die programmierte Struktur langsam dreidrimensional in die Höhe wächst. Je enger die Düse, desto mehr Schichten muss die Düse aufeinander auftragen, desto mehr Zeit mithin beansprucht der Druck des Gegenstands, der dafür aber umso zarter ausfällt. Je nachdem, wie die Konsistenz der Porzellanmasse, der digitale Plan und die maschinelle Ausführung zusammenpassen, entscheidet sich, ob die fertige Form abschließend den Brand heil übersteht oder nicht. Sogar was im Brennofen zu Schaden kommt, kann ungewollt reizvoll aussehen. Nicht selten trägt der Zufall unerwartet sein Quäntchen bei.

     So viel zur Technik. Damit sie nicht einfach nur ein Werkstück ausstößt, sondern zum Hilfsmittel für ein Druck-Werk der Kunst wird, tritt, von außen, obendrein der Gestaltungswille des Menschen hinzu. Er kann mit seiner Einfallskraft und Spontaneität in das Wachstum eingreifen, dem Wortsinn nach: kann die Lage um Lage gefügte Masse mit Hand, Finger, Insrumenten leicht manipulieren – eindellen oder auswölben, lockern oder verdichten –; zwar lässt sich davon die Druckerdüse auf ihrem ein für alle Mal festgelegten Weg  nicht beeindrucken, aber die von ihr ausgestoßene Keramikmasse-Schnur spannt sich dann plötzlich vielleicht in der Luft, hängt durch, reißt ab, oder die Statik des ganzen Aufbaus gibt nach, sodass am Ende Körper von kuriosem Charakter und unverhoffter Ausdruckskraft sichtbar werden, mögen sie auch mit dem digitalen Aufriss des Prototyps wenig mehr bis nichts zu tun haben.

     Der Selber Drucker, sagt Christoph Uhlig, „kann alles … naja, fast alles“. Die Kunst, die in der Ausstellung des Porzellanikons auf die 3D-Technik „trifft“, verdankt sich allerdings deutlich aufwendigeren Apparaturen, die darum weitaus teurer sind. Binder Jetting heißt ihre Methode, Aluminiumoxid die Ausgangssubstanz – als weißes Pulver wird sie durch die Düse gesprüht und mit einem speziellen Kleber gebunden. Solche Vorrichtungen bringen auch das noch fertig, woran die schlichteren Geräte scheitern.

     Die Kunstgebilde, die in den Vitrinen des Museums wie schwerelos schimmern, setzen sich in ihrer geometrischen Kleinteiligkeit oder, anders, scheinbar regellos so sublim zusammen, dass zwar menschlicher Verstand sie zu ersinnen vermochte, aber wohl keine menschliche Hand sie so akkurat schneiden und fräsen, furchen und ritzen könnte. Ein perfektes Beispiel hierfür gibt die „Vase“ ab, die ihre Erfinderin Dana Saez kaum dazu ausersehen haben kann, einmal pflichtschuldig Wasser und Blumen aufzunehmen; vielmehr meint man, der weiße Würfel aus dünnen, im Raum punktsymmetrisch aufeinander bezogenen Gittergeflechten bestehe zu neunundneunzig Prozent aus Luft. Nicht kalt, aber rational gründet die Schönheit solcherart Gegenstände sowohl in der nicht zu imitierenden Kreativität ihrer Schöpferinnen und Schöpfer als auch in der abweichungslosen Folgerichtigkeit des präregulierten Prozesses, der sie maschinell bildete – in einem Kalkül, in dem objektive Berechnung und individuelles Gestaltungsstreben verschmelzen.

     Die Schau versammelt Arbeiten von insgesamt zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines Wettbewerbs, den das „Keramion“ in Frechen (Rhein-Erft-Kreis) 2019 ausschrieb; zur Kooperation gewann das Keramikmuseum die Firma WZR ceramic solutions in Rheinbach bei Bonn, die auf Beschichtungen und 3D-Druck spezialisiert ist. Dort schufen, zum Beispiel, Christian Heuchel und Levente Kiss das Modell einer modernen Architektur, von vornherein freilich als Schaustück, nie auf einen baulichen Endzweck bedacht. Von der Natur hingegen scheinen die „Floating Ceramics“ hervorgebracht zu sein, mit denen Emilie Burfeind und Andreas Grimm organischen Formen nacheiferten; Korallen ähnlich, liegen die Brocken wie zufällig da, dem „flutenden“ Wasser verschworen.

     Die flauschige Geschmeidigkeit von Textilien täuschen die „linie/lines/linea“-Objekte von Helena Boddenberg vor, unregelmäßige, in der Mitte aufgeschnittene Röhren oder Hülsen, die wie weiche, modische Manschetten anmuten. Dem Design, also dem Ausgleich von Alltagsfunktionalität und ästhetischer Formgebung verpflichtet fühlt sich offenkundig Marco Wallraff: Sein „Ampliphone“, eine weit geöffnete Kugel auf Füßchen, soll als Lautsprecher fürs Smartphone dienen, das durch einen Schlitz eingesetzt wird; mag ihm akustische Tauglichkeit auch nicht recht zuzutrauen sein, attraktiv fürs Auge ist es allemal. Nicht anders die Pendelleuchte, der Arthur Homa den Namen „Shell“ – für Hülle, Schale – gab: In ihr finden die nüchterne Urform einer elektrischen Lampe und, als Schirm, die Idee eines kartondünnen, aber festen Mantels zueinander: Trotz der explizit sichtbaren Fassung hält die Leuchte in ihrem Innern die Glühbirne gleichsam heimlich und unsichtbar fest; aber durch ihre fragile Haut findet das Licht hinaus, gedämpft, dezent, kultiviert.

■ Bis zum 3. Oktober, dienstags bis sonntags (und auch an Feiertagen) von 10 bis 17 Uhr; zurzeit ist keine Terminvereinbarung nötig.
■ Workshop „Gestaltung auf der Überholspur“ (kostenpflichtig): geeignet ab zwölf Jahren, Gruppengröße bis zu zehn Personen, Dauer neunzig Minuten. Informationen und Buchung: besuchercenter@porzellanikon.org oder telefonisch unter (0 92 87) 91 80 00
■ Die Ausstellung im Internet: hier lang.



Du kommst auch drin vor

In seinem neuen Buch „Künstlerpech“ erzählt Ralf Sziegoleit „Paargeschichten“ über die eigene Liebe und fremde Beziehungskrisen. Verschlüsselt lässt der erprobte Feuilletonist und arrivierte Kunstexperte erkennbare Gestalten der regionalen Kulturszene auftreten.

Von Michael Thumser

Hof, 25. Mai – Gleich die erste Geschichte, sie heißt „Kennen wir uns?“, gibt einem einen Schlüssel für die Lektüre des ganzen Buchs in die Hand. In ihr berichtet der Autor, wie er einem Menschen begegnet, den er sich, vor Jahrzehnten, unwissentlich zum „Feind“ gemacht hat. „Tödlich beleidigt“ habe ihn der Autor damals, wofür der sich gern entschuldigt, hinzufügend: Er verstehe, „dass unsere kleine gemeinsame Geschichte für ihn eine Art Tragödie sei, ich dagegen hätte das Glück, sie komisch finden zu dürfen“. So umschreibt Ralf Sziegoleit kurz und gut, was er in seinem Buch zusammentrug: „kleine gemeinsame Geschichten“ mit lebendigen Zeitgenossinnen und -genossen, an die er mit mehr oder sehr wenig zeitlichem Abstand zurückdenkt, Erinnerungen, in denen sich seine Mitwelt in Freund und Feind scheidet.

     Ein Schlüssel ist ein Instrument, das, sofern er ins Schloss passt, den Weg zu etwas Verborgenem, den Blicken Entzogenem öffnet. In der Literatur nennt man einen Schlüsselroman einen ausführlich ausgebreiteten Stoff, worin der Verfasser Personen der Wirklichkeit auftreten und reale Ereignisse geschehen lässt, indem er sie, durchsichtig manipulierend, sozusagen bis zur Kenntlichkeit verfremdet. Sziegoleit zeigt: Auch für die kleine Form, für die ‚Schlüsselerzählung‘, taugt das Modell. Die oft überraschende Erkenntnis für die lebenden Vorbilder der getarnten Figuren ist stets dieselbe: „Du kommst auch drin vor.“ Manchen freuts. Manchen macht er sich damit vielleicht zum Feind.

     Sziegoleits kurze „Paargeschchten“ sind Schlüsselgeschichten in Reinkultur. Spaß am Lesen kann jede und jeder haben: Als versierter Schreiber hat der 79-jährige Autor sie sprachlich einwandfrei, flott und flüssig, plastisch bis drastisch abgefasst. Freilich wird der eigentliche Reiz erst dem zuteil, der Schlüssel für die gut 25 Schlösser besitzt, wer also herausfindet, von welcher Person aus der regionalen Kultur- und vor allem Kunstszene im Einzelnen die Rede ist: „Kennen wir uns?“ Wer heute sechzig Jahre oder, besser, älter ist, wird mindestens gut die Hälfte der mit Falschvornamen maskierten Identitäten ermitteln. Als Hilfestellung dient eine Liste mit sämtlichen Klar(vor)namen („Der Autor bedankt sich bei …“). Gleich dahinter, in einem Vorwort, bestätigt Sziegoleit, er habe seine „Fiktionen aus Wirklichkeit“ gewonnen, wenngleich sie „vor den Fakten Vorrang“ hätten; nichts sei „frei erfunden“, wenngleich er „seine Geschichten, nicht die bestimmter anderer Personen“ erzählen wolle.

     „Seine Geschichte“ ist die eines langgedienten, hocherfahrenen Regionaljournalisten und ausgewiesenen Kunstexperten, gewiss des kenntnisreichsten weit und breit aus den vergangenen fünfzig Jahren; wie verständlich und einleuchtend er Texte über Malerei und Maler zu formulieren vermag, erwies zum Beispiel unlängst ein Essay im Dokumentationsband zum 2020 erstmals vergebenen Hofer Armin-Sandig-Preis. Ralf Sziegoleit: ein Künstlerglück. Nun gibt er, in „Künstlerpech“, Geschichten „bestimmter anderer Personen“ mit der Absicht wendungsreicher Unterhaltung wieder, und mit Vergnügen an Klatsch und Tratsch.

     Von Krankheiten, nicht selten tödlichen, ist zwar oft die Rede, weit öfter indes von Romanzen und Amouren, Treubrüchen und Trennungen. Sich selbst hält er zugute, nie über sein Sexleben zu reden, wie andere Männer und Frauen es gern täten. Stattdessen gibt er über das Sexleben anderer Männer und Frauen ausplaudernd Auskunft, mit leichter Feder, leichtem Herzen, leichten Sitten. Wiewohl auf sehr irdischen Umwegen zustande gekommen, scheint seine eigene Ehe als einzige im Himmel geschlossen; an (fast) allen anderen Beziehungen sieht er Gleichgültigkeit, Überdruss, Fäulnis nagen, wenn er nicht bereits vor ihren Trümmern steht. Zwischen ihnen schwebt Irene, die Gattin des erfundenen Ichs, als lustvolle Gespielin, verlässliche Muse und medizinisch erleuchteter Engel über die Erde, lebenspraktisch, allgütig, unermüdlich hilfsbereit – eine Mutter Theresa mit Unterleib.

     Was ist dieses Buch? Eine chronique scandaleuse will es nicht sein, dafür schweift der Blick nicht weit genug in die Runde; für ein Männergespräch unter der Sportvereinsdusche fehlen die letzten Quäntchen Schlüpfrigkeit. Als würden die Geschichten bei einem behaglichen Ehemaligentreffen zum Besten gegeben, mischt sich in ihnen der Ton anekdotischer Memoiren mit dem Ausdruck der Genugtuung, diesem oder jener eins auszuwischen, ohne schlimme Folgen gewärtigen zu müssen. Dass keineswegs alle, die sich in den „kleinen gemeinsamen Geschichten“ wiedererkennen, sich erhoben und erheitert fühlen werden, vielleicht sogar Verrat an alter Freundschaft wittern, nimmt Sziegoleit in Kauf. Viel Feind, viel Ehr?

     Nicht zuletzt ist sein Buch die Herzensergießung eines Mannes, dem es am Nachmittag des Lebens gelang, die ganz große Liebe zu finden. Übrigens kommt der Schreiber dieser Zeilen auch drin vor. Und vergleichsweise ungeschoren davon. Er darf sich sogar darüber freuen, mit Eigenschaften charakterisiert zu werden, wie ein Freund sie über den andern mitteilt. Er hat das Glück, dass zwar auch er Tragödien erlebte, aber keine, die der Autor komisch findet.



Bücher & Musik

22. Mai   „Erfindung einer Sprache“: Wolfgang Kohlhaases großartige Erzählungen von 1977, neu aufgelegt „Rapsodia Cubana“ mit einem karibisch-griechischen Piano-Perkussions-Duo „Der Mann im roten Rock“: Der englische Erzähler Julian Barnes durchstreift das fin de siècle Der Renaissance-Komponist Johannes Ockeghem und das letzte Wort.  

Von Michael Thumser

Wolfgang Kohlhaase: Erfindung einer Sprache. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Andreas Dresen. Wagenbach-Verlag, 205 Seiten, Paperback 18, E-Book 15,99 Euro
Wenn ein Autor nicht nur, aber vor allem Drehbücher geschrieben hat, dann schaut wohl auch seine erzählende Prosa leicht ein wenig nach Film aus. In einer der Geschichten – „Nagel zum Sarg“ – klopft ein Polizist arglos an die Wohnungstür einer Witwe, die, als er sich mit Marke vorstellt, sofort „ruhig“ sagt: „Ich habe dreißig Jahre auf Sie gewartet.“ Und der Beamte denkt: „Das ist ein Satz wie im Kino.“ Sätze fürs Kino schrieb Wolfgang Kohlhaase viele, und viele gute. Sein Kino war nicht nur, aber vor allem, das der DDR; „Solo Sunny“, Konrad Wolfs letzter Film, ist Kohlhaases wahrscheinlich berühmteste Schöpfung aus jener Zeit. Nach der Wende tat zum Beispiel Andreas Dresen gut daran, auf die Erfindungsgabe des erfahrenen, instinktsicheren Autors zu setzen, so 2005 für „Sommer vorm Balkon“, wo sie sich beispielhaft bewährte. Einige Drehbücher des heute 90-Jährigen gehen auf glänzend pointierte Erzählungen zurück, die jetzt als Wagenbach-„Quartheft“ erneut vorliegen, erstmals aber schon 1977 beim Ostberliner Aufbau-Verlag herausgekommen sind. Im freundschaftlichen, aber nicht lobhudelnden Nachwort zitiert der 32 Jahre jüngere Regisseur Dresen den Altmeister wörtlich: „Dramaturgie ist ein System von Regeln gegen die permanente Bereitschaft eines Publikums, sich zu langweilen.“ Dieses Regelsystem weiß Kohlhaase auch als Erzähler trefflich anzuwenden. In der DDR sind die meisten Stoffe angesiedelt, unter Menschen spielen sie, die den Zweiten Weltkrieg, wenn nicht den Ersten erlebten. Naturgemäß macht sich beim Lesen die zeitliche Distanz bemerkbar, und doch tritt die „vorige Zeit“ geschmeidig ein, „ohne anzuklopfen“. Schon gar nicht ist die Sprache gestrig: Sie fließt modern – oder zeitlos –, akzentuiert nicht nur, aber vor allem durch kurz angebundenen Humor, der mal handfest als Satire, mal als ironische Resignation auftritt, wenn er nicht, gelegentlich, hinter tragischer Empathie verschwindet. Kohlhaases Interesse gehört Menschen, deren „Lebensfaden ein paar besondere Knoten“ aufweist. Zu ihnen gesellt er sich selbst, wenn er als Ich-Erzähler in „Silvester mit Balzac“ vor der Frage steht, ob es nicht „idiotisch“ gewesen sei, sich im realexistierenden Sozialismus „mit Filmen herumzuplagen, die entweder dem Publikum oder dem Ministerium [für Staatssicherheit] oder beiden nicht gefielen“. Zu den Dingen des Schreibens selbst, nämlich zum Wesen der Wörter, stößt Kohlhaase vor, wenn er in der (2020 von Vadim Perelman verfilmten) Titelerzählung die „Erfindung einer Sprache“ schildert: Ein Physikstudent überlebt als Zwangsarbeiter im Straflager, weil er einem tumben Kapo vorschwindelt, ihm Persisch beibringen zu können; fortan denkt er sich für den misstrauischen Schüler Nacht für Nacht so trickreich wie poetisch ein Fantasie-Idiom aus, mit „Regeln und Wörtern“, über die er „allein bestimmt“. Ihm selbst eröffnen sie eine „fremde und stille Welt“, eine Freiheit im Kopf.

Rapsodia Cubana: Yamilé Cruz Montero, Klavier, Christos Asonitis, Perkussion. Naxos World, 1 CD, Nr. NXW76154-2, etwa 10 Euro.
Bevor die beiden ein Duo wurden, wurden sie ein Paar. Dazu kam es 2011, als Yamilé Cruz Montero und Christos Asonitis fast gleichzeitig, allerdings unabhängig voneinander in Havanna ankamen, um dort zu konzertieren. Eigentlich hatte sich die Pianistin, 1985 in Kubas Hauptstadt geboren, aufs klassische Repertoire spezialisiert; der um elf Jahre ältere Schlagzeuger aus Athen war Jazzer durch und durch. Aber in beider Vorliebe für lateinamerikanische Musik trafen sie sich. Nach einem ersten, gefeierten Auftritt 2015 in München beschlossen sie, auch musikalisch weiterhin gemeinsame Wege zu gehen. Den meisten Hörern hierzulande dürften die Namen der Komponisten – José María Vitier und Ernán López-Nussa, Andrés Alén und Aldo López Gavilán – kaum oder gar nicht vertraut sein (eine Ausnahme mag am ehesten Ernesto Lecuona bilden). Das macht nichts, denn auf der im Kammermusiksaal der Bayreuther Klavierbauer Steingraeber & Söhne aufgenommenen Platte fusionieren die Personalstile harmonisch zu einem aufgeräumt-leidenschaftlichen Ganzen. Das schließt nicht aus, dass es neben markanten Ragtime-Assoziationen auch Operettensüßigkeit zu kosten gibt. Nicht weniger zwingend beziehen sich die Ausführenden aufeinander: Die Tastenkünstlerin hat ihr athletisch-kerniges, zugleich attraktiv nuanciertes Fingerspiel vermutlich beim Studium Beethovens, Ravels, vielleicht auch der russischen Schule gelernt; der Schlagwerker verdankt sein üppiges Geräuschrepertoire sowohl einem reich bestückten Drumset als auch Congas, Cajón und anderen folkloristischen Trommeln. So peitscht er die Stücke nur selten auf, lieber tönt er sie fein unterscheidend ab und treibt sie voran durch die Spontaneität der Improvisation.

Julian Barnes: Der Mann im roten Rock. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, 299 Seiten, gebunden 24, als E-Book 19,99 Euro.
Den Mann selbst, Dr. Samuel Pozzi, gibt es erst im Innern des Buchs in voller Schönheit zu bewundern, auf Seite 10. Der Umschlag zeigt allein den roten Rock;  und ein Detail, dass den Autor an dem von John Singer Sargent 1881 geschaffenen Ganzkörperporträt besonders fasziniert: eine schlankfingrige Hand, die fast fraulich zart am Kragen des noblen, titelgebenden Schlafgewandes spielt. Jene Rechte gehörte dem 1846 in Bergerac, Region Nouvelle-Aquitaine, geborenen (und 1918 – Vorsicht, Spoiler! – von einem Patienten erschossenen) „wissbegierigen Arzt“, „Internationalisten“, „Rationalisten“, „Wissenschaftler“ und „Modernisten“ Pozzi. In seiner Haltung und als Reisender fanden seine Heimat Frankreich und England ebenso zueinander wie die Libertinage eines „weltmännischen“ und „ekelhaft gut aussehenden“ Playboys und hohe Intellektualität. Als gesuchter Gynäkologe gelangte er zu Geld, Gunst und Ansehen und reformierte die Methoden seiner Profession. Mit einem Heer von Prominenten des fin de siècle war er bekannt, wenn nicht befreundet. Raumgreifend reüssierte er als Liebhaber, scheiterte aber als „unglücklicher Familienvater“. Das  prallvolle, so distinguierte wie gewagte Leben eines „vernünftigen Menschen in einer verrückten Zeit“: Julian Barnes breitet es weder als Roman noch als historische Monografie aus, sondern – um für dies Buch sui generis überhaupt einen Begriff zu finden – als biografisches Großfeuilleton. In Ich-Form formuliert der britische Meistererzähler („Flauberts Papagei“, „Vom Ende einer Geschichte“) manche Passagen und wendet sich sogar direkt an den Leser. Oft heiter und meist bunt durcheinander geht es in den „Anekdoten und Skandalgeschichten“ aus der belle époque zu, und nicht bloß ein Leben werden von ihnen berührt, sondern gleich deren drei. Denn neben Pozzi treten, prägnant gezeichnet, der Komponist Edmond de Polignac in einer Nebenrolle und, vor allem, der Schriftsteller Robert de Montesquiou auf, als zweite, wenn nicht eigentliche Hauptperson: „so hochfahrend, so exklusiv, so erhaben über Bürgertum und Arbeiterklasse, so fern der normalen Materialität der Welt“. Plastischer hat selten jemand umschrieben, was das sei: ein Dandy. Zum Biotop jener Spezies gehören luxuriöse Kunst und erlesene Damen, Duelle, freizügige hetero- und homosexuelle Zeitgenossen. Dabei fragt Barnes sich und die Leser nach dem Sinn und den Möglichkeiten, Geschichten und Geschichte aufzuzeichnen: „Warum drängt es die Gegenwart ständig, über die Vergangenheit zu urteilen?“ Barnes umgeht das Urteil, meidet das Grübeln über Gründe und Motive: „Wir wissen es nicht.“ Aber er leistet sich als Erzähler von hohen Gnaden ein Vergnügen, das sich der Historiker vom Fach versagt: Bewunderung.

Johannes Ockeghem: Missa Prolationum. Ensemble L‘ultima parola. Raumklang, 1 CD, Nr. RK 3902, etwa 20 Euro.
Wer ein offenes Ohr für die oft meditativ spröde Vokalmusik der Renaissance besitzt (und womöglich obendrein die Gabe strukturanalytischen Hörens), der kommt bei dieser Einspielung auf seine Kosten. Das Werk des Tonsetzers, der als Kapellmeister am französischen Königshof amtierte und 1497 etwa 75-jährig starb, gehört zum Ausgeklügeltsten, was die  Vokalkunst und Kontrapunktik der Epoche hervorbrachte. Eigens um diese Messe mustergültig aus- und aufzuführen, fand das Ensemble L’ultima parola zusammen. Nur zweistimmig ist die Partitur notiert; komplexe Kniffe bei den Tempo- und metrischen Vorgaben jedoch führen dazu, dass sie drei- bis vierstimmig erklingt (worauf der lateinische Titel verweist: Prolation nennt man in der Alten Musik die Aufteilung von Noten oder Pausen einer bestimmten Dauer). „So wie sich die Menschen in den revolutionären Raumdarstellungen der [Renaissance-]Malerei in Italien und Frankreich plötzlich frei und natürlich bewegten“, vergleicht Clemens Goldberg im Beiheft, „so bewegen sich auch die Stimmen wie losgelöst in der Horizontalen.“ Der Herausforderung stellen sich die Sopranistin Axelle Bernage als Cantus (das heißt hauptsächliche Melodiestimme) sowie Ensemblegründer Bernd Oliver Fröhlich als Countertenor, Olivier Coiffet als Tenor und der Bassist Guillaume Olry stilkundig, mit hochrangiger Klangkultur und feinfühligem Geschmack: ganz gleichgewichtig die Stimmen, schwebend der Gesamtklang, nuanciert die Verlagerung der Ausdrucksgewichte. L’ultima parola heißt auf Deutsch „das letzte Wort“; warum sich die vier so benannten, bleibt ihr Geheimnis. Mit dieser Referenzaufnahme der Messe haben sie hoffentlich noch nicht ihren letzten Ton gesungen. Sie lässt ahnen, dass Mathematik und Mechanik des ockegehemschen Komponierens im Glauben an die stabile Ordnung eines göttlichen Kosmos gründen.



Big Brother und die rosa Brille

Auch in der Region öffnen die Museen wieder – zum Beispiel das Kunstmuseum in Bayreuths Altem Rathaus. Dort breitet eine vielfältige Ausstellung auf knapp hundert Plakaten „Die bunte Welt der Musik“ aus.

Von Michael Thumser

Bayreuth, 18. Mai – Wo Bayreuth draufsteht, ist (fast immer auch) Richard Wagner drin. Und wenn Wagner drin ist, fällt das Drumherum gern recht ausgedehnt aus. Zwei Exponate in Bayreuths Altem Rathaus übertreiben ihren Flächenverbrauch beinah. Auf dem einen ist ein versteinertes Männergesicht im Profil zu sehen: Die Totenmaske des verewigten Tonsetzers liegt unter einem bestirnten Firmament, das es wie eine kolossale Schneekugel überwölbt und seinerseits von einer jungen Frau fürsorglich in ihren Armen und unter langen Locken geborgen wird. Ein Plakat zu Hans-Jürgen Syberbergs „Parsifal“-Film von 1982: Es beansprucht Großformat wie das wagnersche Werk.

     Ein anderes, nicht minder ausufernd, besteht, genau betrachtet, aus vier Plakaten. Auf jedem krümmt sich das Viertelsegment eines Kreises, der als Ganzes die Tetralogie zusammenschließt. Eine Berliner Produktion des vierteiligen „Rings des Nibelungen“ empfiehlt der Aushang, die er von Blatt zu Blatt erst mit einem Regenbogen, dann mit einem Blutstropfen, dann mit den Strahlen der Sonne, endlich mit den Flammen des Weltenbrands illustriert. Ganz anders, nämlich witzig, verspielt und gar nicht sehr raumgreifend, lud Michael Mathias Prechtl 1991 in Bayreuths Neues Rathaus zu einer Ausstellung über „Hans Sachs und die Meistersinger in ihrer Zeit“ ein: Auf dem Entwurf des 2003 verstorbenen Nürnberger Meistergrafikers duldet der frühneuzeitliche „Schuhmacher und Poet zugleich“ verschmitzt lächelnd, dass der Komponist ihm aufs Dach gestiegen ist – auf Sachs’ Scheitel thronend, schaut Wagner würdevollen Blicks unterm Samtbarett hinaus in die ihm ergebene Welt.

