Hochfranken-Feuilleton
 Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.  (Voltaire)

Abgeschafft

Warum die Hochzeit eines Prinzen von Bayern kein öffentliches Interesse verdient: Der Hype um die selbst erklärte Hochwohlgeborenheit des Adels passt schlecht zur modernen Demokratie.

Eine Krone mag Schmuckstück, Preziose, Wertbesitz sein - für herrscherliches Gottesgnadentum steht sie in Republiken nicht. (Foto: Ruth Archer/Pixabay)


Von Michael Thumser

23. Mai 2023 – Vor bald fünf Jahren erging an den Schreiber dieser Zeilen das Angebot, an einer Gruppenreise in den Süden Bayerns teilzunehmen. Dort sollte bei einer der Veranstaltungen rund um den hundertsten Geburtstag des Freistaats, neben viel Prominenz aus Politik und Wirtschaft, Sport und Kultur (wie man so sagt), auch Franz Herzog von Bayern zugegen sein, der seit 1996 dem sogenannten Haus Wittelsbach vorsteht. Eine Handreichung über den Umgang mit dem damals 85-jährigen Blaublüter wies darauf hin, es sei geboten, den würdigen Greis im Fall einer persönlichen Begegnung mit „Königliche Hoheit“ anzusprechen. Bei einem Staatsempfang aus demselben Anlass nutzte Ministerpräsident Markus Söder tatsächlich die Chance, dem Herrn von Bayern – so die nach bürgerlichem Verständnis höfliche und vor allem juristisch korrekte, darum einzig infrage kommende Anrede – mit der monarchischen Titulatur gefällig zu sein.

     Da staunte der Schreiber dieser Zeilen. War ihm im Sozial- und Geschichtsunterricht des Gymnasiums nicht vermittelt worden, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik einen Adelsstand und dessen Privilegien nicht anerkennt? 1949 übernahmen die Verfassungsväter und -mütter durch Paragraf 123 Absatz 1 die diesbezügliche Festschreibung der 1919 wirksam gewordenen Reichsverfassung für die Weimarer Republik, wonach „öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes aufgehoben“ sind; es könnte auch, noch eindeutiger, „abgeschafft“ heißen. In einem Online-Ratgeber stellt die Protokollabteilung des Bundesinnenministeriums denn auch klar: „Anredeformen wie Königliche Hoheit, Hoheit, Durchlaucht und dergleichen haben keine rechtliche Grundlage“. Das gilt seit 104 Jahren.

Lieber keinen König

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung denkt, so scheint es, nicht viel anders. Jedenfalls gaben im vorvergangenen Monat bei einer Meinungsforschung 89 Prozent von 1005 Frauen und Männern an, sie wünschten sich als Staatsoberhaupt in Deutschland keinen König oder Kaiser. Für eine repräsentative Monarchie im Lande – das dann naturgemäß keine Republik mehr wäre –, also für ein parlamentarisches System ähnlich dem britischen mit einem gekrönten Haupt, das die Honneurs macht, sprachen sich gerade mal acht Prozent der Befragten aus. Und das, obwohl das Institut Forsa die Daten nur etwa eine Woche vor dem Besuch des neuen britischen Königspaars in der feierbereiten Bundesrepublik erhob.

     Der Schreiber dieser Zeilen staunt noch immer. An sein demokratisches Grundverständnis, von Elternhaus, Schule und Universität fundamentiert, stellte die Ekstase um die royale Krönung Charles III. in London weit weniger Zumutungen als der Freudenrausch, in den der König und seine Frau Camilla die Massen in Berlin, Brandenburg und Hamburg versetzte. Nicht minder skeptisch darf und muss die mediale Aufmerksamkeit stimmen, die dieser Tage die hochherrschaftliche Eheschließung eines 40-jährigen Wittelsbacher-Sprosses und Bayern-Prinzen namens Ludwig mit einer Sophie-Alexandra Evekink in München auf sich zog. Die 33-Jährige, eine ‚Bürgerliche‘ aus niederländisch-kanadischer Familie, wurde von so viel Nobilität und Noblesse augenscheinlich derart überfordert, dass sie in der Theatinerkirche St. Kajetan erst mal das Bewusstsein verlor.