     Nicht im Neuen, sondern im Alten Rathaus, das wiederum das Bayreuther Kunst- und mit ihm das Plakatmuseum beherbergt, breitet sich „Die bunte Welt der Musik“ aus, nach einer coronabedingten Zwangspause seit dem vergangenen Sonntag, dem „Tag der Museen“, erneut. Auf etwa 20 000 Blätter hat das Haus die Sammlung von Dr. Franz Joachim Schultz vergrößert, die der Sammler, den Schwerpunkt auf Kulturplakate legend, von 1986 an in seinem eigenen „Kleinen Plakatmuseum“ präsentiert hatte; 2012 schenkte er sie der Stadt.

     In wechselnden Ausstellungen – und jetzt eben in einer, die den Fokus auf Jazz und Klassik, Rock und Pop, Chanson und Folklore legt – erfahren Besucherinnen und Besucher, was die Gebrauchskunst des Plakats von der ‚hohen‘ Bildkunst unterscheidet und, mehr noch, was beide zusammenbringt. Als „kleine, aber repräsentative Auswahl an Musikplakaten“ wird die aktuelle Schau beworben, die so klein nicht ist, sondern die Wände mehrerer Räume füllt. Erst recht darf sie als repräsentativ gelten, denn über ihre künstlerische Bedeutsamkeit hinaus erhellt aus ihr die spezifische Charakteristik des Plakats.

     Ausdrücklich verfolgt es einen Zweck. Für ein aktuelles Ereignis soll es so schlagartig wie nachhaltig werben, weshalb es für gewöhnlich durch markante Gestaltung Aufmerksamkeit auf sich ziehen will und sich zum andern in mehr oder weniger hoher Auflage verbreitet. Einerseits erteilt es nüchtern Auskunft, auf die berühmten W-Fragen antwortend: wann und wo was durch wen und wofür stattfindet; andererseits ist ihm darum zu tun, einen ersten, zündenden oder zarten Eindruck von dem zu vermitteln, was zu erwarten steht. Unbestreitbar dient es der Reklame und der Propaganda; aber gerade im Kulturbereich muss es darum nicht grell, laut, prahlend auftreten. Und es nähert sich dem Anlass seiner Verbreitung, dem wie auch immer gearteten Kunstprodukt, am überzeugendsten dann, wenn sein Schöpfer sich seinerseits künstlerischer Mittel und Methoden bedient. Um Anschauung und Information, Attraktivität und Nützlichkeit ins Gleichgewicht zu bringen, setzt es Schrift, Bild und grafische Elemente in ein ästhetisches Verhältnis. Nicht selten – und keineswegs nur bei Toulouse-Lautrec und Konsorten – wird aus Plakaten veritable Kunst.

     „Vielfalt“ heißt in Bayreuth die Abteilung, die den Rundgang abschließt. Vielfalt ist von Anfang an in den chronologisch gestaffelten Stationen zu bestaunen. So spielt ein Münchner „Musica viva“-Plakat aus den 1960er-Jahren wie Konkrete Kunst mit Quadrat, Diagonale, Kreis, um mit dem Buchstaben B zu spielen, stand doch Musik von Bartók, Blacher, Britten auf dem Konzertprogramm. An anderer Stelle, auf monochrom dunkelblauen Bögen Rupprecht Geigers, dominiert die Kunst derart autoritär über die Nachricht, dass Letztere, dunkel auf Dunkel, sich kaum entziffern lässt.

     Spannungsreich stellt sich Blick-Kontakt im Raum der Siebzigerjahre her. Da mustert ein karikierter E.T.A. Hoffmann frivol den Betrachter durch die sprichwörtliche rosarote Brille, in deren Gläsern sich Coppelia spiegelt, die hübsche, aber hohlköpfige Androidin aus Jacques Offenbachs Oper und Leo Delibes’ Ballett. Nicht weit entfernt davon glotzt „big brother’s“ Auge, das eines „großen Bruders“, aus dem Schnittpunkt zweier zerbröselnder Kreuzbalken – Sinnbild für die dauerüberwachte Existenz in Albert Camus’ Schauspiel „Belagerungszustand“.

     Nicht einfach Vielfalt, sondern krasser Kontrast im Achtziger-Segment: Fürs Altstadt-Festival in Winterthur zerlegte ein Grafiker das historische Zentrum der schweizerischen Stadt in ein kubistisches Mosaik aus Blauschwarz-, Orange- und Grünflächen. In filigranes Schwarz-Weiß hingegen, und aufs flächige Dekor des Jugendstils, zog sich das Theater Oldenburg anlässlich einer Inszenierung von „Zaide und Abu Hassan“ von Wolfgang Amadeus Mozart und Carl Maria von Weber zurück: Verschwenderisch umhüllt von einem Paradiesgarten und mit einem üppig gefiederten Pfau als Gefährten, tupft und zupft ein Mädchen auf den Saiten ihrer Gitarre ein Traumstück. Sinnlich-wach indes das Theater-Hof-Plakat für Fritz Kreislers Ein-Frau-Musical „Heute Abend: Lola Blau“: 1989, fünfzig Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, prangt darauf ein selbstbewusst-vitales Frauenporträt mit betont roten Lippen, nur scheinbar diskret diskriminiert von einem Judenstern, von einem Hakenkreuz akut bedroht.

     Schemenhaft versinkt und verschwimmt ein Ring in den blauen Wasserwellen von Claude Debussys strömender „Pelleas und Melisande“-Musik; ein Stück Mauer oder Asphalt symbolisiert rissig den Weg, die tragische Sackgasse in Eugen d’Alberts „Tiefland“; ein Mann und eine Frau als rote Silhouetten kleben in „Lucia di Lammermoor“ von Gaetano Donizetti an ihren tiefschwarzen Schatten … Mag Hof mit Hauptstädten auch sonst nicht konkurrieren können – die für die Bayreuther Schau ausgewählten Bühnen-Blätter aus der Nachbarstadt halten durch ihre kompositorische Ökonomie und anregende Einprägsamkeit ohne Weiteres mit Berliner oder Münchner Entwürfen mit. Wo Hof draufsteht, steckt oft Theater drin.

     Beide Städte vereinte Wo Sarazen alias Werner Maria Baumann in sich: 1923 kam er in Hof zur Welt, fast hundertjährig starb er 2020 in Bayreuth. Als notorischer Kauz blickte er futuristisch auf Richard Wagners „Parsifal“: Nicht auf dem Grünen Hügel und nicht im Festspielsommer wird bei ihm das Werk aufgeführt, sondern im Februar des Jahres 2883 von Außerirdischen in einem „Neuen Festspielhaus“ mit 13 333 Plätzen. Froh darf man sein, wenn die Mutter aller Festspiele heuer am angestammten Ort wenigstens in kleinem Rahmen stattfinden kann. Fern solchen gigantomanischen Anspruchs versteckt sich im Kunstmuseum ein kleinformatiges Poster, das 1994 in Franz Joachim Schultz’ „kleines Museum einlud, wo es Opernplakate zu sehen gab. Auf dem Papier zwinkert einem Giuseppe Verdi zu; wer es genau betrachtet, erkennt: Im zwinkernden Auge offenbart sich Richard Wagners gestricheltes Profil.

■ Seit Sonntag hat das Kunstmuseum Bayreuth im Alten Barockrathaus (Maximilianstraße 33) wieder geöffnet. Bei einer Sieben-Tage-Inzidenz in der Stadt zwischen 50 und 100 ist ein Besuch nach vorheriger Terminbuchung (Telefon 09 21/7 64 53 10; E-Mail: pr@kunstmuseum-bayreuth.de) und im Rahmen der üblichen Corona-Hygieneregeln möglich.
■ Bis zum 20. Juni, dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr.
■ Zur Ausstellung im Internet: hier lang.



Ruhm, zu Türmen gestapelt

Seit hundert Jahren ragt in Hof ein trutziges, wenn auch marodes Bauwerk 25 Meter in die Höhe. Es ehrt Otto von Bismarck, der vor 150 Jahren Kanzler des zweiten deutschen Kaiserreichs wurde. Von den einst 240 vergleichbaren Monumenten in Deutschland, Europa und der Welt haben sich 173 erhalten.

Von Michael Thumser

Hof, 15. Mai – Ein Mann wie ein Turm: Hoch ragte er auf, was viele in seiner Umgebung einschüchtere. 1,93 Meter soll Otto von Bismarck vom Scheitel bis zur Sohle gemessen haben, auch nach heutigen Verhältnissen eine auffallende Körperhöhe und damals, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, außerordentlich. (Dazu passe, konnten Spötter witzeln, auch seine ungewöhnlich hohe, darum wenig maskuline Stimme.) Ein Mann wie eine Festung: Schon als Erscheinung imposant, bestimmte Bismarck mit seinen Entscheidungen die deutsche Politik für etliche Jahrzehnte und bis in die gesellschaftlichen Winkel, die politischen Details hinein. Gegen den Willen des bereits zu Lebzeiten als „Eiserner Kanzler“ apostrophierten Staatsmanns richteten Gegner zeitweilig wenig bis gar nichts aus.

     Versteht sich, dass er auf diese Weise nicht gerade Scharen von Freunden um sich sammelte. Gleichwohl verehrten ihn Abermillionen noch Jahrzehnte nach seinem Tod glühend, galt er doch als Urheber des zweiten deutschen Kaiserreichs, des potenten, später präpotenten Nationalstaats, zu dem zahlreiche Einzel- und Kleinterritorien zusammengewachsen waren. Geschaffen hatte Bismarck ihn zwischen 1864 und 1871 auf dem blutgetränkten Weg über drei vorgeblich ruhmreiche „Einigungskriege“ gegen Dänemark, dann Österreich, am Ende Frankreich. Als umsichtiger und unnachsichtiger „Lotse“ lenkte er das neue, mit nicht viel Zukunft gesegnete Staatswesen fast zwanzig weitere Jahre lang, nachdem er, bisher Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes, vor 150 Jahren, am 4. Mai 1871, zum Reichskanzler ernannt worden war.

     Am 13. Mai 1921, am vergangenen Donnerstag vor hundert Jahren, weihten die Hofer feierlich ihren Bismarckturm ein. Unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in einer Phase aufwallenden Nationalgefühls, war am 27. September 1914 im Rahmen eines Festakts der Grundstein gelegt worden, auf dem Rosenbühl, einem Gelände im Süden der Stadt. Das Grundstück hatte der weiland Kommerzienrat Wilhelm Deininger 1910 dem ortsansässigen Verschönerungsverein überlassen, ausdrücklich zu dem Zweck, dass es dereinst Standort eines Denkmals für den „Eisernen Kanzler“ werde. Ein Solitär am Stadtrand, eine „Trutzige Wart“: Dem wehrhaften Willen, der sich darin ausdrücken sollte, entsprach der Name des Entwurfs, den die Münchner Firma H. Stengel und P. Hofer eingereicht und durchgebracht hatte.

     Nur ein Jahr dauerten die Arbeiten, bis der Turm, gefügt aus felsenfestem, vom Werk Bibersberg in Marktleuthen geliefertem Fichtelgebirgsgranit, unübersehbar phallisch sein Haupt über dem quadratischen Sockelfundament erhob. Die stolzen Kosten der stolzen Landmarke, 82 000 Reichsmark, hatten ein Bismarckturmverein und Sponsoren spendabel aufgebracht. Denn ganz gern erinnert man sich der Stärke und Hochstimmung von einst, nachdem das Kaiserreich 47-jährig im Pulverdampf erstickt, im Blut ertrunken war. 1928 kam im Vorraum hinter der Eingangstür eine Büste des Reichsgründers hinzu.

Straßen, Plätze, Heringe

Von ferne (und sogar von nah) sieht das Bauwerk noch immer zuverlässig haltbar aus. Allerdings haben monarchische, republikanische, diktatorische und demokratische Zeiten ihm nacheinander gehörig die nagenden Zähne gezeigt. Außen wuchern aus etlichen Fugen der klobigen Quader immer wieder Gestrüpp und sogar kleine Birken hervor. So Weiches indes bricht das Feste nicht. „Vor allem im Inneren“, weiß der städtische Baudirektor Dr. Stephan Gleim, „droht der Turm immer weiter zu verfallen.” Seit 2010 darf, von Fachleuten abgesehen, niemand mehr hinein, geschweige denn hinauf.

     Auf den Namen des Potentaten tauften die Deutschen um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten danach vieles, das ihnen am patriotisch erhobenen Herzen lag: Tunnel und Brunnen, Eichen und Heringe; zahllos die Porträtbüsten und Standbilder, die nach ihm benannten Plätze und Straßen, von denen es in Hof zusätzlich eine gibt. Doch erst so ein Bismarckturm symbolisierte unvergleichlich augenfällig die „trutzige Wart“, den misstrauisch-verteidigungsbereiten Rundblick weit hinein in die Nachbarschaft. Ihn ließ die gewaltsam geborene Nation hauptsächlich gen Westen schweifen, zum schwer gekränkten „Erzfeind“ Frankreich. Derlei Monumente von titanischer Autorität wuchsen auch im oberfränkischen Norden des heutigen Freistaats Bayern auf – so, außer in Hof, in Coburg und Lichtenfels –, desgleichen im sächsischen Vogtland: in Plauen, Netzschkau, Marktneukirchen. Im grenznahen Böhmen gibt es drei weitere, nämlich in Mikulášovice (Nixdorf) und Cheb sowie in Aš, wo 1903 der mit 35 Metern höchste entstand.

     Insgesamt haben sich in der heutigen Bundesrepublik, in Tschechien, Österreich und Frankreich, Polen und Russland, aber auch in Kamerun und Chile nicht weniger als 173 dem berühmten Staatsmann gewidmete Türme und Säulen erhalten: „deutsches Wesen“, fortgepflanzt über die Welt. Früher warens sogar noch deutlich mehr: 67 vergleichbare Memoriale, etwa in Dänemark, Tansania und auf Papua-Neuguinea, widerstanden dem Zerfall oder der Zerstörung nicht.

Feier- und Feuerzeichen

Dabei waren sie berufen, gleichsam unvergänglich in den Himmel zu streben, als kraftstrotzende Sinnbilder, Feier- und Feuerzeichen. Denn auf ihren Scheiteln, so war es vorgesehen, sollten an Tagen nationalen Hochgefühls aus Schalen Flammen lodern – Brandopfer für den Genius der erneuerten Nation. Bis 1934 entstanden Pläne für alles in allem vierhundert Exemplare zwischen Aachen und Zwickau. Der erste, 1869 im niederschlesischen Janówek (Ober-Johnsdorf) eingeweiht und gut 22 Meter hoch, galt früh als Missgeburt und fand keine Nachfolger.

     Stattdessen gehen viele Bismarcktürme auf einen seinerzeit weithin favorisierten Einheitsriss zurück – so auch der 1899 aus Treuener Granit aufgeführte Turm auf dem Plauener Kemmler, der in Markneukirchen, auch der Coburger von 1910. Als Stilbildner machte sich der aus Eltville am vermeintlich urdeutschen Rhein gebürtige Architekt Wilhelm Kreis anheischig, damals gerade 26 Jahre alt. 1899 hatte die Deutsche Studentenschaft einen einschlägigen Wettbewerb ausgeschrieben, Kreis beteiligte sich mit seinem Modell „Götterdämmerung“ und errang den Sieg. Bevor der junge Baumeister den allseitigen Patriotismus in Stein verwandelte, hatte er schon bei anderen Denkmalsprojekten seine nationalromantische Flagge gezeigt. So entstand das Leipziger Völkerschlachtdenkmal zwar nach einem Entwurf von Bruno Schmitz; doch hatte die Jury auch hier dem begabten Rheinländer für seine Entwürfe den Hauptpreis zugesprochen.

     Kreis’ „Götterdämmerung“ erfüllte die Vorgaben der Ausschreibung buchstäblich mustergültig: „Einfach, originell, zugleich wuchtig“, so hieß es darin, sollten die Türme ausfallen, sich auf einem gestuften Unterbau und quadratischem Grundriss erheben, an den Ecken von Dreiviertelsäulen abgerundet und je nach Baugrund und finanzierbarer Höhe in allerlei Variationen „reproduzierbar“ sein. Nach und nach ragten 47 „Götterdämmerungen“ auf. Der Hofer Turm ist ihrem Grund- und Aufriss immerhin verwandt.

     Beständig wie härtesten Fels dachte sich ein von Chauvinismus berauschtes Bürgertum und Militär das Reich, das sich so aufgeblasen, so mächtig in die geschwollene Brust warf. Dann brachen zwei Weltkriege den deutschen Nationalstolz, schließlich die nationalsozialistische Verblendung und Anmaßung. Dann wurde die Macht neu verteilt, wurden die Grenzen verschoben und für lange Zeit verriegelt. Hartnäckig blieben die steinernen Bismarcktürme übrig, unzeitgemäße Symbole nun nicht mehr für die Größe der Nation, sondern für deren Vermessenheit. Selbst der Hofer Granit bröckelt. 1995 wurde die „trutzige Wart“ auf dem Rosenbühl schon einmal saniert. Nun, einer Anregung von Stadtheimatpfleger Leo Reichel folgend, kündigte die Stadt als Besitzerin des Bauwerks zu dessen Jahrhundertjubiläum auf ihrer Website an, „ein Zeichen zu setzen“: Neuerlich wolle sie sich „um den beliebten Aussichtsturm als eines der Wahrzeichen der Stadt und als gern besuchtes Ausflugsziel“ kümmern. „Uns ist am Erhalt des historischen, denkmalgeschützten Bauwerkes gelegen”, bekräftigt Direktor Gleim. Zunächst soll die LGA Bautechnik GmbH aus Nürnberg Bausubstanz und Tragwerk – „Mauern, Putz, Decken, Treppen und Baustahl“ – untersuchen, um festzustellen, ob angesichts „knapper Kassen“ an eine Sanierung überhaupt ernstlich zu denken ist.

     Otto von Bismarck, wiewohl als Staatsmann hochfahrend, wäre über die verbreitet überdauernde Heldenverehrung seiner Person vielleicht nicht glücklich gewesen. Dass er im gloriosen Jahr 1871 nicht allein zum Reichskanzler ernannt, sondern auch gleich zum Fürsten erhoben wurde, ließ er sich gefallen. Weit weniger hätten ihm wohl die Gedenkausstellungen behagt, wie sie schon 1891 und 1901 eröffnet wurden: die eine im heute sächsisch-anhaltinischen Schönhausen an der Elbe, wo er 1815 zur Welt gekommen war; die andere im Bismarckturm des schleswig-holsteinischen Aumühle nahe Friedrichsruh, wo er am 30. Juli 1898 starb. Kurz bevor Kaiser Wilhelm II. 1889 den nationaldeutschen „Lotsen von Bord“ schickte, hatte Bismarck verkündet, in jedem einen „Todfeind“ zu sehen, der ihm ein Museum einrichte.



Der Schwung liegt im Detail

„Natur wird Kunst“: Im Museum Bayerisches Vogtland zeigt der Kulturkreis botanische Aquarelle und Zeichnungen der Hoferin Katja Katholing-Bloss. Zu bestaunen sind sie gegenwärtig nur in einem Katalog. Vielleicht aber erlaubt das Corona-Virus ja doch noch die Besichtigung an Ort und Stelle.

Von Michael Thumser

Hof, 4. Mai – Still leben: Wer wünschte sich, wenigstens gelegentlich, das nicht? Momente ohne Bewegung und also ohne Druck – ein menschliches, indes nur selten erfüllbares Bedürfnis. Immerhin die Kunst kommt ihm entgegen, im Stillleben, das Blumen und Krüge, Gräser und Gläser, Früchte und Jagdwaffen, erlegte Tiere und – bestenfalls – ein wenig krabbelndes Geziefer abbildet, kunstvoll arrangiert. Nature morte heißt das Genre auf Französisch, tote Natur.

     Ein hartes Wort. Das deutsche, aus dem Niederländischen und Englischen herrührend, trifft es besser. „Stillleben“ malt Katja Katholing-Bloss nicht, immerhin malt sie deren vegetabilische Anteile und Zutaten. Im Museum Bayerisches Vogtland zeigt sie eine Kollektion ihrer transparent kolorierten, dabei nie undeutlichen Aquarelle – wer sie betrachtet, gewinnt schnell den Eindruck: Dies alles, die Anemonenblüten und Efeublätter, das Walnuss- und das Tulpen-„Trio“, Pilze und Zwiebel, der Mohn als aufplatzende Knospe und als schmucklose Kapsel – all das könnte, zusammengeführt und harmonisch zurechtgelegt, ein Stillleben ergeben. Die Künstlerin aber machte keines draus. Prosaisch mit „Botanische Illustrationen“ untertitelt sie die (vom Kulturkreis Hof präsentierte) Schau, die zurzeit wenigstens in einem ansehnlichen Katalogheft besichtigt werden kann und eventuell doch noch, je nachdem, wie das Coronavirus es erlaubt, irgendwann im Lauf des Monats auch an Ort und Stelle.

     „Herzallerliebst“ benannte Katholing-Bloss ein Blatt, dessen Titel geradezu übererfüllt wird von einer Gartenrose, zwei Blütenstängeln von Tränendem Herzen und in Herzform gelegten Grashalmen. Geschmäcklisch? Vielleicht nur ein verspielter Gag. Denn gerade so – liebreizend, wonnig, süß –sehen ihre Arbeiten nur selten aus. Auf direktem Weg kommt ihre Kunst vom Können; aber vom Mitteilen, vom Künden auch, von der Naturkunde. In Katholing-Bloss verschmelzen die Akribie der gelehrten Forscherin mit den ausfeilenden Fertigkeiten einer malerischen Technik, der augenscheinlich nichts unmöglich ist. Das lässt, zum Beispiel, die kleine Traube mit prallen Weinbeeren seidig schimmernd ahnen, die den Umschlag des Heftes schmückt. Einschmeicheln wollen sich die Aquarelle also nicht, sie tun nicht schön, auch wenn sies sind – so schön wie eben die Natur, der sich die Natur-Produkte verdanken. Und die, wohlweislich, selber fehlt: Leere bildet die Hintergründe der Motive. Mit ihren oft zarten, auch schon mal auftrumpfenden, stets jedoch nuancierten Farben schweben sie extrahiert auf den hellen Malgründen. Tatsächlich kommt ihnen auf diese Weise etwas „Botanisches“ zu und offenbart in der Künstlerin die Biologin, deren sezierendem Auge keine Kleinigkeit der pflanzlichen Morphologie entgeht.

     „Natur wird Kunst“ steht als Überschrift über der Schau der gebürtigen Hoferin, die seit zwei Jahren wieder in ihrer Heimatstadt zu Hause und beim örtlichen Kunstverein Mitglied ist. Als Schlüsselerlebnis nennt sie den Besuch einer Ausstellung („Botanica“) im australischen Sydney 2008. Von Stund an fasziniert, zusätzlich inspiriert von den legendären Blumen-, besonders Rosenbildern des Franzosen Pierre-Joseph Redouté und von der englischen „botanical art“ des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, machte sie sich immer enger mit den Methoden des Fotorealismus vertraut. Unübersehbar steht sie – worauf auch der Katalog verweist – in der Tradition der 1717 gestorbenen Maria Sibylla Merian: Auch auf Katholing-Bloss’ Blättern halten Schönheit und Sachlichkeit eine zauberische Balance. Mit Stilkopien nach barocken Vorlagen gibt sich die Malerin freilich nicht zufrieden, auch nicht mit einer bloßen Nachahmung von Natur. Einer allzu nüchternen Biologie laufen nicht zuletzt überraschende Bildunterschriften zuwider, etwa bei einer Dahlie, die als „Cold Shouldered Diva“ auftritt, den Betrachtenden also, wie eine Primadonna, stolz die kalte Schulter zeigt. In einem Rosen-„Trio“ stehen wie die „Drei Musketiere“ alle für eine und eine für alle. Und über sieben Äpfeln prangt, wie auf einem Wochenplan, die Empfehlung: „An apple a day keeps the doctor away“.

     Bisweilen hat auch Katholing-Bloss ihren Spaß daran, ihre Fundstücke und Studienobjekte zu arrangieren. Hier schwingen Nüsse und Samen wie der Arm einer Galaxie um eine Kokosnuss als Schwarzes Loch aus. Dort ordnet die Künstlerin Segmente, Längs- und Querschnitte des Titanen-Wurz oder der Ananas-Guave, der Christrose oder des Baumfarns kombinierend einander zu: Grafit-Arbeiten, in gewollt blasser Schraffur, erinnern von fern an die Ästhetik der berühmten Schautafeln, mit denen der zeichnende Zoologe Ernst Haeckel in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts faszinierend die verborgene Welt der Quallen, Schwämme, Strahlentierchen enthüllte.

     Nur einmal, durch zwei trocken- braune Ahornblätter, lässt es die Künstlerin Herbst werden. Für morte, tot, erklärt sie die von ihr ausgewählten Einzelheiten aus der Natur nicht. Die „Hagebutten der Kartoffelrose“ verschaffen sich Geltung, indem sie frech aus dem Bildrand auf die unschuldsweiße Fläche drängen; eine fast surreale Strelitzie beweist – „standing tall“ – Stehvermögen; schamlos öffnet eine Feige ihr rotes Inneres dem überrumpelten Blick. So viel Stillleben enthalten Katja Katholing-Bloss’ Schöpfungen dann doch: Bruchstücke bleiben ihre Fundstücke aus der Natur, aber noch in ihnen waltet ein élan vital. Der Impuls, der in allem Leben wirkt, wird spürbar als Schwung der Einzelheit, Dynamik des Details.

■ Planmäßig geöffnet bis Ende Mai.
■ Der Katalog ist für fünf Euro erhältlich in den Hofer Buchhandlungen Kleinschmidt und Buchgalerie Altstadthof sowie beim Museum Bayerisches Vogtland per E-Mail unter museum@stadt-hof.de oder telefonisch unter
(0 92 81) 8 15 27 00.



Ranklotzen, nicht kleckern

Das herrschaftliche Publikum barocker Hof- und Schlosstheater gierte nach Überwältigung durch glanzvolle Effekte. In der Bayreuther Klaviermanufaktur Steingraeber illustriert eine interaktive Ausstellung, wie sie bewerkstelligt wurden.