„Die deutsche Kate und ihr William“

Nicht dass Fernsehen und Presse sich überschlagen hätten wie bei der royalen Krönung jenseits des Kanals. Aber neben Scharen von Schaulustigen und Schützen, Trachtlern und Bläsermusikanten nahmen die Medien – vor allem, aber keineswegs nur aus Süddeutschland – regen Anteil. Die Bild-Zeitung freute sich gar über „unsere deutsche Kate und ihren William“. Auf Instagram, Facebook und anderen Kanälen sausten am Samstag „Impressionen“ vom Geschehen brandaktuell durchs Internet, das Bayerische Fernsehen beteiligte sich während einer Sondersendung an der Reanimation längst abgelebter Fürstenherrlichkeit, und die Gala stellte eine 35-teilige Fotostrecke in ihre Online-Ausgabe: „Hier kommt die Braut!“.

     Bei der Trauung durfte es auch in zeremoniöser Hinsicht etwas mehr sein: Nicht irgendein diensthabender Priester, sondern der Münchner Erzbischof und Kardinal Reinhard Marx nahm sie gut katholisch vor. Dann, nach gelungener Wiedererweckung der frischgebacken erblassten Prinzessin, fuhr die Festkorona weiter in die Schlösser Nymphenburg und Schleißheim, zum Empfang hier und zur anschließenden Hochzeitsparty dort mit Familien und Freunden und fast tausend Gästen aus „Politik, Gesellschaft, Adel und der Kirche“, wie die Agenturen melden. Gelegenheit für eine selbst ernannte Elite, in theatraler Exklusivität sich selber ihre Hochwohlgeborenheit „von Gottes Gnaden“ vorzuspielen. Auch Bayerns Landesvater Söder ließ es sich nicht nehmen, den „Königlichen Hoheiten“ einmal mehr seine Aufwartung zu machen; immerhin kam der Bräutigam als Ururenkel Ludwigs III., des letzten Königs von Bayern, zur Welt.

Freistaat heißt Republik

Leicht vergessen: Freistaat heißt Republik. Schaulust bei einem Event wie diesem lässt sich deuten als verliebtes, wenn auch vielleicht halb unbewusstes Augenspiel mit einer vermeintlich ‚guten alten Zeit“ und Welt der Autokratie und des Absolutismus, die in der Rückschau sicherer und stabiler scheint als das bedenklich wankende Hier und Heute. Dabei handelt es sich bei den durchlauchtigen Eheleuten von München, einen studierten Juristen und einer Politikwissenschaftlerin, um nichts weiter als um landläufige Gegenwartsmenschen; für „Politik, Gesellschaft, Kirche“ tragen sie kein staatstragendes Gran mehr an öffentlichem Gewicht mit sich herum als irgendein Herr Hinz und eine Frau Kunz, die rotbäckig die Reportagen über den Ringwechsel der beiden durchfiebern.

     Etwa 80.000 sogenannte Edelleute tummeln sich in Deutschland, von unteren Schichten zumeist abgegrenzt in eigenen Kreisen, Zirkeln, Blasen – einem Paralleluniversum der „Häuser“ Hohenzollern und Wittelsbach, Hannover und Hessen, Thurn und Taxis, Sachsen-Coburg und Gotha … Hätte nicht der letzte Kaiser Wilhelm II. in seiner Torheit und mit dem Weltkrieg von 1914/18 und hätte nicht die Revolution danach der Aristokratie in Deutschland das Rückgrat offizieller Exzellenz gebrochen, so würden heute Georg Friedrich Prinz von Preußen und Prinzessin Sophie von Preußen als kaiserliches Herrscherpaar regieren. Tun sie aber nicht. Kaiser oder König, Herzog oder Prinz kann heute jemand nur noch heißen, nicht mehr sein, und das Grundgesetz der Bundesrepublik sorgt dafür, dass dies absehbar so bleibt. Von der Gerechtigkeit seines umfassenden, wenn auch nicht lückenlos durchgesetzten Gleichheitsgrundsatzes, von den vielerlei Freiheiten, die es festschreibt, von der als „unantastbar“ geadelten „Würde“ eines jeden Menschen profitieren alle im Lande Tag für Tag. Alle sind ebenbürtig.

Den Thron im Blick

Am 18. März und am 18. Mai waren vielen Medien die 175. Jahrestage der Deutschen Revolution von 1848 weit weniger Platz und Aufwand wert als die Prinzenhochzeit. Im Vergleich darf das schon fast für Geringschätzung, wenn nicht Gleichgültigkeit gelten: gedenken die Deutschen doch offenbar nicht so gern der komplizierten ideellen Wurzeln ihrer liberalen Demokratie und der rechtsstaatlichen Verfasstheit ihres Gemeinwesens, sondern huldigen lieber gedankenlos den zur toten Hülle ausgedorrten Resten feudalistischer Herrschaftsformen in Gestalt ihrer zu spät geborenen, mal krisengeschüttelten, mal zigmillionenschweren Repräsentanten.

     Schon vergessen? Erst im Dezember ließ die Bundesanwaltschaft einen 25-köpfigen Putsch-Trupp aus der „Reichsbürger“-Szene ausheben; formiert hatte er sich um den verschrobenen Heinrich XIII. Prinz Reuß, der wohl mit dem Gedanken spielte, sich im Erfolgsfall als Kaiser eines neuen Deutschen Reichs inthronisieren zu lassen. Und erst seit wenigen Tagen läuft in Koblenz der Prozess gegen eine weitere „Reichsbürger“-Riege, die vor ihrem geplanten Umsturzversuch aufflog, weil sie beim Kauf von Waffen nicht genug Vorsicht walten ließ und einem verdeckten Ermittler ins Netz ging: Die Bande, um eine 75-jährige gewesene Religionslehrerin als ideologische Anstifterin, nannte sich „Vereinte Patrioten“. Durchgeknallte Einfaltspinsel, im einen wie im andern Fall, mag sein; doch stellen erst hellere Köpfe im gleichen Geist sich klüger an, dann gnade Gott.

„Die Heimat seufzt“

Als „Patrioten“ bezeichnen sich auch die „königstreuen“ Vereine, die sich in Bayern der Pflege von „Heimat und Brauchtum“ verschreiben. In ihren Verlautbarungen kommt das Wort Demokratie kaum vor. Das Bayernland, steht als Devise auf einer ihrer Websites, „seufzt nach einem schönen König – nicht weil wir einen brauchen, sondern weils schöner wär.“ Das wär es nicht. Für Patriotismus, recht verstanden, sollte man hierzulande nur den Verfassungspatriotismus halten.

     Übrigens verweigerte der Schreiber dieser Zeilen 2018 die Teilnahme an besagtem freistaatlichen Jubiläumsfest. Nach den Gründen befragt, gab er an, sich eher die Zunge abzubeißen, als auch nur im Entferntesten die Ge- und Verlegenheit zu riskieren, von einem Mitmenschen als „Königlicher Hoheit“ sprechen zu sollen. 175 Jahre nach dem Zusammentritt des Paulskirchen-Parlaments nimmt sich der Schreiber dieser Zeilen Worte zu Herzen, die Frank-Walter Steinmeier am 17. März vor 120 Gästen formulierte: „Die Selbstermächtigung der Bürgerinnen und Bürger macht die Märzrevolution von 1848 zu einem der wirklich wichtigen Ereignisse unserer Demokratiegeschichte. Auf den Straßen und in den Parlamenten erwachte damals ein neuer Bürgermut, ein neues demokratisches Selbstbewusstsein. Überall gab es Menschen, die ihre Lage nicht länger als gottgegeben hinnehmen wollten; die mit Leidenschaft für neue Ideen stritten; die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen.“ Die Rede hielt der Bundespräsident zwar in einem Schloss – dem Bellevue in Berlin –, aber bei einem Banquet républicain.



Junge Leser braucht das Land

Von Michael Thumser

10. November 2020 – Bücher, alle Bücher, selbst die besten, sind wie Menschen: Sie haben nicht nur gute Seiten. Und doch kommen viele von uns weder ohne die einen noch ohne die anderen aus. Bücher seien wie Briefe von Freunden, „nur dickere“, sagte Jean Paul, der hochfränkische Nationaldichter, der Zeit seines Lebens unglaublich viel schrieb und Berge von Schriften verschlang. In einem der meistzitierten seiner vielen wunderbaren Aphorismen lädt er uns ein, mit Büchern „wandern zu gehen in ferne Welten, aus den Stuben, über die Sterne“. Bis heute halten wenigstens ältere Bildungsbürger Bücher (zusammen mit CDs) für den ansehnlichsten Wandschmuck und fühlen sich dabei von einem Dichtergott ihrer Jugend – und mitunter wieder ihrer reiferen Jahre – bestätigt: Hermann Hesse fand ein Haus ohne Bücher „arm, auch wenn schöne Teppiche seine Böden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken“.