Von Michael Thumser

Bayreuth, 20. März. – Theater ist, wenns blitzt und kracht. Es hat, gefälligst, ein Stück besser zu sein als die Wirklichkeit, lauter, greller, bunter … unwirklicher. Realismus, das ist bloß jene Richtung der Kunst, die so tat und tut, als könnte sie die Welt imitieren, dem Leben die Schminke abreiben und die richtige Welt, das echte Leben wahrhaftig zeigen. So gesehen, wäre Realismus ganz und gar nicht nach den Herzen der geputzten und gepuderten Herrschaften gewesen, die vor dreihundert und mehr Jahren vor den Bühnen der Hof- und Schlosstheater Platz nahmen, um sich an grazilen Zierereien und ausgetüftelten Attraktionen zu delektieren. Am und im Markgräflichen Opernhaus zu Bayreuth, einem der besterhaltenen und schönsten Theaterbauten des Barocks und Rokokos, ist weitestgehend unverfälscht zu sehen, was für eine Welt sich die Hochwohlgeborenen damals ersehnten: eine Gegenwelt der Imagination, ein Anderswo der Ideale, eine Insel der Seligen.

     In der Klaviermanufaktur Steingraeber ist zu erfahren, wie sie hergestellt wurde. Es galt zu klotzen, nicht zu kleckern. Denn die Sensationen, die sich die Fantasie immer neu ersehnte und ersann, musste in rauer Wirklichkeit erst umständlich erschaffen werden, mit sprühender Einfallskraft entworfen, bewerkstelligt durch zähe Körperkraft. Erstere, das Gehirnschmalz des Erfinders und Mechanikus, steuerten mal mehr, mal weniger gut bezahlte Koryphäen bei; das andere, die Muskelspannung und der Schweiß, um die Apparaturen zum Laufen zu bringen und in Gang zu halten, kam von Energieträgern aus den unteren sozialen Schichten. Die Theater des Barocks – und Bühnen, die ihnen später nacheiferten – waren Fabriken: Maschinensäle, die erhabene Einbildungen produzierten und Sehnsüchte projizierten, Wünsche auf Zeit wahrmachten und für ein paar Stunden aus den Augen und dem Sinn vertrieben, was Angst und Sorgen nährte. Hohen Regenten wie kleinen Duodezfürsten waren dafür keine Kosten zu hoch und keine Mühen – ihrer Bediensteten – zu groß.

     Von Klaus-Dieter Reus kuratiert, unterrichtet die Bayreuther Schau auf Bild-Text-Tafeln über die Baugeschichte, die Besonderheiten und die oft noch ursprünglich erhaltene Bühnentechnik von acht historischen Opern- und Schauspielhäusern der europäischen Aristokratie. Sie alle sind, ob imposant, ob zierlich, eins schöner als das andere: die deutschen Schlosstheater in Gotha und Ludwigsburg sowie das Goethe-Theater in Bad Lauchstädt, die schwedischen Schlosstheater Gripsholm und Drottningholm, jenes im böhmischen Český Krumlov (Krumau) und auf dem Moskauer Landsitz Ostankino sowie das Petit théâtre de la reine, für Königin Marie-Antoinette im Trianon-Park von Versailles errichtet, und das weit größere Theater im benachbarten Riesenschloss.

Bühnenphysik: Hub und Druck, Schub und Zug

Dort war es sogar möglich, mittels einer mächtigen Hebekonstruktion den kompletten Zuschauerraum so emporzuschieben, dass sein Niveau mit der Bühnenfläche eine Ebene ergab; so entstand viel Platz für ausschweifende Bälle und Diners. Überhaupt waren und sind Hub und Druck, Schub und Zug die prinzipiellen Kräfte auch jeder Bühnenphysik. Mithilfe von verborgenen Wellen, Rädern und verwirrend verlegten, verknüpften oder einander kreuzenden Seilen traten auf der Spielfläche, an ihren Seiten oder über ihr Kulissen und Soffitten einzeln oder in Gruppen zutage und verschwanden wieder, im Boden öffneten sich mittels Versenkungen Abgründe, oder es tauchten Plateaus aus ihm auf. Es gab versenkbare Rampenbeleuchtungen, spiralig gedrechselte Horizontalwalzen, die, um ihre Achsen gedreht, den bedrohlichen Wellengang auf hoher See simulierten, Wolken, die über den Himmel zogen, um sich dunkel zu Unwettern zusammenzuballen oder einschwebende Gottheiten oder Himmelsboten zu transportieren. Um dem Feinsinn der aufgeführten Opernpartituren und Dichtwerke zu entsprechen und der allerdurchlauchtigsten Schaulust zu genügen, dachten die Erfinder explizit großräumig; und robuste Zimmerleute fügten Meisterstücke einer vergleichsweise grobschlächtigen Mechanik zusammen.

     Theater ist etwas, das man sehen und hören muss – auch ohne Schöngesang und Schauspielerdeklamation. Den Spieltrieb der Besucherin und des Besuchers befriedigt die Bayreuther Ausstellung durch Nachbauten einiger ausgeklügelter Gerätschaften, solcher vor allem, die hinreichend Lärm erzeugten. Von der Schreinerwerkstatt der Klaviermanufaktur unterstützt, sägten, hobelten und verzahnten sie Schülerinnen und Schüler des Bayreuther Gymnasiums Christian Ernestinum. Wer bei Steingraeber Hand anlegt – was ausdrücklich erlaubt ist –, vermag grollende Naturgewalten zu entfesseln: Mittels eines übermannshohen Drehkreuzes rollen vier mit Holzklötzen benagelte Scheiben über einen Bohlenboden, so dass es gehörig donnert; für ähnlichen Radau sorgte einst auch, mit Steinen beladen, ein Handwagen auf kantigen Rädern. Eine Stabwalze, durch eine Kurbel mal langsamer, mal schneller in Rotation versetzt, reibt dergestalt an einer darübergespannten Stoffbahn aus Leinen, dass mal ein leichter Wind zu blasen, mal ein schneidender Sturm zu pfeifen scheint. Durch die hohlen Kreuzarme eines vertikalen Holzungetüms prasseln, wenn man sie kreisen lässt, zahllose Erbsen, sodass es klingt, als rausche ein Platzregen nieder. Nicht für den praktischen Gebrauch vorgesehen ist ein Glasröhrchen voller Bärlappsporen: In eine offene Flamme geblasen, ergäben sie verpuffend einen veritablen Blitz. Special effects des Feudalismus: besser als die Wirklichkeit.

     Bigger than life: So wie in Barock und Rokoko behelfen sich Bühnentechniker nicht mehr, seit Elektrik und Elektronik die Effektmaschine Theater durch immer feineres Raffinement perfektionieren. Die Werkleute, die vor dreihundert und mehr Jahren schnaufend an Seilen zogen und an Wellen, Walzen, Winden haspelten, waren keine Künstler, nicht einmal Schausteller, aber unsichtbar halfen sie doch, Kunst so herzustellen, dass sie sich sehen lassen konnte und genießen ließ. Theatermacher waren sie und haben, ordentlich ranklotzend, diesen Titel redlich verdient.

Je nach Lage der Corona-Pandemie mindestens bis zum 7. April, eine Verlängerung bis zum Ende der Osterferien ist wahrscheinlich; montags bis freitags 10 bis 16, ab 1. April montags bis freitags von 10 bis 18, samstags bis 14 Uhr.
Im Internet: hier lang (Achtung: Terminangaben von 2020). 



Es macht „Booom“, Baby

Intensive Erzählungen, druckvolle Miniaturen: In einem spannenden Band versammelt Roland Spranger noch junge und schon ältere Prosa. Darin verwickelt der arrivierte Hofer Autor Alltagsmenschen in Situationen, die nie ganz wirklich sind.

Von Michael Thumser

Hof, 16. März – Von der erzählenden Prosa kommt Roland Spranger, und vom Theater. Manche seiner Sätze aber tun so, als käme der Autor vom amerikanischen Kino und als hätte er sie sich für Drehbücher ausgedacht. „Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert“: Dieser Satz, aus der Erzählung „Zermatscht“, stammt denn auch nicht von ihm, sondern aus „Das A-Team“, einem US-Actionreißer. „Die Vergangenheit existiert nicht wirklich. Sie ist nur in unserem Kopf“: Behauptet das nicht einer in „Matrix“? Nein, das ist echter Spranger. „Nichts ist für einen Menschen so gefährlich wie sein eigener Kopf.“ Gut gesagt, von wem auch immer.

     So knapp, abgebrüht und überlegen kommen derlei Aphorismen daher, dass auch ein Studioschreiber aus Hollywood sich dazu gratulieren dürfte. Spranger, der arrivierte Hofer Dramatiker und (Krimi-)Autor, hat ihn drauf, den Sound, der immer ein bisschen nach Raymond Chandler und dessen Schnüffler Philip Marlowe klingt: die oft sarkastisch witzige, gelegentlich wehmütige Tonart der harten Hunde und der verlorenen Seelen, der Scheiternden, die aufrecht sterben (wollen), der stoischen Trinker und der Sieger von jener Art, die auf den Kinoleinwänden und Bildschirmen gemessenen Schritts und gelassenen Blicks von dannen ziehen, während hinter ihnen eine Ölraffinerie oder ein Sprengstofflager flammenspeiend explodiert.

     Einmal heißt es in seinem Buch: „Wenn man gerade aus dem Kino kommt, sieht alles andere nicht echt aus.“ Als Spranger an den – teils älteren, teils ganz frischen – Erzählungen der Sammlung „A Kind of Blue“ werkelte, scheint er oft ins Kino gegangen zu sein. Denn die Welt der Prosastücke, in denen er sich oft kurz fasst oder die er, seltener, dann aber kunstvoll novellistisch, ausbreitet, sie will nie ganz wirklich sein, nicht realistisch, schon gar nicht regelgerecht. Nie stimmt alles, irgendwas geht schief da mit schwärzestem Humor, wie das Eheleben des Rasentraktor-fahrenden Aluhuts in „Nacktschnecken und Kondensstreifen“, dort so tragisch, dass es an Herz und Nieren rührt. Nirgends ist es für ausgedachte Menschen gefährlicher als in Sprangers „eigenem Kopf“.

Gemetzel-Träume à la Tarantino

Wie den Titel des Buchs hat er viele Komponenten seines Erzählens amerikanisiert: Die Männer rufen ihre Partnerinnen mit „Kleines“ oder „Hey Baby“; trifft die Abrissbirne eine Wand, machts „BOOOOOOM“; manche Gewaltfantasie reicht an die Gemetzel-Träume Quentin Tarantinos heran. Überhaupt empfiehlt es sich, in Filmen, Serien, Songs (auch älteren) aus Übersee wenigstens oberflächlich bewandert zu sein. Wie bei Chandler und Marlowe klammern sich einige Figuren unbeirrt an ihre ramponierte Wahrheitsliebe, andere bindet der gelehrige Autor hämisch an „Austragungsorten des Lebens“ fest, an denen sie gefangen zappeln wie ein Käfer im Weinglas.

    Flott pflegt Spranger einen flapsigen Soziolekt, der von Gegenwartsnähe vibriert und bisweilen großspurig vor Coolness knattert. Zu dunklen, dennoch schillernden Bildern gedeiht die Lässigkeit des Stils, zu Sprachbildern auch, die zu Stilblüten reifen würden, funkelten sie nicht so brillant: „Auf der anderen Seite der Gleise macht der Park auf dicke Hose. Still, starr, dunkel.“ Klingenscharf und pfeilspitz weiß Spranger seinen Jargon zu schleifen, sodass er auch in psychologische Tiefen vorstößt: „Kleinkinder schließen die Augen, damit sie niemand sieht. Mit dem Erwachsenwerden verlieren sich alle Zufluchtsorte.“ In solchen Momenten verlieren sich Blockbuster-Optik und -Geräusch. Dann wundert sich der einheimische Leser, die Leserin auch nicht, wenn in Sprangers settings unversehens der Hofer Kugelbrunnen, der Bismarckturm auftauchen.

     Sogar beim Schlappentag kehrt man lesend ein. „Filmriss“ heißt die Erzählung, was sich keinem Malheur im Projektorraum eines Lichtspielhauses verdankt, sondern mehreren Maßen auf Hofs traditionsreichem Starkbierfest. Das böse Erwachen des Trinkers mündet in einen Vaterschaftstest unter Entführungsbedingungen. Lebhaft belegt diese Geschichte, wie es dem Autor gelingt, in seinen stilisierten, vorsätzlich nie ganz „echten“ Fiktionen Normalzustände, -vorkommnisse, -empfindungen der Alltagswirklichkeit unterzubringen. Am eindrücklichsten gelingt ihm dies in den letzten Texten des Buchs, aus denen – statt amerikanischer – deutsche Regisseure wie Christian Petzold oder Andreas Kleinert gute Filme machen könnten: In „Blind“ versucht einer auf ein Leben vorauszuschauen, in dem er nichts mehr wird sehen können; in „Tot sein“ ringen zwei erwachsene Männer und ein kleines Kind darum, das Sterben zu begreifen; ...

     ... in „C“ missrät ein Drogentransport blutig zum Schlamassel. Beispielhaft bündig gehorcht diese Miniatur einer tödlichen Konsequenz. Elf Seiten unter erst untergründigem, dann eskalierendem Hochdruck: Als er sich entlädt, kommt niemand gelassenen Blickes und Schrittes davon.

Lesungen mit dem Autor: 28. Mai, Suhl, Kulturfabrik, 19 Uhr; 18. September, Hof, Galeriehaus, 19.30 Uhr (zusammen mit M. Kruppe); 21. September, Greiz, Stadtbibliothek, 19 Uhr.




Hofs Bürgerstolz: die Schulen

Zwei Historiker setzen zunftgerecht die „Chronik der Stadt“ fort. Dr. Axel Herrmann und Dr. Hans Schönemann erzählen, wie sich die Bildungseinrichtungen während mehr als fünfhundert Jahren entwickelten. Das Buch ist für Gelehrte wie für interessierte Laien ein Gewinn.

Von Michael Thumser

Hof, 13. März – Sechs Jahre: Das ist nicht viel. Nicht, wenn man die Spanne zum Beispiel ans Alter des Hofer Jean-Paul-Gymnasiums (JPG) anlegt, das heuer seinen 475. Geburtstag feiert. So recht ins Gewicht fallen sechs Jahre noch nicht einmal gemessen an der bisher neunzigjährigen Entstehungszeit der „Chronik der Stadt Hof“.

     Aber in einem Gelehrtenleben, da wiegen sechs Jahre schwer. Trotzdem waren Axel Herrmann und Hans Schönemann bereit, so viel Zeit aufzuwenden, um die bis dato elfbändige „Chronik“-Edition mit einem „Band XII“ fortzuführen. Aus zahllosen, vielfach noch nie verwerteten oder auch nur ermittelten Quellen gewannen die beiden Doktoren der Historiografie eine ausführliche „Schulgeschichte der Stadt Hof“. Am Donnerstag stellten sie ihr opus magnum der Oberbürgermeisterin und der Öffentlichkeit vor. Und Eva Döhla nimmts „persönlich“: Als Gymnasiastin, erinnert sie sich, genoss sie sowohl den Unterricht Herrmanns als auch den Schönemanns.

     „So etwas gibt es in keiner anderen vergleichbaren Stadt“, sagt Hans Schönemann und meint damit eine Reihenpublikation, in der die Entwicklung einer Kommune anhand so vieler Einzelzüge und so gründlich nachgezeichnet wird. „Das ist ziemlich einzigartig.“ In den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts nahm Dr. Ernst Dietlein, der (als überzeugter Nationalsozialist heute übel beleumundete) Gründer und erste Leiter des Stadtarchivs, die Mammutaufgabe in Angriff. Schon er hatte eine Schulgeschichte ins Auge gefasst. Die kam nun, herausgegeben und verlegt vom sogenannten Langnamenverein, dem Nordoberfränkischen Verein für Natur-, Geschichts- und Landeskunde mit Sitz in Hof, nach besagten sechs Jahren minuziöser Forschungen als dicker, mit den Stadtfarben Gelb und Schwarz in Leinen gebundener Wälzer heraus. Weil die Autoren unentgeltlich arbeiteten, etliche Vereinsmitglieder ehrenamtlich halfen und die Stadt und die Wolfgang-Siegel-Stiftung die Edition finanziell unterstützten, kostet das Buch nicht, wie sonst für dergleichen üblich, sechzig oder siebzig, sondern knapp zwanzig Euro: „Ein Verkaufspreis“, sagt Herrmann als Vorsitzender des Langnamenvereins, „der für Werke dieser Art unschlagbar ist.“

Wissenschaft, lesbar

Unschlagbar ist das Buch auch durch die tiefe wissenschaftliche Durchdringung seines Themas. Anders als Dietlein und andere Autoren älterer Bände erschlossen Herrmann und Schönemann ihren Stoff so weit irgend möglich aus historischen Primärquellen. Dafür durchforsteten sie das Hofer Archiv, aber auch Bestände in Bamberg und Nürnberg. Dessen ungeachtet enthielten sie sich beim Schreiben des sperrigen Fachjargons, wie Historiker ihn sonst gern pflegen: Wie um die Hieb- und Stichfestigkeit ihrer Erkenntnisse war es ihnen um die gute Lesbarkeit der Texte zu tun. Herrmann: „Das ist kein trockenes Handbuch, sondern spannende Lektüre für jeden, der bereit ist, ein wenig Zeit zu investieren.“

     Aus dem reich bestückten, sorgsam gepflegten und wohlgeordneten Archiv des JPG bediente sich Hans Schönemann nicht zum ersten Mal. Entscheidende Dienste hatte es ihm bereits geleistet, als er seine Dissertation über die Geschichte des Gymnasiums von der Gründung 1546 im aufgelassenen Franziskanerkloster bis ins Jahr 1811 abfasste. Was er damals auf 519 Seiten ausbreitete, findet sich im „Chronik“-Band zu gut zwanzig Druckseiten komprimiert; weitere hundert erzählen darüber, was danach geschah. 1811 nämlich fühlte sich das Königreich Bayern bemüßigt, der Stadt die Würde, ein Gymnasium zu beherbergen, abzuerkennen; was sich indes die Hofer nicht gefallen ließen. „Fortan finanzierten sie es mit ihrem eigenen Geld“, berichtet Schönemann – überzeugendes Zeichen eines opferbereiten Bürgersinns, und nicht das einzige.

     Allerdings hatte Hof, wie Axel Herrmann sagt, „schon immer zu wenig Geld“. Auch bei den Schulen musste es „arg sparen“, tat aber doch immer viel für sie, „so innovativ, dass die Stadt in bestimmten Bereichen den Nachbarn Bayreuth oder Bamberg sogar voraus war“. Beispielsweise manifestierte sich der Bürgerstolz in der Bestallung eines hauptamtlichen Schulrats: „So konnte die Stadt den Einfluss der Kirchen aufs Schulwesen zurückdrängen.“

     Zur Schulstadt Hof gehören beileibe nicht nur, aber besonders weit ausstrahlend die drei Gymnasien. Das 1946 nach dem hochfränkischen Dichter benannte Jean-Paul-Gymnasium steht in vielem beispielhaft für die protestantischen Gymnasien in Bayern und nimmt seiner langen Tradition wegen in der „Chronik“ breiten Raum ein. Daneben wirken fruchtbar das weit größere Schillergymnasium als ehemalige Gewerbe-, dann Real-, dann Oberrealschule und das Johann-Christian-Reinhart-Gymnasium, das aus einer Höheren Töchterschule hervorging. Erst recht, und schon seit dem Mittelalter, wurde und wird in der Stadt an „Volksschulen“ unterrichtet. Heute blüht der Lehrbetrieb Grund- und Hauptschulen, Berufs- wie an Sonderschulen, den Fachoberschulen und Fachakademien, an Real- wie an Volkshochschulen. Den Schlusspunkt setzt im Buch das zehnte Kapitel mit einem Blick auf die beiden Hochschulen, jene für den Öffentlichen Dienst und die University for Applied Sciences.

Regeln von oben

Wenn zwei Autoren ein Werk verfassen, ist klare Arbeitsteilung unverzichtbar. Über die Anfänge des – wissenschaftlich zuvor noch nie ergründeten – Volksschulwesens, über das JPG und die Hochschulen informieren Texte Hans Schönemanns; die anderen Kapitel arbeitete Axel Herrmann aus. Der verweist auf die Angewohnheit der Administration im Bayernland, auch im Schulwesen gern von oben die Regeln aufzustellen. Was aber nicht in allen Belangen der Fall war und nicht immer gelang: „Die Einführung des achten Volksschuljahres in den Zwanzigerjahren war eine Sache der Kommune“, und auch über Lehrpläne beschloss seinerzeit die Stadt. Andererseits wollte es München zunächst nicht zulassen, dass 1922 in Hof, so wie in Bamberg, aus der Realschule eine Oberrealschule werde – „das haben sich die Hofer erkämpft“.

     Angesichts solcher zentralistischer Begehrlichkeiten mahnt Dr. Schönemann nach wie vor zur Vorsicht: Das Staatsarchiv in Bamberg habe schon einmal versucht, sich die Hofer Archivalien einzuverleiben. „Gesetzlich ist das möglich.“ Auf die konzentrierte Arbeit während sechs Jahren zurückblickend, kann er guten Gewissens versichern: „Man sieht ja: Auch hier in Hof wird geforscht.“ Momentan ruht die Angelegenheit zwar, trotzdem bittet Dr. Hermann die Oberbürgermeisterin, ein aufmerksames Auge auf derlei Vorstöße zu haben. Für den Hinweis dankbar, garantiert Eva Döhla, darauf dürfe man sich verlassen. Große Sorgen macht sich Herrmann erst einmal nicht: „Die Hofer haben nie klein beigegeben.“

Dr. Axel Herrmann, Dr. Hans Schönemann: Schulgeschichte der Stadt Hof (d.i.: Chronik der Stadt Hof, Band XII), Nordoberfränkischer Verein für Natur-, Geschichts- und Landeskunde e.V., 552 Seiten, 70 Abbildungen, gebunden, 19,80 Euro.



Kartenhaus im Kosmos

Den erstmals in Hof vergebenen Armin-Sandig-Preis erhält der in Berlin lebende, in Hof geborene Künstler Hermann Rudorf. Eine Ausstellung mit Arbeiten ausgewählter Bewerber ist in der Freiheitshalle zu sehen – vorerst virtuell. Sie zeigt: Auch andere, etliche, kämen für die Auszeichnung infrage.

Von Michael Thumser

Hof, 2. März– An prominentem Platz, wie es sich gehört, hat Kulturamtsleiter Peter Nürmberger die preisgekrönten Arbeiten aufhängen lassen. Man begegnet ihnen, wenn man sich in der Hofer Freiheitshalle vom unteren Foyer des Festsaals ins obere aufmacht und auf halber Treppe verweilt. Von der Balustrade auf Abstand gehalten, erblickt die Betrachterin, der Betrachter sie fast schwebend: drei farbstarke abstrakte Malereien, Acryl auf Mischgewebe, hundert mal achtzig Zentimeter groß. Zu einer Serie namens „diagonal 2017“ gehören sie. Dem Titel gemäß bilden schräge, aber auch horizontale Linien ein Raster für drei-, aber auch mehreckige Flächen, die jeweils sorgfältig monochrom gefüllt sind. Über sie, umso gewaltsamer, hat der Künstler mit triefendem Pinsel große Farbpunkte- und -wirbel, -streifen und -schlieren gesetzt. Signale von Wildheit: Mit rohem Vorsatz torpedieren sie die beschwichtigende Ruhe der Ordnung.

     Fünftausend Euro hat die Dr.-Hans-Vießmann-Stiftung zur Verfügung gestellt: Der Armin-Sandig-Preis ist ziemlich hoch dotiert. Dem in Berlin lebenden Künstler Hermann Rudorf wurde er am Donnerstag zugesprochen. Ausgelobt haben die erstmals vergebene Auszeichnung die Stadt Hof und der Kunstverein, unterstützt von der Hamburger Armin-Sandig-Stiftung. Ihr Namenspatron, der seit 1951 in der Hansestadt lebte und arbeitete und dort 2015 starb, war 1929 in Hof zur Welt gekommen, wo 1956 auch Rudorf geboren wurde. Als arrivierter Maler ist er seit 1989 in Berlin daheim.

     Nicht weniger als 650 Künstlerinnen und Künstler beteiligten sich am Wettbewerb. 29 von ihnen sind nun in Hof kennenzulernen: Die Foyers des Festsaals und das Große Foyer der Freiheitshalle präsentieren an die hundert, zumeist exquisite, Beispiele einer Moderne zwischen Lebendigkeit und Lethargie. Begegnen kann man ihnen zurzeit virtuell, via Internet: Eine 3D-Präsentation vermittelt einen Eindruck von der Verteilung und Wirkung der Bilder im Raum. Eingehende Studien lassen sich ebenso via Facebook betreiben.

     Mit gebotener Dezenz kann man dort auch den Geschöpfen Lena Aders zu Leibe rücken. Die 33-Jährige, mit dem 1500 Euro schweren Förderpreis bedacht, zeigt ihresgleichen, also junge Frauen, die vielleicht sie selber sind, in symbolischen Situationen und Pastelltönen von nuancierter Intimität. „Das müde Tier“ – ein Mädchen, auf unbekleidete Beine und Arme reduziert – ist um seine Aktivität gebracht, weil Schraubzwingen seine Hände an einer Art Tischplatte fixieren; eine Frau, mit entblößten Brüsten, meditiert über den Knochen eines Brustkorbs – der Tod und das Mädchen: eine Variation zum uralten Thema, kaum makaber, wunderbar still.

     Oft überrascht, gut unterhält die Schau und führt vor, wie bewundernswert bewusst und selbstbewusst die Künstlerinnen und Künstler ihre Stoffe und Werkstoffe, Formen und Formate wählen und abwechseln. Unterglasurmalerei auf Keramikfliesen trägt Dana Widawski bei: Ihre „Drachenbezwingerin“ hat den Gegner durch schiere Lust so gründlich fertiggemacht, dass die unterworfene Kreatur nur noch hechelt. An Piet Mondrian lassen Susanne Werdins drei Holz-Stücke denken, die sich aber, anders als bei dem Niederländer, aus der Fläche zum konstruktivistischen Relief erheben. Durch Miniaturformat unterstreichen die witzigen Früchte- und Gemüse-Stillleben von Birgit Dehn ihre Verspieltheit.