     Unter den Kulturtechniken zählt das Lesen, zusammen mit dem Schreiben, zu den grundlegenden. Davon, wie es Menschen geht, die es nicht oder unzureichend beherrschen, wissen hierzulande derzeit weit über sechs Millionen Analphabeten ein bitteres Lied zu singen. Keine Schule vermochte sie so hinreichend in das fundamentale Kommunikationsmittel Schrift einzuführen, dass sie mehr als einzelne Sätze zusammenbuchstabieren und in ihrem Sinn erfassen könnten; ebenso wenig gingen die notwendigen Impulse von Familie oder Freunden aus. Gerade aber im Elternhaus geschieht das Entscheidende: Viele von uns, die als Kinder Erwachsenen beim Lesen zusahen, wurden später selbst zu Lesern – erst recht solche, denen mit Verstand und Herz vorgelesen wurde.

Am 20. November ist „Vorlesetag“

So wie die UNESCO seit 1995 mit dem „Welttag des Buches“ am 23. April für regelmäßige Lektüre wirbt, tut es in der Bundesrepublik seit 2004 die Stiftung Lesen mit dem „Vorlesetag“ am dritten Freitag im November; der fällt heuer auf den zwanzigsten. Gut drei Wochen zuvor, Ende Oktober, kam die Stiftung mit ihrer alljährlichen Vorlesestudie heraus, mit der sie, der Verlag der Zeit und die Deutsche-Bahn-Stiftung das Münchner Institut Iconkids & Youth beauftragt hatten. Auskunft gaben 358 Mütter und 170 Väter von Kindern zwischen einem und sechs Jahren.

     In der so gewonnenen Statistik steht, wie könnte es anders sein, gleichzeitig Befriedigendes und Bedenkliches zu lesen. Zum Beispiel: Fast ein Drittel (32 Prozent) der Eltern  nimmt selten oder nie ein Buch zur Hand, um dem Nachwuchs daraus vorzulesen oder ihm die zu den Bildern passende Geschichte zu erzählen. Immerhin besagt dies, dass die deutliche Mehrheit von zwei Dritteln dergleichen zu tun pflegt, wie in den vergangenen Jahren auch. Die Hälfte derer, die es bleiben lassen, nannte als Grund, Beruf und Haushalt ließen für derlei Beschäftigungen keine Kraft; dafür mag man ein gewisses Verständnis aufbringen: „Es wäre gut“, räsonierte schon Arthur Schopenhauer, „Bücher zu kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte.“ Und die andere, weniger erschöpfte Hälfte? In ihrem Lager reden sich viele Eltern damit heraus, sie verstünden nicht gut vorzulesen, oder es sei ihnen unangenehm oder bereite ihnen keine Freude, oder sie hielten es für wenig wichtig oder, mit Verweis auf die modernen Medien, sogar für veraltet, oder ihr Kind sei zu unruhig, um aufzupassen, oder wolle gar nicht vorgelesen bekommen oder sei noch zu jung dafür oder schlafe längst, wenn Mama oder Papa Zeit dafür fänden … Bezeichnend fällt zweierlei ins Gewicht: Zum einen berichten 21 Prozent der befragten Erwachsenen, ihnen selbst sei in der Kindheit auch nicht vorgelesen worden; zum andern geben fünfzehn Prozent zu, dafür einfach nicht gut genug lesen zu können. Unter solchen Vorzeichen wachsen keine Bücherwürmer heran. In 68 Prozent der Familien besitzen die Kinder denn auch nur zehn Bücher oder weniger.