     Lena Aders figürliche Arbeiten geben (durchaus im ästhetischen Sinn) ein schönes Beispiel ab für einen Grundtenor der Schau: Nur eine – freilich repräsentative – Minderheit bilden Hermann Rudorf und seine abstrakten Gestaltungen, zusammen etwa mit Gihyun Park, der diagonal-knallige Farbwellen über die Leinwand treibt, oder Katrin Günther mit ihren in metallischem Schwarz-Weiß fadendünn getuschten, faszinierend räumlichen Explosionen von Klingen und Kuben, Spießen und Splittern. Dennoch: Haben sich die Mittel und Methoden ungegenständlicher Kunst, in denen man sich, zugegeben, bequem einrichten kann, nicht doch alternd abgenutzt? Ehrte die Preisjury Rudorf womöglich eher seines Renommees und seiner regionalen Herkunft als dieser drei Bilder wegen?

     Um sie herum hielt mimesis überzeugungskräftig Einzug in die Freiheitshalle und ist dort zahlenmäßig deutlich in der Übermacht: mit Bildern einer nachgeschaffenen oder imaginierten Wirklichkeit, des Realismus oder Surrealismus. So „neu“ ist die jüngste Phase der „neuen Gegenständlichkeit“ ja wirklich nicht: Dass sie begann, galerie-, publikations-, hof- und Hof-fähig zu werden, liegt auch schon wieder zwanzig Jahre zurück. Unter Rudorfs Konkurrentinnen und Konkurrenten aus jener Richtung gelangten etliche mit virtuos geübter, mitunter altmeisterlicher Technik zu stupenden Bilderfindungen, denen die Ehrung gleichfalls zugestanden hätte. Warum nicht dem 1988 wie Rudorf in Hof geborenen Jan Gemeinhardt? Wie ein Caspar David Friedrich dieser Tage, nur ohne dessen guten Glauben an Zukunft und Ewigkeit, zwingt er den Blick auf ein bedrohlich-surreales Waldsterben, das schon mal so aussieht wie die letzten schwarzen Wrackreste eines Segelschiffs.

     Urständ feiert der fantastische Realismus; unverwechselbar bei dem gebürtigen Kulmbacher Stephan Klenner-Otto, einem Meister grafischer Skurrilitäten: Frivol treten seine Zeichnungen dem Betrachter mit pflanzlicher Erotik entgegen, etwa einem „Gestänge“, das weibliche und, mehr noch, männliche Genitalien zitiert und selbst der dazwischengeschalteten unschuldigen Birne ein Aroma süß-saftiger Anzüglichkeit verleiht. Ernsthaft (oder nicht doch ironisch?) kehrt Anna Fedorov mit Kohle- und Pastellzeichnungen bei den halb menschlichen, halb dämonischen Wesen Hieronymus Boschs ein. Der famose Klaus Busch, mit allen Wassern der Zeichen- und Farbgebungskunst gewaschen, lässt in einem Hallenbad Menschen in ein Becken voller Himmel springen, während daneben ein Mann, ekstatisch dem „Größenwahn" verfallen und auf einem kosmischen Kartenhaus knapp über der Erdatmosphäre balancierend, versucht, mit einem viel zu kleinen Lasso den Mond einzufangen. Erik Schuberts „Große Stadt“ ist eine Mini-Megacity, die sich wie die Stacheln eines Igels auf dem Bauch einer indigenen Bildhauerei aus Schwarzafrika sträubt, als ginge die Figur mit dem Erbe des Kolonialismus oder dem Fluch der Globalisierung schwanger.

     So und ähnlich mischt sie sich immer mal wieder in die oft abgründigen Sujets ein – die Satire, die in der Ausstellung sarkastisch aufblitzt. Für sie steht desgleichen Alexander Gutsches formal strenge Karikatur eines „alleinerziehenden“ Männchens: Inmitten eines grünen, dennoch merkwürdig vegetationslosen Waldes aus kerzengerad-astlosen Stämmen pinkelt er einen Baumstumpf an, vielleicht um ihm düngend zu neuem Wachstum zu verhelfen. Auch dem Thema „Tod und Mädchen“ steuert der Künstler eine Variation bei, eine Botero-dicke, splitternackte Rothaarige, die mit genussvoll geschlossenen Augen einen noch nackteren Geliebten auf dem Schoß schaukelt: ein Skelett. Oder die „Madonna Litta“ des italienischen Renaissancemalers Giovanni Boltraffio: Von Zhenya Li frech parodiert, darf sie das rote Kleid, den blauen Mantel behalten und weiter himmlisch-hübsch vor Fenstern sitzen, die in die Weite von Fels- und Wolkenbergen weisen; allerdings hat sich der Jesusknabe zu einem strammen Bengel ausgewachsen, der statt an der Gottesmutterbrust am Fläschchen nuckelt, solange Maria am Handy daddelt.

     Den stärksten Eindruck indes macht in der Schau das Unheimliche, Bedrohliche: so Theora Krummels „Aufnahme“ in Grau- und Anthrazit-Tönen aus Acryl – die Anonymität eines düsteren Hauseingangs in fast lichtlosem Zwielicht mit einem Schalter, wo sich freudlose Wesen anmelden können, wofür auch immer. Das Leitmotiv Düsternis vollendet fotorealistisch Mathias Otto mit einer sozusagen inhaltsleeren nächtlichen Straßenszene: parkende Autos, Leuchte, Dreißiger-Zonen-Schild – „Hof bergauf“, kaum überbietbare Einsamkeit. Die aber konterkariert der Künstler poetisch-pathetisch im „Ewigen Ruf“: Da hat jemand in seiner Schlafkammer das Licht schon gelöscht, schaut aber noch über die Bettdecke hinweg zum geschlossenen Fenster, vor dem eine Art Playmobil-Figur matt schimmernd den Weg hinaus in eine nächtlich-geheimnisvolle, dennoch einladende Natur unter ein paar Sternen weisen oder gehen will. Wär das nicht was gewesen für den ersten Preis?

     Und für den zweiten vielleicht Tomasz Paczewski, seiner verpixelten, ihrer Individualität beraubten Menschenwesen wegen? Die pointillistischen, fast einfarbigen Arbeiten – Öl auf Seidenpapier und Leinwand – muten an, als hätten sich kleine Zeitungsfotos auf die Größe von Zeitungsseiten ausgedehnt. Oder doch eher Melanie Siegel? Auf grüne Tennisplätze oder einen Swimmingpool in einer Wiese schaut sie wie von einer Drohne aus herab und setzt Linie und Fläche, Geometrie und sparsame, fein gestufte Farbigkeit scheinbar abstrakt in ein wirklichkeitskonformes Verhältnis.

     Auf halbem Weg, auf halber Treppe, in halber Höhe, umgeben von so vielem und Vielfältigem und wie abgewandt davon, schweben die drei preisgekrönten Abstraktionen. Farbflächen, Farbschlieren, rinnende Tropfen. Schön für den, dem das genügt.

Bis zum 18. April.
Die Preise werden überreicht, sobald persönliche Treffen mindestens in kleinem Rahmen wieder erlaubt sind.
Im März soll ein Katalog mit allen Arbeiten der Schau erscheinen und im Buchhandel erhältlich sein.



Die 100 000-Stunden-Bibel

Wer liest sie noch, die „Heilige Schrift“? Wer kann und mag die antiquierten Texte begreifen? Seit Kurzem wendet sich die neue „Basis-Bibel“ gedruckt und digital vor allem an junge Leute. Die Tradition ehrenwerter Übersetzungen setzt sie in modern-einfacher Sprache fort.

Von Michael Thumser

27. Februar – Geht ein Übersetzer zu Werke, ist seine Leistung Handwerk und Dichtwerk zugleich. Schon wenn ers mit Poesie aus fremder Feder zu tun hat, liegen die Probleme auf der schreibenden, oft stockenden Hand, selbst wenn er besten Wissens und Gewissens vorgeht. Wie soll er das Gleichgewicht halten zwischen dem fremdsprachigen Wortlaut und der Bedeutung, die er seiner, zum Beispiel deutschen Version beilegt? Wie weit reichen seine Fähigkeiten, die Ausdrucksnuancen und absichtsvollen Doppeldeutigkeiten, die Sprachspiele und -atmosphären des Originals zu bewahren? Wie einem fremden Kulturkreis, einer entfernten Epoche gerecht werden, zum Beispiel den Geschichten und Bildern, Glaubens- und Lehrsätzen der Bibel, die sich die Menschen des Orient schon längst erzählten, bevor sie im neunten Jahrhundert vor Christus begannen, sie aufzuschreiben? Die Intention eines Autors ermittelnd – kann der Übersetzer sicher sein, dabei über ein reines Vermuten hinauszukommen? Und was, wenn er einen Satz, eine Passage schlicht nicht versteht?

     Weit reicht die Spannweite seiner Verantwortung. Zwar wird der einheimische Leser an ephemeren Ungenauigkeiten oder gar Fehlleistungen in einem übersetzten Standardkrimi oder „heiteren Sommerroman“ wohl wenig Anstoß nehmen. Umso höhere Disziplin muss sich der literarische Dolmetscher auferlegen, sobald er sich Schriften vornimmt, bei denen er mit Abertausenden aufmerksamen Lesern rechnen darf. Größte Genauigkeit verlangen ihm Texte ab, die Abertausend Millionen von Menschen für heilig halten. Sechs Milliarden Menschen können, wenn sie nur wollen und man sie lässt, die Bibel in ihrer Muttersprache lesen – darf sich, von derlei Zahlen eingeschüchtert, ein Mensch überhaupt anmaßen, das Wort Gottes einzudeutschen?

     Er muss. Heute wie seit jeher arbeiten sich Geistes- und geistliche Wissenschaftler in nahezu allen Ländern an der Aufgabe ab, die Bibel in die ihnen eigene Sprache, wenn nicht gar den Dialekt ihrer Region zu übersetzen. Wie sonst sollte in der Bundesrepublik unsereiner, der nicht ‚vom Fach‘ (dem theologischen) ist, die hebräische Bibel der Juden, unser Altes Testament, lesen, wie die Jesusworte und Christenlehre des Neuen Testaments verstehen können, die einst die Evangelisten und der Apostel Paulus, andere, gleichgesinnte Briefschreiber und der Apokalyptiker Johannes auf Altgriechisch niederschrieben?

     Jetzt erfuhr in unserem Sprachraum das Interesse der Experten wie der frommen Gemeinden neuen Auftrieb durch eine Publikation, die sich ausdrücklich als sakraler Beitrag zu einer immer weltlicheren Welt versteht. Darum richtet sie sich mit zeitgemäßer Diktion, „klarer Sprache, kurzen Sätzen und umfangreichen Erklärungen“, wie es im Werbetext heißt, vor allem, wenngleich keineswegs nur an jüngere und wenig leseerfahrene Interessenten. „Basis-Bibel“ überschrieben die mehr als vierzig Bearbeiterinnen und Bearbeiter sie deshalb und hoffen, die „Übersetzung für das 21. Jahrhundert“ geschaffen zu haben. Zusammen investierten sie seit 2003 ungefähr 100 000 Arbeitsstunden in die insgesamt 31 170 Verse; 2010 und 2012 erschienen bereits das Neue Testament und die Psalmen und wurden seither über 200 000 Mal verkauft. Nun endlich liegt das Komplettpaket im Doppelsinn schwerwiegend vor: auf 2960 Druckseiten „Die Komfortable“ für 49 Euro, auf 1968 Seiten „Die Kompakte“ für 25 Euro. Obendrein ist der Text auch im Internet und via App zu haben. Denn „weltweit“, so teilt die Deutsche Bibelgesellschaft mit, ist dies „die erste Bibel, die die Anforderungen des digitalen Lesers berücksichtig“.

Mit Engelsgeduld

Wirklich lesen sich die aus dem Hebräischen, Griechischen und Aramäischen übertragenen Texte nicht umständlicher als die Spalten einer Tageszeitung: Nicht mehr als sechzehn Wörter enthalten die Sätze, zu jedem Hauptsatz tritt höchstens ein Nebensatz. Der Zeilenumbruch der „Komfort-Ausgabe“ berücksichtigt syntaktische und Sinneinheiten, sodass wie in zeitgenössischer Lyrik mal kürzere, mal längere, niemals lange ‚Verse‘ entstehen; den Lesefluss verlangsamt und intensiviert dies und fördert darum das Verständnis. Noch größer der Vorzug, den die Randspalten bieten: Dort sind Zentralbegriffe knapp und effektiv erklärt, sozusagen mit Engelsgeduld: überall dort wieder, wo sie auftauchen.

     Engagiert setzt diese „Bibel für die Generation Smartphone“ (Deutsche Welle) die jahrhundertelangen Bemühungen fort, den überlieferten Heiligen Schriften eine Gestalt zu verleihen, die sowohl den fremden Herkunftssprachen wie unserer Muttersprache genügt. 2009 trat schon einmal eine Bibelübertragung der besonderen, obschon ganz anderen Art ans Licht der Öffentlichkeit: Nach zehn Jahren Feinarbeit legte ein Gremium aus fast achtzig katholischen, evangelischen und orthodoxen Hochschulexperten die erste vollständige Übersetzung der Septuaginta vor, also der altgriechischen Ausgabe des Alten Testaments. Weil es sich um Grunddokumente des jüdischen Glaubens handelt, ließen sie sich klugerweise von jüdischen Kollegen beraten. Soweit reichte ihr Einverständnis, dass ein Rabbiner das Geleitwort der Edition mit unterzeichnete.

     Septuaginta: Schon die lateinische Bezeichnung klingt nach Geheimnis. „Siebzig“ bedeutet sie und bezieht sich auf den griechischen Titel Kata tous Hebdomekonta, was wiederum bedeutet: Fassung „gemäß den siebzig“ Gelehrten. So viele antike Philologen – und noch mehr: nämlich 72 – hätten, so erzählt die Legende, im dritten vorchristlichen Jahrhundert auf der Insel Pharos vor der ägyptischen Hafenstadt Alexandria in nur 72 Tagen die fünf Bücher Mose (die Tora) nebst weiteren heiligen Schriften der Hebräer in die koinè übertragen, also in die gehobene Umgangssprache der hellenistischen Kultur rund um das Mittelmeer; und zwar tats angeblich jeder Weise für sich. Zum Wunderbaren der Überlieferung gehört, dass alle 72, unabhängig voneinander, zu ein und demselben Ergebnis gekommen seien. Die Wirklichkeit sah, versteht sich, anders aus: Jahrhunderte waren nötig, bis das Konvolut langsam zusammengewachsen war.

Mancherlei Fragwürdigkeiten

Die alte Kirche und die Geistlichkeit des Mittelalters verließen sich ganz auf die Septuaginta und zogen, außer einigen Spezialgelehrten, den hebräischen Text nicht mehr heran. Die Juden ihrerseits wiesen den lateinischen zurück. Beim Vergleich der lateinischen Variante mit der originären Vor- und Ausgangslage sieht sich der einigermaßen bibelfeste Christenmensch durch mancherlei Fragwürdigkeiten verunsichert. Zum Beispiel, was die Mutter des Messias, also Jesu, betrifft: Erst die Septuaginta münzt die „junge Frau“, die dem Buch des Propheten Jesaja zufolge den „Gesalbten des Herrn“ zur Welt bringen soll, zur „Jungfrau“ um. Folglich sieht sich, wer unbeirrbar am Dogma von der Unberührtheit Marias festhält – weil er den Heiligen Geist, mithin Gott selbst als persönlichen Vater Jesu deklariert – in bedrückendem Erklärungsnotstand.

     Gleichfalls unter einer lateinischen Überschrift wurde die Vulgata bekannt. Sie galt Äonen hindurch getreu ihrem Namen als die „Landläufige“, „allgemein Übliche“ und bot die vollständige Heilige Schrift auf Latein, in der Welt- und Amtssprache des alten und vatikanischen Roms. Von vulgus, für niedere Kaste, rührt das Titelwort her; auch unser Volk und das Fremdwort vulgär wurzeln darin. Freilich, der breiten Masse war die Vulgata nicht zugedacht und enthält auch nichts Minderes oder gar Ordinäres. Als Herausgeber wichtiger Teile ist kein Geringerer nachgewiesen als Sophronius Eusebius Hieronymus, der 35-jährig von Papst Damasus I. den Auftrag dazu erhielt. Das Alte Testament übertrug er nicht aus dem Griechischen der Septuaginta, sondern kehrte dafür zum hebräischen Urtext zurück. Anders sein Neues Testament: Als der später zum Heiligen und Kirchenvater avancierte Gottesmann die Mammutarbeit daran angriff, im Jahr 383, lag bereits eine lateinische Fassung, die Vetus Latina, vor; mit ihr erleichterte sich Hieronymus die Arbeit an den Evangelien, indem er sie nur überarbeitete, um sie seinem Werk einzuverleiben. Die übrigen Schriften haben andere, unbekannte Autoren wiedergegeben.

Auf dem Weg zu den Germanen

In besagtem Jahr 383 segnete in Konstantinopel Wulfila (oder Ulfilas) das Zeitliche. Er hatte geholfen, das Christentum auf die Reise durch die Gebiete der germanischen Stämme zu schicken, indem er die Bibel ins Gotische transkribierte – buchstäblich: Sich von den Runen abwendend, ersann er eine extra Schrift für sein Projekt. Aber natürlich behauptet unter den deutschen Übersetzern Martin Luther den ersten Rang, als Sprachdolmetscher und Sprachkünstler, als Sprach-Begründer sogar. Manche meinen, er sei hierzulande überhaupt der erste seiner Art gewesen; sie irren. Schon zuvor hatten andere mit einer deutschen Bibel experimentiert: Achtzehn  Versuche wurden gedruckt, so 1466 in Straßburg – die „Menetlin-Bibel“ nach der Vulgata –, 1472 in München und 1483 in Nürnberg, ferner siebzig Teilausgaben. Publiziert wurden sie übrigens durchweg auf zweispaltigem Seitenspiegel. Erst der Wittenberger Reformator füllte jede Seite (außer dem Psalter) mit nur einer Spalte; so wurde die Bibel zum Studien- und Arbeitsbuch, mit reichlich Platz an den Rändern für Kommentare, Erläuterungen, Hinweise auf parallele oder weiterführende Schriftstellen – frühneuzeitliche „Links“, könnte man sagen.

     Luther durfte für sich in Anspruch nehmen, das grundlegende und eingehendste Unternehmen gewagt zu haben, indem er sich von 1521 an allein auf die hebräischen und griechischen Grundtexte bezog: „sola scriptura!“ Glück für ihn, dass er auf die bereinigte Fassung des griechischen Neuen Testaments zurückgreifen konnte, die der polyglotte Humanist Erasmus von Rotterdam erst drei Jahre zuvor veröffentlicht hatte. Luther selbst erwies sich philologisch als nicht ganz so sattelfest. Gleichwohl ließ er sich dadurch nicht von seiner Absicht abbringen, eine Bibel zu erstellen, die ihre Botschaft nicht unter die Intelligenzija ausbreitete; die ging ja ohnehin schon längst fachkundig mit ihr um. Vielmehr wollte er sich der riesigen Mehrheit der Ungebildeten mitteilen und strebte ihnen zuliebe nach Eingängig- und Lebendigkeit des Stils.

     Dem Klerus konnte das nicht gefallen, sah sich der doch in der Pflicht, vermutete Fehldeutungen und Banalisierungen, auch einen lästerlichen Missbrauch von der Schrift abzuwenden, die er außerdem als Mittel der Macht benutzte. Glaubenswahrheit war bislang nur aus dem Mund der Geistlichen geflossen. Gründlich musste ihnen eine Volksbibel widerstreben, die jedem, der ein Exemplar einsehen und lesen konnte, den unverstellten Weg zu Gottes Wort in seiner ganzen Fülle frei machte und ihm die Möglichkeit eröffnete, die Lektionen, Heilsversprechen und Strafandrohungen der – bei weitem nicht immer qualifizierten – Prediger nach eigenem Augenschein zu beurteilen. Was, wenn Splittergruppen um kluge Köpfe aus niederen Ständen sich mit eigenen Auslegungen und Doktrinen abspaltend selbstständig machten? Wie die missliebigen landessprachlichen Druckschriften, die Luther und andere Reformatoren massenhaft unter die Leute brachten, bedrohte jetzt sogar die unantastbare Bibel selbst die Einheit der allein seligmachenden, funktionell durchorganisierten Kirche.

Der himmlische Friede- für wen?

Mit Mut, indes nicht selbstherrlich, sondern skrupulös ging Luther vor. Dennoch konnte es nicht ausbleiben, dass ihm bei seiner ingeniösen Verdeutschung Fehler unterliefen. Zum Beispiel das zweite Kapitel des Lukasevangeliums: Gilt, dem griechischen Urtext folgend, der Friede, den im vierzehnten Vers die himmlischen Heerscharen als gute Gabe von oben verheißen, nur den Menschen, die nach Gottes „Wohlgefallen“ geraten sind? Oder haben, indem wir die Vulgata zurate ziehen, generell alle Menschen etwas davon, sofern sie „guten Willens“ sind? Oder soll jener Friede, Luther zufolge, „den Menschen ein Wohlgefallen“ bereiten, sozusagen uns allen ein allerhöchstes Pläsier? Die revidierte Luther-Bibel von 1984 erhellte das Griechische genauer: „Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens". Den Übersetzern der „Basis-Bibel“ erschien die Stelle wohl so wichtig, dass sie sich zu rigoroser, dabei sinnvoller Umformulierung entschlossen: „Sein Friede kommt auf die Erde / zu den Menschen, denen er sich in Liebe zuwendet.“

     Solcher Einzelheiten ungeachtet legte Luther den Grund zu unserer heutigen deutschen Hochsprache, indem er eine koinè, ein für „Landläufigkeit“ und „allgemeine Üblichkeit“ taugliches Idiom, für die Deutschen entwickelte, denen er sprichwörtlich „aufs Maul schaute“, um sie zusammenzusuchen. Das ging erst ganz schnell; und dauert dann umso länger. Ein Vierteljahr nur saß er, von den anerkannten Gräzisten Philipp Melanchthon und Georg Spalatin beraten, über dem „Newen Testament Deutzsch“, dem in Wittenberg edierten „Septembertestament“ von 1522, einer Art Bestseller; ein Dutzend Jahre grübelte er, zusammen mit Helfern, über dem Alten.

     Kurz bevor das „Septembertestament“ herauskam, brachte ein Verleger im Halberstadt eine andere deutsche Bibel auf den Markt; sie floppte, vom schlagartigen Erfolg der lutherschen Neuerscheinung überrollt. Andererseits herrschte und herrscht auch weiterhin kein Mangel an Versuchen, es besser als der Reformator oder zumindest ebenso gut, aber dem aktuellen Verständnis gemäßer zu machen. Verorten lassen sich alle Spielarten der Übertragungen irgendwo zwischen der urtexttreuen, aber sperrigen und wenig mitteilsamen Wort-für-Wort-Übersetzung einerseits und, andererseits, der Nachdichtung des Urtextes oder der Annäherung an ihn. Letztere ließ und lässt sich jeweils in der Sprache ihrer Zeit flüssig lesen, birgt aber das Risiko, bei entscheidenden Begriffen oder Passagen inakkurat oder nur ungefähr die authentische Bedeutung zu treffen. So viele deutsche Bibelleser die Heilige Schrift studieren, so viele deutsche Theologien formen sich in den Gehirnen heraus.

Wo bleibt die Poesie?

Wenn Sprache auch stets als Medium sachlicher Wissensvermittlung dient, so sollte sie doch, wo sie Historisches und Märchenhaftes, Prophetien und Visionen formuliert, desgleichen deren dramatische und emotionale, fantastische und poetische Reize kommunizieren. Soweit dichterisches Potenzial infrage kommt, sucht Luther seinesgleichen. Psalm 139, die Verse sieben bis elf – was für ein Beispiel: „Wo sol ich hin gehen fur deinem Geist? Und wo sol ich hin fliehen fur deinem Angesicht? Füre ich gen Himel, so bistu da. Bettet ich mi[ch] in die H[ö]lle, sihe, so bistu auch da. Neme ich flügel der Morgenröte und bliebe am eussersten Meer. So würde mich doch deine Hand da selbs füren und deine Rechte mich halten. Spreche ich, finsternis mügen mich decken, so mus die nach auch Liecht um mich sein.“ Lässt sich das inniger, freier, lyrischer sagen?

     Auch die „Gute Nachricht“, unter den „kommunikativen“, also vornehmlich auf gegenwartsnahe Verständlichkeit zielenden Übersetzungen bei evangelischen und katholischen Gläubigen weit verbreitet, bemüht sich um Rhythmus und Klang: „Fliege ich dorthin, wo die Sonne aufgeht, oder zum Ende des Meeres, wo sie versinkt: auch dort wird deine Hand nach mir greifen, auch dort lässt du mich nicht los.“ Trotzdem: Stehen Luthers „Morgenröte“ und ihre „Flügel“, das „äußerste Meer“ und die „Rechte“ nicht noch viel bildkräftiger vor unserem inneren Auge? Merkwürdigerweise nahm Jörg Zink, seines hochgradigen Pflicht- und Sprachbewusstseins halber als Überträger bestens beleumundet, in seiner Auswahl aus dem Alten Testament von 1966 sich ausgerechnet dieses so einfallsreichen wie weihevollen Psalms nicht an.

     Und wie steht es, jetzt, in der „Basis-Bibel“ damit? Ganz und gar nicht schlecht: „Wohin könnte ich gehen vor deinem Geist, / wohin fliehen vor deiner Gegenwart? // Würde ich in den Himmel steigen: Du bist dort. / Würde ich mich in der Unterwelt verstecken: / Dort bist du auch. // Würde ich hochfliegen, wo das Morgenrot leuchtet, / mich niederlassen, wo die Sonne im Meer versinkt: // Selbst dort nimmst du mich an der Hand / und legst deinen starken Arm um mich. // Da sagte ich: ‚Finsternis komme über mich! / Nacht soll mich umhüllen wie sonst das Licht!‘ // Doch für dich ist die Finsternis nicht finster, / und die Nacht leuchtet so hell wie der Tag: / Finsternis ist für dich wie das Licht.“

Vorsicht an Weihnachten!