     Vielfach versteckten sich die Befragten hinter der irrigen Annahme, Vorlesen empfehle sich nur für die Kleinsten und nur, solange sie die Kita besuchten. Tatsächlich bereitet es dort die wie Schwämme saugstarken Gehirne spielerisch-unterhaltsam auf die Schule vor. Zugleich aber und in vielen weiteren Jahren schafft und festigt es Zusammenhalt in der Familie und zwischen den Generationen. Dabei führt es eine über viele Jahrhunderte gepflegte weitere Kulturtechnik fort, eine aus den vielen und langen Epochen, in denen kein Kino, Fernsehen und Radio, weder Videospiele noch Streaming-Plattformen zeitvertreibend zur Verfügung standen.:Bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein war (mit Goethes Worten) „zu Genuss und Belebung oder zur Erkenntnis und Belehrung“ das vorgelesene Buch das Mittel der Wahl, zumal am Abend. Egal ob schlichtere Gemüter zu Geschichten aus Kalendern oder Almanachen griffen oder vornehme Herrschaften einen Band aus den Memoiren des Herzogs von Saint-Simon aufschlugen – einer oder eine aus dem Familien- und Freundeskreis trug daraus vor, während die anderen handwerkten oder den Haushalt besorgten, spannen oder stickten … Oder einfach nur lauschten.

Die Ohren offenhalten

Wie gründlich das schiefgehen kann, ist in einer herrlichen Szene aus Wolfgang Staudtes Film „Rosen für den Staatsanwalt“ zu besichtigen: Da greift Martin Held als titelgebender Ex-Nazijurist erst zu Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, dann doch lieber zu einem Band von Matthias Claudius, um den zu Andacht verdonnerten Seinen Vaterländisches vorzudeklamieren, wofür er den harschen Ton des Wehrmachtsoffiziers für angemessen hält: „Därrr – Monnt --- ist – aufffgegangen.“ Vergnüglich bezieht sich die Satire, unbeschadet ihrer entlarvenden Schärfe, auf eine dritte geistvolle Kulturtechnik neben dem Umgang mit der Schrift und dem Vorlesen: auf jene, in aller Ruhe die Ohren offenzuhalten. Mal mehr, mal weniger wird sie gepflegt; weniger zum Beispiel, wenn US-Präsidentschaftskandidaten bei würdelosen Wortschlammschlachten vor einem Zigmillionenpublikum einander mit wüsten Zwischenrufen in die Parade fahren; weniger auch in manchen der täglichen Fernsehtalkshows. Umso mehr bewährt sich jene Tugend, wenn etwa während eines Rezitationsabends ein Sprechkünstler für stilvolle Prosa oder Poesie menschlichen Atem, Seele und Bedeutung findet; eine (leider) aus der Zeit gefallene Kunstform, zugegeben. Durchaus ähnliche, moderne Medien verbaler Präsentation boomen hingegen unaufhörlich: das Hörbuch, ob es nun den jüngsten Fitzeck-Thriller oder einen Fontane-Roman zur Sprache bringt; auch der Audio-Podcast; auch das sich ausbreitende Angebot vieler Zeitungen und Zeitschriften, sich Artikel online vorlesen zu lassen. Das besorgen zwar maschinelle Stimmen, die aber zusehends humaner und seriöser klingen.

     Am besten freilich, wir betreiben das Vorlesen aus eigenem Antrieb und in eigener Regie, ist es doch beides: fürsorgliche Zuwendung an andere und zugleich erhellende Beschäftigung mit uns selbst; beides: eine Schule des Lesens und eine des Hörens.




Entwürdigender Nervenkitzel

Von Michael Thumser

8. Oktober 2020 – Seit Howard Carter 1922 das Grab Tutanchamuns geöffnet und die staunende zivilisierte Welt in einen altägyptischen Exotismus-Rausch versetzt hat, hoffen Archäologen im Land am Nil auf einen neuerlichen Triumph von solcher Größenordnung. Allerdings hängt die Latte arg hoch: Die letzte Ruhestätte des Pharaos, der 1323 vor Christus mit nur neunzehn Jahren – womöglich durch Mord – zu Tode kam, hatte der Brite unberührt vorgefunden, weil sich Grabräuber nie über den Schatz aus erlesenen Gebrauchsgütern und Kunstwerken hergemacht hatten. Gelohnt hätte es sich, denn vieles davon glänzt von lauter Gold, so wie die Totenmaske, die, längst ikonisch, wohl jeder von uns sogleich vorm inneren Auge sieht.