Das lässt sich lesen und kann sich sowohl hören als auch sehen lassen: als Gedicht in Prosa und zugleich in Versen, in einem Ton, der sich so wenig andient, wie er sich verschließt. Auch mit anderen durch Luthers Diktion liebgewordenen Passagen wird sich die Leserin, der Leser von heute ohne großes Bedauern arrangieren: etwa mit dem 23. Psalm („Der Herr ist mein Hirte. / Mir fehlt es an nichts“ statt „… mir wird nichts mangeln“); oder den Zehn Geboten des zweiten Buchs Mose mit ihren „Du sollst“-Appellen; oder mit dem Anfang der Bergpredigt Jesu im fünften Kapitel des Matthäus-Evangeliums („Glückselig sind die, die wissen, / dass sie vor Gott arm sind. / Denn ihnen gehört das Himmelreich“ statt „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr“). An Heiligabend allerdings kehre man doch besser zu Luther zurück: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Da erscheint die basalbiblische Modifikation so bürokratisch wie der erwähnte Zensus selbst: „Zu derselben Zeit befahl Kaiser Augustus, / im ganzen Römischen Reich / eine Volkszählung durchzuführen.“

     „Durchgeführt“ ist die „Basis-Bibel“ mit großer Konsequenz, mit offenkundig tiefer Einsicht in dreieinhalb Jahrtausende Gottesgelehrsamkeit und in die Expressivität unserer heutigen Alltagssprache, nicht zuletzt mit ersichtlicher Sorgfalt: Satzfehler und formale Nachlässigkeiten, sofern vorhanden, fallen nicht auf. Nur handlich ist dies „Buch der Bücher“ nicht: Mit fast dreitausend Seiten auf Dünn(st)druckpapier bringt es stolze 1,7 Kilogramm auf die Waage. Ob die Herausgeber auf diese Weise ihr Ziel erreichen, angesichts immer zahlreicherer Kirchenaustritte bisher schriftferne Heranwachsende und junge Erwachsene für die Heilige Schrift zu begeistern, bleibt mit Spannung und Hoffnung abzuwarten. Die digitale Ausgabe immerhin soll von vornherein so entwickelt worden sein, dass sie sich besonders bequem auf den Displays von Smartphone und Tablet, auf dem Bildschirm des Laptops konsumieren lässt. So können wir uns, theoretisch, zwischen einem Whats-App-Post und der nächsten Twitter-Nachricht schnell mal ein Kapitelchen aus dem Propheten Obadja reinziehen.

     Gerade ihres stattlichen Gewichts wegen passt die ‚Printausgabe‘ wiederum in die christliche Tradition: Die „Basis-Bibel“ hat was von altväterischem Haus- und Hauptbuch und ist, auch wenn sie nicht als Prachtausgabe in Leder mit Goldschnitt und -prägung auftritt, wie die gute alte Familienbibel dereinst vielleicht zum Erbstück berufen.

Weitere Informationen der Deutschen Bibelgesellschaft zur „Basis-Bibel“ und Links zu acht vollständigen Übersetzungen des Neuen Testaments: hier lang



Treffpunkt Hof

Seit hundert Jahren gibt es Rundfunk in Deutschland. Vor 75 Jahren ging der RIAS auf Sendung, mit dem Auftrag, Richtung Osten für westliche Werte zu werben. Über beides informieren anschauliche Ausstellungen – im Netz.

Von Michael Thumser

9. Februar – Wenn der Kalte Krieg besonders eisig tobte, griff die Redaktion auch schon mal zu Methoden, die nach Agitation aussahen: Als die Sowjets 1948/49 Berlin blockierten, ließ es der RIAS nicht dabei bewenden, seine Nachrichten wie sonst über den Äther zu verbreiten – mit Lautsprecherwagen wurden die brisanten Meldungen in den Straßen der umstrittenen Stadt ausgerufen, damit möglichst jede und jeder hören konnte, wie ernst die Dinge standen.

     Als der Kalte Krieg am kältesten klirrte, fanden die drei Westalliierten und die Russen nicht einmal soweit zueinander, dass sie gemeinsam einen Rundfunksender für die vier Bestatzungszonen der zerteilten Stadt errichteten. Also rief das Besatzungskommando der USA einen „Drahtfunk im amerikanischen Sektor“ ins Leben, der als DIAS vor jetzt 75 Jahren, am 7. Februar 1946, zum ersten Mal von sich hören ließ. Zwischen 17 und 24 Uhr konnten ihm fünfhundert Teilnehmer sozusagen via Kabel, weitere tausend übers Telefonnetz lauschen, auch wenns akustisch keine Freude war. Sieben Monate später ging das Programm on air: Aus dem „Drahtfunk“ wurde der kabellose „Rundfunk“. Der Name RIAS war geboren. Er klingt noch 28 Jahre nach dem letzten Laut des Senders gut.

     Durch Weltkrieg und Kalten Krieg sah sich das geografisch einst zentrale Hof bedrängend in extreme „Zonengrenz“-Nähe gerückt und zu bundesrepublikanischer Randständigkeit verurteilt. Zugleich verdankte es den fatalen Nachkriegs-Wirkungen, dass es zumindest auf der Deutschlandkarte des Radios für Jahrzehnte einen markanten Ort abgab. „Treffpunkt Hof“ prangte, zum Beispiel, 1978 auf einem Plakat des RIAS, das zu einem Event des an der Spree beheimateten Senders in die Stadt an der Saale einlud. Dort betrieb die Rundfunkanstalt seit dem 1. November 1949 eine zweite Sende-Anlage, mit der sie nun auch den Süden der DDR bestrahlte. So spannte sie ein Band zwischen Menschen, die zwar in feindlichen Brüderstaaten zu Hause waren, sich aber zum Großteil nicht als feindliche Brüder und Schwestern sehen mochten. Unter den DDR-Bürgern hielten dem RIAS, aller propagandistischen und elektronischen Störversuche der Obrigkeit ungeachtet, weit mehr Hörer die Treue als dem staatlich kontrollierten Rundfunk. Dabei drohten schwere Strafen, wenn man sich erwischen ließ. Unter denen, die den Sender in Westberlin und, soweit er reichte, in der Bundesrepublik hörten, wurde er zu dem, was später Kult heißen sollte.

Politik, Kultur und Unterhaltung im Gleichgewicht

Als „freie Stimme der freien Welt“ wollte der RIAS über Mauer und Eisernen Vorhang hinweg in den deutschen „Ostblock“ schallen. Die Parole entspricht mit ihrem Pathos der gängigen Wortwahl des Nachkriegs und des Kalten Kriegs. Zu Propaganda erklärte Ostberlin denn auch das Programm und den „Feindsender“ zum Gift streuenden verlängerten Arm der US-imperialistischen Agitation. Im Großen und Ganzen freilich bemühten sich die hellen Köpfe in Intendanz und Redaktionen erkennbar darum, weltanschaulich mit Sachlichkeit zu argumentieren und ein entspanntes Gleichgewicht zu halten zwischen politischen Formaten, kulturellen Magazinen und Unterhaltung

     So wurde in Berichten und Kommentaren der Besuch John F. Kennedys („Ich bin ein Berliner“) erwartungsgemäß lückenlos begleitet und euphorisch gefeiert, aber auch die Kriegsführung der Vereinigten Staaten in Vietnam verurteilt. Mit brillantem Spott und wohlinformiertem Tiefsinn nahm sendereigenes Kabarett die wüsten Zeitläufte auseinander. Allsonntäglich riskierte der einzigartige Theaterrezensent Friedrich Luft mit seiner überschallschnellen „Stimme der Kritik“ den Erstickungstod, weil er in den knapp fünfzehn Minuten bis zum Mittagsläuten der Berliner „Freiheitsglocke“ das komplette Schauspielprogramm Westberlins nachvollziehbar erörterte. Glanzlichter klassischer Musik setzten das Symphonieorchester und der großartige Kammerchor, die sich beide unter der Dachmarke „roc“ (Rundfunk Orchester und Chöre Berlin) erhalten haben.

     Dem RIAS-Entertainment, dem ein eigenes Tanzorchester unter Werner Müller (später unter Horst Jankowski) ordentlich Schwung verlieh, prägte namentlich der findig-pfiffige Hans Rosenthal seinen Namen auf, mit Musik- und Quizshows wie „Wer fragt, gewinnt“, „Allein gegen alle“ oder „Spaß muss sein“. Sehr oft und sehr lebendig machte der Sender mit Livemitschnitten aus allen möglichen Winkeln der Bundesrepublik Programm. Wiederholt war Hof Schauplatz von Veranstaltungen; in der Freiheitshalle gaben sich Stars von damals die Klinke in die Hand.

Zwischen Demokratie und Demagogie

Gerade im Spannungsfeld um die deutsch-deutsche Grenze, gleichsam zwischen Berlin und Hof, spiegelte der Ost-West-Konflikt das Doppelgesicht des Rundfunks wider. Einerseits befördert das Radio von seinen Anfängen an als weit verbreitbares und leicht konsumierbares Medium die Demokratisierung von Gesellschaften; andererseits bietet es sich autoritären Systemen wohlfeil als Mittel der Demagogie an. Den Hörfunk der DDR bestritten streng reglementierte Staatssender in der Ostberliner Nalepastraße mit dem einzigen Ziel, die Ideologie des „real existierenden Sozialismus“ zu verbreiten. Zur selben Zeit trat im Westen der Stadt, am heutigen Hans-Rosenthal-Platz, der RIAS mit seiner expliziten Ost-Ausrichtung an, um für die ungezählten Hörer im „anderen Deutschland“ Wahrheit von Hetze, Fakten von Schönfärberei zu scheiden.

     Schon einmal hatten die Deutschen erlebt, wie sich die Informations- und Vergnügungsquelle Rundfunk in ein Druckmittel zur egalisierenden Manipulation und Indoktrination verwandeln lässt: Joseph Goebbels machte das Radio unmittelbar nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten dazu. Als „Reichspropagandaminister“ des Hitler-Regimes war ihm stets bewusst, welches Potenzial zur Gleichschaltung der „Volksgenossen“ die Technik barg, deren Start – mit der „Deutschen Stunde“ im Vox-Haus an Berlins Potsdamer Platz – erst knapp zehn Jahre zurücklag. Der technikaffine Politiker erkannte im Rundfunk das „allermodernste und allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument“. Als „Goebbelsschnauze“ wurde, wenngleich hinter vorgehaltener Hand, der von den Nazis propagierte „Volksempfänger“ verhöhnt, der etwa siebzig Reichsmark kostete und für fast jeden Haushalt erschwinglich war.

     Der Herr des Hauses führt gerade noch ein wichtiges berufliches Telefonat, währen die Hausfrau schon mal die „Führer“-Rede einstellt: Wie man sich das mit solch preiswertem Gerät ausgestatte bürgerliche Wohnzimmer von vor etwa achtzig Jahren ausmalen darf, zeigt ein Foto von 1944. Zu den Exponaten der Ausstellung „On air – 100 Jahre Radio“ gehört es, die ohne das Corona-Virus seit Herbst im Berliner Museum für Kommunikation zu sehen wäre und zurzeit immerhin online besucht werden kann. Ihre Erzählung beginnt erst eigentlich zwar mit dem 22. Dezember 1920; damals schickten in Königs Wusterhausen bei Berlin drei Mitarbeiter der Reichspost-Hauptfunkstelle mit Violine, Cello und Klarinette liedselig die „Stille Nacht“ über den vorchristfestlichen Äther. Aber die Schau greift bis ins Jahr 1908 und zur Geburtsstunde des drahtlosen Funks zurück, der sich vor allem während des Ersten Weltkriegs unter Hochdruck weiterentwickelt hatte.

     Gleichfalls nur digital zu sehen und nicht minder sehenswert: eine „Rückschau“ auf die Geschichte des RIAS am Beispiel von Plakaten, mit denen er von seinen Anfängen an eifrig und einfallsreich für sich warb. Die Blätter verwahrt heute das Deutschlandradio, in dem der 1993 verstummte Sender, vereint mit der einstigen „Stimme der DDR“, aufging. Im Internet lassen sie sich die Kostbarkeiten eingehend betrachten. Zum „75. Geburtstag von RIAS Berlin“ – so, arg aktenmäßig, der Titel – stellte das Deutschlandradio die Revue ins Netz, jedoch geht sie auf eine Ausstellung von 2006 zurück, die damals auch im Hofer Bürgerzentrum Station machte.

Aus der Geschichte des RIAS - und der Plakatkunst

Hier lässt sich das beeindruckend breite Sendespektrum noch einmal abmessen, groß und bunt: „Große bunte Abende“ rund um die „Lachende Waldbühne“; seriöse Klassik für Kammerensembles und großes Orchester; ein Spektakel aus Texten und Tönen mit Günter Grass und Günter „Baby“ Sommer („Da sagte der Butt …“); Satire und Ratespiel; „Onkel Tobias und die RIAS-Kinder“; ein Trendsetter-Treffen des Jugendfunks für die Halbwüchsigen der Sechziger: „Mopeds, Mädchen und Make-up“; das Tanzorchester, mal elegant, mal in allen Farben guter Laune …. Oft spaltenweise reihen sich ehedem prominente Namen: Ingrid Carven und Erik Ode, Vico Torriani und Helmut Zacharias, Bully Buhlan und das Hansen-Quartett, Ferenc Fricsay und Günter Neumann, Ester und Abi Ofarim …. Oder die Nina-Hagen-Band, Frank Zander und Konsorten auf einem gelben Blatt, auf dem ein draller Engel mächtig in einen Grammofontrichter tutet: 1978 kündigte sich so jene Show in Hof an, mit der, in der Freiheitshalle, der „RIAS-Treffpunkt“ sein zehntes Jubiläum feierte.

     Angeordnet sind die Bekanntmachungen in einer Weise, dass sie (zusammen mit instruktiv-knappen Begleittexten) nicht nur die vielfältigen Entwicklungen der Programmsparten nachzeichnen, sondern beiläufig auch die Geschichte des Grafikdesigns in Deutschland beleuchten. Selten bleiben die Darstellungen brav symmetrisch; immer wieder neu dachten die Gestalter über das Thema, um das es ging, und über den Raum nach, der ihnen zur Verfügung stand. Ungewöhnlich stark dominieren Breitformate. Illustrationen und, untrennbar damit verbunden, die Texte und ihre Typografie dokumentieren die einander ablösenden, oft beeindruckend kreativen Wege, auf denen Information zu Design wird. Ein paar Mal mutiert Schrift selbst zum Bild: Dann wird so etwas wie konkrete Poesie daraus.

     Nicht poetisch, aber durch Putzigkeit erheitert den Betrachter gleich zu Anfang der Bilderstrecke ein altersbrauner Reklamezettel vom Februar 1946. „Achtung! Achtung!“: In Fettschrift posaunt er den Sendestart des „Drahtfunks im amerikanischen Sektor“, des DIAS, heraus. Ganz am Rande, ganz unten erst nämlich, entziffert das aufmerksame Auge niedliche „Winke“ aus der Radio-Steinzeit: „Vorsicht beim Verbinden von Draht und Fernsprechkabel! Das Kabel darf nicht beschädigt werden.“



Schwer einschätzbar

Unter den Jubilaren, die wegen der Coronakrise kaum Beachtung fanden und finden, sind auch der Dichter Hölderlin und der Philosoph Hegel. 2020 jährten sich ihre Geburtstage zum 250. Mal. Beider „Jahre“ wurden verlängert.

Von Michael Thumser

30. Januar – Tot ist die Kultur nicht, aber scheintot; vielleicht. Zumindest hält sie notgedrungen Winterschlaf, einen Schlaf, der – wann endet? Gegenwärtig kündigt sich an, dass er sich noch Wochen, womöglich Monate fortsetzen wird. So kann denn die Art Cologne, Deutschlands größte Kunstmesse, die bereits im April und im November 2020 zwei Mal hat aufgeschoben werden müssen, auch im April dieses Jahres nicht stattfinden; vielleicht, meinen die Veranstalter, haben sie im November endlich mehr Glück. Dieser Tage desgleichen verschoben oder de facto abgesagt: The European Fine Art Fair (TEFAF) im niederländischen Maastricht, eine der wichtigsten Kunstmessen der Welt; das Elevate Festival „für zeitgenössische Musik, Kunst und politischen Diskurs“ im österreichischen Graz; das auf Mittelalterrock spezialisierte Feuertalfestival in Wuppertal; die klassischen Frühjahrskonzerte im schweizerischen Luzern; das Filmfestival in Cannes ... Und so weiter und so weiter. Natürlich soll das meiste nachgeholt werden, irgendwann: manches in einem Jahr., anderes in zwei Monaten. Wers glaubt. 

    Memmingen wollte 2020 die Bayerischen Theatertage beherbergen, das größte Bühnentreffen im Freistaat, an dem sich auch das Theater Hof regelmäßig mit schönem Erfolg zu beteiligen pflegt. Dann setzten die Organisatoren im Landestheater Schwaben die 37. Auflage für den Mai dieses Jahres an. Am Donnerstag schließlich teilten sie mit, sie hielten den Verlauf der Krise weiterhin für so „schwer einschätzbar“, dass sie das Festival neuerlich verlegen, nun auf den Mai 2022 und ins Bamberger E.T.A.-Hoffmann-Theater. Wird dann dort alles gut?

Viel geplant, das meiste umsonst

Nicht besser sieht es mit Veranstaltungen zu den mancherlei Jubiläen und Gedenktagen aus. Oft wurden während jahrelanger Planungsarbeiten ganze Terminkalender mit Konzerten und Theaterproduktionen, Lesungen und Performances, Aktionen und Ausstellungen Seite für Seite, Tag für Tag gefüllt; was daraus wurde, wie wenig davon nach Ausbruch der Corona-Pandemie realisierbar war, hat das Beispiel des Beethovenjahrs 2020 mit desillusionierendem Nachdruck gezeigt. Und da war noch mehr: Diese Dichterin, jener Denker stießen Covid-19-halber nicht auf die ihnen gebührende Aufmerksamkeit. Prominenz findet sich darunter: zum Beispiel Friedrich Hölderlin, zum Beispiel Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Zum 250 Mal jährten sich ihre Geburtstage, doch Jubelfeiern ließen sich bestenfalls leise und in Expertenzirkeln vernehmen.

     „Schwer einschätzbar“ – das sind auch diese zwei Leitfiguren des deutschen Idealismus. „Jubiläen geben ja nur die Anlässe, Autoren zu feiern, die man eh feiern würde“, begütigt Jan Bürger, stellvertretender Leiter des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Dennoch, das Archiv und etliche weitere Veranstalter hatten sich zum Thema Hölderlin etwa 700 Darbietungen in Theatern, Konzert- und Kinosälen, Literaturhäusern, Universitäten und Schulen hauptsächlich in Baden-Württemberg, der Heimat des Dichters, ausgedacht – das Gros umsonst.

     Wenigstens versäumte Höhepunkte sollen nun heuer nachgeholt werden: etwa eine fotografische Reise zu „Hölderlins Orten“, zu der die Stadt Lauffen am Neckar, wo er 1770 zur Welt kam, mit Arbeiten der vielfach ausgezeichneten Lichtbildnerin Barbara Klemm einlädt. In Nürtingen, wo er aufwuchs widmet man ihm eine Filmreihe. Erst im Frühjahr 2022 soll in Tübingen – wo der Dichter die zweite Hälfte seines Lebens geisteskrank in einem Turmzimmer hauste und 1843 starb – die Oper „Im Thurm“ uraufgeführt werden. Mindestens bis zum 14. Februar bleibt das Marbacher Literaturarchiv geschlossen, das leibhaftigen Besuchern eigentlich die Ausstellung „ Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie“ zeigen wollte; immerhin digital tut es dies mit einer Kurzführung und Videos in großer Zahl.

Strenge Disziplin, riesiges Pensum

In Tübingen beschloss Hölderlin nicht nur sein Leben, er studierte auch dort, von 1790 an im berühmten Evangelischen Stift, wo er auf den gleichaltrigen Hegel und den erst fünfzehnjährigen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling traf, den später maßstabsetzenden romantischen Naturphilosophen. Fünf Jahre verbrachte das Trio hier in schöner Eintracht. Allerdings verlangte ihnen ein striktes Reglement strenge Disziplin ab, ein Riesenpensum engte anspruchsvoll ihren Tag ein: Logik und Ethik, Griechisch und Hebräisch, Mathematik und Physik, Bibelexegese und christliche Dogmatik. Zugleich aber öffneten sie sich einem neuen Freiheits-Ideal, das Immanuel Kant für die geistige und die gerade erst ausgebrochene Französische Revolution für die politisch-gesellschaftliche Welt formulierten.

      Unter solcherart vielfachem Einfluss wendete sich Hölderlin, ungeachtet seiner pietistischen Erziehung, von der Theologie ab und der Philosophie zu. Nach dem Studium fristete er, um den Pfarrdienst zu umgehen, sein Leben erst einmal in der undankbaren Lakaienposition eines „Hofmeisters“, also Hauslehrers. Zunächst, 1793, trat er im unterfränkischen Schloss Waltershausen auf Friedrich Schillers Empfehlung hin – und statt des dafür zunächst vorgesehenen Hegel – in den Dienst Charlotte von Kalbs, der Freundin Goethes, Schillers und Jean Pauls. Drei Jahre später wechselte er nach Frankfurt zur Bankiersfamilie Gontard.

     Seiner glühenden Leidenschaft zur Dame des Hauses, Susette Gontard, verdankte er eine lebensbestimmende Inspiration und einen biografischen Bruch: 1798 musste der verliebte arme Erzieher der noblen Familie den Rücken kehren; doch verklärt zur ätherischen Diotima überführte er die angebetete Susette in seinen zwischen sparsamer äußerer und komplexer innerer Handlung changierenden Briefroman „Hyperion“. Darin hinterlässt die sterbende Diotima ihm als Vermächtnis einen Auftrag: Erfüllung soll er nicht ruhmreich als Kämpfer im Aufstand finden - durch den sich 1770 die Griechen von der osmanischen Herrschaft befreien wollten -, und auch nicht empfindsam in der Liebe; vielmehr ist Hyperions Berufung die zum Dichter; um sich dorthin durchzuringen, siedelt sich der Verlassene für zwanzig Jahre einsam als „Eremit in Griechenland“ an.

„Im Winde klirren die Fahnen“

Selbst erfahrene Literaturwissenschaftler und -kenner tüfteln in diesem lyrische Prosawerk an den vielen Rätseln, an denen es auch dem übrigen Œuvre nicht mangelt: so den dramatischen Fragmenten um den „Tod des Empedokles“, so den hymnisch-elegischen, tiefgründig-dunklen Gedichten, die schon dadurch, dass sie allenthalben auf Antikes anspielen, ein unvorbereitetes Verstehen weitgehend verhindern. Außer Zweifel jedoch stehen sowohl die Gewalt der hölderlinschen Sprache wie ihre Schönheit.

     Aufs Ergreifendste erweisen das die vierzehn kurzen Verse seines populärsten Gedichts „Hälfte des Lebens“: „Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See“ – so beschwört er den Sommer am „heilignüchternen Wasser“; um dann in Erwartung des Winters zu verzweifeln: „Die Mauern stehn / Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen.“ Ein „Nachtgesang“ von unheilkündender, unheimlicher Sehergabe: Vom 34-jährigen Dichter ziemlich genau an der „Hälfte“ seines Lebens geschrieben, zählt er, lange Zeit als Äußerung zunehmenden Irrsinns abqualifiziert, zu den letzten Schöpfungen eines Erdendaseins, dessen zweite Hälfte in geistiger Umnachtung versank.

     Und Hegel? Der intellektuelle lockdown trifft seit fast einem Jahr auch ihn. So fiel 2020 die vielbeachtete Bamberger Hegelwoche aus, während das Ethikzentrum der Friedrich-Schiller-Universität in Jena seinen Thüringentag für Philosophie von vornherein online veranstaltete; Titel der Tagung: „Hegel, Krise und Corona – Hegels Aktualität für heutige Konflikte“.

     Als Hölderlin starb, war Georg Friedrich Wilhelm Hegel, sein gleichaltriger einstiger Stifts-Kommilitone und dortiger Mitbewohner in der „Augustinerstube“, bereits seit drei Jahren tot. 1831, 61-jährig, hatte er in Berlin sein Leben beschlossen, an dessen Universität er seit 1818, als Nachfolger Johann Gottlieb Fichtes, Vorlesungen gehalten hatte. Zuvor war auch er, in Bern und Frankfurt, den kargen Weg des Hauslehrers gegangen. Später lehrte er in Jena und 1806 in Bamberg, wo er überdies eine Zeitung redigierte. 1816 übernahm er eine Professur in Heidelberg. Dann rief ihn Preußens Kapitale.

Auf der Suche nach dem Absoluten

Als „Vollender des Idealismus“ apostrophiert die Philosophiegeschichte den Denker. Mit Hölderlin und Schelling hatte er an den freiheitlichen Ideen der 1789 aufflammenden Französischen Revolution Feuer gefangen. Doch dem subjektivistischen Gefühlskult der Romantik abgeneigt, suchte er, unter anderem von den großen „Kritiken“ Immanuel Kants ausgehend, nach dem „Absoluten“. Das wird greifbar im Individuum als subjektiver Geist; indes als objektiver Geist in der Familie, der Gesellschaft und ihrer Moral, im Staatswesen und dem von ihm „gepflegten“ Recht; und als absoluter Geist in Philosophie und Religion sowie in der Kunst.

     Die Geschichte der Welt begriff Hegel als zielgerichteten Verlauf, durch den der absolute Geist sich seiner Freiheit bewusst wird, und zwar in einem Dreischritt, der faszinierenden Grundlage der hegelschen Dialektik: Jede These evoziert eine Antithese; beide werden in der Synthese aufgehoben, abermals dreifach: indem die Synthese das Überholte aus These und Antithese beseitigt; indem sie zugleich das Zukunftsweisende bewahrt; und indem sie es auf eine neue Stufe erhöht. Sodann stellt sich ihr eine nächste Antithese entgegen.

     Im Preußen seiner Zeit glaubte Hegel seine Idee der Freiheit verwirklicht, was ihm den Ruf eines „Staatsphilosophen“ eintrug. Eine zum Großteil eher betagte Gruppe seiner vielköpfigen Gefolgschaft, die „Rechtshegelianer“, fühlten sich durch ihn in ihrem reaktionären Konservativismus bestätigt. Hingegen glaubten die „Jung-“ oder „Linkshegelianer“, die durch ihn beschriebenen Vernunft müsse dialektisch aufwärtsschreitend darin gipfeln, dass alle paternalistische Bevormundung der Bürger durch den Staat, der Gläubigen durch Kirche und Religion überwunden werden müsse. Folgenreich münzten später Karl Marx und Friedrich Engels das antithetische Prinzip des historischen Prozesses um zur Weltgeschichte als einer Serie von Klassenkämpfen, an deren Ende die klassenlose Gesellschaft stehen werde.

Gedanken, gehüllt in Dunkelheit

Darin treffen sich Hölderlin und Hegel: dass sie selbst dem aufgeschlossenen Leser die Lektüre oft mühsam erschweren. So schreibt denn auch der Publizist Eberhard Rathgeb in seinem im August erschienenen Buch „Zwei Hälften des Lebens“: „Dunkel ist Hegel, und sein Freund Hölderlin ist manchmal nicht viel zugänglicher, als hätten die beiden darum gewettet, wem es besser gelinge, ihre Verfolger und Ausleger abzuhängen oder einzuspinnen.“

     „Der Philosoph muss ebenso viel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter“, steht in einem Manuskript zu lesen, das die Studienfreunde wohl gemeinsam in Tübingen verfassten. „Die Poesie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit.“ Hegel und Hölderlin: Zwei singuläre Köpfe, die jeder mit fruchtbarem Eigensinn aufs Ganze, „Absolute“ gingen: „Das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Einheit und Entzweiung, der Freiheit des Einzelnen und seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft beschäftigte beide gleichermaßen. Während Hegel diese Themen theoretisch aufarbeitete, übersetzte sie Hölderlin auch ins Literarische“, heißt es im Begleittext zur Ausstellung „Idealismusschmiede in der Philosophen-WG“, die im Tübinger Hölderlinturm zu sehen sein sollte, bliebe coronabedingt nicht auch der noch mindestens bis Mitte Februar geschlossen.

     Unter anderem zeigt die Schau ein Blatt aus Hegels Stammbuch: „Lust und Liebe sind die Fittige zu großen Taten“, hat Hölderlin, aus Goethes „Iphigenie“ zitierend, am 12. Februar 1791 darauf geschrieben. Etwas kleiner setzte Hegel selbst „En kai pan“ darunter, die griechische Devise des Pantheismus, also jener (im schrifttreuen Tübinger Stift verpönten) Überzeugung, dass Gott und Natur und das Weltganze überhaupt dasselbe seien. Die Parole war zugleich der Leitspruch für beider Freundschaft: „Ein und alles“.



Bücher & Musik

23. Januar – „Welt“-Reisen mit der Sopranistin Marlis Petersen – Wagner-Regie – Schubertiade mit dem Klavierduo Glemser – Lyrik von Ingrid Haushofer und Martin Roemer – Was ist schön?

Von Michael Thumser

Dimensionen: Marlis Petersen, Sopran, mit Stephan Matthias Lademann/Camillo Radicke, Klavier. Edel/Solo Musica, 4 CDs, Nr. SM 350, ca. 29 Euro.
Darf man daran glauben? Glaubt sie selber daran? Oder müssen, coronahalber, alle öffentlichen Kulturvorhaben weiterhin dran glauben? Jedenfalls kündigt der Terminkalender der Bayerischen Staatsoper für den 18. März die Premiere des „Rosenkavaliers“ und im Verlauf des Monats vier weitere Vorstellungen der Oper von Richard Strauss an. Käme es dazu: schön wärs, auch für Marlis Petersen, die dann in München die große, emotional vielschichtige Partie der Marschallin übernähme. Eine Herausforderung; aber an so etwas ist die Sopranistin gewöhnt. Auf sehr persönliche Art führt ihre CD-Edition „Mensch und Lied“ zusammen, damit beide „durch verschiedene Kapitel des Seins schweifen“, durch „Dimensionen“, um genau zu sein. Anders aber als im nüchtern-richtigen Leben misst die 53-jährige Künstlerin nicht Länge und Breite und Höhe ab; Stattdessen „schweift“ sie in ihrer zwischen 2017 und 2019 aufgenommenen Trilogie mit unbeirrbarem Geschmack durch „Welt“, „Anderswelt“ und „Innenwelt“. Obendrein eröffnet die beeindruckend ausgereifte Sängerin in der Kassette, mit der sie das Gesamtwerk jetzt zusammenfasst, eine vierte Dimension: eine „Neue Welt“. Aus der Alten Welt kommen die umsichtig ausgewählten, sinnstiftend unter Themen geordneten, vom Booklet vorbildlich begleiteten Gesänge. In Petersens durch und durch romantischer Welt leben und weben zwischen „Himmel & Erde“, „Hoffnung & Sehnsucht“ nicht nur der Österreicher Schubert, das deutsche Ehepaar Schumann und der norddeutsche Wiener Brahms, sondern auch der weit weniger bekannte, keineswegs zu verachtende Hans Sommer, der 1922 in Braunschweig starb. Mit „Nordlichtern“ wie Grieg, Stenhammar und Sinding schaut die Sängerin bei „Nixen und Nöck“ vorbei. Viel „Mouvement interieur“, innere Bewegung, verdankt sie den Franzosen Fauré, Duparc, Reynaldo Hahn. Gesprochene Verse (etwa von Rilke und Kästner) durchmischen sich mit gesungenen (unter anderem von einer Frau: der Österreicherin Mathilde Kralik) auf der vierten, der „Bonus-CD“. Allen Nationalstilen, jeder Tag- und Nachtstimmung, sämtlichen Gefühlsregungen und -aufwallungen wird die technisch umfassend qualifizierte, emotional enorm ausdrucksbreite Stimme gerecht. Arg stark mitunter bewegt sich Petersens Vibrato in Momenten der Heftigkeit. In den besinnlichen oder gedankenvollen, zärtlichen oder pathetischen, kurz: den weit überwiegenden zurückgenommenen Registern ihrer weitgespannten Expressivität verleiht sie den Texten indes oft hinreißend leisen Laut und Leben. So entführt sie in Gegenwelten: voll von Visionen statt von Viren.

Katharina Wagner u.a. (Hg.): Szenenmacher. Wagner-Regie vom 19. Jahrhundert bis heute. Reihe Diskurs Bayreuth, Band 3. Bärenreiter-Verlag, 238 Seiten, gebunden, 38,95 Euro.
Auch „Wesendonck-Lieder“ gehören ins weltweite Repertoire von Marlis Petersen: jene vokale Kammermusik, in deren Melos Richard Wagner wichtige Motive für seinen späteren „Tristan“ erprobte. Als „Handlung“ untertitelte der Komponist das Musikdrama, obwohl es kaum Handlung bietet. Entsprechend schwer tut sich damit, wer es durch Inszenierung oder Ausstattung auf der Bühne zu deuten trachtet. Freilich, leicht machts einem der Meister ja nie, und auch  die Autoren des Bandes haben es sich nicht leicht gemacht, 2019, im Rahmen des dritten „Diskurses Bayreuth“, durch Vorträge und Diskussionen die Festspiel- und Bühnengeschichte der Wagner-Interpretation in Bayreuth und außerhalb des Grünen Hügels mit heutigen Aspekten zusammenzuschauen. Neben Richard Wagner geraten im Tagungsbericht auch seine Frau Cosima, sein Sohn Siegfried sowie dessen Ehefrau Winifred in den Fokus. „ ‚Vom Nutzen und Nachtheil der Historie‘ für die Wagner-Regie“ weiß (im Gespräch mit Kristel Pappel) der junge Tobias Kratzer, Regisseur des aufsehenerregenden jüngsten „Tannhäusers“ in Bayreuth, Aufschlussreiches zu berichten („Es ist erstaunlich, wie stark eine Inszenierung ausstrahlt, die hier stattfindet. Dass sie im Guten wie im Schlechten immer sofort in einer gewissen Weise kanonisiert wird“). Und Valentin Schwarz, mit der Regie des nächsten Nibelungen-„Rings“ betraut, verrät, dass es bei ihm drei Brünnhilden geben werde: Denn „Wagner komponierte die Partie offensichtlich für drei verschiedene Stimmen“. Das von Schwarz und Paul Esterhazy gesprächsweise gefüllte Kapitel steht unter der Devise „Kinder! Macht Neues!“ Freilich, mit einem neuen „Ring“ wurde es 2020 der Pandemie wegen nichts. Festspiel-Adepten müssen nun mindestens bis 2022 warten.

Schubertiade am Lisztflügel: Klavierduo Glemser. Organo-Phon Nr. 90154, 1 CD, ca. 15 Euro.
„Kinder! Schafft Neues!“ – So schrieb Wagner am 8. September 1852 in einem Brief an seinen Schwiegervater Franz Liszt, der seinerseits engste Verbindungen nach Bayreuth unterhielt, über den Tod hinaus: 1886 starb er hier und liegt auch hier begraben. Für ihn fertigte die Bayreuther Klaviermanufaktur Steingraeber & Söhne einen „Kammerkonzertflügel“, an dessen 1892 geschaffenem Nachbau sich im September vergangenen Jahres das Klavierduo Glemser zu vierhändigem Spiel niederließ. Nicht freilich mit Salon-, Virtuosen- oder andachtsvollen Piècen des Tastenlöwen traktierten ihn Florian und Franziska Glemser. Vielmehr laden der 1990 geborene Sohn des international gefeierten Pianisten Bernd Glemser und dessen ein Jahr ältere Schwiegertochter den Hörer zu einer „Schubertiade am Lisztflügel“ ein. Das heißt zweierlei: Einerseits veranstalten sie eine eher intime, für einen vertraulich-geselligen Kreis ausgerichtete Musizierstunde; andererseits geben sie, wo erwartet und erwünscht, ihren fingerfertigen Temperamenten durchaus die Sporen. Facettenreich mit dem Rondo D 951 und den burschikosen Militärmärschen D 733 umrahmen sie die essenziellsten Episoden der Werkfolge: In den Variationen D 813 führt das Ehe- und Interpretenpaar durch verzweigte Todesbetrübnis und ins Licht der Leichtherzigkeit. Und bei einer von fünf Transkriptionen nach Schubertliedern überrascht Florian Glemser als eigenständiger Gedankenleser schubertscher Intuitionen: Den „Leiermann“ aus der „Winterreise“ dichtet er aus dem Geist des Jazz um zu einer Meditation über zeitgemäße Verzagtheit.

Martin Roemer: Zauberwelt. 72 Seiten.
Ingrid Haushofer: Heimwärts. 108 Seiten.
Beide in der Edition exemplum des Athena-Verlags, broschiert, jeweils 13,90 Euro

Mitten in die bedeutende klassisch-romantische Klavierliteratur zwischen Haydn und Brahms hat Ludwig van Beethoven mit dem Großkorpus seines Sonaten-Schaffens ein Gebirge gestellt, das sich pianistisch und geistig nicht leicht bezwingen lässt. Zur Anschauung, die dem Hörer die Musik selber suggeriert, hat Martin Roemer passende Begriffe gesucht und gefunden: In seinem so ungewöhnlichen wie gehaltvollen Zyklus wagt er eine „lyrische Begegnung“ mit jedem einzelnen der 32 Werke. Geschärft sein Ohr, gehoben sein Ton, die Rhetorik dem Pathos nicht fremd, doch menschlich: Oft könnten die oft langen Verse auch als Zeilen erhebender Prosa durchgehen, dann wieder nähern sie sich, wenngleich verspielt, an die Beschreibungsweise kluger Musikhandbücher an. Beachtlich der Reichtum der Formen – und jener der Bilder: Metaphorisch riskiert der Autor viel, nicht wenig glückt ihm  frei assoziierend, zum Beispiel wenn er in den zwei Sätzen der F-Dur-Sonate opus 54 zwei „Kobolde“ erkennt, „sich jagend die Furchen / entlang dieses Ackers, durchspritzend den Bach, und des / Abends wird lange kein Ende …“

     Irgendwann aber kommt er doch, der Abend. Aller Tage Abend: Für die „letzte Etappe des Lebenswegs“, den Weg „heimwärts“, hat die bekannte Hofer Lyrikerin Ingrid Haushofer „spirituelle Texte“ zusammengestellt. Gleich der erste, als Motto, leitet auf den Hauptweg des Buchs, das dem empfänglichen Leser dabei helfen kann, „das Geheimnis des Lebens“ auszuhalten: „Weise sein“, schreibt die Dichterin, heiße, zu „wissen / dass es auf manche Fragen / keine Antwort gibt“. Von Alter und Tod spricht sie, aber ohne Furcht, voller Einverständnis: „Im Alter / kannst du es dir gestatten / kleiner zu werden […] Freu dich / wenn dein Haar grau wird / Es ist das Silber des Mondes“. Dass die Jahre „dunkel und kalt“ werden, verschweigt sie dabei nicht, auch nicht den Schmerz so mancher Trennung: „Tschüs / sagst du zum Abschied / und lächelst / und möchtest doch […] auf den Boden dich werfen / Erde fressen / Staub zu Staub / als Wurm ohne Gedächtnis“. Gleichwohl feiert sie im letzten der Texte „sanft unbeirrbar / leise und mächtig / immer wieder / [den] Sieg des Lebens“.

     Neben den orchestral glanzvollen Tiraden der roemerschen Beethoven-Adaptionen lesen sich die sparsamen Auskünfte Haushofers wohltuend unprätentiös: Aus ihren peinlich kontrollierten, beflissen minimalisierten Strophen schimmert eine Dämmerung, die sowohl jene des Lebensabends als auch die eines nächsten Morgens sein kann. „Resilient“, widerstandsfähig, nennt Roemer die Musik Beethovens im Einleitungs-Essay seines Lyrikbandes; umgekehrt halten die Gedichte ihrerseits in ihrer anspruchsvollen Üppigkeit der gewichtigen Tonkunst des Hochklassikers unerschütterlich stand. Haushofers reduzierte Notate hingegen machen weniger aus sich und können doch mehr: Sie ertragen einfach das Dasein, ---

Gábor Paál: Was ist schön? Die Ästhetik in allem. Verlag Königshausen & Neumann, 304 Seiten, Paperback, 28 Euro.
--- und sie sind schön, diese Gedichte, das darf man wohl sagen. Aber, um da mal genauer nachzufragen: „Was ist schön“ überhaupt? Friedrich Schiller hat über das „Vergnügen“ des bewussten Menschen „an tragischen Gegenständen“ nachgedacht, über die positive Magnetkraft also, die substanziell Trauriges auf das Denken und Nachdenken ausübt. Wers eine Nummer kleiner mag, fühlt sich vielleicht von einer „schönen Leich‘ “ befriedigt, womit er nicht die sterbliche Hülle des verblichenen Menschen rühmt, sondern die Würde der gelungenen Trauerfeier für ihn. Dort, wo ‚bewusste‘ Menschen Schönes ‚erleben‘, setzt Gábor Paál mit seinem Buch an. Er versucht nicht, die Schönheit als Idee zu ergründen, sondern spürt den Umständen nach, die dazu führen, dass Zerebrum und Denkvermögen etwas als schön beurteilen – er erforscht die Ursachen dafür, dass jemandem etwas gefällt. Wie die eingangs erwähnte Sängerin Marlis Petersen ihr Reich der schönen Empfindungen in vier Dimensionen ausschreitet, so deklariert Paál vier Dimensionen der ästhetischen Wahrnehmung. Mit Buchstaben benennt er sie: E für die „Sinnesreize, deretwegen wir ein Objekt schön finden“; O für die dessen „Eigenschaften, die für eine gewisse Ordnung und Verlässlichkeit sorgen“ und seine „Stimmigkeit, Ganzheit und Schlichtheit“ erweisen; S für die Bedeutsamkeit, die es „für das Subjekt persönlich“ erlangt; und K für die Neuartigkeit, Komplexität oder Möglichkeit eines Perspektivwechsels, die das Objekt „anregend“ macht. Bereits 2003 hat Paál, einer der Redaktionsleiter beim Südwestdeutschen Rundfunk, solche philosophische und psychologische Grundlagen in einem Vorläuferband entwickelte, nun baute er seine Theorie aus und stellte sie neben aktuelle Ergebnisse der Hirn- und Kognitionsforschung. Weitläufig und weitgehend fasslich untermauern die achtzehn Kapitel, dass auch das Schöne kein ‚Ding an sich‘ ist: Es entsteht fassbar im Kopf, der Fakten und Empfindungen mit ein und demselben Eifer registriert und Verstand und Gefühl ganz nah beieinander beherbergt.



Aus dem Hangar nach Hangelar?

1977 wurde die „Landshut“ zum Symbol für den eskalierenden RAF-Terrorismus. Seit einigen Wochen durchkreuzen Überlegungen einander, wie sich mit der abgewrackten Passagiermaschine ein Erinnerungsort gestalten lässt, der an den „Deutschen Herbst“ gemahnt.

Von Michael Thumser

24. Dezember – Wie hängt was zusammen? Wie weit reicht die Vereinbarkeit des Unvereinbaren? Was, zum Beispiel, hat Landshut mit Ludwigshafen zu tun? Was der Bodensee von heute mit dem Terror der Siebzigerjahre? Oder ein Flugzeug der Lufthansa mit einer russischen Antonow? Oder Monika Grütters mit dem Namen Dornier? Für jede dieser wirren Fragen gibt es eine Antwort: Für alle zusammen gibt es eine Antwort.

     Um auf sie zu stoßen, braucht man nur ein wenig in die jüngere deutsche Geschichte zurückzuschauen. Am Beispiel des Streits um ein geplantes Museum für die Lufthansa-Maschine „Landshut“ und einen Erinnerungsort für den „Deutschen Herbst“ 1977 kann man obendrein lernen, was aus öffentlichem Gedenken wird – oder nicht wird –, wenn viele Köche in ein und demselben Brei herumrühren und sich obendrein die Obrigkeit einmischt.

     Für die Rückschau sollte der Blick genau fünfzig Jahre weit reichen. Damals, 1970, schlug allgemein anerkannt die „Geburtsstunde“ der linksextremistischen Rote-Armee-Fraktion (RAF), als Horst Mahler und Ulrike Meinhof, unter anderen von Gudrun Ensslin unterstützt, am 14. Mai den verurteilten Kaufhausbrandstifter Andreas Baader befreiten. Der saß in Berlin-Tegel ein, hatte aber das Gefängnis verlassen dürfen, weil ihm gestattet worden war, zusammen mit dem Rechtsanwalt Mahler und der Journalistin Meinhof im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen an den Quellen für ein geplantes Buch zu arbeiten. In Wirklichkeit wurde hier Baaders akribisch vorbereitete Flucht ins Werk gesetzt, nach der Sprengstoffanschläge und Überfälle auf Banken in Serie gingen.

"Mahnmal des Terrors"

Gut sieben Jahre später, nach den Morden an Siegfried Buback und Jürgen Ponto, erreichten die immer brutaleren Verbrechen der RAF ihren Gipfel: mit dem Kidnapping des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer; mit der Entführung der „Landshut“, eines mit 86 Menschen besetzten, Richtung Mallorca gestarteten Passagierflugzeugs der Lufthansa, durch vier Palästinenser; mit der Ermordung des 37-jährigen Piloten Jürgen Schumann im südjemenitischen Aden; und dem Irrflug der Maschine bis nach Mogadischu, der Hauptstadt des ostafrikanischen Somalia. Dem Grauen setzte dort nach fünf Tagen die GSG 9 ein Ende, eine auf Terrorbekämpfung spezialisierte Elite-Einheit des damaligen Bundesgrenzschutzes. Zwar überlebten alle Geiseln, wenn auch traumatisiert, den Befreiungsschlag. Aber danach richteten die Entführer Schleyers ihren Gefangenen hin; Baader, Ensslin und Jan-Carl Raspe nahmen sich in Stuttgart-Stammheim das Leben.

     Der dortige Hochsicherheitstrakt könnte sich dem kollektiven Gedächtnis als vorrangiger Erinnerungsort für den „Deutschen Herbst“ empfehlen; nur kann es natürlich nicht infrage kommen, eine Justizvollzugsanstalt in Betrieb der Öffentlichkeit zu öffnen. Darum verfiel die Bundesregierung in Person des damaligen Außenministers Siegmar Gabriel von der SPD auf den weit weniger abwegigen Einfall, das Wrack der „Landshut“ dafür zu nutzen. Die Maschine schien, nachdem sie noch in den Achtzigern regulär geflogen war, ihre letzte Ruhestätte auf einem Flugzeugfriedhof in Brasilien gefunden zu haben. Von dort aber ließ Gabriel, angespornt von David Dornier aus dem berühmten Flugzeugbauer-Clan, sie im September 2017, vierzig Jahre nach dem historischen Horrorflug, in einer russischen Antonow nach Deutschland zurückbringen. In Friedrichshafen, wo sie ursprünglich vor dem Museum der Dornier-Stiftung für Luft- und Raumfahrt als „Mahnmal des Terrors“ aufgestellt werden sollte, bereiteten ihr Offizielle und Schaulustige einen großen Bahnhof. Dann aber verschwand die „Landshut“ doch unsichtbar in einem Hangar – um vor sich hin zu verrotten, drei Jahre lang. Bis jetzt. Oder doch noch länger?

     Im Jahr fünfzig nach der „Geburt“ der RAF rückt die „Landshut“ wieder in den Fokus des allgemeinen Interesses. Fünfzehn Millionen Euro – aufzubringen aus Mitteln des Bundesinnenministeriums – bewilligte der Haushaltsausschuss des Bundestags vor wenigen Wochen für die Errichtung einer Dauerausstellung unter Federführung der Bundeszentrale für politische Bildung. In der Standortfrage entschieden sich die Abgeordneten für Friedrichshafen. Wirklich steht die Stadt am Bodensee mit dem Bau von Flugzeugen seit 120 Jahren aufs Engste in Berührung, wenn auch von solchen anderer Art: Hier montierte der Pionier Ferdinand von Zeppelin die riesigen Luftschiffe, die seinen Namen in den Himmel trugen.

"Eine bizarre Idee"

Indes wird Widerspruch laut, und gleich von zwei Seiten. Oberbürgermeister, Stadtrat und Bevölkerung, so heißt es direkt aus Friedrichshafen, sähen einem Erinnerungsort „Landshut“ bei sich mit Missbehagen entgegen, denn die Maschine und all die schlimmen Vorkommnisse, für die sie stehe, hätten mit den hehren Luftfahrt-Traditionen der Kommune nichts zu tun. Auch lässt sich für fünfzehn Millionen vielleicht (vielleicht!) eine Gedenkstätte errichten; für alle Folgekosten – von jährlich 300 000 Euro ist die Rede – müsste die Stadt aber selbst aufkommen.

     In diese Kerbe schlägt, zum andern, Monika Grütters. Die Kulturstaatsministerin vermutet (wie sie betont: zusammen mit dem Rest der Bundesregierung), dass die Friedrichshafener die fortlaufende Finanzierung des Projekts nicht würden „stemmen“ können, und nannte die Idee im Magazin Der Spiegel drastisch „bizarr“. Zwar bot David Dornier, Enkel des Ingenieurs und Unternehmensgründers, an, die „Landshut“ auf einem von ihm zur Verfügung gestellten Grundstück und unterm Dach einer dafür zu gründenden Stiftung auszustellen; dieser Anregung aber unterstellt Grütters einen Mangel an Substanz. Also schlug und schlägt sie andere Schauplätze vor: so Berlins einstigen Flughafen Tempelhof oder den ehemaligen Flugplatz Gatow, wo die Bundeswehr ihr Militärhistorisches Museum unterhält.

     Oder: Hangelar bei Bonn. Mit seinem alten Militär- und einem großen Segelflugplatz kann auch jener dörfliche Ortsteil des nordrhein-westfälischen Sankt Augustin auf einschlägige Traditionen verweisen; vor neunzig Jahren sahen hier sogar einmal sage und schreibe 120 000 Menschen der Landung eines Zeppelins zu. Vor allem aber sitzt hier die GSG 9, deren Kämpen, 1977 von Ulrich Wegener geführt, als „Helden von Mogadischu“ in die deutsche Geschichte eingingen. Störend nur, dass der in Aussicht gestellte Fünfzehn-Millionen-Etat ausdrücklich an Friedrichshafen gebunden ist; eine Umwidmung müsste bei künftigen Haushaltsberatungen beschlossen werden, zu denen es erst nach der Bundestagswahl kommen wird,und die ist auf den 26. September kommenden Jahres terminiert. Bis da ists lang hin.

Ein "würdiger Ausstellungsort" - nur wo?

Noch kniffliger werden die Denkspiele, sobald die Besitzverhältnisse in Betracht kommen. Das Wrack der „Landshut“ gehört dem Außenministerium. Das allerdings hält sich – wie auch das Innenresort – mit Auskünften zur Sachlage bedeckt und lässt lieber Geschwurbel ab: Der Südkurier aus der Bodensee-Stadt Konstanz zitiert das Auswärtige Amt mit der Einlassung, man sehe „in den verschiedenen Vorschlägen aus Verwaltung, Parlament und Gesellschaft ein Zeichen von gelebter Demokratie. Die Vielfalt an Ideen und die offene Diskussion darüber kommt dem Ziel zugute, einen würdigen Ausstellungsort für die ‚Landshut‘ zu finden.“ Um ans besagte „Ziel“ zu gelangen, helfen fromme Sprüche freilich wenig. Von dieser Seite ist bei der Suche nach einem „würdigen Ausstellungsort“ mithin wenig zu erwarten. Und ebenso wenig seitens des Dornier-Museums: Vor einigen Monaten hat Claude Dornier desse Leitung im Streit niedergelegt; die neue Führung ließ unlängst wissen: Man hält sich raus.

     Bizarr – das Wort mag manchem Beobachter der Verwirrung erst recht auf der Zunge liegen, wenn er die Möglichkeit einer „dezentralen Lösung“ erwägt. Aus Monika Grütters Umfeld heißt es nämlich, auch die Ausstellung von Einzelteilen des Flugzeugs an unterschiedlichen Orten gelte durchaus als Option. Das freilich hieße, an der ausgemusterten Maschine nachträglich zu vollziehen, was 1977 sowohl die Entführer wie die GSG 9 vermieden: ihre Vernichtung. Mit der alten „Landshut“ würde auch der Erinnerungsort „Landshut“ buchstäblich in Trümmer geschlagen: in nichtssagende Erinnerungsbrocken. Eine Tragfläche hier, ein Teil des Fahrwerks da oder das Heck dort wäre, für sich genommen, nur das, wonach es aussähe: Schrott; und der hätte ruhig weiter in Brasilien vergammeln können. Denn wer wollte beim Anblick eines solchen Fragments wirklich das Ganze imaginieren: die Form des Flugzeugs, den Passagier-Raum und seinen Inhalt – das Ausmaß 86-fachen, fünf Tage währenden Leids? Jene Variante passt nicht unter einen Hut mit dem, was der prominente Kulturwissenschaftler Jan Assmann unter Erinnerungsorten verstand: nämlich „Fixpunkte“ aus der Vergangenheit, „die im kulturellen Gedächtnis zu symbolischen Figuren gerinnen“. Ein Triebwerk, eine Tragfläche allein geränne zu nichts.