     Trotzdem berichten uns Ausgräber ab und an von Funden, die als Sensation gelten dürfen. So kamen im vergangenen Jahr in Luxor, im Süden des Landes, dreißig Mumien zum Vorschein, in hölzernen Totentruhen, die seit über dreitausend Jahren unbehelligt im Dunkeln lagerten und darum noch heute ihre reichhaltige Ornamentik in unverblichenen, wie jüngst aufgetragenen Farben entfalten. Ebenso wirken die Kolorierungen an den 59 Särgen, auf die Forscher vor wenigen Tagen in der südlich von Kairo gelegenen Totenstadt Sakkara stießen, frisch wie von gestern, und auch die Leichen der Priester und Würdenträger in den Behältnissen, so sagte einer der Experten, sähen aus, „als wären sie erst am Vortag mumifiziert worden“. Dabei lagen sie etwa 2600 Jahre im Verborgenen.

     Schreit das nicht geradezu danach, auch diese sterblichen Überreste öffentlich vorzuzeigen – so wie das seit Jahrhunderten und erst recht in der jüngeren Vergangenheit gang und gäbe ist? Den Wissenschaftlern und Sammlungskuratoren dürfen wir zugutehalten. dass sie achtenswert ihrem berufsspezifischen Drang nach Erkenntnis, Dokumentation und Präsentation folgen wollen. Gleichzeitig aber nennen wir Grabräuber, die eine letzte Ruhestätte ausräumen, angewidert Leichenfledderer. Nachvollziehbar herrscht breites Interesse gerade an ihren Fund- oder Beutestücken – weil die, ungewohnt anschaulich, mindestens so sehr als historische Objekte faszinieren wie als Projektionsflächen für unseren wohligen Grusel. Um so zu empfinden, müssen wir nicht als geile Schaulustige geboren sein.

     Gleichwohl sollte sich uns die Frage aufdrängen, warum wir im Fall der toten alten Ägypterinnen und Ägypter erlauben, was wir bei eigenen Angehörigen oder gar uns selbst für strafbar hielten. Auch heute scheuen sich viele von uns, Tod und Transzendenz kaltschnäuzig für zwei Schuhe zu halten, die kein Paar ergeben. Das aber sollte uns lehren, dass auch jene Verstorbenen unsere Achtung verdienen, die von den Ihren, egal vor wieviel Jahrhunderten, nach für heilig erachteten Ritualen beigesetzt wurden. Haben wir wirklich das Recht, die religiösen Bestattungs-Zeremonien des Nilreichs als Aberglauben zu geringzuachten? Sind die Annahmen unserer neuzeitlichen Naturwissenschaften über den Tod, sind althergebrachte christliche Glaubensinhalte und das mögliche Danach der komplexen Vorstellungswelt vergangener Hochkulturen wirklich haushoch überlegen?

     Nun ließe sich einwenden, die Zeitläufte hätten zwischen uns und jenen Toten – oder dem als „Ötzi“ in aller Munde und vor aller Augen geratenen Steinzeitmann aus dem Tisenjoch – einen Abstand geschaffen, weit genug, um sie wie entmenschte Artefakte erscheinen zu lassen. Wäre dem indes so, dürften wir wohl auch Regenten oder Päpste etwa des Mittelalters um den zeitlichen Teil ihrer ewigen Ruhe bringen und aller Welt vorführen.

     Sofern Mumien, ans Tageslicht befördert, der Gelehrsamkeit dienen können, sollen Forscher Hand an sie legen – mit seriösen Absichten und behutsamen Methoden, respektvoll und unter Ausschluss einer gierigen Öffentlichkeit. In Museen und Ausstellungen aber oder gar als kitschdramatisch inszenierte „Plastinate“ des „Doktor Tod“ Gunther von Hagens zur Schau gestellt, geraten sie ohne eigenes Zutun in den schmählichen Ruch, unsere sogenannten niederen Instinkte aufreizen zu sollen. Dann rückt die verständliche Neugier massenhaft strömender Betrachter allzu nah an Vorwitz und Voyeurismus, Schnüffelei und Nekrophilie heran. Die Würde des Todes zu wahren, gebietet unserer aufgeklärten Zivilisation das Wunder des Lebens, auch beim Blick in jahrtausendealte Vergangenheit. Ein Museum, erst recht eine Grabkammer ist keine Geisterbahn.