     Die „Landshut“ aber symbolisiert durchaus etwas – und vereint sich in einem gewichtigen Ganzen ihrerseits als Teil mit vielen anderen Teilen: mit dem Bodensee und der Antonow, mit Bundespolitikern und toten Terroristen … Nicht alles, aber überraschend vieles hängt irgendwie zusammen. Darum sollte man auch die „Landshut“ im Stück belassen.



Gesellschaft gestalten

Hier geht es um Kunst, der es um demokratische Freiheiten geht: „Hof Kunst & Kultur“ stellt online die lokale Off-Szene vor und erzählt, wo und wie die Kreativen arbeiten.

Von Michael Thumser

19. Dezember – Auf dem Bildschirm, gleich zu Beginn des Trailers, taucht kurz Alexander Kaiser aus den Tiefen seines Kunstkaufhauses auf, um ein Fenster zu öffnen. Ein alltäglicher Vorgang; hier allerdings wird fast eine symbolische Handlung daraus. Denn mit dem Fenster öffnet der emsige Wirt, der in der Hofer Königstraße während seuchenfreier Zeiten Protagonisten und Repräsentantinnen der lokalen Off-Kultur zu präsentieren pflegt, den Blick in ein ehrgeiziges Onlineprojekt: „Hof Kunst & Kultur“ führt vor, wie hierorts Künstlerinnen und Künstler mit ihren besonderen Gaben „Gesellschaft gestalten“. Kurz nach Kaisers Auftritt bekräftigt sein Kollege Michael Böhm hinterm Tresen des Galeriehauses: „Für eine Stadt mit knapp 50 000 Einwohnern haben wir ein Kulturangebot, das seinesgleichen sucht.“

    Auf zwei Wegen gelangt man am Bildschirm oder Display zum Ziel: direkt über die Web-Adresse www.hof-kunst-kultur.de; oder, kaum weniger umweglos, über www.kulturfilz.de. Aber wie das: Filz? So nennt man doch ein heimliches Bündnis korrupter Menschen, die sich gegenseitig Vorteile zuschanzen? „Hof Kunst & Kultur“ will freilich genau das Gegenteil: transparente Einblicke in die freie lokale Szene und neue Einsichten über sie bieten. Das fatale Wort rührt vom Verein „Kulturzentrum Hof – Alte Filzfabrik“ um den Vorsitzenden Manuel Hoffmann her, unter dessen Dach das Projekt angesiedelt ist. Den Standort beschreibt die Website des Vereins als „Anlaufstelle für die regionale Jugend- und Subkultur“. In der ehemaligen Bayerischen Wollfilzfabrik im Ortsteil Moschendorf hat er sich eine Bleibe eingerichtet und bietet Bands und anderen Kreativen kostengünstige Probe- und Veranstaltungsräume.

Synergie von Hoch- und Subkultur

Indes: Proben? Veranstaltungen? Alle Live-Aktivitäten bremste das Coronavirus auch hier gründlich aus. Der Verein kümmert sich derweil virtuell um die Szene. Die Feder bei „Hof Kunst & Kultur“ führen Fabian Riemen und Frank Wunderatsch. Der eine verbrachte seine Jugend in Regnitzlosau und Hof und arbeitet jetzt als Schauspieler, Produzent und Autor; der andere, aufgewachsen in Helmbrechts und Hof, ist Fotograf, Licht- und Produktdesigner. Gemeinsam entwickelten sie „eine Plattform, auf der die Vielfalt und die gesellschaftliche Rolle der Hofer Kunst- und Kulturlandschaft abgebildet wird“, wie sie mitteilen. Als Unterstützer gewannen sie die Stadt und deren Kulturamtsleiter Peter Nürmberger, das Programm „Demokratie leben!“ des Bundesinnenministeriums sowie den Lions- und den Soroptimist-Club. Der Kreis der Förderer passt mit seiner uneinheitlichen Zusammensetzung ins Konzept: In Hof, loben Riemen und Wunderatsch, habe sich eine Landschaft entwickelt, in der Hoch- und Subkultur „sich gegenseitig antworten und synergetisch wirken“.

    Im Zustand der Kultur, in ihren Spielarten erkennen sie ein „Spiegelbild der Gesellschaft“ und in der Widersprüchlichkeit der Kunstformen und -produktionen ein „Grundelement“ der Demokratie. Das Wesen und die Buntheit der Szene abseits der klassischen Einrichtungen, ihre Einbettung ins Zusammenleben der Menschen in Stadt und Land - all das dokumentieren die beiden nicht trocken durch graues Theoretisieren. Sie fassen Menschen ins Auge, die der Off-Kultur ein Forum bieten, so wie die Herren Kaiser und Böhm das schätzenswert tun. Und sie fragen an jedem Freitag bei einer anderen Künstlerin, einem anderen Künstler der Hoch- oder der Subkulzut nach, warum, wie und wo sie Musik machen oder malen, spielen oder schreiben. Fotos, Texte und, am anschaulichsten, professionell hergestellte filmische Porträts stellen Kreative aus beiden Bereichen vor, die darin ausführlich zu Wort kommen und zugleich in die Räume einladen, in denen sie schaffen.

     Einer von ihnen ist Roland Spranger, arrivierter Hofer Roman- und Theaterautor. Ein bekennend freier Künstler: „Ich hab keinen Bock, mich Konventionen zu beugen“, gibt er, vor vielen Büchern sitzend und von Büchern umgeben, frisch von der Leber weg zu. Beim Schreiben denke er darum wenig an den Leser seiner Prosa, die Zuschauerin eines seiner Stücke, sondern „eher an mich“. Denn „das Relevanteste an einem Text ist, wie viel Freude man selbst daran hat“. Der Erfolg gibt ihm Recht: Ein stattliches Häuflein seiner Romane liegt auf dem Tisch des Arbeitszimmers, und am PC sieht man ihn an einem neuen, „Tiefenscharf“, tüfteln. Das Theater Hof wird, irgendwann ‚nach Corona‘, ein weiteres Bühnenwerk uraufführen.

Kunst bietet Freiheit

Texte mit „Haltung“ will Spranger kreieren, denn Kunst trägt der liberalen Gesellschaft bei. „Totalitäre Systeme“, sagte er leger, aber ernst, „fürchten die Kunst, weil sie Freiheit bietet und Menschen, die nur schwach zu vernehmen sind, eine Stimme gibt.“ An der freien Szene in Hof schätzt Spranger, dass niemand gegen den anderen konkurriere: Hier gebe es keine „Gegenströmungen“, sondern ein Nebeneinander und Sichberühren des „Heterogenen“.

     Jene Vielseitigkeit drückt die Malerin Mine Gümüştekin-Jaballah schon durch den Hidschab aus, das traditionelle Kopftuch, das Haar, Hals und Schultern der Muslima bedeckt. Freundlich in sich ruhend zwischen Wänden voller „Wasserbildern“, erzählt sie, dass sie auch Bäume oder eine Straße mit Autos male. Aber das Sujet ihrer Wahl ist das Flüssige, sanft gewellt oder sprudelnd oder schäumend, blau oder grau, funkelnd wie von Sternen oder ausgebreitet unter einem Wolkenhimmel in flammendem Orange. Das Wasser der Saale, schwärmt sie, sei „schöner als Edelsteine“, und um zu zeigen, wie sie es zum Glänzen bringt, öffnet sie eine Truhe voller Malutensilien, Farbdosen und -tuben.

     Kunst, sagt Gümüştekin-Jaballah, bedeute Freiheit, brauche Freiheit und gebe Freiheit. Und die ist ein Menschenrecht. Ist Kunst auch eins? Jedenfalls ist sie für die Künstlerin nichts Elitäres: „Ich glaube nicht, dass Kunst Talent braucht“, lautet ihre überraschend steile These, „Kunst kann jeder schaffen.“ Sie selbst hat unzweifelhaft Talent und schafft damit Tag für Tag. Sie sagt auch: „Kunst ist das Schöne im Leben“, und man „findet sie überall“; gerade in Hof, wie sie erfahren hat, wenn auch verzögert. In Braunschweig aufgewachsen, hielt sie zunächst nicht viel von der Stadt an der edelsteinernen Saale. Längst aber weiß sie: „Hof ist einfach anders, sehr bunt. Es könnte ein kleiner Teil von Berlin sein.“

     Alexander Kaiser, Hausherr im Kunstkaufhaus, sieht das ganz ähnlich, nur sagt ers im Filmtrailer unverblümter: „Hof war kulturell schon immer geil.“



Der Titan in der Krise

Am Donnerstag jährt sich zum 250. Mal der Tauftag Ludwig van Beethovens. Für ein richtiges „Beethovenjahr“ hat es 2020 nicht gereicht – das Corona-Virus war dagegen. Deshalb soll die Feierei 250 Tage länger dauern.

Von Michael Thumser

12. Dezember – Was wurde eigentlich aus dem „Beethovenjahr“ 2020?

     Bei einer Auktion in Dallas hat vor wenigen Wochen ein Brief 275 000 Dollar eingebracht. Das Stück Papier, zerknittert und vergilbt, teilt nur Gleichgültiges mit; aber es besitzt den einträglichen Vorzug, von der Hand Ludwig van Beethovens zu stammen. Die Kaufsumme – vier Mal höher als vom Versteigerer erwartet – belegt: Der vielberufene „Titan“ der Tonkunst ist und bleibt was wert, zumindest sofern er in Reliquien greifbar ist. Aber darf auch die klassische Musik, die nach Meinung vieler in seinem Schaffen gipfelt, weiterhin mit solcher Geltung rechnen – wo sie Corona-halber doch nicht mehr live erklingt, wer weiß, wie lange noch?

     Am 24. April wollte die Bundesregierung ein „Zeichen der Hoffnung“ setzen, wie sie in der Republik zurzeit wohl jedermann und jede Frau und jede Branche, die Kultur zumal, gut brauchen kann. Als die Corona-Krise sozusagen noch in den Kinderschuhen steckte, kam Kulturstaatsministerin Monika Grütters auf eine Entscheidung der Beethoven-Jubiläums-GmbH zu sprechen; deren Aufsichtsrat hatte angekündigt, das Festprogramm über das runde Geburtsjahr des Meisters hinaus weit ins nächste Jahr hinein zu verlängern. Grütters nahm die Mitteilung freudig auf: „Damit können die abgesagten Veranstaltungen nun verschoben und bis zum Sommer 2021 durchgeführt werden.“ Für die öffentlichen Huldigungen habe der Bund insgesamt 27 Millionen Euro vorgesehen, und die stünden weiter bereit.

     Acht Monate liegt die Frohbotschaft zurück und stammt mithin aus einer Seuchenphase, als der (erste) lockdown zwar für eine harte, wahrscheinlich aber singuläre Zwangsmaßnahme galt. Seinerzeit bestand noch Aussicht, aus dem kommenden Donnerstag, dem 17. Dezember, an dem sich der Tauftag des Bonner Erz-Klassikers zum 250. Mal jährt, „nicht das Finale, aber den Höhepunkt der Feierlichkeiten“ zu machen. Malte Boecker, Direktor des Bonner Beethoven-Hauses und dort Direktor auch der – vom Bund mit der landesweiten Koordination des Jubeljahrs beauftragten – „BTHVN“-GmbH, hatte noch im Juli das vorgeblich Covid-19-freie 2021 guten Glaubens als „sichere Bank“ für Veranstalter ausgegeben. Mittlerweile sind alle Termine im Veranstaltungskalender unter der Dachmarke „BTHVN2020“ gestrichen, und es scheint, allen aufkeimenden Impfprogrammen zum Trotz, so gut wie ausgeschlossen, dass der zweite lockdown mit dem 10. Januar enden könnte, wie zunächst erhofft; im Gegenteil: Gut möglich, dass er sich 2021 noch weiter verschärft. Folglich steht in den Sternen, ob Theater und Kleinkunstbühnen, Konzertsäle und Museen bis zum Sommer wenigstens einigermaßen wieder in die Gänge kommen.

Grütters: Beethovens Musik steht für die Hoffnung

An guten Ideen mangelts indes nicht; auch nicht am guten Willen der zurzeit teils heftig gescholtenen Politik. „Wir feiern“, hatte Grütters bekräftigt, „Beethovens 250. Geburtstag 250 Tage länger.“ So einfach sah das damals aus. Darum also: „Mir ist es wichtig, in dieser beispiellosen Krise für das Publikum und die beteiligten Künstlerinnen und Künstler ein Zeichen der Hoffnung zu setzen, für die auch die Musik Beethovens steht.“

     Nun aber hat sich die Krise verschärft und verdoppelt, nicht die Hoffnung. Schwindet da, mit ihr, die Freude nicht auch? Als die Pandemie noch jung war, glaubten viele, ihr mit loyalem Bürgersinn, mit unverdrossen guter Laune und Galgenhumor trotzen zu können. Landauf, landab schlossen sich über soziale Netzwerke Berufs- und Amateurmusiker in Beethovens Geist zusammen und verabredeten, zu festen Zeiten aus Fenstern und von Balkonen herab die „Ode an die Freude“ aus der neunten Symphonie des „Titans“ vokal und instrumental zu schmettern. Vorangegangen waren ihnen die sprichwörtlich musikliebenden und von Covid-19 besonders heftig heimgesuchten Italiener mit der Aktion „Zeigt euch am Fenster“: Dem mit dieser Devise überschriebenen „Flashmob sonoro“ schloss sich in Rom auch Bürgermeisterin Virginia Raggi an, die ihre Landsleute mit Worten ermutigte, wie sie Angela Merkel vor fünf Jahren während der „Flüchtlingskrise“ sehr ähnlich an die Deutschen richtete: „Zusammen schaffen wir das.“ Auch prominente Einzelkämpfer setzten augenfällige Zeichen: James Blunt, britischer Sänger und Songwriter, postierte sich, während die Säle in der Elbphilharmonie öd und leer bleiben mussten, kurzerhand vorm Haupteingang und legte los. Der Pianist Igor Levit – populärer Klassikstar und im Herbst Mittelpunkt einer Kritikerkontroverse – lud 52 Mal zu „Hauskonzerten“ ein, denen man via Internet beiwohnen konnte.

     Inzwischen haben Resignation, Lähmung, blanke Angst sich breit gemacht. Solbselbstständigen nicht anders als großen Kulturinstituten und -veranstaltern fällt es immer schwerer, tagtäglich ihr Dasein zu fristen; erst recht bangen sie vor der Zukunft ‚nach Corona‘ und fragen sich, ob sie die überhaupt erleben werden. Obendrein sehen sie sich in einen für Deutschland unwürdigen Rechtfertigungsdisput darüber verwickelt, ob Kultur „systemrelevant“ oder nur „lebensrelevant“, schlechterdings unverzichtbar oder bloß unentbehrlich sei und ob es die angeblich elitäre „Hochkultur“ auf ihrem vermeintlich erhabenen Logenplatz weit über der breiten Bevölkerung noch verdiene, aus Steuermitteln gefördert und gefüttert zu werden. Zugegeben, dringend der Klärung bedarf auch die Frage, wer für Wiederanschubfinanzierungen und Dauersubventionen des Kulturbereichs aufkommen soll, wenn es gilt, die horrenden Schäden für die deutsche und europäische Volkswirtschaft zu reparieren; daran aber, die Unterstützung einfach aufzugeben, darf nicht einmal gedacht werden.

Wird es jemals wieder so schön wie früher?

Unter den Künstlerinnen und Künstlern sehen die einen sehnsuchtsvoll dem Moment entgegen, an dem sie dort weitermachen wollen, wo sie vor dem 22. März oder dem 1. November haben aufhören müssen. Andere unken: So wie früher, so wunderschön, wirds niemals wieder. Als von all dem noch nichts zu ahnen war, just ein Jahr ists her, da erklomm die Vorfreude auf das zu erwartende Jahr der klingenden Lustbarkeiten einen Höhepunkt: Im November 2019 rief Monika Grütters Beethoven zum „berühmtesten Deutschen“ aus – was ihr Luther, Bach, Goethe und Konsorten vielleicht nachsehen – und stellte an der Seite von Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet in Berlin das nationale Gesamtprogramm für die Jubiläumsperiode vor. Sage und schreibe auf gut tausend Konzert- und Musiktheater-Aufführungen, Ausstellungen und Kongresse verwiesen die beiden dabei; auch Maskenzüge und Spaßveranstaltungen, ein extra komponiertes Musical und sogar Projekte einer Gehörlosen-Schule sollten dazugehören.

     Beethoven-„Marathons“, so hieß es, würden Unentwegte und Unermüdliche nach Bonn locken. In der Bundeshauptstadt startete der Rundfunkchor die Spendenaktion „Beethoven braucht dich!“, deren Erlös einem „außergewöhnlichen Filmprojekt mit der ‚Missa solemnis‘ als Solistin“ und einem Kompositionsauftrag für ein Chorfest in der Philharmonie zugedacht war. Im In- und Ausland traten mehr oder weniger illustre Orte an, der globalen Feierei mehr oder weniger umfassende Konzepte beizutragen, so der Kissinger Sommer oder Veranstalter in Esslingen, in Wien, in Wellington auf Neuseeland … „Beethoven-Jahr auf allen Kanälen“, titelte die Deutsche Presse-Agentur. So groß wie die Hoffnung war damals die Freude. Auf eine Art Sankt-Nimmerleins-Tag ist all das längst aufgeschoben. Wenn nicht aufgehoben. Derzeit müsste die Agentur über ihre Meldung schreiben: Beethoven-Jahr macht Generalpause.

Drei Monate lang nur Klavier gespielt

Die kann man freilich nutzen. Nicht wenige Tonträger-Labels und etliche Tonkünstler erwiesen dem „Titan“ mit neuen CDs oder der Wiederveröffentlichung älterer Aufnahmen die Ehre. So spielte Daniel Barenboim, weltweit einer der großen alten Herren der klassischen Musik und seit siebzig Jahren gefeierter Pianist, alle Sonaten Beethovens auf CD ein. „Seit fünfzig Jahren“, sagte er, „gab es keine Phase, in der ich die Zeit gehabt hätte, drei Monate lang nur Klavier zu spielen“; jetzt wars soweit, und er hat in den 32 Werken „auch immer wieder Neues entdeckt“. Dem Künstler mag der Einfall, sich auf so anspruchsvolle Art die kostbare Zeit zu vertreiben, wie ein Licht aufgegangen sein; für ungewöhnlich darf man sie nicht halten: Auch Igor Levit verfiel auf sie – und Barenboim bereits zum fünften Mal. Inwieweit selbst feine Ohren dafür taugen, die nuancierten Unterschiede zwischen seinen Interpretationen wertschätzend wahrzunehmen, muss sich erweisen.

     Wie zum Kehraus aus dem Beethovenjahr erhebt sich der Komponist leibhaftig über dem Personal der weihnachtlichen Bonner Stadtkrippe im Münster-Carré. Etliche Figuren des winterlich bunten Treibens tragen Mund-Nasen-Schutz, und der Meister, vom Sockel seines Denkmals vor der Alten Post herab, dirigiert sie – buchstäblich, mit dem Taktstock. 6068 Kilometer entfernt, in New York, konnten Zuhörer unlängst eine umfassende Darbietung seiner bedeutendsten Kammermusik erleben: Knapp eine Woche lang interpretierten vier Streicher sämtliche sechzehn Streichquartette live. In einem Gebäude gegenüber dem Metropolitan Museum durfte ihnen jeweils ein Zuhörer oder ein Paar oder eine Gruppe von Personen, die (wie das seit acht Monaten so griffig heißt) in einem Haushalt leben, zehn Minuten lang lauschen; dann kamen die nächsten Besucher an die Reihe. Der Zulauf war beträchtlich. Am Ort des Geschehens – das Anwesen gehört der Bundesrepublik – residierte übrigens lang das Goethe-Institut; jetzt firmiert das Gebäude als „Platz für Ideen“. Was könnte besser passen. Was könnte, Corona seis geklagt, nötiger sein.



Zwei Hände, die handeln

Haargenau über der Grenzlinie zwischen Selb und Aš haben Kulturorganisationen der Partnerstädte ein spektakuläres Kunstobjekt errichtet. Ebenso wie zwei große Stahlräder gehört es zum Projekt „Europa – ganz nah“.

Von Michael Thumser

Selb, Aš, 1. Dezember – „Werden wir uns je wieder die Hände schütteln?“, fragte schon im Mai das Jump-Radio des Mitteldeutschen Rundfunks und machte (sprachlich holprig) wenig Hoffnung: „Zu gefährlich ist es, dass der Sars-CoV-2-Erreger dabei übertragen wird.“ So schlägt das – zu Recht gebotene – social distancing anhaltend durch bis in so intime Lebensbereiche wie den Kontakt zu Freunden, Kollegen oder dem Arzt.

     Auch die zwei mächtigen Hände, die seit Kurzem auf der Straße zwischen Selb und Aš haargenau über dem deutsch-tschechischen Grenzverlauf schweben, scheinen zu begrüßendem Körperkontakt bereit und vermeiden ihn doch. Zwar passt das Bild so (auch) zu den gängigen Verhaltensmaßregeln im Zeichen der Pandemie, als wärs ein Appell: Fasst euch nicht an! Gleichwohl hängen die Hände nicht unmittelbar mit ihnen zusammen. Denn keinen Handschlag zwischen den Grenzanrainern, der Tschechischen und der Bundesrepublik, soll das Großobjekt symbolisieren; sondern es illustriert eine „Handreichung“: Hier wird nicht fest, schon gar nicht gewaltsam zugegriffen; sondern man nähert sich an, ähnlich der Art, in der auf Michelangelos berühmtem Schöpfungsfresko an der Decke der Sixtinischen Kapelle in Rom der Finger Gottvaters berührungslos dem Finger Adams entgegenkommt. Auch am Grenzübergang wird nicht genommen, sondern gegeben – überreicht, verbreitet, vermittelt … Zwei Hände, die handeln: Inspirierend an solcher Kunst wirkt, dass sie, dank expandierender Ästhetik und konzentrierter Ausdruckskraft, allen möglichen Deutungen offensteht. Nur positiv, das liegt fest, müssen die Deutungen sein.

Wuchtig, luftig, frei

Die „Handreichung“ entstand im Rahmen des bilateralen Kunstprojekts „Europa – ganz nah“, zu dem sich der Kunstverein Hochfranken Selb und „Knivova, Muzeum a Informacni centrum“, eine eigenständige Einrichtung der Partnerstadt Aš, zusammentaten. Als Schirmherren treten keine Geringeren als die Außenminister der Nachbarstaaten, Heiko Maas und Tomáš Petříček auf, als Projektleiter firmiert der umtriebige, als Grenzgänger erfahrene Hans-Joachim Goller. Von 1976 bis 1996 diente er Selb als Zweiter Bürgermeister und Kulturdezernent, initiierte dort den 1990 gegründeten Kunstverein und führte schon bei etlichen west-östlichen Aktionen die Feder. Der Verein bringt zehn Prozent der Projektkosten von insgesamt 180 000 Euro auf, fünf Prozent steuert die Oberfrankenstiftung bei; den Löwenanteil von 85 Prozent übernahm die Europäische Union.

     Drei mal drei mal drei Meter misst das würfelförmige Stahlgestell, in dem die Hände auf Abstand und doch dicht beieinander an Edelstahlseilen befestigt sind, wuchtig, luftig und frei. Eine Hand arbeitete Wolfgang Stefan aus Vielitz bei Selb aus einem einzigen massiven Holzklotz heraus, während die andere sein tschechischer Kollege Tomáš Dolejš aus etwa 150 Stahlblechplatten zusammenfügte. In Größe und Geste konform, machen die Hände aus ihrer Ungleichartigkeit keinen Hehl und ergeben trotzdem ein Paar. Sie an Ort und Stelle zu bringen, war indes kein leichtes Unterfangen: „Einen Hindernislauf“ nennt Goller die Zeit vom Antrag bei der deutsch-tschechischen Grenzkommission – die der Kunst zuliebe eine „Ausnahmegenehmigung der seltensten Art“ erteilte – bis zur kurzen Teilöffnung des Übergangs, der zur Zeit der Aufstellung coronabedingt geschlossen war.

     Europa – ganz nah? Barrieren könnten sich auch auf einem weiteren Gebiet des Projekts auftun. Denn so, wie der Kunstverein es umreißt, zielt es als Ganzes darauf ab, „zusammen mit Künstlern, Wissenschaftlern, Politikern und Jugendlichen aus Selb und Aš neue grenzüberschreitende Netzwerke für die Zukunft aufzubauen“. Wie aber soll das gehen, wenn – wie Hans-Joachim Goller einräumt – auf tschechischer Seite nur mehr gelegentlich Deutsch gesprochen wird und in Deutschland kaum noch jemand die Ausdauer aufbringt, Tschechisch zu lernen? Hier baut der Organisator nicht zuletzt auf die jungen Leute: „Die lernen“, bestätigt er, „heutzutage auf beiden Seiten Englisch fast wie eine zweite Muttersprache.“

     Zum Dritten fügen sich zwei weitere Objekte ans Kunstprojekt an: zwei weitgehend baugleiche, in wichtigen Details allerdings unterschiedliche „Europa-Räder“. Eines, von Detlev Bertram geschaffen, wurde in Aš am Textilmuseum (Mikulášská 3) platziert, das andere, von Jan Samec , am Selber Schützengarten (Hohenberger Straße 33). Zusammen kennzeichneten sie „die Schwesterstädte als grenzüberschreitende Europastadt Selb-Aš“, interpretiert der Kunstverein. Dabei versinnbildliche das Rad „die Vitalität und Mobilität in Europa, die Dynamik des Miteinanders auf allen Ebenen. Die vielfarbigen Glasscheiben in den Rädern symbolisieren die unterschiedlichen Perspektiven“ auf den Kontinent. Die Gläser in Selb, marmoriert, sind den zwölf Monaten und Tierkreiszeichen zugeordnet, jene in der Nachbarstadt monochrom gestaltet. Keine Fenster: Zwar für Transparenz stehen die Scheiben, aber nicht simpel für Durchblick, sondern, wie es scheint, durchaus idealistisch für die Buntheit der Lebenshaltungen, für die Bandbreite der Zukunftsmöglichkeiten. Dabei erinnern sie zugleich an die Schaufelbretter oder -bleche in Mühlrädern. Vielleicht besagt das – sofern auch diese Kunstwerke offen sind für alle möglichen positiven Deutungen–: Es muss, um Europa weiter zu einen, noch reichlich geschaufelt, geschürft und ausgehoben werden. Doch solang das Rad sich dreht, erzeugt es Energie.



Lauernde Unsicherheiten

In Hof stellt Matthias Politycki seinen neuen Roman „Das kann uns keiner nehmen“ vor. Als kundiger Weltreisender, erfahrener Erzähler und sympathischer Plauderer erzählt er von Liebe und Freundschaft im Schatten des Kilimandscharo.

Von Michael Thumser

Hof, 28. Oktober – Zum „Spitzentitel“, erzählt Matthias Politycki in Hof, ernannte der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe seinen jüngsten Roman, als er ihn im März veröffentlichte. Wichtiger Teil der geplanten Werbekampagne für „Das kann uns keiner nehmen“ sollte eine ausführliche Lesereise sein. Doch sie wurde abgesagt, zwei Mal sogar, im Frühjahr zunächst, jetzt im Herbst wieder, und natürlich ist beide Male Corona schuld. Als „Weltreisenden“ zwar kennt Regine Kaiser von der zur Lesung einladenden Hofer „Buchgalerie“ den renommierten Autor; der aber weiß zum Glück erklärtermaßen auch kurze Trips zu schätzen: wie jenen, der den in Hamburg und München lebenden Autor am Mittwoch wieder nach Hof führte. Seine Mutter stammte von hier, eine Kusine lebt in der Stadt, in der er, kurz vorm Lockdown, die auf absehbare Zeit letzte Lesung schnell noch absolviert.

     Das passt. „Mein schnellstes Buch“ nennt er den Roman. Kaum vom Kilimandscharo an den heimischen Schreibtisch zurückgekehrt, habe er ihn „wie im Rausch geschrieben“. Denn er schrieb ihn sich von der Seele. In der Handlung stecken versteckt Elemente von eigenen existenziellen Erlebnissen: Erinnerungen an eine schwere Krankheit am Fuß von Afrikas höchstem Berg, an eine Nahtoderfahrung in Ruanda während einer „Bürgerkriegspause“, an eine lebensbestimmende Herzensangelegenheit.

Ein bleicher Zausel, der immer noch den Rocker geben will

Fiktiv ummantelte Politycki all das mit der Geschichte einer „Männerfreundschaft wider Willen“. Die Beteiligten charakterisiert er, unter anderem den Romanbeginn vorlesend, mit undramatisch sanfter, aber lebendig akzentuierender Stimme. Auch der Icherzähler ist Schriftsteller – wenn auch kein Selbstporträt Polityckis –, eine Schreibpause, vielleicht eine Schreibblockade hat ihn ausgebremst. Auf dem Kibo, dem höchsten Gipfel, will er mit dem Kilimandscharo eine „offene Rechnung“ begleichen. Allerdings kommt seiner depressiven Gedächtnishygiene ein wüster Althippie, „Unsympath und Prolet“ in die Quere, vorderhand ein dünner und bleicher „Zausel, der immer noch den Rocker geben" will. Aber bald spüren beide Männer, dass innere Not sie „zwangsweise“ zueinander und zur Tugend einer fast irrealen Verbundenheit führt: Hans, der „politisch korrekte“ Hamburger, lernt die „eigene Form von Humor“ zu schätzen, womit „der Tscharlie“ in lapidarer, laienphilosophisch zupackender Miesbacher Mundart jeden eisigen Vorbehalt wegtaut. Auf frisierten Motorrollern über die Insel Sansibar brausend, feiern sie ein paar Tage lang die schiere Lust am Leben. Das traurige Ziel des Ausflugs freilich ist ein Krankenhaus: Denn „dem Tscharlie“ bleibt nicht mehr viel Zeit für den weisen Unfug, mit dem allein er sein erlöschendes  Dasein zu meistern vermag.

     Als Erzähler des Buchs wie als leibhaftiger Rezitator in eigener Sache unterminiert Politycki lange kaum spürbar die vermeintliche Komödie, in der es doch „eigentlich darum geht, dass gestorben werden muss“. Denn in seinen flüssig formulierten Auslassungen über den Liebesschmerz und die abenteuernde Lebenssehnsucht des gedankenschweren Intellektuellen aus Norddeutschland und des „charmanten Rüpels“ mit dem bairischem Quer- und Betonkopf klingt zugleich und immer vernehmlicher ein Grundton der Krise mit.

     Dass Matthias Politycki währenddessen plastische Bilder der Fremde entwirft, ohne sie als Exotik auszustellen, ist ein vordringlicher Vorzug seines Schreibens, ganz wie er einem „Weltreisenden“ gebührt: Knapp, aber farbig, mit zuverlässigem Gespür für Atmosphären und die „lauernden Unsicherheiten“ in ihnen faltet er Landschaften unter „diesem riesigen afrikanischen Himmel“ auf und setzt darin erhellend Handys und Satellitenschüsseln gegen die Ärmlichkeit roher Holzhütten mit Dächern aus Plastikplanen; auch setzt er das „offene Draufloslachen“ ungemein offenherziger Menschen gegen ihre „große Verlorenheit danach“.

     Bei so viel spürbarer Empathie für Land und Leute verwundert es, dass sich der Icherzähler Hans (und mit ihm der Erzähler Politycki) zu umso zweifelhafteren Klischees hinreißen lässt. „Das ist Afrika!“, heißt es Mal um Mal verzückt. Indes: Nein, das ist eben nicht „Afrika“, sondern ‚nur‘ Tansania, eines seiner 55 Länder. Von dem Riesenkontinent, der ein Drittel der globalen Landmasse umfasst und dem kleinen Europa drei Mal Platz böte, spricht Politycki leitmotivisch wie vom aufatmend erreichten, überschaubaren Ziel einer Traumreise. Auch stilistische Marotten machen sich im Text störend bemerkbar, unter anderem (und vor allem) Inquit-Formeln, die ein schlichtes „Sagte er“ oder „Entgegnete sie“ gegen Tätigkeiten austauschen: „Drei der Zelte seien übrigens die unsern, setzte er das Glas wieder ab.“ In einer (in Hof nicht vorgelesenen) Passage auf Seite 191 prangt jene Unart als ausgewachsene Stilblüte: „‚Verdammte Scheiße‘, wollte ich mit der Faust auf den Teppich schlagen. Aber ich tat es nicht.“ Um dergleichen zu verhüten, ist der Lektor da.

     Den hinderte Politycki hingegen an anderer Stelle wohlweislich daran, einzugreifen. Umstritten war, wie er erzählt, eine Passage, worin Afrikaner die Flüchtlingspolitik Deutschlands und Europas beurteilen – verurteilen nämlich, wofür sie Gründe geltend machen. „Erzähl die Wahrheit“, hatten die tansanischen Gefährten von Politycki und seinem Roman gefordert; wirklich geht es ihm um nichts anderes. So authentische Stimmen fängt ein „Weltreisender“ erst ein, wenn er ein Land ergründet, indem er aufrichtig mit den Leuten spricht. „Reisen“, sagt Politycki, aus eigener Erfahrung  klug, beginnt, wo Urlaub aufhört.



Optimismus unterm
Schwert des Damokles

Bei der Vorstellung des Spielplans für die Saison 2021/22 erinnert das Theater Hof daran, wie lange und wie eifrig es das Genre Musical schon pflegt, und kündigt eine weitere Uraufführung an. Ivo Hentschel kehrt als neuer Chefdirigent zurück. 


Von Michael Thumser

Hof, 16. Oktober – Mag sein, dass die Hoffnung zuletzt stirbt, wie man so sagt. Im Theater Hof lebt sie erst mal kräftig auf, und das gleich doppelt. Denn dass Techniker, Inszenierungsteams und Ensembles am 30. Oktober, zur Premiere von „Wiener Blut“, endlich mit dem Publikum in die so gut wie fertige, gleichwohl von Stadt und Generalunternehmer umkämpfte Schaustelle einziehen werden – davon gehen Intendant Reinhardt Friese, Oberbürgermeisterin Eva Döhla und Kulturamtsleiter Peter Nürmberger derzeit aus. Garantieren freilich könnten sie nichts, räumen sie ein. Noch baumelt ein Schwert des Damokles über ihnen.

     Zum andern hofft Friese, spätestens ab Herbst 2021 wieder „mit großem Besteck“ ans Werk gehen zu können, also mit Chor, Ballettcompagnie und Symphonikern in voller Stärke. Optimistisch schaute er am Freitag im Foyer des Theaters in die Zukunft, als er der Presse kurz nach Beginn der laufenden Spielzeit bereits den Spielplan der kommenden vorstellte. Er hat Grund, sich mutig zu zeigen: Trotz Corona bleibe das Publikum treu. „Abonnements wurden kaum gekündigt, und momentan können wir gar nicht genug Vorstellungen anbieten, um die immense Nachfrage, auch nach Gastspielen außerhalb Hofs, zu befriedigen.“

     Wer ein Theater besucht, tuts nicht zuletzt, weil er sich als soziales Wesen unter seinesgleichen tummeln will. Indes weiß auch Friese vom „Rückzug vieler Menschen ins Private, in Blasen und Echokammern“ – ein bedenklicher Zug der Zeit. Sein Programm für 2021/22, „Künstler, Killer, Könige“ betitelt, will ergründen, wie Menschen miteinander umgehen, und an sie appellieren, „sich zu versammeln“, auch im Hofer Haus, nach der Pandemie, unter möglichst normalen Umständen. Dann wird nachgeholt, was auf die lange Bank geschoben werden musste, so die Strauß-Operette „Die Fledermaus“, Mel Brooks’ und Thomas Meehans Musical „The Producers“ und, als große Oper, „Lucia di Lammermoor“.

     Auf Letztere verweist Friese, weil Gaetano Donizettis populäres Werk eine der bedeutsamen musikdramatischen Frauengestalten der nächsten Saison enthält. Weitere derart schicksalsschwangere Damen bietet das (dann technisch auf den neusten Stand gebrachte) Große Haus mit Luigi Cherubinis „Medea“ auf – und mit „Helena Citrónová“; die erst im vergangenen Januar uraufgeführte Oper des Thailänders Somtow Sucharitkul erzählt die wahre Geschichte einer verbotenen Liebe in Auschwitz und wird in Hof zum zweiten Mal überhaupt produziert.

Theater Hof goes Broadway

Mit einem Seitenblick und –hieb auf ungenannt bleibende, aber erkennbar benachbarte Theaterunternehmen erinnert der Intendant daran, wie lang und eifrig gerade sein Haus das Genre Musical schon pflegt: „Kein deutschsprachiges Theater tut dafür so viel wie wir.“ Geradezu auf einem „Hochfranken-Broadway“ sei man mit den vergangenen vier Ur- und zwei deutschen Erstaufführungen unterwegs. 2022 steht eine weitere Weltpremiere an: Für „Jack the Ripper“ mit der Musik von Frank Nimsgern schrieb Friese selbst das Textbuch. Statt „blutrünstigen Splatters“ verspricht er „soziale Hintergründe“. Mit Astor Piazzollas Tango-„Operita“ „María de Buenos Aires“ und einem Studio-Abend sind die Tänzerinnen und Tänzer des Balletts wieder mit im Spiel, sofern sie dürfen, wie sie wollen.

     Zum Thema Musik stellt das Theater einen Neuzugang vor: einen Herrn, der schon mal da war. Ivo Hentschel, 2013/14 hierorts erster Kapellmeister, kehrt 2021 als Chefdirigent zurück. In Cottbus, Berlin, Schwerin tat er sich zwischenzeitlich um, wie er berichtet; nun freut er sich auf Hof, weil die hier breit aufgestellte Musiksparte „in Sachen Oper, Operette und Musical gleichbleibend lebendig ist, ohne Rangunterschiede gelten zu lassen“.

     Mit Uraufführungen lockt gleichfalls das Hofer Schauspiel. Ein Auftragswerk kommt von keinem Geringeren als Franzobel alias Franz Stefan Griebl, einem der zurzeit prominentesten Autoren Österreichs. Er greift den Hofer Hexenprozess gegen Anna Viehmann und ihre Hinrichtung im Jahr 1665 auf – ein Verweis auch auf digitale Hexenjagden heutzutage, wie Reinhardt Friese anmerkt. Zudem tut sich das Theater zum vierten Mal mit dem fleißigen Hofer Schriftsteller Roland Spranger zusammen: Von ehrgeizigen Frauen in der weitgehend patriarchalischen neurechten Szene soll die Produktion handeln. Klassisches kommt von William Shakespeare („Richard der Dritte“) und für Kinder hinzu (Otfried Preußlers immergrüner „Räuber Hotzenplotz“) – und, nach „Penthesilea“ und „Käthchchen“, neuerlich von Heinrich von Kleist: Man wagt sich an den „Prinzen Friedrich von Homburg“, ein Drama, das, weil unübertroffen poetisch, aber auch schlachtenlärmend preußisch-national, nicht oft gegeben wird. „Wiederentdecken“ wollen die Schauspielerinnen und Schauspieler Tennessee Williams („Die Nacht des Leguans“), Albert Camus („Caligula“) und Heiner Müller mit seiner „Hamletmaschine“ von 1977.

     Für Zuschauerinnen und Zuhörer heißt all das: Sie können was erleben – mit einem Spielplan, der wohl, wie Oberbürgermeisterin Eva Döhla lobt, „alle Begeisterungsgruppen“ anspricht. Wirklich darf es in Zeiten wie diesen aufseiten der Theaterleute wie des Publikums an Zuversicht und Enthusiasmus weniger fehlen denn je. Döhla: „Wir brauchen Unerschütterlichkeit.“



Ein Salat von Engelsbeinen

Dieter Richter ist mit „Fontane in Italien“ unterwegs. Der Vortrag des in Hof geborenen Literaturwissenschaftlers lässt keinen Zweifel daran: Dem „Mann des Nordens“ war sein Preußen lieber.

Von Michael Thumser

Hof, 14. Oktober – Ein Mann des Südens ist einem „Mann des Nordens“ auf der Spur, als der in den Süden reist. Kompliziert? Gar nicht, wenn Dieter Richter davon erzählt: von Theodor Fontane, der sich bekennend im Norden – in Berlin und der Mark Brandenburg, auch in England oder Schottland – deutlich wohler fühlte als in Italien. Gleichwohl verfügte sich der „große Reisende und große Reiseschriftsteller“ 1874 (und noch einmal 1875) dorthin, pflichtschuldig beinah.

     Umso lieber hält Dieter Richter, Germanist und erklärter Mann des Südens, sich dort auf. 1938 in Hof geboren, als Professor jahrzehntelang im Norden, in Bremen, lehrend, ist er als Kulturwissenschaftler, Völkerkundler und genießender Mensch zur Hälfte im „Süden“ zu Hause, einer Himmelsrichtung, deren Historie er 2009 in einem erfolgreichen, preisgekrönten Sachbuch nachvollzog. Die Stadt Amalfi verlieh dem Gelehrten die Ehrenbürgerwürde, der Staat Italien einen hohen Orden. Wer sollte dem preußischen „Mann des Nordens“ dorthin kenntnisreicher folgen?

     Richter spürt ihm, vor vierzig konzentrierten Zuhörerinnen und Zuhörern im vollbesetzten Saal der Hofer Münch-Ferber-Villa, in einem Vortrag nach, der einmal mehr die Vorzüge dieses notorisch fesselnden Experten ausbreitet: unerschöpfliches Wissen und unprätentiöses Auftreten, lebendige Rhetorik und verständliche Darstellung. Einer, der gründlich Bescheid weiß: Nicht nur, dass er, um sein Buch „Fontane in Italien“ zu schreiben, noch einmal alle Romane und Erzählungen des poetischen Realisten und realistischen Poeten durchlas, wie er einfließen lässt; er stöberte auch in den Briefen und Tagebuchaufzeichnungen sowohl des Schriftstellers wie seiner Frau Emilie.

     An ihrer Seite brach der 54-jährige Gemahl am 30. September 1874 in Berlin auf, um in der Eisenbahn, der für den späteren Romancier „großartigsten Erfindung unserer Tage“, über Verona und Venedig, Florenz, Rom und Neapel in die noch ziemlich frischgebackene Reichshauptstadt zurückzukehren. Genau fünfzig Tage waren die beiden fort, addiert Dieter Richter vor, ein Resümee des „großen Reisenden“ zitierend: „Trouble und Hetzjagd“, alles in allem, und immer zu wenig Zeit für die am Baedeker orientierten Besichtigungen von Fiesole, den Albaner Bergen, Capri … Den Fontanes erging es nicht anders, als es Touristen heute ergeht. Immerhin: „Was zu leisten war, war geleistet.“

Toscana, Venedig, der Lido  - „eigentlich langweilig“

Den Charakter des Preußen und des Erzählers Fontane erkennt Dieter Richter auch im „großen Reisenden“ wieder. Mit ihm sei ein „Skeptiker“ unterwegs gewesen, einer, der nur der subjektiven Anschauung, dem eigenen Urteil vertraut und dem beflissenen Enthusiasmus eines gedruckten Reiseführers gerne widerspricht. Denn er will sich prinzipiell „nicht faszinieren lassen“, weder von den Hügeln der Toscana oder der Fahrt zum Lido von Venedig, die Fontane „eigentlich langweilig“ findet, noch von Bildkunst, die man gefälligst für Meisterwerke zu halten hat. Fontane verweigert sich: „Ziemlich kalt“ lassen ihn vielbestaunte Gemälde etwa Tizians, Rafaels und anderer Zelebritäten, in denen er schon mal, „flott zusammengeschmiert“, einen „Salat von Engelsbeinen“ gewahrt.

     Als „Mann des Nordens“ an „Askese“ gewöhnt, unterzieht er sich mitsamt der Gattin der klassischen Bildungsreise wie einer „Arbeit“. Und die erledigt er nach eigenem Gutdünken: „Es kommt nicht auf die Masse des zu Schauenden an“, notiert er – und dürfte es heutigen Massentouristen so in die Stammbücher schreiben –, „wichtig ist: Das Auge darf nicht trübe sein.“ Geschärft ist Fontanes ganz unverschleierter Blick beinah ausschließlich fürs Historische: Dort, wo Landschaft als Erinnerungsort taugt, sieht seine Wahrnehmung sich angestachelt, am Trasimenischen See zum Beispiel, vernichtete doch Hannibal dort 217 vor Christus eine römische Armee. Dergleichen inspiriert den auch als Militärhistoriker namhaften Fontane weit mehr als ein ergreifendes Naturpanorama.

     So verwundert es nicht, dass er, mit Nationalstolz dem neuen deutschen, preußisch geführten, gegen Frankreich siegreichen Kaiserreich verbunden, „die Spree und die Müggelberge“ in Berlins Südosten dem schimmernden Golf von Neapel, dem qualmenden Vesuv vorzieht. Vor solchem Süden, das steht für Fontane fest, muss sich sein Norden nicht verstecken. Was ihn nicht hinderte, in seinem bedeutenden erzählerischen Schaffen, das nach der Rückkehr aus Arkadien den Anfang nahm, immer wieder auf die italienischen Reiseerfahrungen anzuspielen. Vier Belege nennt Dieter Richter, und jedesmal handelt sichs um eine Hochzeitsreise: die der tragischen Effi Briest und die der Ehefrau des Offiziers Schach von Wutenow, die erst als Witwe des Selbstmörders Rom besucht, dann die der sich emanzipierenden Melanie von Straaten aus „L’Adultera“ an der Seite ihres Geliebten – und schließlich die Hochzeitsreise des jungen Woldemar von Stechlin mit seiner Armgard, „die einzig gelungene“ unter den genannten. In jenem letzten und – nicht nur für den Vortragenden – schönsten Fontane-Roman ahnen die Eheleute eine magische Verbindung zwischen dem aufregend rauchenden Vesuv und dem weit weniger unruhigen, gleichwohl erregbaren Stechlinsee in der brandenburgischen Heimat – für Richter „ein wunderbares Bild für die globale Vernetzung der Welt“.



Unwillkürlich komponiert

Der Lido liegt in Hof: Moritz Holfelder zeigt in der Freiheitshalle Momentaufnahmen von den Rändern der Filmfestspiele in Venedig und dem „Strand des Kinos“.

Von Michael Thumser

Hof, 24. September – Krise ist, wenn die unvorstellbare Ausnahme zur goldenen Regel wird. Stell dir vor, es gibt Kultur, und nur ein paar Leute gehen hin: So ließe sich in diesen Monaten ein Aperçu von Carl Sandburg (das nicht von Brecht stammt) abwandelnd. Aus der wunderlichen ‚Vorstellung‘ wurde Wirklichkeit, weil Corona-Viren unsichtbar umherschwirren. Zwar gewöhnten wir uns an die Masken vor den Mündern; nun aber startet die Kultur in eine Wintersaison, während der Schauhallen, Musentempel, Kunstkneipen höchstens zur Hälfte von Besuchern bevölkert sein dürfen. Wo Menschen die Räume nicht selten bis zum letzten Platz füllten, bleiben derzeit Plätze aus Sicherheitsgründen mit Absicht frei, um notwendige Distanz zu schaffen. Das gabs noch nie, befremdet stark, und ob die Gäste sich daran gewöhnen werden, steht in den Sternen. In denen über Hof und denen überm Lido.

     Denn auch die dortige 77. Auflage der Filmfestspiele von Venedig habe heuer unumgänglich zur „Ausnahme“ werden müssen, teilte Katja Nicodemus am Freitag im großen Foyer der Freiheitshalle mit: Über Absperrungen vor den Kinopalästen und über unbesetzte Sitzreihen in ihnen berichtet die Zeit-Feuilletonistin – viel eingehender aber, und mit sympathisch privater Anschaulichkeit, darüber, wie es bei der Mostra und darum herum bis 2019 zuging. Beinah poetisch vergleicht sie das Weltfestival mit Hof, dessen Filmtage sie von wiederholten Besuchen gleichfalls kennt und wo sie nun als eloquente Rednerin hilft, eine Ausstellung mit Fotografien ihres bayerischen Kollegen Moritz Holfelder zu eröffnen. An der Saale fand Nicodemus eine ähnlich beiläufige Beschaulichkeit vor wie zwischen der „sonnendurchfluteten Vergänglichkeit“ der Lagunen-Bauten; dies „achselzuckende Eigenleben“ behalten beide Plätze als Regel bei, mag die Kinoprominenz, indem sie sich ein paar Tage lang scharenweise die Klinken in die Hand gibt, auch hier wie dort den Ausnahmezustand inszenieren.

     Den Lido schätzt die Kritikerin als „Sehnsuchtsort“, als einen „Ort der Bilder auch jenseits der Kinoleinwand“. Gerade da, mal mehr, mal weniger abseits vom roten Teppich, hat sich Moritz Holfelder im vorvergangenen Spätsommer aufgehalten, um als Fotograf tätig zu werden: am „Strand des Kinos“. Strand ist, wo das Meer aufhört und das Land noch nicht anfängt und andersherum; keine Grenze, sondern ein Bereich dazwischen. Hier trieb sich Holfelder mit offener Neugier, deshalb ohne festes Ziel herum. Keine gesucht hohe, elaborierte Lichtbildkunst brachte er mit, sondern fast ausschließlich attraktive Beispiele für die rasche Reaktion dokumentierender Reportage-Fotografie. Nicht mit jeweils zahllosen Aufnahmen versuchte er sich an seinen Motiven; er hielt drauf: auf Menschen, Gebäude und Räume, Wasser und Wolken, Bauzäune und Bagger …

Spannung und Nonchalance

Auf Menschen vor allem. Um die Beine einer überschlanken Beauté plustert sich das schneeweiße Gewölk eines Galakleids; in lächelnder Runde spielen ältere Männer Karten, halbnackt, mit dicken Brüsten; emsig treffen Straßenarbeiter und Reinigungskräfte letzte Vorbereitungen; unbeteiligt streckt sich ein junger Schläfer im Sand aus. An einer Wand des Hofer Festsaal-Foyers reihen sich Bilder vom Schauen aneinander: Leute, die durch ihre Gleitsicht- oder Virtual-Reality-Brillen blicken oder auf ihr Smartphon glotzen oder von einer Balustrade hinunter oder über Zäune hinweg linsen oder auf die Kinoleinwand starren; dazu Poser, die sich zur Schau stellen; massenhaft Pressefotografen, die aus einem Pulk heraus einen Star ablichten. Zu Themengruppen stellt die Ausstellung Momentaufnahmen zusammen, die als Schnappschüsse von zufällig aufgestöberten Sujets durchgingen, wirkten nicht die besten unter ihnen trotzdem wie unwillkürlich komponiert.

     Auf Kalenderblatt-Format beschränkt sich das meiste. Doch auch schöne Großformate sind zu sehen: „Wasser und Meer“ mit der ungeordneten Aufgeregtheit brandender Wellen; und, gleich daneben, „Hinter den Kulissen der Mostra“ mit den umso strengeren Lineaturen von luftigen Premierenfeier-Aufbauten und raumgreifenden Schatten am Strand. Viel Leichtigkeit und Spontaneität atmet die Atmosphäre der Bilder, zwischen denen sich ein Rhythmus aus erwartungsvoller Spannung und Nonchalance ergibt. Auf fünf von ihnen wird hintergründig zwar Großes und Gravierendes, die Kinowelt Bewegendes erwartet; gleichwohl drücken die Gesichter jüngerer und älterer Damen und Herren oder die klassizistische Fassade eines Palazzos die Haltung unbelasteter Gelassenheit aus. Es kommt, wies kommt, könnte die Serie heißen. „Ankunft“ heißt sie. 

     Abschied hingegen will auf einigen vermeintlich schwarz-weißen Aufnahmen die Farbe nehmen: Zwischen Grautönen gibt sie sich erst beim zweiten, genauen Hinsehen zu erkennen. Mit der Kultur in der Region soll es sich von jetzt an umgekehrt verhalten – wenn es nach dem Leiter des Hofer Kulturamts geht. Peter Nürmberger hat genug von den grauen Monaten (fast) ohne Theater, Konzerte, Ausstellungen. „Seit März“ war all das, wie er sagt, „einfach beiseite gewischt“. Das soll – und muss – endlich „Vergangenheit“ sein. Recht hat er. Erst die Allgegenwart von Kunst und Künsten, egal wie leicht, wie schwer, bringt Farbe ins öffentliche und ins private Leben, ob an der Lagune oder an der Saale. Das muss, trotz zwingender Ausnahmen, die Regel sein und bleiben. 

 Bis zum 27. November, Montag bis Freitag, 10 bis 17 Uhr, und nach Vereinbarung. Eintritt frei.
Zur Veranstaltung im Netz: hier lang.